Liane und ihr Baby - Elisabeth Schulz-Semrau - E-Book

Liane und ihr Baby E-Book

Elisabeth Schulz-Semrau

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Beschreibung

Liane stolperte benommen über ausgestreckte Beine im Wartezimmer, murmelte eine Entschuldigung, öffnete eine Tür, es war die falsche, sie führte in einen zweiten Untersuchungsraum. Liane erkannte es an dem besonderen Stuhl, von solch einem war sie gerade heruntergeklettert. Rasch warf sie die Tür zu, fand die richtige nach draußen, wurde aber von der Sprechstundenhilfe zurückgerufen: Sie haben die Überweisung vergessen! Als Liane sie verständnislos ansah, drückte sie dem Mädchen ein Blatt Papier in die Hand, fügte hinzu: Damit melden Sie sich bei der Schwangerenberatung Ihres Stadtbezirks! Psychologisch einfühlsam schildert die Autorin die Nöte und Ängste des fünfzehnjährigen Mädchens Liane - soll sie das Kind austragen oder nicht? LESEPROBE: Inge Peterson schließt die Wohnungstür auf, sofort spürt sie sich von Steffis Armen umklammert, hört: Maamaa - in Lianes Campingbeutel sind Jäckchen, Hemdchen, Strampelhosen, sogar Schuhe für meine Puppe Grit. Aber Liane hat sie mir, weiß ich, warum, weggerissen, behält sie, Mama, die ist doch viel zu groß, mit Puppen zu spielen! Steffi hält ihrer Mutter ein Jüpchen, mit Noppen gestrickt, dazu eine kleine Mütze entgegen, Ist 'ne Ausfahrgarnitur, Mutti, erklärte sie wichtig. Und sieh mal, auch das noch! Sie hebt einen Packen Windeln hoch. Bestimmt hat Oma alles für mich mitgegeben! Liane hat die Wäschestücke an sich gepresst, sie sieht die Mutter ängstlich an. Die wiederum erschrickt vor Liane. Fragt: Um Himmels willen, Tochter, das kann doch nicht wahr sein? Sag, dass es nicht stimmt... Liane weiß auf einmal zu ihrer Erleichterung, dass ihre Mutter die Tatsache erfasst hat. Sagen musst du es ihr, hatte Oma verlangt. Aber die Erleichterung schlägt gleich in Schreck, Entsetzen, Versteinerung um. Sie steht, lässt sich nun ohne Protest die Kindersachen von Steffi aus den Händen zerren. Inge Peterson hat die Netze, wo sie steht, fallen lassen, blickt ungläubig auf die große Tochter, schreit: Nun sag endlich was! Als Liane weiterhin schweigt, stürzt sie auf das Mädchen zu, greift sie bei den Schultern. Sie ist durch ihre Arbeit kräftiges Zupacken gewohnt; so spürt Liane schmerzhaft die Hände der Mutter, die sie schütteln und an ihr reißen. Habe ich als deine Mutter keine anständige Erklärung verdient? Liane vermag weiterhin nichts zu sagen. Die Mutter ist nun völlig außer sich. Sie zieht das Gesicht der Tochter zu sich hoch, aber die drückt den Kopf nach unten, ohne einen Laut von sich geben.

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Impressum

Elisabeth Schulz-Semrau

Liane und ihr Baby

ISBN 978-3-86394-651-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1988 beim Kinderbuchverlag Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Erstes Kapitel

Es ist soweit, Liane, sagte die Stationsschwester. Nach der Visite können Sie dann gehen.

