Lesefreuden - Günter de Bruyn - E-Book

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Günter de Bruyn

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Beschreibung

Lebendige Literaturgeschichte In seinen klugen, poetischen Essays beschäftigt sich Günter de Bruyn u.a. mit Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Jean Paul oder Thomas Mann – und mit sich selbst: dem eigenen Lesen und Schreiben. Stets gibt sich de Bruyn nicht als Wissenschaftler, sondern als Literaturliebhaber, der seine Leser mit farbigen Nacherzählungen und Leseeindrücken zu fesseln weiß. Eine Sammlung von Lesefreuden, die einen tiefen Einblick in den Reichtum der deutschsprachigen Literatur gibt.

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Seitenzahl: 385

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Günter de Bruyn

Lesefreuden

Über Bücher und Menschen

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Inhalt

Über Bücher und MenschenPreußen, deine DichterNicolai oder Ein Opfer der VernunftVon der Weis- und Blindheit des AltersDer ZopfDie RezensierfabrikKonkurrenz in GeselligkeitDie Kinder der AufklärungDer GeisterseherVon der Brüder- zur Alten JakobstraßeDer SandpoetVon Fahrland nach WerneuchenGrasmückengesangLändliche GlückseligkeitDie glänzenden beiden DaumenTaten und TugendenLückenhafter LebenslaufRevolutionär oder Vor-Faschist?Französisches TibetGeliebte Nation – unwürdiges VolkDer unwürdige GegenstandNeue EinsichtenZwei WegeLesefreuden mit Jean Paul12345Dämmerungen für DeutschlandDie Geschwister TieckDie FrauenDie SchwesterLudwigDer KleineFouqué oder Romantik im HarnischTrübe ZeitGottVaterlandGesetzlicher SinnEchte TatenRahels erste LiebeOper und PalastDie DachstubeIm AbseitsAhnengalerieDas EineEin Frühlingstag auf dem LandeDas brave KindAbschied und WillkommenKlatschDie GewaltkurDer Kongreß an der MurgDas EndeNachspielDer TraumE.T.A. Hoffmann in BerlinTaubenstraße 31Ritter GluckGespensterhäuser und Geheime KanzleiräteAusgezeichnet im AmteHinterm EckfensterIn eigner SacheZum Thema: LesenWie ich zur Literatur kamDer Künstler und die anderen123Grischa 1944Der HolzwegZur Entstehung einer ErzählungVerzeichnis der Erstdrucke

Über Bücher und Menschen

Preußen, deine Dichter

Da die Hofberichte, mit Herrscherbild, immer die erste Zeitungsseite zieren, fängt auch dieser Versuch über Preußens Dichter mit dem Ranghöchsten an: mit Friedrich II., den mancher noch immer oder auch wieder den Großen nennt. Der war nicht nur König, Feldherr, Geschichtsschreiber, Philosoph, Flötenspieler und Komponist, sondern auch Dichter. Als Kronprinz, während seiner Verbannung in Küstrin, hat er die schöne Gutsherrin von Tamsel angedichtet; er hat die fröhlichen Jahre in Rheinsberg besungen und später das neuerbaute Sanssouci; heroische Töne hat er genauso versucht wie scherzhafte; und wenn er am Ende des Lebens weise und selbstironisch wird, könnte man den Mann sympathisch finden, wüßte man nicht, daß das, was er schrieb, oft dem widersprach, was er tat. – Das Gedicht »Lebensabend«, das ich hier in einer von mir leicht gekürzten Version wiedergebe, entstand 1777, also in Kleists Geburtsjahr.

Da sitzt er nun, der alte Mann,

Phlegmatisch, schweigsam, herzenskalt;

Fängt er einmal zu sprechen an,

So gähnt ein jeder Hörer bald.

Statt launiger Rede nur Politik,

Statt Witz nur dunkle Metaphysik;

So langweilig hört sich das alles an

Wie irgendein moderner Roman.

Luftsprünge früher, heut schleicht das an Krücken;

Einst Kraft und Leben, heut Lumpen und Flicken.

Die Jugend ging im Irrtum hin,

Kaum lernt man erkennen, kaum schärft sich der Sinn,

Da kommt die Mühsal, da kommen die Leiden,

Und es dauert nicht lange – da heißt es scheiden.

Nun gehört aber dieser dichtende König, den ich protokollgemäß an den Anfang setze, so wenig zu den Dichtern Preußens, die hier gemeint sind, wie seine polnisch, litauisch oder sorbisch sprechenden Untertanen, die gedichtet haben mögen. Denn der König sprach, schrieb und dichtete Französisch, war der deutschen Sprache nur mangelhaft mächtig und las deutsche Literatur nicht – schrieb aber einen Aufsatz über sie. Darin nennt er Deutsch eine »halbbarbarische Sprache«, »ein Kauderwelsch, dem jede Anmut fehlt«, findet an deutschen Dichtern lediglich Canitz, Gellert und Geßner erwähnenswert und kanzelt dann die neue deutsche Literatur ab, indem er ihr ihre Shakespeare-Begeisterung vorwirft. »Um sich von dem Mangel an Geschmack zu überzeugen«, schreibt er »… brauchen Sie nur ins Schauspiel zu gehen. Da sehen Sie die abscheulichen Stücke von Shakespeare in deutscher Sprache, sehen alle Zuhörer vor Wonne hinschmelzen beim Anhören dieser lächerlichen Farcen, die eines kanadischen Wilden würdig sind. Da treten Lastträger und Totengräber auf und halten Reden, dann kommen Fürsten und Königinnen. Wie kann dies wunderliche Gemisch von Hohem und Niederem, von Hanswurstereien und Tragik gefallen und rühren? Man mag Shakespeare solch wunderliche Verirrungen verzeihen; denn die Geburt der Künste ist niemals die Zeit ihrer Reife. Aber nun erscheint noch ein ›Götz von Berlichingen‹ auf der Bühne, eine scheußliche Nachahmung der schlechten englischen Stücke, und das Publikum klatscht Beifall und verlangt mit Begeisterung die Wiederholung dieser abgeschmackten Plattheiten. «

Um deutsche Literatur in Preußen, die, wie man sieht, zu Friedrichs Zeiten (und nicht nur in diesen) vom Thron nichts zu erwarten hatte, geht es hier. Um preußische Literatur? Die Frage, ob es das gab, ist kaum jemals aufgeworfen worden, auch vom preußischen König nicht, für den es selbstverständlich nur eine deutsche Literatur gab – nicht, weil er so national gedacht hätte (das tat er nicht), sondern, weil der Gedanke, daß Staatsgrenzen, die nicht Sprachgrenzen sind, Literaturgrenzen sein könnten, ihm gar nicht kam: Wurde die Sprache, die er verachtete, doch auch von sächsischen, hessischen oder württembergischen Untertanen gesprochen. – Deutschsprachige Literatur in Preußen also, in der Mark, der Altmark, in Ostpreußen, Schlesien, vor allem aber in Berlin. Hat sie, so frage ich mich, bei aller Vielgestaltigkeit etwas Gemeinsames? Gibt es, bei aller Gebundenheit an die allgemeine deutsche Literaturentwicklung, so etwas wie ein preußisches Kolorit?

