Licht in tiefer Nacht - Nora Roberts - E-Book
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Licht in tiefer Nacht E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Sein Lächeln war freundlich, seine Augen dunkel. Ihr größter Fehler war, ihm zu vertrauen.

Die prächtige Bodine Ranch in Montana ist seit Generationen ein familiengeführtes Gestüt. Unter der erfolgreichen Leitung der jungen Bodine Longbow wurde das Anwesen zu einem beliebten Feriendomizil ausgebaut. Doch so lange Bodine denken kann, liegt ein dunkler Schatten über diesem idyllischen Ort. Ihre Tante Alice lief mit achtzehn fort und wurde nie wieder gesehen. Was niemand von den Longbows ahnt: Alice lebt. Nicht weit von ihrer Heimat entfernt, ist sie Teil einer Familie, die sie nicht selbst gewählt hat …

»Vielschichtig, dunkel und psychologisch raffiniert - Nora Roberts in Höchstform.« Kirkus Reviews

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Das Buch

Im Westen von Montana liegt die von drei Generationen bewohnte Bodine Ranch, ein idyllisches Fleckchen Erde, das Urlauber anzieht. An der Spitze eines großen Teams baut Bodine Longbow das Familienunternehmen zu einem florierenden Resort aus, während ihre Brüder das Gestüt leiten. Bodine arbeitet hart und hat wenig Zeit für ein Privatleben oder gar die Liebe. Da heuert Callen Skinner bei ihr an. Sie kennt ihn seit Kindertagen, und jetzt bringt er auf einmal ihre geliebte Ordnung durcheinander. Als Bodine und Callen auf einem Ausritt eine ermordete Mitarbeiterin im Schnee finden, ist das nur der Anfang einer Kette bedrohlicher Ereignisse. Schnell gerät Callen in den Mittelpunkt der Polizeiermittlungen. Doch Bodine glaubt an seine Unschuld. Und dann steht plötzlich eine verstörte Frau vor der Tür, die um Hilfe bittet. Ist es Alice, Bodines totgeglaubte Tante, die vor Jahrzehnten spurlos verschwand?

»Vielschichtig, dunkel und psychologisch raffiniert – Nora Roberts in Höchstform.«     Kirkus Reviews

Die Autorin

Nora Roberts wurde 1950 geboren und gehört heute zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von über 450 Millionen Exemplaren, und auch in Deutschland erobert sie mit ihren Romanen regelmäßig die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland, USA.

nora

roberts

Licht  in

tiefer  Nacht

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Christiane Burkhardt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2017 by Nora Roberts

Published by Arrangement with Eleanor Wilder

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Come Sundown bei St. Martin’s Press, New York

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Redaktion: Claudia Krader

Covergestaltung: teresa Mutzenbach Design Covermotiv: Christine Amat/Trevillion; shutterstock/Christopher Meder/DarkBird/Kichigin

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-21255-1V004

www.diana-verlag.de

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Für Jason und Kat,

die besten Reisegefährten überhaupt

Teil I

Eine Reise

Wenn sengend Fieber in uns tobt,

und wir uns wälzen in der Not,

nur wenig Linderung kehrt ein:

die Lage neu, doch alt die Pein.

Isaac Watts

Prolog

Westmontana 1991

Alice Bodine erleichterte sich hinter einem spärlichen Sichtschutz aus Drehkiefern. Um dorthin zu gelangen, hatte sie durch kniehohen Schnee stapfen müssen.

Da sie auf der Nebenstraße knapp fünf Kilometer gelaufen war, ohne einem einzigen Auto oder Pick-up zu begegnen, fragte sie sich, wozu sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatte.

Manche Angewohnheiten wird man einfach nicht los, dachte sie und zog ihre Jeans wieder hoch.

Sie hatte weiß Gott versucht, alte Gewohnheiten abzulegen, sich von Konventionen und Erwartungen zu befreien. Doch jetzt, keine drei Jahre nach ihrem laut verkündeten Ausbruch aus dem Alltag, ihrer Emanzipation vom Spießertum, kehrte sie kleinlaut und verfroren nach Hause zurück.