Das Mädchen im Bett, in einem Zimmer hoch über der Stadt, dieser großen und geteilten, rollte sich - oder soll man sagen krümmte sich - klein. So, als trachte es danach, in das winzige Bett neben sich, diesen Ableger eines Bettes, zu kriechen, um sich an das darin liegende, immer noch unbegreifbare Wesen zu kuscheln, sich an ihm festzuhalten, an ihm warm zu werden, sich womöglich ganz darein zu verwandeln, und sich vorzustellen als: Ich bin Sue Peterson, sechs Tage alt. Meine Mutter, Liane Peterson, muss mich wohl lieben, denn sie hat mich haben wollen. Gegen Widerstände dieser Welt, die ich noch nicht auszumachen weiß, hat sie mich haben wollen!

Und nun wird sie mich hüten müssen...

Und das große Mädchen in dem großen Bett dachte: Sechzehn Jahre. Ist das lang, oder ist es eine kurze Zeit?

Vor sechzehn Jahren habe ich so neben meiner Mutti gelegen. War sie da froh? Hatte sie mich da gern? War ich ihr so wichtig, wie Sue es für mich ist? Damals wenigstens?

Aber ich will, dass Sue mir auch in sechzehn Jahren noch ganz wichtig ist!

Zweiunddreißig bin ich dann! Kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, so alt zu sein. Mutti ist sogar schon sechsunddreißig.

Vielleicht macht einen Altsein so?

Aber das kann ja auch nicht stimmen, Oma ist zwanzig Jahre älter und ganz anders.

Das Maunzen neben sich lässt das Mädchen zurückrollen. Erschrocken richtet es sich auf, beugt sich über das Kinderbett.

Aber es scheint nichts Beunruhigendes. Der winzige Mensch dort verzieht sein kleines Gesicht zu einer Fratze, so, als würde er schon gegen irgendetwas protestieren.

Liane sieht mit Neugier und Erstaunen auf den breitgepressten Mund, der die gesamte Kinnpartie böse wirken lässt. Dazu auf der Stirn ein großes V. Das Kind scheint zu träumen. Urplötzlich lächelt es und sieht aus wie Timm.

So was, denkt die junge Mutter, worüber kann es denn so lachen? Es kennt doch nichts bisher. Und sauer sein? Worüber? Ist das komisch. Vielleicht ist ihm nicht gut? Liane blickt angestrengt auf das Kind. Das schläft ruhig weiter, die Fäuste ans Kinn gepresst.

Haben Sie das auch schon bemerkt, wendet sich Liane an die Frau im Bett gegenüber, dass Ihr Kleiner Gesichter schneidet?

Die Frau ist zwölf Jahre älter als Liane und hat bereits eine vierjährige Tochter. Eine richtige Frau also, hatte Liane für sich festgestellt.

Die Frau liegt seit drei Tagen hier und hat einen Jungen geboren. Liane hatte sich immer überwinden müssen, sie anzusprechen. Sie glaubte zu fühlen, die Frau habe etwas gegen sie oder ihr Jungsein.

Gerade sechzehn? hatte sie erschrocken zu Liane rübergefragt.

Eine andere Patientin, die bis gestern im Nebenbett gelegen hatte, auch mit einer Tochter, war achtzehn, und mit der hatte sie etwas erzählen können. Aber meistens hatte die andere geredet. Sie war erfüllt von ihrer Hochzeit, die demnächst stattfinden würde. Dass sie nun doch das lange, glockig geschnittene Kleid und einen Schleier tragen könnte. Was es zu essen geben würde. Wie viele Gäste kämen. Davor wäre noch ein richtiger Polterabend, da würden Kollegen von ihr und ihrem Mann kommen, und es würde hoch hergehen. Schließlich gäbe es sogar eine kleine Hochzeitsreise. Fünf Tage Budapest. Ihre Mutter nähme solange die Mandy...

Aber du musst sie doch stillen, hatte Liane sich erschrocken erkundigt.

Mädchen, hatte die andere amüsiert geantwortet, bis dahin habe ich doch längst abgestillt. Nee, ich will mir ja nicht meine Figur verderben!

Da hatte sich die Frau aus dem Nebenbett eingemischt. Sie hatte am ersten Tag ziemlich apathisch dagelegen, und das Baby war von den Schwestern versorgt worden. Der Arzt hatte ihr den Bauch aufschneiden müssen, um das Kind lebendig herauszuholen.