Preußen war, als es gegen Ende des 17. Jahrhunderts anfing, in der Geschichte Deutschlands und Europas eine Rolle zu spielen, ein relativ junger Staat, ein Emporkömmling, arm, kulturell fast geschichtslos. Was sich in dem ehemaligen Kolonialland im späten Mittelalter an Adels- und Stadtkultur entwickelt hatte, war vom Dreißigjährigen Krieg fast restlos zerstört worden. Der Aufbau des Staates erfolgte durch absolutistische Herrscher, die sich ihre Kultur von anderswo holten, aus Frankreich vorwiegend. Der Staat, der da durch Erbschaft und Eroberung zusammenkam, war ein ganz und gar künstliches Gebilde, territorial zerrissen, ohne natürliche Grenzen, ohne ethnische oder traditionelle Zusammengehörigkeit, politisch und militärisch ständig so gefährdet, daß es nur durch starken Zentralismus erhalten werden konnte. Die starke Zentralmacht aber brauchte eine starke Armee und diese wiederum eine gutfunktionierende Bürokratie. Beide aber kosteten viel Geld, und da das Land arm war, mußte das erarbeitet werden – durch die Einwohner natürlich, denen erst mit dem Stock, dann auf pädagogischem Wege beigebracht wurde, daß der einzelne wenig, der Staat alles bedeutet, daß Gehorsam und Fleiß die wichtigsten Tugenden sind – die der Staat dann durch Sicherheit und Ordnung und durch einen (den Gesellschaftsstrukturen entsprechenden) bescheidenen Wohlstand honoriert. Nimmt man nun noch hinzu, daß dieser Staat sich selbst als rational entstandener verstand, als Staat der Vernunft, der höhere Ziele als seine eigene Erhaltung zur Legitimation nicht brauchte, und daß er, auf Einwanderer, gleich welcher Nationalität und welchen Glaubens, angewiesen, religiösen Fanatismus und Fremdenhaß verhindern mußte, so hat man die Liste der preußischen Tugenden auch schon beisammen: Gehorsam, Fleiß und Sparsamkeit, Nüchternheit und Toleranz – Tugenden, die weiterwirkten, erfreulich oft, oft auch verhängnisvoll, weil sie benutzbar sind, so oder so.

Möglich wurde dieser massenpädagogische Erfolg dadurch, daß der Staat dem einzelnen immer präsent war: dem Landbewohner in der Gestalt des Adligen, von dem er zu Hause ebenso abhängig war wie in der Armee; dem Städter in Gestalt des Steuerbeamten, des Polizisten, des Richters, der ganzen weiterverzweigten Bürokratie; und dem Adligen, der als Offizier oder höherer Beamter zu dienen hatte, in Gestalt des Königs, der sich selbst, pflichtbewußt auch er, als erster Diener eines überpersonalen Staates bezeichnete.

Daß dieser Staat, der, übrigens auch mit Hilfe der Kirche, so stark die Lebensumstände seiner Bewohner bestimmte, auch die Literatur einfärben mußte, liegt auf der Hand – leicht nachweisbar ist es nicht; denn eine Sonderentwicklung hat der preußische Teilbereich der deutschen Literatur nicht vollzogen, und gerade wenn sie gut ist, zeigt die Literatur solchen Einfluß ja nicht gleich als preußisch-blau. Es ist vielmehr, pauschal gesehen, so wie überall: Die zweit- und drittrangige Literatur weicht den Problemen aus, indem sie in die Unverbindlichkeit flüchtet oder herrschende Ideologie wiedergibt, die erstrangige aber stellt sich ihnen, das heißt: Sie versucht, die Spannungen zu gestalten, die zwischen Individuum und Gesellschaft bestehen – was dann meist zur Folge hat, daß die Spannungen zwischen der Gesellschaft und dem Schriftstellerindividuum noch größer werden.

Immer ist in Preußen (aber leider nicht nur dort) die Kunst am meisten gefördert worden, die es am wenigsten verdient: die Kriegskunst. Immer war die Armee Preußens Stolz, nicht seine Dichter und Denker. Was man einen Musenhof nennt, hat es in Preußen nur in friderizianischer Zeit gegeben, aber da sprachen die Musen französisch. Deutsche Hofdichter gab es nur in den Anfängen, um 1700. Wenn man später, unter Friedrich Wilhelm III., zu Hoffesten Verse brauchte, wurden die vom Bruder der Königin selbstgemacht. Erst Friedrich Wilhelm IV. hatte den Ehrgeiz, sich als Literaturmäzen zu erweisen; er holte sich die altgewordenen Romantiker Fouqué und Tieck nach Berlin, aber die starben dann bald, und die neuere Literatur war verständlicherweise nicht nach seinem Geschmack. Der Versuchung der Korruption war man als deutscher Literat im klassischen Preußen kaum ausgesetzt. Nicht seiner Freigeisterei wegen bekam Lessing keine Stellung in Berlin und mußte nach Wolfenbüttel gehen; man war einfach nicht interessiert an ihm. Einen Offizier dieser Güte, woher er auch kam, hätte sich der König sicher nicht entgehen lassen. Wer Lobeshymnen auf den König sang, um sich dessen Gunst zu erwerben, wurde enttäuscht. Das haben, ohne sich deshalb in ihrer Verehrung irremachen zu lassen, Ramler, Nicolai und die Karschin genauso erlebt wie Gleim, der dieser Erfahrung, als man ihn einen Schmeichler genannt hatte, dann auch in Versen Ausdruck gab:

Von meinem Friedrich wär ich ein Schmeichler? Ich?

Aus dessen Munde sich kein Wort begeben darf, das nicht das Herz auch spricht?

Bedenkt: Mein Lob ist deutsch, und Deutsches liest er nicht!

Das also gab es natürlich: den preußischen Stoff, der erwünscht war: das Herrscherlob (das immer mißlingt), die Verherrlichung von Kriegstaten, die Haßgesänge auf den, der gerade als Feind zu gelten hat, und im 19. Jahrhundert dann die Idealisierung brandenburgisch-preußischer Geschichte von Fouqué und Alexis bis zu Fontanes preußischen Balladen. – Aber es gab auch die »Minna von Barnhelm«, ein Gegenwartsstück, dessen Gestalten der Sachse Lessing als Sekretär eines preußischen Generals sozusagen erlebt hatte, und dessen Vorgänge und Ansichten unmittelbar aus der Wirklichkeit entnommen waren. Die Fabel der Komödie ist nach dem tatsächlichen Vorfall gearbeitet, daß im Siebenjährigen Krieg ein preußischer Offizier den sächsischen Feind menschlich behandelte und dafür vom König bestraft wurde. Der Ehrbegriff des Offiziers (sein Standes- und damit Staatsbewußtsein also) wird in dem Stück wie eine komische Schrulle gesehen. Daß das bei den preußischen Behörden Anstoß erregte, versteht sich. Auch Freund Nicolai sah politische Spitzen, die ihm nicht behagten. Die Unabhängigkeit Lessings zeigt sich in seiner Reaktion darauf: Er, Lessing, sei, schreibt er 1769 an Nicolai, während des Krieges »zu Leipzig für einen Erzpreußen und in Berlin für einen Erzsachsen« gehalten worden, hätte aber »keines von beiden sein dürfen«, um die »Minna« schreiben zu können.