Sie hängte sich ihren Rucksack um und trat in ihre eigenen Fußstapfen, um zu der Straße zurückzukehren, die diesen Namen kaum verdiente. Der Rucksack enthielt ihre gesamte Habe. Eine Jeans zum Wechseln, ein AC/DC-T-Shirt, ein Grateful-Dead-Sweatshirt, das sie einem längst abgehakten Typen bei ihrer Ankunft in Los Angeles abgeluchst hatte, ein Stück Seife und Shampoo von ihrem zum Glück nur kurzen Job als Zimmermädchen im Holiday Inn in Rigby/Idaho, Kondome, Schminkzeug, fünfzehn Dollar und achtunddreißig Cent sowie einen Rest gutes Gras von dem Typen, mit dem sie auf einem Campingplatz in Ost-Oregon abgefeiert hatte.

Sie redete sich ein, dass sie nur deshalb heimkehrte, weil ihr das Geld ausgegangen war und sie nie wieder Bettwäsche mit Spermaflecken wildfremder Leute wechseln wollte. Außerdem ahnte sie, wie leicht es war, zu einer der Frauen mit leerem Blick zu werden, die sich in den dunklen Straßen so vieler Städte verkauften.

Sie musste zugeben, dass sie nicht weit von diesem Punkt entfernt gewesen war. Wenn man genug Hunger und Angst hatte und heftig genug fror, war die Vorstellung nicht mehr so abwegig, den eigenen Körper zu verkaufen, um etwas Anständiges zu essen und ein Dach über dem Kopf zu bekommen. Es war schließlich nur Sex.

Doch es gab einfach Grenzen, die sie nicht überschreiten wollte. In Wahrheit wollte sie zurück nach Hause. Zurück zu ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihren Großeltern. Zurück in ihr Zimmer mit den Postern an den rosa Wänden und dem schönen Bergblick. Sie sehnte sich nach dem morgendlichen Duft von Kaffee und Speck in der Küche und danach, ein galoppierendes Pferd unter sich zu spüren.

Ihre Schwester war verheiratet. Im Grunde war es deren spießige, durch und durch traditionelle Hochzeit gewesen, die sie dazu bewegt hatte abzuhauen. Sie war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Vielleicht hatte Reenie inzwischen sogar ein Kind – sehr wahrscheinlich sogar. Und wahrscheinlich war sie so verdammt perfekt wie eh und je.

Aber sie vermisste sogar Maureens verdammte Perfektion.

Deshalb marschierte sie weiter, weitere anderthalb Kilometer in der abgetragenen Fleecejacke, die sie gebraucht gekauft hatte und die sie nur unzureichend vor Kälte schützte. In den Stiefeln, die sie seit mehr als zehn Jahren besaß, den schneebedeckten Rucksack auf den mageren Schultern.

Sie hätte von Missoula aus zu Hause anrufen, ihren verdammten Stolz hinunterschlucken sollen. Dann wäre ihr Grandpa gekommen und hätte sie abgeholt. Der schimpfte nie. Doch sie hatte sich eingebildet, aus eigener Kraft zur Ranch zurückmarschieren zu müssen, stolz und hoch erhobenen Hauptes.

Sie hatte sich vorgestellt, wie alle erstarren und sie ungläubig anstarren würden.

Die verlorene Tochter kehrt nach Hause zurück.

Alice seufzte, und eine warme Atemwolke vertrieb die eisige Brise.

Sie hätte es eigentlich besser wissen müssen, aber als sie in Missoula eine Mitfahrgelegenheit bekommen hatte, war ihr das wie eine Art Zeichen vorgekommen. Außerdem hatte ihr dieses Angebot dazu verholfen, dass sie nur noch knapp zwanzig Kilometer von zu Hause entfernt war.

Gut möglich, dass sie es bis zum Einbruch der Dämmerung nicht mehr schaffen würde. Das machte ihr Sorgen. Sie hatte eine Taschenlampe im Rucksack, aber die Batterien waren schwach. Sie hatte ein Feuerzeug, aber bei der Vorstellung, ohne Zelt, Schlafsack oder etwas zu essen im Freien übernachten zu müssen, beschleunigte sie ihre Schritte. Ihre letzte Wasserflasche hatte sie bereits vor drei Kilometern ausgetrunken.

Sie dachte darüber nach, wie sie wohl reagieren würden. Sie würden sich riesig freuen, sie zu sehen, das ging gar nicht anders. Vielleicht waren sie sauer, weil sie einfach so abgehauen war und nur einen winzigen Zettel zurückgelassen hatte. Damals war sie achtzehn gewesen. Alt genug zu tun, was sie wollte. Sie hatte weder ein Studium noch die Zwangsjacke einer Ehe noch einen der Scheißjobs auf der Ranch gewollt.