Wer hat Ihnen nur den Quatsch von der Figur erzählt? Selbst wenn es so wäre... Sie können Ihrem Kind nichts Besseres bieten als Muttermilch. Sie sehen ja, dass es bei mir schon jetzt nicht reicht. Ich werde täglich herkommen müssen, um mir Milch von Müttern zu holen, die zuviel davon haben.

Bettina, so hieß die künftige Hochzeiterin, hatte nur die Augen verdreht, und als die Frau mal draußen war, zu Liane hinübergeflüstert, als würde der kleine Junge in seinem Bettchen seiner Mutter davon berichten.

Na ja, die ist Lehrerin, da bekommt sie fürs schlaue Reden bezahlt. Ich weiß, was ich weiß. Ich lauf mal nicht mit 'ner Brust wie 'n Kuhbusen rum.

Als sie sich von Liane verabschiedete, sagte sie: Besuch mich doch mal, Kleene. Wird schon alles laufen, mach dir keinen Kopp. Dein Macker ist zwar ein Bübchen, aber den kriegste mit deiner Sue zusammen auch noch groß. Halt ihn nur fest am Schlips. Männer sind so was verdammt Unzuverlässiges!

Die erwachsene Frau im Bett gegenüber hatte mit dem Kopf geschüttelt, aber nichts gesagt.

Liane hatte gedacht, damit ist die Frau wohl auch nicht einverstanden. Am Schlips festhalten möchte ich nie jemanden, der nicht bleiben will. Und wie Männer sind, weiß ich nicht. Will ich auch nicht wissen.

Obwohl Papa - und Paul... Aber Timm ist ein Junge!

Er war wirklich zur Vaterstunde gekommen. Zweimal sogar. Liane war ganz verstört gewesen, als er ins Zimmer trat.

Meine Mutter meinte, es ist gut für dich, hatte er erklärt.

Zu ihrer Erleichterung waren der Mann von der erwachsenen Frau und der Bräutigam der Hochzeiterin auch erschienen, so waren die anderen beiden beschäftigt gewesen.

Timmi hatte den Palästinenserschal, den sie so mochte, zweimal um den Hals geschlungen und die Fransenenden lässig nach vorn und auf den Rücken geworfen. Bewusst lässig, als hätte er in der Pause mal kurz, gegen die Schulordnung verstoßend, die Kaufhalle nebenan aufgesucht, um ein paar Kaugummis zu besorgen.

Den Schal, grün, weiß, schwarz mit einem roten Dreieck an den Enden, hatten sie zusammen während einer Solidaritätskundgebung auf dem Alex gekauft, und sie war die erste gewesen, die ihn so schick um seinen Hals gebunden hatte. Darum also...

Und er hatte auch wirklich Kaugummis auf ihr Bett gelegt, gesagt: Ich dachte, damit es hier nicht so langweilig ist.

Langweilig - hätte sie sagen wollen -, ach, Timm, wenn du wüsstest, es ist so aufregend mit dieser Sue...

Sie hatte genickt, die Kaugummis in der Nachttischschublade verwahrt und wortlos auf seine Tochter gewiesen.

Er hatte eine ziemlich lange Weile vor dem kleinen Bett gestanden, aber nichts gesagt. Erst als sie fragte: Na, wie findest du sie? antwortete er: Ich glaub schon, dass sie ganz in Ordnung ist.

Willst du sie nicht mal hochnehmen, versuchte Liane sein Interesse zu wecken. Der Bräutigam und der Ehemann trugen ihre Kinder bereits, zwar ungeschickt, aber wie ein Weihnachtsgeschenk im Arm.

Lieber nicht, sagte Timm rasch, sie ist so klein, Sie kann mir wegrutschen. Und... riecht sie nicht ein bisschen komisch?