Der Streit, ob diese Liebesgeschichte zwischen einem sächsischen Fräulein und einem preußischen Offizier eine pro- oder antipreußische Komödie sei, dauert bis heute an; dabei ist sie keins von beidem: Sie ist ein Stück des Friedens und der Versöhnung – so wie »Nathan der Weise« kein Stück für oder gegen die Juden oder die Christen ist, sondern eins des Miteinander und Füreinander aller. Was Lessing angreift, ist das, was wir heute Manipulierung nennen: die Einengung, Begrenzung, Verstellung des geistigen Blicks. »Wir müssen Freunde sein«, sagt Nathan zum Tempelherrn. »Verachtet mein Volk, so sehr Ihr wollt. Wir haben beide uns unser Volk nicht auserlesen. Sind wir das Volk? Was heißt denn Volk? Sind Christ und Jude eher Christ und Jude als Mensch? Ach, wenn ich einen mehr in Euch gefunden hätte, dem es genügt, ein Mensch zu heißen!«

Die preußische Toleranz, in deren Genuß die Juden übrigens nur teilweise kamen, hat Lessing geschätzt, aber statt sie zu bejubeln, hat er seine Aufgabe darin gesehen, sie zu erweitern. In seinem vielzitierten Brief an Nicolai hat er auf ihre Grenzen hingewiesen. In seinem Unmut übertrieb er, als er Preußen das sklavischste Land Europas nannte, Recht aber hatte er mit der Feststellung, daß die vielgepriesene preußische Toleranz sich nur (was immerhin schon viel war damals) auf die Religion bezog, nicht auf die Politik. »Sagen Sie mir«, schrieb er also 1769, »von Ihrer Berlinischen Freiheit zu denken und zu schreiben ja nichts. Sie reduziert sich einzig und allein auf die Freiheit, gegen die Religion soviele Sottisen zu Markte zu bringen als man will. Und dieser Freiheit muß sich der rechtliche Mann nun bald zu bedienen schämen. Lassen Sie es aber doch mal einen in Berlin versuchen, über andere Dinge so frei zu schreiben als Sonnenfels in Wien geschrieben hat; lassen Sie es ihn versuchen, dem vornehmen Hofpöbel so die Wahrheit zu sagen als dieser sie ihm gesagt hat; lassen Sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, wie es itzt sogar in Frankreich und Dänemark geschieht, und Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist.«

Acht Jahre nach diesem Brief wurde Heinrich von Kleist geboren, in Frankfurt an der Oder, im preußischen Kernland also, als Abkömmling einer adligen Familie, die seit Generationen dem Staat Offiziere gestellt hatte. Sein Lebensweg schien also durch seine Abkunft vorherbestimmt. Eine Generation vorher hätte es für ihn kaum Fluchtmöglichkeiten gegeben, jetzt, nach dem Tod Friedrichs II., nach der Französischen Revolution, da auch in Preußen Bewußtseinsveränderungen einsetzten und alte Bande sich lockerten, war individuelle Lebensgestaltung eher möglich, aber Mut gehörte auch jetzt noch dazu. Das Kind wurde mit 15 Jahren in die Armee beordert, der junge Mann von 22, der unfähig war, das Geisttötende einer Offiziersexistenz zu ertragen, verließ sie. Zwei Versuche, sich als Beamter zu etablieren, scheiterten. Er schlug sich als Schriftsteller durch: eine unsichere und, in den Augen der Familie, auch schmähliche Existenz.

Und mit den Augen der Familie sah Kleist noch immer. Der Ausbruch war ihm gelungen, mißlungen aber war der Versuch, das Pflichtgefühl loszuwerden, das er der Familie und dem Staat gegenüber hatte. Die Tragik seines Lebens war sein schlechtes Gewissen. Ein reiches Individuum lehnte sich gegen das Gesetz, das es beengte, auf und mußte unterliegen, da es das Gesetz, das es brach, auch bejahte. Deutlicher als am Beispiel Kleists läßt sich die Verinnerlichung preußischer Dienstpflicht nicht zeigen. Kleists Größe als Dichter besteht nun darin, daß er diesem Konflikt schreibend nicht auswich, sondern ihn zu gestalten versuchte – in den Gesetzesbrechern, die aufbegehren gegen eine Macht, die letztlich doch nicht angezweifelt wird. Der Konflikt kann komisch daherkommen wie im »Amphitryon« und im »Zerbrochenen Krug«, er kann tragisch sein wie in der »Penthesilea« (für die das Vom-Gesetz-sich-Lossagen und Sterben eins sind) und im »Michael Kohlhaas« (der, als der Kurfürst von Brandenburg ihm sein Recht erwirkt hat, auch einsieht, daß es rechtens ist, nun seinen Kopf zu opfern) –, er kann aber, wie im »Prinzen von Homburg« auch glücklich enden: in der Versöhnung des Individuums mit einer als menschlich erträumten preußischen Macht. Bekanntlich heißen die letzten Worte des Stücks: »In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!«, davor aber steht der Kurzdialog: »Ist es ein Traum? – Ein Traum, was sonst?«

Der »Prinz von Homburg« ist der Lebenstraum Heinrichs von Kleist. Seinen Inhalt könnte man so wiedergeben: Ein sensibler, ehrgeiziger junger Mann, der so ganz anders ist als andere, wird durch Gesetzesbruch in tiefste Qualen gestürzt, steigt aber am Schluß, geläutert, zum ersten Helden eines guten Vaterlandes auf; der Gesetzesbrecher wird in die Gemeinschaft nicht nur wieder aufgenommen: Er wird für seinen Ungehorsam sogar mit dem Siegeslorbeer gekrönt. Es ist der Traum eines Ausgestoßenen, dessen Qualen besonders qualvoll sind, weil er die Schuld an seinem Schicksal selbst zu tragen meint. Niemand hinderte Kleist daran, Preußen zu fliehen; doch sooft er es auch versuchte: immer trieb es ihn zurück – aus der Schweiz, aus Frankreich, aus Sachsen und auch aus der Ausflucht in einen barbarischen deutschen Nationalismus. Daß er immer wieder die Nähe Berlins, ja des Hofes suchte, ist nicht nur durch materielle Not zu erklären. Auch sein rasender Ehrgeiz, der ihn dazu treibt, in Wettstreit mit Goethe treten zu wollen, ist nur durch das gleichzeitige Ausgebrochen- und Gebundensein zu erklären: Er muß sich und den anderen beweisen, daß die Qual nicht umsonst war!

Zwei Monate vor Kleists Tod schreibt Marie von Kleist, eine Verwandte und Freundin, einen Brief an den Bruder des Königs. Darin bittet sie um Unterstützung für Kleist, schickt für die Prinzessin, eine Geborene von Hessen-Homburg, das handgeschriebene Manuskript des »Prinzen von Homburg« mit, und die Worte, die sie dabei benutzt, lassen ahnen, daß sie geringes Interesse der Adressatin an diesem »vaterländischen Schauspiel« befürchtet: »Ich wage zu gleicher Zeit, Ihrer Königlichen Majestät der Frau Prinzessin ein Stück zu Füßen zulegen, welches der Verfasser ihr gewidmet hat und das sicher große Schönheiten enthält, auf das man jedoch … die Frau Prinzessin vorbereiten müßte; und vor allem wäre es nötig, daß sie den Dichter und all seine aus Shakespeare geschöpften Ideen über das Drama kennenlernte. Aber ich verspreche der Frau Prinzessin viel Befriedigung, wenn sie das Stück bis zu Ende liest … Die Armut, in der sich Kleist befindet, verhindert, daß er in seinen Werken Vollendung erreicht.«

Auf diesen Brief folgt nur Schweigen. Die Prinzessin äußert sich nie über das Stück. Hätte Tieck es nicht sechs Jahre später aus der Ablage der Prinzessin herauszuholen verstanden, wir würden es so wenig kennen wie Kleists verschollenen zweibändigen Roman.