Sie hatte sich nach Freiheit gesehnt und sie sich genommen.

Heute war sie einundzwanzig und entschied sich freiwillig dafür, nach Hause zurückzukehren.

Vielleicht würde es ihr inzwischen nicht mehr so viel ausmachen auf der Ranch zu arbeiten. Vielleicht würde sie sich sogar für ein Studium einschreiben.

Sie war eine erwachsene Frau.

Die Zähne der erwachsenen Frau klapperten, aber sie marschierte stur weiter. Hoffentlich waren ihre Großeltern zu Hause. Heftige Schuldgefühle plagten sie, weil sie nicht wusste, ob Grammy oder Grandpa überhaupt noch am Leben waren.

Klar sind sie das, redete sich Alice ein. Sie war nur drei Jahre weg gewesen. Grammy würde nicht sauer sein, zumindest nicht lange. Vielleicht würde sie ein bisschen schimpfen: »Schau nur, wie dünn du geworden bist. Was um alles in der Welt hast du mit deinen Haaren angestellt?«

Als sie sich das vorstellte, zog Alice ihre Mütze amüsiert tiefer über die Kurzhaarfrisur, die sie so platinblond gebleicht hatte, wie es nur ging. Sie mochte es, blond zu sein, mochte es, dass die glamouröse Haarfarbe ihre Augen tiefgrün wirken ließ.

Vor allem mochte sie die Vorstellung, von ihrem Grandpa in die Arme genommen zu werden und sich an einen reich gedeckten Tisch zu setzen. Schließlich stand Thanksgiving vor der Tür. Da würde sie ihrer Spießerfamilie von ihren Abenteuern berichten können.

Sie hatte den Pazifik gesehen, war wie ein Filmstar über den Rodeo Drive flaniert und hatte zweimal als Statistin an einem Spielfilm mitgewirkt. Echte Rollen in echten Filmen zu bekommen war schwieriger gewesen als gedacht, aber sie hatte es wenigstens versucht.

Sie hatte bewiesen, dass sie allein zurechtkam. Dass sie etwas auf die Beine stellen, rumkommen und etwas erleben konnte. Wenn sie sie zu sehr verurteilen würden, konnte sie jederzeit wieder aufbrechen.

Genervt blinzelte Alice ihre Tränen weg. Sie würde sie auf keinen Fall anflehen sie wiederaufzunehmen.

Meine Güte, sie wollte einfach nur nach Hause!

Am Stand der Sonne erkannte sie, dass sie es so nie rechtzeitig schaffen würde. Die Luft roch nach Schnee. Wenn sie querfeldein ging, durch den Wald und über die Felder, konnte sie es vielleicht bis zur Ranch der Skinners schaffen.

Müde und erschöpft blieb sie stehen. Es war sicherer auf der Straße zu bleiben, aber ein Querfeldeinmarsch wäre eine Abkürzung. Wenn sie sich nicht verlief, gab es dort außerdem mehrere Hütten für Natururlauber. Dort konnte sie einbrechen, den Ofen anheizen und vielleicht sogar ein paar Konserven finden.

Sie warf einen Blick auf die schier endlose Straße, auf die schneebedeckten Felder, die schneebedeckten Berge. Letztere ragten graublau in den Himmel auf, der von Dämmerung und Neuschnee kündete.

Später sollte Alice oft an diese Unentschlossenheit, dieses minutenlange Zögern im schneidend kalten Wind am Straßenrand zurückdenken.

Obwohl es das erste fremde Geräusch war, das Alice seit mehr als zwei Stunden hörte, nahm sie den Motorlärm zunächst gar nicht wahr.

Dann kämpfte sie sich zurück durch den Schnee und spürte, wie ihr Herz beim Anblick des Pick-ups freudig klopfte.

Sie machte einen Schritt nach vorn. Statt den Daumen rauszuhalten, winkte sie wild mit den Armen wie jemand, der in Schwierigkeiten steckt.

Sie war zwar drei Jahre weg gewesen, aber nach wie vor ein waschechtes Countrygirl. Niemand in dieser Gegend würde an einer Frau vorbeifahren, die auf einer einsamen Straße um Hilfe bat.

Als der Pick-up hielt, glaubte Alice nie etwas Schöneres gesehen zu haben als diesen rostigen blauen Ford mit den Gewehrhalterungen, der von einer Plane bedeckten Ladefläche und dem Aufkleber Ich bin ein echter Patriot an der Windschutzscheibe.