Liane glaubte, dass er etwas angeekelt auf das Baby guckte. Und da sagte sie, und sie hätte nie gedacht, dass sie so etwas vermochte: Deine Tochter hat dir aus Freude, dass du kamst, eins gekackt! Aber es tat ihr gleich wieder leid, als sie sein hilfloses Gesicht sah. Na, das ist doch natürlich bei so einem kleinen Kind, fügte sie hinzu.

Als Timm gegangen war, hatte sie sich zusammengerollt. Sie hatte nicht geheult, aber auch kein Wort gesagt. So mussten die beiden meinen, alles liefe normal bei ihnen...

Während Liane noch auf die Antwort der erwachsenen Frau wartete, sah sie es erneut. Rief aufgeregt: Kommen Sie mal, da ist es wieder!

Die Frau verließ ihr Bett. Sie beugten sich über Sue. Wieder kräuselten sich Mund und Stirn wie aus Trotz oder Wut. Die Hände griffen ziellos in die Luft. Der Mund öffnete sich, als setze er zu einer Schimpfrede an. Eine Grimasse dann, die in einem großen, das ganze kleine Gesicht bestimmenden Lächeln endete.

Wie schön, sagte die Frau neben Liane. Wissen Sie, ich habe während der Schwangerschaft ein Buch gelesen, so ein psychologisches. Darin wird nachgewiesen, dass die Kindheit von ungeheurer Bedeutung für das gesamte Leben eines Menschen ist. Und die Wissenschaftler behaupten, dass erste Erfahrungen und Formungen bereits im Mutterleib beginnen. Das Unterbewusstsein des Kindes zeichnet Erlebnisse auf, die erst viel später zu wirken beginnen. - Bestimmt hatte Sue schon ihre ersten Abenteuer, als Sie sie noch mit sich herumtrugen. Die müssen mit Ihrem Leben zu tun gehabt haben. Nun scheint sie davon zu träumen.

Liane biss sich auf die Unterlippe, das tat sie immer, wenn sie erschrocken war. Meinen Sie wirklich, fragte sie zögernd, Sue soll das alles mitbekommen haben?

War's denn so schlimm? fragte die Frau mitfühlend.

Liane, unvorbereitet auf diese Zeit verwiesen, kämpfte gegen Tränen.

Sie hörten draußen die Türen klappen, Stimmen näher kommen. Sie huschten beide in die Betten zurück.

Bis sich die Tür jedoch öffnete, die so genannte "weiße

Wolke" in das Zimmer schwebte, fragte Liane angstvoll die Frau: Wie denn? Wie kann, was Sue jetzt erlebt oder schon in mir erlebt hat, erst viel später wirken?

Es stand in dem Buch, dass Säuglinge, die von ihren Müttern nicht gewollt wurden, die man lieblos oder ungerecht behandelte, als Erwachsene meist unter irgendwelchen Schäden zu leiden hatten, erklärte die Frau.

Schäden? forschte Liane rasch. Da waren die vielen Schritte schon nahe der Tür.

Das war unterschiedlich, je nachdem, was ihnen als Baby damals passiert ist. Manche Menschen waren überängstlich, manche unbeherrscht, wieder andere aggressiv, einige hatten daher eine richtige Krankheit...

Drei Ärzte, zwei Schwestern, fünf Medizinstudenten und die Fürsorgerin kamen herein und scharten sich um das Bett der erwachsenen Frau. Die Wunde wurde untersucht, die Frau befragt, das Kind begutachtet.

Während dieser Zeit sann Liane Peterson über das nach, was sie eben erfahren hatte.

Und wenn Sue nun was falsch verstanden hat, so klein, wie sie ist, grübelte sie. Wenn sie gehört hat, wie Mutti gegen sie wütete... und denkt, ich war es. Oje, oje, das ist ja was... Worauf man alles so aufpassen muss bei einem kleinen Menschen. Ob ich das auch schaffe?