1822 schreibt Heinrich Heine in seinen Briefen aus Berlin, daß der »Prinz von Homburg« in Berliner Theatern nicht gespielt werden dürfe, »weil eine edle Dame glaubt, daß ihr Ahnherr in einer unedlen Gestalt darin erscheine«. 1828 aber ist es soweit: Das Stück wird in Berlin gespielt, der Beifall ist groß, Alexis, der die Aufführung bespricht, ist begeistert – aber nach der dritten Vorstellung wird es verboten. Ohne Begründung befiehlt der König, daß das »gestern aufgeführte Stück niemals wieder gegeben werden soll«.

Daß ein Werk der Staatsverherrlichung, wenn es wirklich zu Kunst gerät, damit also mehr als Verherrlichung wird oder ein anderes, den Staatsinhabern mißliebig wird oder zumindest unheimlich scheint, ist keine nur preußische Erscheinung. Speziell mit Preußen aber hat es zu tun, wenn ein halbes Jahrhundert später Fontane den »Prinzen von Homburg« zum erstenmal liest und entsetzt ist. – Das geschieht 1872. Preußen ist also schon, wie man sagt, in Deutschland aufgegangen; der preußische König ist deutscher Kaiser; das Geschichtsbild Preußens ist längst zur Legende verkrustet – auch bei Fontane, der fleißig an dieser Legende mitgedichtet hat, als er den »Einzug« der siegreichen Truppen 1871 besang, bei welcher Gelegenheit den Kriegskrüppeln der vorigen Kriege

»in jedes Bein von Holz

fährt der alte Schlachtenstolz«

und wo auch das Rauchsche Friedrich-Denkmal mitspielt – das Fontane übrigens bei dessen Einweihung 1851 in einem noch schlimmeren Gedicht so besungen hatte:

»Blitz nur herab von deiner Wacht;

Und wenn uns Feinde spotten,

Pandurentum und Slawenmacht

Sich rings zusammenrotten,

Dann, dir zu Füßen, weck und wink

Dem alten Leibhusaren

Und sprich: He, Zieten, sattl Er flink!

Wir wolln mal drunterfahren!«

Dieser Fontane also (er ist schon 53, aber er wird, wie man weiß, zum wirklichen Fontane ja erst in noch höherem Alter) findet den »Prinzen von Homburg« miserabel. Ihn ärgert erstens daran, daß nichts »stimmt« – womit er recht hat: Denn die Geschichte von der Befehlsverweigerung, die den Sieg bei Fehrbellin herbeiführte, ist eine Legende, der historische Prinz war zu dieser Zeit schon über 40, zum zweitenmal verheiratet, mit vielen Kindern gesegnet, eines abgeschossenen Beins wegen mit einem Kunstbein aus Silber versehen und außerdem ein kriegserfahrener Haudegen, der, bevor er bei Fehrbellin die Schweden besiegte, für die Schweden die Dänen besiegt hatte – was alles, wie man zugeben muß, für ein vaterländisches Schauspiel von 1810 nicht die richtige Gestalt ergeben hätte. Zweitens aber ist Fontane entsetzt über den Charakter des Prinzen, der für ihn kein »brandenburgischer Kriegsmann« ist, sondern ein »unwürdiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft«, eine »Jammer«-Gestalt, ein »eitler, krankhafter, prätentiöser Waschlappen« – kein Held also, wie er in preußischen Schulbüchern und in Fontanes Balladen vorkam. Zwar geht diesem Verriß voraus ein Hinweis auf die Güte der Kleistschen Arbeit, doch überwiegt das Mißbehagen. Fontanes politisch eingeengter Blick macht ihn blind für die Kunst.

Die wird ihm erst sichtbar, wenn sein Blick klar, also kritisch, wird. Zwischen der Lektüre-Aufzeichnung von 1872 und der späten »Homburg«-Kritik in der Vossischen Zeitung liegt die vielleicht entscheidendste Episode seines Lebens: sein Bürokraten-Erlebnis, seine Anstellung im Staatsdienst, die er erschreckt und verstört schnell wieder aufgibt, durch die er aber klarsichtig wird. In der preußischen Amtsstube, die von ihm nicht nur Gehorsam, sondern auch geistige Selbstverleugnung verlangt, wird sozusagen der Romanschreiber und Theaterkritiker geboren. Die »Homburg«-Rezension, die er nun schreibt, ist ein Indiz für die neugewonnene Realitäts- und Kunstoffenheit. Seine Bedenken sind noch da, werden aber durch Kleists Größe besiegt. Einen »Triumph der Kunst« nennt er das – einen Triumph der Klarheit über die Manipulation aber könnte man nennen, was mit ihm selber geschieht und was ihn befähigt, die kleinen und großen, aber meist großartigen Romane zu schreiben – in denen Preußen immer gegenwärtig bleibt, in dieser einmaligen, eben fontanischen Art, die zugleich Anhänglichkeit und Distanzierung ist, und bei der Kritik Liebe nicht ausschließt. Im »Stechlin« dann reift dieses Fontanische zur Vollkommenheit: Der Adlige, der alles Adlige, sich selbst eingeschlossen, kritisch zu sehen vermag, ohne an Ausbruch auch nur zu denken; der Konservative, der froh ist, daß seine Partei nicht gewinnt; der Preußen-Kritiker, der geistig ganz in Preußen lebt. Der heiter-wehmütige Roman ist auch einer des Abschieds vom Leben in und mit Preußen. Für das, was der alte Fontane in der Gegenwart Preußen-Deutschlands Übles sah, hat er meist den Begriff Borussismus verwendet, wohl um es abzugrenzen vom Preußen der klassischen Zeit, dem geliebten Alt-Preußen. Denn dessen Bild hat er zwar kritisch modifiziert, aber nicht verworfen. »Man bleibt im Bann seiner Art und Persönlichkeit«, schreibt er 1889 an Liliencron, »kann aber kritisch doch darüberstehen und hinter sein Eigenstes … ein ernstes Fragezeichen machen.« Zu zerstören brauchte er sein Eigenstes deshalb nicht. Auch er fühlte sich durch Herkunft bestimmt, durch keine adlige wie Kleist, aber durch eine hugenottische, die ihn nicht weniger an Preußen band. Wie der sonst so ganz andersgeartete Kleist hat er sich sein Traum-Preußen immer bewahrt.

Im Jahre 1885 (»Vor dem Sturm«, »Schach von Wuthenow« mit seiner scharfen Preußen-Kritik, »L’Adultera«, »Graf Petöfy« sind schon erschienen, »Irrungen, Wirrungen« ist in Arbeit) schreibt er zu Adolf Menzels 70. Geburtstag ein Gedicht, ein Traum-Gedicht, in dem es vorwiegend um Menzel geht, aber doch wohl auch um ihn selbst. Da trifft er, Theodor Fontane, beim nächtlichen Gang durch Friedrichs Sanssouci den König selbst, der schon seit 99 Jahren nicht mehr lebt. Der spricht ihn an, fragt ihn nach dem Metier, in dem er tätig ist, zeigt spöttisch Mitleid, als er hört: ein deutscher Dichter, gibt ihm Gelegenheit, vom Maler Menzel, der ihn und seine Zeit, die Friedrich-Zeit, im Bild verherrlicht hat, viel Rühmliches zu sagen, und bittet ihn dann, Menzel auszurichten: an Friedrichs Tafelrunde im Elysium sei für ihn ein Platz noch frei. – Das, so scheint es, ist das Höchste, das ein preußischer Dichter einem preußischen Maler wünschen kann: vom (freilich idealisierten) Herrscher anerkannt zu sein.