Na, Liachen, nun geht's also nach Hause! Mit diesen Worten trat der Oberarzt zu ihr, und das Gefolge machte eine halbe Drehung auf ihr Bett zu, mehr Platz hatte das Zimmer nicht, vollgestellt mit drei großen, drei kleinen Betten.

Doktor Draeger strich ihr übers Haar. Gibt's noch was, mein tapferes Mädchen? Bist du doch, oder?

Er war der einzige, der sie hier duzte. Die anderen waren alle ganz fair zu ihr gewesen. Sie sagten zwar Liane, aber Sie...

Ihm hatte sie das Du gern erlaubt. Er hatte ihren Kopf, den sie wie verrückt im Schmerz hin und her warf, in die Hände genommen und zu ihr gesagt: Meine Kleine, ich weiß, es ist gräulich, aber gleich hast du's überstanden.

Das Gleich hatte noch vier Stunden gedauert. Vier entsetzlich lange Stunden. Vier mal sechzig Minuten. Die Sekunden hatte sie anfangs mit ihrem Herzschlag in Übereinstimmung zu bringen gesucht, es mit zunehmenden Wehen aber vergessen.

Schon als zu Hause die ziehenden zu reißenden Schmerzwellen wuchsen, hatte Liane gemeint: Nun sei es aber genug!

Trotzdem hatte sie versucht, nicht zu schreien, aus Angst auch, was dann mit ihr passieren würde.

Mutti war noch in der Schicht, und Steffi schlief bereits im Bett über ihr, wie immer, die Knie fast unters Kinn gezogen.

Wenn nun das Baby plötzlich herausrutschte, was sollte sie dann machen? Abnabeln, hatte die Mutter einfach gesagt, als sie ihre Furcht einmal geäußert hatte.

Aber wie machte man das? Und mit was für einer Strippe? Warum hatte sie sich nur nichts zurechtgelegt? Es hatte ja auch erst in vierzehn Tagen sein sollen. Wieso kam's einfach jetzt schon? Ob das gut war?

Liane hatte sich mühevoll aus dem Bett gewälzt. In den letzten drei Wochen war das Fußballchen vom Spätsommer, wie Oma es genannt hatte, zum riesigen Wasserball gewachsen.

Hui, pass nur auf, dass du dich damit nicht in die Luft erhebst und davonfliegst, sagte Steffi vor einigen Tagen.

Liane hatte fast mitleidig gelächelt, was wusste die Kleine schon davon, wie sehr dieser "Ball" mit seinem kostbaren Inhalt Liane am Boden festhielt.

Als sie sich nun reckte, um vom Kleiderschrank ihren Campingbeutel herunterzulangen, drückte der "Ball" so nach unten, als wolle er sich vom übrigen Körper abstoßen. Nun ließ sich doch ein Jammerlaut nicht unterdrücken.

Liane krümmte sich an der Schranktür, versuchte aber, kaum dass der Schmerz nachließ, rasch aus dem Schrank das bereitgelegte Bündel zu greifen. Wer weiß, wie viel Zeit sie noch hatte? Überprüfte nach der Liste, die sie ihr in dieser Kindererwartungsberatung - das Wort Schwangerenberatung fand Liane irgendwie unsympathisch - mitgegeben hatten: Jüpchen, Hemdchen, Windeln, Spreizhose, Nabelbinde, großes und kleines Moltontuch, schließlich ihr Stolz, die eigenhändig gestrickte Ausfahrgarnitur. Alles war vollzählig, wurde in den Beutel geschoben.

Danach machte sie sich fertig. Wenn Mutti doch käme, hatte sie gewünscht. Die Küchenuhr zeigte auf zehn, also zweiundzwanzig Uhr, und bis zur Rückkehr der Mutter waren noch gut zwei Stunden.

Als Liane wiederum aufstöhnte, wachte die Schwester auf. Schon aufstehen? fragte sie müde und ließ ihren langen Zopf über die Bettkante hängen - eine sich täglich wiederholende Zeremonie.