So spezifisch preußisch diese Träume Kleists und Fontanes auch sind, so allgemein ist doch der Vorgang, der zu ihnen führt; er ist dem verwandt, durch den sich die Romantiker ihr Bild vom Mittelalter schufen, die Klassiker ihr nicht weniger verschöntes Griechenland. Es sind nach hinten verlegte Utopien, an denen man den Wert der Gegenwart mißt.

Vor der Vorstellung, daß Preußen, von dem nach langer Tabuisierung und Verketzerung nun wieder so viel die Rede ist, einen solchen Sinn für uns haben könnte, möchte ich warnen. Für ein Friedens-Utopia, wie wir es brauchen (und das, wie mir scheint, an der Bergpredigt orientiert sein müßte), eignet sich Preußen schlecht, weder das des 18. Jahrhunderts noch das der Befreiungskriege. Vergessen wir nicht, daß nach dem Friedrich-Bild, das Menzel geschaffen hatte, in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts die deutsch-nationalen Preußenfilme gedreht wurden, die die Deutschen auf den nächsten Krieg einstimmten, daß auch der letzte Durchhalte-Film der Nazis 1945 ein Preußen-Film war, daß ihre Schlachtschiffe Scharnhorst und Gneisenau hießen und Goebbels, als er den Totalen Krieg ausrief, nichts Besseres als Theodor Körner zitieren konnte.

Das alles spricht nicht unbedingt gegen Preußen, sollte uns aber skeptisch machen gegen alle Entwerfer preußischer Traditionslinien. Die Gefahr, daß mit diesen Traditionen Menschen erzogen werden sollen, die, wie der Rhein-Preuße Heinrich Heine so treffend sagt, wirken, als »hätten sie verschluckt den Stock, mit dem man sie einst geprügelt«, liegt immer nahe. Es gibt genug Preußisches, das der Liebe und Verehrung wert ist – womit ich, um bei der Literatur zu bleiben, vor allem die meine, die unter der Zensur litten, nicht die, die sie ausübten. Diese Leidenden aber, die Lessing, Kleist oder E.T.A. Hoffmann, brauchen eine Preußen-Renaissance nicht, um lebendig weiterzuwirken.

Es mag ja sein, daß es genial von Clausewitz war, die Erkenntnis, daß der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, zu formulieren. Ich wünschte mir, er hätte den Krieg ein verwerfliches Mittel genannt, und die, die ihm heute Genialität bescheinigen, würden hinzufügen: daß der Krieg unter heutigen Umständen in Europa keine Fortsetzung der Politik, sondern deren Ende wäre. – Mir jedenfalls ist der Preuße Kant lieber – nicht weil er so preußisch-pünktlich war, daß die Königsberger nach seinem Tagesablauf die Uhr stellen konnten, sondern weil er den Aufsatz »Zum ewigen Frieden« schrieb – dessen Titel er übrigens einem holländischen Gastwirt verdankte. Der Mann hatte das Reklameschild seines Hauses, das »Zum ewigen Frieden« hieß, mit dem Bild eines Kirchhofs bemalt, was Kant für Satire hielt und sich fragte, wem sie wohl galt: den Politikern, die der Kriege nicht satt werden können, oder den Philosophen, die den süßen Friedenstraum träumen, ohne ihn wahr werden lassen zu können. Sein Problem war damit umrissen: das von Macht und Moral, die er vereinen wollte.

Und das ist doch wahrhaftig kein nur preußisches Problem.

Nicolai oder Ein Opfer der Vernunft

»Die gute Absicht der Schriftsteller, durch Moral zu nützen, ist immer mit der zufälligen Unbequemlichkeit verknüpft, daß sie in der Ausführung gar leicht Langeweile erweckt.«(»Geschichte eines dicken Mannes«, Band 2, Nachschrift)

Von der Weis- und Blindheit des Alters

Aufklärung kann nicht frei von Didaktik sein. Wer mehr als andere weiß oder zu wissen glaubt und seine Aufgabe darin sieht, dieses Wissen mitzuteilen, muß zwangsläufig zum Lehrenden werden. Benutzt er dazu die Kunst, muß seine Meisterschaft darin bestehen, das Belehrende, gegen das sich Kunst sträubt, so gut es geht zu verbergen. Denn Kunst, wie auch Leben, lehren am besten durch Beispiel.

Nicolais Roman »Vertraute Briefe von Adelheid B.« ist ein Werk der Aufklärung, das man meisterhaft kaum nennen kann – eher schon schulmeisterhaft. Es erteilt Moralunterricht, dessen Ergebnis lautet: Gutes siegt nur durch Vernunft – wobei dieser Begriff Humanes und Soziales zwar beinhalten soll, aber in der Gestaltung fast gleichgesetzt wird mit: Ordnungserhaltung, Bewahrung des Bewährten, Ablehnung jedes Experiments. Wäre die Mahnung »Ruhe ist erste Bürgerpflicht!« nicht erst sieben Jahre nach Erscheinen des Buches geprägt worden, hätte sie der Roman-Lektion als Motto dienen können. So wird dasselbe in ihm mit andern Worten gesagt: Nicht im Zeichen der Revolution, der Französischen, soll das Zeitalter stehen, sondern in dem Friedrichs II., der dem bedürftigen Land die Kartoffel brachte.

1806 brachte die Revolution die neue Zeit in der furchterregenden Gestalt Napoleons nach Berlin. Vielleicht ist Nicolai, der das noch erlebte, damals klargeworden, daß er beim Schreiben des Briefromans die Vergeblichkeit seiner Warnung geahnt hatte: Zwar siegt in den »Vertrauten Briefen« die Vernunft, aber Adelheid stirbt an ihr.

Reizvoll an diesem Zeitroman ist sein Ver- und Enthüllungsspiel. Personen und Orte werden vom Verfasser maskiert, aber nicht allzusehr. An völliger Unkenntlichkeit ist ihm nicht gelegen. Die Larve, die er den Sündern mit der einen Hand vor das Gesicht hält, lüftet er mit der andern (in den Fußnoten) wieder. Daß die Stadt mit den guten (den aufgeklärten) und den schlechten (den romantischen) Zirkeln nur Berlin sein kann, ist klar; der Haß auf die Universitäten (Berlin bekam erst elf Jahre später eine) macht den Autodidakten kenntlich; und aus der weiblichen Verkleidung der Adelheid B. spricht unverhohlen ein alter Mann.

Auch daß der Roman ohne Verfasserangabe erschien, war nur ein halbes Verstecken. Nicht nur die Rezensenten wußten, daß dieses 1799 in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung erschienene Werk nur den zum Autor haben konnte, der schon seit fünfundzwanzig Jahren die literarische Welt mit seinen vernunftsmoraldurchtränkten Verdammungen erregt, verärgert oder belustigt hatte. Zwar stand der Sechsundsechzigjährige mit seiner Ablehnung alles Neuen in Literatur und Philosophie nicht allein, doch war nur er so leichtsinnig, das an Frühstücks- und Stammtischen Geäußerte auch drucken zu lassen. Denn wer gibt schon gern zu, daß er Vorurteile gegen die Jugend hat! Man hat sie, aber verschweigt oder kaschiert sie, weil auch in den verknöchertsten Alten die Spur einer Ahnung davon lebt, daß eine begabte, selbstbewußte und folglich unbequeme Jugend, wie umwegig auch immer, recht hat.

Der aktuelle Wert der »Vertrauten Briefe« liegt in der Umkehrung ihrer ursprünglichen Absicht. Sollten sie damals vor Irrwegen der Jugend warnen, liest man sie heute als Warnung vor den Vorurteilen des Alters. Allerdings muß, wenn dieser Erfolg eintreten soll, der Leser einige Voraussetzungen mitbringen: Er muß erwachsen sein, also erfahren haben, daß auch das Selbstverständliche selbstverständlich vergeht; er muß unfreiwillige Komik genießen, also gegen den Strich lesen können; er muß (was leicht ist) in mancher Hinsicht klüger als Nicolai sein und schließlich auch Gerechtigkeitssinn haben: den Einer-und-andererseits-Blick, der auch bei drohender Selbsterkenntnis nicht blind wird.

Im Hinblick auf seine (nicht etwa auf unsere) Zeit klüger zu sein als Nicolai, fällt uns, wie gesagt, leicht. Wir können ihn, dessen Name bedeutungslos geworden ist, als Narren empfinden, weil er Jüngere, deren Bedeutung sich inzwischen als dauerhaft erwiesen hat, Narren nennt; wir können komisch finden, für wie leicht der greise Autor die Beherrschung von Leidenschaft hält; wir dürfen das Hohelied auf die Vernunft wie eine Parodie preußischer Aufklärungsmoral lesen – nie aber dabei die Fragen überhören, die dieses Buch an uns selber stellt. Es sind Fragen nach dem Gewohnten und dem Bewährten, nach Tradition und Prinzip, nach allem, was auch uns in der bewegten Zeit feststehend scheint. Weichen wir diesen Fragen aus, nimmt die Selbstgerechtigkeit, die wir belachen, schon von uns selber Besitz.

Zum Glück gibt es in den »Vertrauten Briefen« genügend Details, die auch den Begriffsstutzigsten stutzen lassen. Daß die Schmähung der Jungen bei ihren Haaren und Kleidern beginnt, scheint doch seltsam vertraut, und der Hauptvorwurf an sie: anders sein zu wollen, als die Norm es befiehlt, auch. Wenn der alte Mann, der da dauernd aus Adelheid spricht, der verzärtelten Jugend rät, die Mängel, die die Gesellschaft bei all ihren Vorzügen hat, nicht zu bekämpfen, sondern ruhig zu ertragen, kommt er einem so altertümlich wie seine Redeweise nicht vor. Und wenn er, da Predigen nicht hilft, im Interesse aller, auch streng, ja brutal werden muß und die Pistole zieht, damit die Mähne, das Zeichen der Auflehnung, fällt und die alte Standardisierung siegt, führt er, ohne es zu wollen, auch vor, daß Alter nicht nur weise, sondern auch blind machen kann.

Der Zopf

Neben Wesentlicherem hatten die durch die Französische Revolution in Europa eingeleiteten Umwälzungen auch die Haarmoden verändert. Die Frisuren der jungen Männer in den »Vertrauten Briefen« waren also ein Zeichen der Zeit und Nicolais Empörung über sie eins der Rückständigkeit. Obwohl er klug genug war, den Zopf, dessen Zeit bald vorbei war, nicht ausdrücklich zu fordern, empfand er wahrscheinlich nur ihn als gesittet, weil er ihn gewohnt war. In seiner Kindheit waren im Preußen des sparsamen Soldatenkönigs die aufwendigen Perücken von den billigeren Zöpfen abgelöst worden und hatten sich als Männer-Normalfrisuren bis zum Ende des Jahrhunderts gehalten. Über Perücken hat Nicolai später (ohne dem spaßigen Thema, wie Jean Paul erstaunt feststellte, einen Spaß ablocken zu können) ein ganzes Buch geschrieben. Sie waren für ihn Geschichte, der Zopf aber Gegenwart. Noch Nicolais Schwiegersohn Parthey (der allerdings nur wenig jünger als er war) wurde, wie der Enkel berichtet, täglich nach altem Ritus frisiert.

Da tritt, das Frisierzeug unter dem Arm, zuerst Wilhelm, der Diener, auf, breitet ein Leinentuch auf dem Teppich aus, stellt einen Stuhl darauf, hüllt seinen Herrn in einen Umhang und bittet ihn, Platz zu nehmen. Während der Herr sich in die Zeitung vertieft, löst Wilhelm den Vortags-Zopf auf, kämmt das Haar durch und schmiert Pomade hinein, bis es überall glänzt und stark duftet. Mit Hilfe eines Zylinders aus Holz werden die horizontal über den Ohren liegenden Locken gedreht, die des steifenden Fettes wegen den Tag über halten. Die Blechbüchse, in der Weizenmehl ist, wird geöffnet und die Puderquaste aus Flaumfedern hineingetaucht. Das Betupfen des Haars erzeugt eine mehlige Wolke, die Herr und Diener zeitweilig verhüllt. Wenn sie den Boden erreicht hat, ist nicht nur das Fetthaar bepudert, sondern auch die Zeitung, die abgeklopft werden muß, um wieder lesbar zu sein. Der Zopf, der nun an der Reihe ist, wird so straff geflochten, daß er am Nacken dicht anliegt. Das Ende des schwarzseidenen Bandes, das, der Stärke wegen, mitverflochten wird, hält Wilhelm während der Arbeit zwischen den Zähnen, um mit ihm schließlich den fertigen Zopf fest zu umwickeln. Jetzt ist die Frisur perfekt, das Gesicht des Herrn aber bemehlt. Mit dem Pudermesser wird es freigeschabt. Während Wilhelm das Zimmer reinigt, entfernt sich sein Herr, den Hut in der Hand; denn säße der auf dem Kopf, würde er nicht nur die Seitenlocken zerdrücken, sondern auch bald von Fett glänzen.