Rapunzel, lass mal dein Haar herunter, so weckte Liane Steffi jeden Morgen.

Hast erst eine Stunde geschlafen, sagte die ältere Schwester, ist noch lange nicht Morgen.

Und warum schleichste denn hier rum? wollte die Kleine, wach und neugierig geworden, wissen.

Als sie hörte, das Baby kündige sich an, ließ sie sich geschickt hinuntergleiten und betrachtete Liane aufmerksam. Mutti noch nicht da? fragte sie, und als Liane verneinte, wusste sie, nun müsse sie Mutti vertreten. Das Ungeheuerliche, das mit der großen Schwester geschah, hatte sie in vielen Gesprächen, heftigen, tränenreichen, ernsthaften, mitgehört.

Sie war die einzige der Familie, die sich vorbehaltlos auf das neue Familienmitglied freute. Das war doch mal was anderes als die ewig steifen, stummen Puppen.

Hast du schon diese Wogen oder wie die Dinger heißen? fragte sie.

Wehen, verbesserte Liane, wunderte sich, wie Steffi zu der viel treffenderen Bezeichnung gekommen war.

Die Kleine zog sich den Bademantel über und marschierte zur Wohnungstür. Auf Lianes erstaunte Frage, wohin sie gehe, erklärte sie: Ich hol Hilfe!

Als sie bei der Nachbarin klingelte, wollte Liane sie zurückhalten: Aber wir kennen die Frau doch kaum.

Die Nachbarin wohnte erst seit zwei Monaten in ihrem Haus. Der Opa, der vorher in dieser Wohnung gelebt hatte und den die Petersonkinder von klein auf kannten, war eines Tages aus seinem Nachmittagsschlaf nicht mehr aufgewacht.

Ich kenne sie, beteuerte Steffi, ich habe ihr die Kaufhalle, die Post, den Blumenladen und den Dienstleistungsdingsda gezeigt. Sie ist zwar 'n bisschen riesig, aber sonst vernünftig.

Frau Thomas, schon im Bademantel, sie war wohl gerade dabei gewesen, ins Bett zu gehen, öffnete die Tür nur einen Spalt.

Bitte helfen Sie uns, sagte Steffi, ehe Liane sich äußern konnte, unser Baby will raus. Sie waren doch Krankenschwester oder Oberin, nicht?

Liane, gerade wieder von einer "Woge" überrollt, fühlte sich unendlich erleichtert, und sie liebte plötzlich ihre Schwester, das kleine Biest, sehr. Eine Krankenschwester..., nun konnte ihr nichts mehr passieren.

Es war dann auch alles gut gegangen. Frau Thomas hatte Liane aufgefordert, die Abstände zwischen den Wehen zu kontrollieren, und sich rasch angezogen. Erst als sich der Abstand der Wehen von 17 Minuten auf 12 Minuten verringerte, ging die Frau zur Telefonzelle hinunter.

Gleichzeitig mit dem Krankenwagen war auch Frau Peterson von der Schicht gekommen. Da war es null Uhr zwanzig gewesen.

Gehen Sie schlafen, sagte Frau Thomas, ich begleite Liane. Ich liefere sie gut ab, glauben Sie mir!

Liane hatte sehr gewünscht, Mutti würde mit ihr mitkommen. Sie war ein paar der wenigen heilen Minuten richtig wütend auf die Frau und ihren Vorschlag, den die Mutter aber, wie sie merkte, erleichtert annahm.

Obwohl Liane, nachdem das Schlimme vorbei war und sie Sekunden, Minuten, Stunden ihre Tochter bestaunt hatte, verstand, dass Mutti einfach k. o. gewesen war, hatte sie doch gedacht: Aber ICH will immer für mein Kind da sein, wenn es mich braucht und in Not gerät! Sie hatte es sich für ihre Zukunft mit Sue fest vorgenommen.