Gustav (in den »Vertrauten Briefen«) ist also durchaus zu verstehen, wenn er seinen Kurzhaarschnitt für praktischer hält. Die Epoche, die später (von Schinkel und seiner Schule) verächtlich Zopfzeit genannt wird, ist für ihn vorbei, nicht aber für Nicolai, für den das die große Zeit war, die Zeit seiner Erfolge, die Zeit der Aufklärung, der Toleranz, der Vernunft. Er hatte Grund, stolz auf diese Zeit zu sein, auch deshalb, weil er keiner Hochschule bedurft hatte, um zu der Bedeutung aufzusteigen, die er nicht nur für Berlin und Preußen, sondern für ganz Deutschland gehabt hatte. In seiner kurzen, zerrissenen Schulzeit auf insgesamt drei Gymnasien hatte er die Lebensfremdheit der damaligen Bildungsmethoden erfahren, hatte als Buchhändlerlehrling in Frankfurt an der Oder, in einer elenden Kammer hockend, sein Selbststudium begonnen und war damit so erfolgreich gewesen, daß er nicht lange danach, wieder in Berlin, schon bei den literarischen Auseinandersetzungen der fünfziger Jahre hatte mitreden können. Nach beiden Seiten schlechte Noten verteilend, hatte er in den Streit zwischen dem Leipziger Professor Gottsched und dem Schweizer Bodmer eingegriffen und durch diese Kühnheit die Freundschaft Lessings gewonnen. Mit diesem und Moses Mendelssohn gemeinsam hatte er über die Theorie des Trauerspiels korrespondiert, die durch Lessings Mitarbeit so wichtig gewordene kritische Zeitschrift »Briefe, die neueste Literatur betreffend« herausgegeben und schließlich, nachdem er das Verlagsunternehmen des Vaters geerbt hatte, den kühnen Plan einer enzyklopädischen Zeitschrift entwickelt und durchgeführt: der »Allgemeinen Deutschen Bibliothek«, kurz »ADB« genannt, die wie keine andere dazu beigetragen hatte, den Geist der Aufklärung in ganz Deutschland zu verbreiten. Daneben hatte er viel geschrieben: Literaturkritisches, Philosophisches, Kulturhistorisches, Topographisches, Reisebeschreibungen und Romane. Als Haupt der Berliner Aufklärung und als Befehlshaber eines Heeres von »ADB«-Rezensenten war er eine Macht. Man kannte ihn, achtete ihn, aber man liebte ihn nicht – seiner Einseitigkeit wegen. Denn in dem Bestreben, eine Gefährdung vernünftigen Denkens nicht zuzulassen, ging er mit moralisierendem Eifer gegen alles vor, das anti-aufklärerisch war oder ihm zu sein schien. Schon gegen Klopstock, der die Bardengesänge der barbarischen Altdeutschen wiedererwecken wollte, hatte er angehen müssen. Herder, einst Mitarbeiter der »ADB«, mußte, wie auch Bürger, zur Ordnung gerufen werden, als er die Volkslieder pries, die doch aus primitiven, voraufklärerischen Zeiten stammten. Gegen den talentierten, aber gefährlichen Autor der »Leiden des jungen Werthers« mußte er genauso vorgehen wie gegen den sich in unverständlichen Abstraktionen verlierenden Philosophen Kant, der unglücklicherweise auch noch Schiller beeinflußte, der also auch zu bekämpfen war. Nun aber begannen auch die jungen Romantiker sich zu regen und sogar in Berlin einzudringen. Waren ihm die zopffeindlichen Stürmer und Dränger mit ihrem Genie-Kult schon zuwider gewesen: Die Schlegel, Tieck, Fichte, die zu Mystischem, Märchenhaftem, Spekulativem neigten und obendrein auch noch Goethe verehrten, waren es ihm noch mehr. Den »Vertrauten Briefen« merkt man das an.

Aber gefürchtet wurde Nicolai um diese Zeit (um 1800) schon nicht mehr. Zwar existierte seine Hausmacht, die »ADB«, noch, aber ihr Einfluß war nur noch gering. Nachdem Goethe und Schiller in unfeiner Weise über den besserwisserischen Kritiker hergezogen waren, kamen die andern, die Tieck, Schlegel, Jean Paul, nach, bis dann Fichte so ausfallend wurde, daß selbst seine Freunde meinten, solche Grobheit habe der alte Nicolai nun wiederum auch nicht verdient. Dieser wehrte sich öffentlich gegen den Spott bald nicht mehr; nur die Aufnahme Fichtes in die Berliner Akademie der Wissenschaften gelang es ihm noch zu verhindern. Der Zusammenbruch Preußens und das Aufblühen romantischen Denkens drängten ihn vollends ins Abseits. Als der Achtundsiebzigjährige 1811 (nach seiner Frau und nach allen seinen Kindern) starb, wußten seine Enkel, die sich für Goethe, Tieck und Jean Paul begeisterten, kaum noch von seiner einstigen Bedeutung.

Läßt man die seit langem verbreitete Meinung gelten, daß Nüchternheit (die sich auch mit Sentimentalität verträgt), Toleranz (die auch streitlustig sein kann), Skepsis und Tüchtigkeit typisch preußisch-berlinische Eigenschaften sind, so war Nicolai ein Berliner, wie er im Buche steht; und auszuschließen ist nicht, daß der Ruf, den er genoß, dazu beitrug, dieses Pauschalurteil über die Berliner zu festigen. Daß er und sein Kreis in Büchern und Briefen von Zeitgenossen oft »die Berliner« genannt werden, legt jedenfalls eine solche Vermutung nahe. Daß diese Erwähnungen selten von Sympathie für ihn zeugen, liegt einmal daran, daß Rezensenten (und in besonderem Maße ein Chef vieler Rezensenten) bei Autoren selten beliebt sind, zum anderen aber an ihm selbst. Denn da er für die Jungen kein Verständnis hatte, hatten sie keins für ihn; da er als Grobian auftrat, wurde er grob behandelt, und da er die Verdienste anderer nicht sah, übersah man auch seine oder versuchte, sie zu verkleinern. Sein Name, der einst neben dem Lessings geleuchtet hatte, wurde zum Synonym für platten Rationalismus, für Philistertum, Trivialität und Unpoesie. Bei Jean Pauls satirischem »Luftschiffer Giannozzo« von 1801 hört sich das so an: »Himmel! es waren [die Nicolaiten nämlich] aufgeklärte Achtzehnjahrhunderter; sie standen ganz für Friedrich II., für die gemäßigte Freiheit und gute Erholungslektüre und einen gemäßigten Deismus und eine gemäßigte Philosophie; sie erklärten sich sehr gegen Geistererscheinungen, Schwärmerei und Extreme; sie lasen ihren Dichter sehr gern als ein Stilistikum zum Vorteil der Geschäfte und zur Abspannung vom Soliden; sie genossen die Nachtigallen … als Braten und machten mit der Myrte … den Ofen heiß … und nur für ein Ding brennt ihr frostiger Geist: für den Leib; dieser ist solid und reell, dieser ist eigentlich der Staat, die Religion, die Kunst, und diesem diene die Berliner Monatsschrift. – O, wie mir dieses blankgescheuerte Blei der polierten Alltäglichkeit, dieses destillierte Wasser, dieser geschönte Landwein ein Greuel ist!« Und dann wirft er den »allgemein-deutsch-bibliothekarischen Menschen« vor, daß sie nur erkennen können, was ihnen ähnlich ist.

Und damit hat Jean Paul zweifellos recht, nur trifft das auf andere Leute ebenso zu, auf Goethe zum Beispiel, der es mit den von Nicolai angefeindeten Romantikern auch nur solange hielt wie es aussah, als folgten sie seinen Spuren. Im Geltenlassen anderer waren viele der Großen nicht groß.

Die Rezensierfabrik

Hauptgrund für alle Streitereien Nicolais mit den Jüngeren war seine Beständigkeit, die man auch Starrsinn nennen könnte. Er begriff nicht, daß die Erfahrungen eines alten Mannes alte Erfahrungen sind, die irgendwann nicht mehr gelten. Sein Leben (das eines tüchtigen Bürgers im friderizianischen Preußen) hielt er deshalb für das Ideal jedes Lebens. Da sein gut ausgebildetes Selbstbewußtsein ihn dazu verführte, die Schranken, die seinem Denken und Empfinden gesetzt waren, generell für unüberschreitbar zu halten, geschah ihm nur recht, daß man ihn lächerlich machte. Unrecht war dabei nur, daß die Verdienste, die er innerhalb seiner Grenzen hatte, ihm dabei auch aberkannt wurden. Daß dies so gründlich geschah, hat mit der Größe seiner Gegner zu tun; denn durch ihre, nicht durch seine Werke wurde das Urteil der Nachwelt bestimmt.

Will man das in seiner Spätzeit gezeichnete karikaturistische Bild von ihm entzerren, muß man zuerst daran erinnern, daß seine Tätigkeit sich nicht in der verständnislosen Bekämpfung anderer erschöpfte. Er hat, neben vielen Werken, die nur noch Spezialisten interessieren können, doch einige geschrieben, die immer wieder Neudrucke verdienten: den trotz Langstiligkeit lesenswerten Roman »Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker« zum Beispiel, die zwölfbändige »Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz« oder auch die für die Erforschung der Geschichte Berlins und der Mark äußerst verdienstvolle »Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam« – wobei allerdings gesagt werden muß, daß deren aller Wert mehr auf historischem als auf literarischem Gebiet liegt. Sie alle können als Quellenwerke der Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts benutzt werden, weil Nicolai, dem es an Phantasie und tiefgründigem Denken fehlte, diese durch Genauigkeit ersetzte. In der »Beschreibung der Residenzstädte« findet man jede Straße, jedes wichtige Gebäude, jedes Denkmal verzeichnet; man kann lesen, welches Amt für welches Gebiet der Verwaltung zuständig war, wie und wo Reisende mitgeführtes Gepäck verzollen mußten und wieviel für ein Gasthofzimmer zu bezahlen war. Wenn Nicolai selbst reiste, erfuhr man von ihm nicht (wie von dem »empfindsamen« und den romantischen Reisenden), welche Gefühle ihn dabei bewegten, sondern was ihn die Reise kostete, wieviel Meilen er zurücklegte, wie gut oder schlecht gepflastert die Straßen waren und wie die Leute in andern Städten sich kleideten. Da er weder auf schöne Gefühle noch auf Abenteuer aus war, wurden die Reisetage sorgfältig geplant, die Routen festgelegt, Pläne, Statistiken, Standesamtsregister studiert und vor und nach der Reise Briefe an Bekannte (Rezensenten der »ADB« zum Beispiel) geschrieben, in denen Besichtigungspläne gemacht und öffentlich nicht zugängliche Auskünfte eingeholt wurden. Reisewagentypen wurden studiert, um den besten wählen zu können. Ein Schrittzähler für Fußmärsche und einer für Wagenfahrten wurden angeschafft und ein neuerfundener Füllfederhalter besorgt, bei dem aus einer Metallkapsel Tinte in den Gänsekiel floß. Er konnte also an Ort und Stelle alles, was er erfuhr, notieren – und brauchte dann dreizehn Jahre, um diese Detailmassen in die zwölf Bände mit ihren insgesamt 5000 Seiten umzulegen. Im elften Band war er in Tübingen, und da dort der Klassiker-Verlag Cotta war, benutzte er die Gelegenheit, um über Schiller herzufallen – was dann zur Folge hatte, daß der Spott der »Xenien« sich vorwiegend gegen die »Beschreibung einer Reise« richtete, deren Wert für alle Zeiten verdunkelte und darüber hinaus auch noch Nicolais Hauptverdienst, seine Herausgebertätigkeit, in Frage stellte.

Goethes und Schillers Ärger über den alten »Nickel« war so groß, daß es ihnen, in dem Bestreben, ihn zu verletzen, auf Wahrheit nicht so genau ankam. Da Nicolai sich seit seiner »Werther«-Parodie (die übrigens weniger Kritik am Buch als an den Folgen seiner Wirkung gewesen war) als Feind gezeigt hatte, durfte nun auch seine ruhmreiche Vergangenheit nicht wahr sein, mußte auch sein Beitrag zur Aufklärung und zur Entwicklung einer ernst zu nehmenden Literaturkritik geleugnet werden. Er hatte also, glaubt man den »Xenien«, als Lessing und Mendelssohn mit den »Briefen, die neueste Literatur betreffend« entscheidende kritische Impulse gegeben hatten, den beiden nur »die Lichter geschneuzt«.

In diesem Punkt besonders aber darf man den »Xenien« nicht glauben, was leicht fällt, da Goethe in späteren Jahren (in »Dichtung und Wahrheit«) sich selbst revidierte. Mit dem braven, verdienst- und kenntnisreichen Mann, von dem er da spricht, ist der Herausgeber und Verleger gemeint, und tatsächlich sind Nicolais Verdienste in dieser Hinsicht unbestritten. Mag sein geistiger Beitrag zu den »Briefen, die neueste Literatur betreffend« auch nicht erheblich gewesen sein, so hat er mit ihnen doch Lessing erst das Instrument geliefert, mit dem dieser seine kritische Wirkung entfalten konnte. Und wenn er dann anschließend selbständig, ohne Lessing, sein größtes Unternehmen, die »ADB«, startete und jahrzehntelang fortführte, so leistete er damit nicht nur einen Beitrag zur Entwicklung des gelehrten Journalismus in Deutschland, sondern trug auch wie kein anderer zur Popularisierung der Aufklärung bei.

Hohe Ziele hatte sich Nicolai mit diesem Rezensionsorgan gestellt. Sämtliche im deutschsprachigen Raum erscheinenden Bücher aller Wissensgebiete (einschließlich der Übersetzungen) sollten angezeigt und besprochen werden. Das in viele Staaten zerrissene Deutschland sollte dadurch eine Art kulturelles Zentrum bekommen und die freimütige, sachkundige, der Aufklärung verpflichtete Kritik gefördert werden. Obwohl das Ziel der Vollständigkeit (bei einer von Jahr zu Jahr ansteigenden Buchproduktion) nie erreicht werden konnte und von den siebziger Jahren an ähnliche Journale der »ADB« Konkurrenz machten, war ihre erstrebte Breitenwirkung doch enorm. Vierzig Jahre lang (von 1765 bis 1805) hat sie ziemlich umfassend über die Entwicklung der Künste und Wissenschaften informiert. Insgesamt 433 Mitarbeiter haben in dieser Zeit etwa 80000 Bücher rezensiert. Nicolai, der, abgesehen von einer zensurbedingten Unterbrechung von acht Jahren, das Riesenunternehmen leitete, hat sich dabei als Organisator der Aufklärung glänzend bewährt.

Wenn diese Rezensionsfabrik, wie Fichte sie nannte, bei den Autoren nicht immer beliebt war, so liegt das einmal daran, daß ihr Aufklärungsstandpunkt, von dem aus sie urteilte, mit wachsendem Alter mehr und mehr in Gegensatz zu den sich neu entwickelnden Literaturtendenzen geriet, zum andern aber auch an der allgemeinen Rezensentenfeindlichkeit der Autoren – die Fichte in der dritten Beilage seines Anti-Nicolai-Buches, bezogen auf die »ADB«, in die Worte faßte: »Wer selbst ein Buch schreiben kann, der schreibt ein Buch und keine Rezension, und für die Rezensionen bleiben in der Regel nur diejenigen übrig, die kein Buch schreiben können: hinter ihrem Zeitalter zurückgebliebene Invaliden, deren Bücher keinen Absatz und also keinen Verleger finden, und Schüler, die zwar ein Aufsätzchen in Größe einer Rezension zusammenbringen, aber nicht den Plan eines Buches entwerfen können.« Und er kommt deshalb zu dem Schluß, daß die »ADB« wie jedes Rezensionsblatt ein an sich widersinniges Unternehmen ist.

Konkurrenz in Geselligkeit

Die berühmten Salons der romantischen Zeit hatten in den weniger berühmten Klubs der Aufklärungsepoche ihre Vorläufer. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts (zur Zeit der »Vertrauten Briefe« also) bestanden beide nebeneinander: die der Väter und die der Töchter und Söhne. Nicolai gehörte im Laufe seines Lebens drei Kreisen an: einem schöngeistigen Kaffeekränzchen, an dem mehr als hundert Personen beteiligt waren, und zwei exklusiveren Klubs.