Heute würde Mutti sie zwar abholen und in die Wohnung bringen, am Nachmittag aber mit Stefanie zu ihren neuen Schwiegereltern zur goldenen Hochzeit fahren.

Als Mutti sie beim gestrigen Besuch an den Termin erinnerte, war sie erschrocken gewesen. Doch sie war dabei gewesen, als Paul ihre Mutter vor Monaten einlud: damit dich meine Eltern kennen lernen. Zieh Steffi hübsch an, sie haben Freude an Kindern.

Und Lia? hatte Steffi sofort dazwischengefragt.

Mutti und Paul hatten geschwiegen, dann über etwas anderes zu reden begonnen. Und Liane war, wie unzählbar in der letzten Zeit, das Heulen angekommen.

Mutti hatte aber Oma herbeitelefoniert. Liane würde also nicht allein zu Hause sein. Und ALLEIN nun sowieso nicht mehr!

So schüttelte sie den Kopf, als Doktor Draeger fragte, ob es noch etwas gäbe, was sie miteinander besprechen müssten. Und darauf, dass er sie für tapfer hielt, konnte sie gleich gar nichts antworten.

Doktor Draeger und die Kinderärztin beugten sich über Sue, horchten und klopften sie ab, besahen Füße und Hände, rieten Liane, wie sie den noch nicht zugeheilten Bauchnabel zu behandeln habe und unter welchen Bedingungen sie anfangen sollte, etwas dazuzufüttern.

Sie gaben ihr reihum die Hand, und der Oberarzt fragte: Nicht wahr, Liane, so rasch werden wir dich hoffentlich hier nicht wieder sehen?

Bestimmt nicht, sagte Liane mit so entsetztem Gesicht, dass die anderen lachen mussten. Auch die erwachsene Frau im Bett gegenüber.

Zweites Kapitel

Liane stand mit Mutti im Fahrstuhl. So, nun gib mir mal die vierte Weibin mit dem Männernamen Peterson! sagte die Mutter.

Liane legte ihr das Kopfkissenschiff mit Sue in den Arm. Sie gab ihr das Kind gern, obwohl ihr das Wort Weibin für Sue irgendwie grob vorkam, und natürlich hörte sie auch den Angriff der Mutter gegen den Vater heraus.

Aber der war nicht neu und nicht wichtig. Heute zumindest nicht. Mutti hatte im Zimmer noch, als sie Sue anzogen, gesagt: Unten wartet eine Überraschung!

Liane hatte sich ungestüm, wie sie es als kleines Mädchen oft getan, in den letzten Jahren aber fast verlernt hatte, an den Hals der Mutter geworfen. Bitte, Mutti, verrat's mir!

Nun, nun, junge Frau, wies die Mutter Liane zurecht, entschloss sich dann aber doch zu einer Antwort. Ein Kinderwagen, verriet sie lakonisch.

Liane sah ihre Mutter erst überrascht, dann froh an, vermochte nur, oh, Mutti, zu sagen.

Immer wenn sie vor der Geburt die Mutter gebeten hatte: Könnten wir nicht endlich einen Kinderwagen kaufen? sagte die Mutter: Kommt nicht in Frage. Wart erst mal ab!

Aber Oma sagt, mit kleinen Kindern muss man an die frische Luft, möglichst täglich, versuchte Liane sich zu wehren.

Das hat noch Zeit, sagte die Mutter dann kurz, und einmal hatte sie dazugesetzt: Wer weiß überhaupt...

Voller Angst hatte Liane für sich gedacht, sie denkt vielleicht, ich krieg das Baby nicht richtig aus mir heraus. Ja, sie wünscht es sich womöglich?

Du wirst schon alles noch bereuen, wart nur die Geburt ab..., hatte die Mutter damals prophezeit, als Liane ihr es endlich erzählte. Und nun hatte sie einen Kinderwagen gekauft und hielt ihr Enkelkind im Arm.

Sie war ja doch ihre Mutti! Liane hatte plötzlich das Gefühl, als sei sie ein Stück größer geworden oder als sei ihr Kopf, der bislang nur ein Geradeausschauen ermöglicht hatte, auf einmal beweglicher geworden, so dass sie, ihn hin und her bewegend, vieles gleichzeitig wahrnehmen konnte.

Sie sah die Zahlen auf der Schalttafel von zwölf abwärts hüpfen, sah ihre Mutter im neuen Mantel, dunkelblau, innen mit Fell gefüttert. Paul hatte Mutti für den Mantel Geld dazugegeben. Damit du meinen Eltern flott erscheinst, hatte er beim Kauf geäußert. Liane war damals für ihre Mutter etwas beleidigt gewesen. Phö, wenn sie Mutti bloß mit so einem Exquisitfummel mögen, können sie's gleich ganz lassen!

Jetzt war Liane nur noch stolz darüber, wie hübsch Mutti aussah.

Im neunten Stock stiegen zwei Ärzte dazu, im achten kam ein Mann, mit einem Riesengestell von der Schulter an, in das sein sicherlich kaputter Arm montiert war. Im fünften mussten sie sich links und rechts an die Wand drückten, eine Schwester im rosa Kittel schob ein Bett hinein.

Eine bleiche alte Frau lag darin. Sie schlief, ihr Mund stand halboffen und gab röchelnde oder schnarchende Töne von sich. Eine schmale, spitze Nase und gerade aufgestellte Füße ragten in die Fahrstuhlluft.

Eine uralte Frau, dachte Liane und erinnerte sich an Oma. So sähe sie vielleicht auch aus, wenn... Hoffentlich musste die alte Frau nicht sterben...

Liane fiel ein, was Vati, als er noch mit ihnen lebte, oft getan hatte. Wenn irgendetwas Wichtiges, das Liane zu bestehen hatte, ein Diktat oder eine Rechenarbeit, bevorstand, blies er ihr links und rechts über die Schultern. Dreimal.

Quatsch, hatte Mutti gesagt. Aber Liane hatte genau gespürt, dass mit Vaters Atem ihre Kräfte so wuchsen, dass ihr alles gut gelang.

Sie blies also, für niemanden sonst sichtbar, vielleicht aber für Sue, der alten Frau in Nähe der gelben, mageren Ohren über die Schultern. Toi, toi, toi - sollst wieder gesund werden, Oma!

Auf der vorletzten Station schob die Schwester das Bett hinaus, verließen die beiden Weißkittel den Fahrstuhl. Nur Mutti, Sue und der Mann mit dem Riesengestell fuhren bis nach unten, wo schon wieder Leute auf den Aufzug warteten.

Liane sah vom Eingang des Krankenhauses Steffi auf sich zurennen. Die Kleine nahm sich kaum Zeit, Liane zu begrüßen. Sie zupfte sofort an dem Kissen und rief: Los, zeigt sie mir endlich!

Die Mutter hielt ihr das Bündel entgegen, und Stefanie sah lange und aufmerksam in Sues Gesicht. Die hatte bisher geschlafen. Nun, unter den Blicken der kleinen Tante, schlug das Baby die Augen auf, verdrehte aber die Augäpfel so, als könne es sich nicht vom Schlaf befreien.

Schielt die? fragte Steffi erschrocken.

Ach wo, erklärte Liane, sie guckt dich ganz genau an, weil sie dich bisher noch nicht gesehen hat!

Du spinnst, sagte Mutti. Aber Steffi rief begeistert: Ooch, ist die schön! Bestimmt ist sie mir ähnlich. Darf ich mal? fragte sie Liane, dann aber zur Mutter hin.

Wirst schon noch genug davon kriegen. Los kommt, soviel Zeit ist heute nicht! Na, was ist? fragte sie ihre Tochter Liane.