Als der Fahrer das Fenster herunterließ und sich herausbeugte, konnte sie ihre Tränen nur mit Müh und Not zurückhalten.

»Sieht ganz so aus, als bräuchten Sie Hilfe.«

»Eine Mitfahrgelegenheit wär nicht schlecht.« Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln und musterte ihn gründlich. Sie brauchte diese Mitfahrgelegenheit, aber sie war nicht blöd.

Er trug eine in die Jahre gekommene Schaffelljacke und hatte einen Cowboyhut auf dem kurzen dunklen Haar.

Er sah gut aus, fand Alice, das war ein Pluspunkt. Er war ein gutes Stück älter, bestimmt vierzig. Seine ebenfalls dunklen Augen machten einen freundlichen Eindruck.

Countrymusic kam aus dem Radio.

»Wohin müssen Sie denn?«, fragte er im typischen Akzent Westmontanas, der wie Musik in ihren Ohren klang.

»Zur Bodine Ranch. Das sind bloß …«

»Ich weiß, ich kenne die Ranch. Steigen Sie ein.«

»Danke, vielen Dank! Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.« Sie setzte ihren Rucksack ab und nahm ihn auf den Schoß, nachdem sie in die Fahrerkabine geklettert war.

»Hatten Sie eine Panne? Ich hab gar keinen Wagen auf der Straße gesehen.«

»Nein.« Sie stellte den Rucksack zwischen ihre Füße und war fast sprachlos vor Erleichterung über die Wärme der Autoheizung. »Ich komme aus Missoula und wurde ein Stück weit mitgenommen. Aber die Leute mussten vor knapp zehn Kilometern eine Abfahrt nehmen.«

»Du bist zehn Kilometer gelaufen?«

Als ihre zu Eis gefrorenen Zehen langsam auftauten, schloss sie beglückt die Augen. »Das ist das erste Fahrzeug in zwei Stunden! Ich hatte nie vor, den ganzen Weg zu Fuß zu gehen, und bin wirklich sehr froh, dass mir das erspart bleibt.«

»Ganz schön weit für ein so junges Ding, das ganz allein unterwegs ist. Bald wird es dunkel.«

»Ich weiß. Was für ein Glück, dass Sie vorbeigekommen sind.«

»Was für ein Glück«, wiederholte er.

Sie sah die Faust nicht kommen. Es ging alles so furchtbar schnell. Ihr Gesicht explodierte fast unter dem Schlag. Den zweiten Schlag spürte sie nicht mehr.

Froh über die Gelegenheit, die ihm da in den Schoß gefallen war, zog er sie rasch aus dem Pick-up und verstaute ihren schlaffen Körper auf der Ladefläche unter der Plane.

Er fesselte ihr Hände und Füße, knebelte sie und warf eine alte Decke über sie. Sie sollte schließlich nicht erfrieren.

Es lagen noch einige Kilometer vor ihnen.

1

Heute

Die Morgenröte tauchte die schneebedeckten Berge in ein zartrosa Licht. Elche röhrten auf ihrer Morgenwanderung im Nebel, und der Hahn krähte durchdringend.

Bodine Longbow stand in der Küchentür, genoss ihren letzten Schluck Kaffee und bestaunte den aus ihrer Sicht perfekten Start in den Novembertag.

Nur eine Stunde Schlaf mehr hätte ihr Glück steigern können. Seit sie klein war, wünschte sie sich einen Fünfundzwanzigstundentag. Sie hatte sich sogar notiert, was in diesen weiteren sechzig Minuten alles zu schaffen wäre.

Aber da die Erdrotation nicht auf sie hörte, löste sie das Problem, indem sie selten länger als bis halb sechs schlief. Bei Anbruch der Dämmerung hatte sie bereits ihr morgendliches, sechzigminütiges Fitnessprogramm erledigt, geduscht, sich zurechtgemacht, ihre E-Mails gecheckt, mit Granola aufgepeppten Joghurt gegessen und ihren Terminplan kontrolliert.

Da sie ihn ohnehin auswendig kannte, war das eigentlich überflüssig. Aber Bodine ging die Dinge gern gründlich an. Da der Teil vor Tagesanbruch bereits abgehakt war, konnte sie sich ein paar Minuten gönnen und ihren Morgenkaffee genießen. Einen Latte macchiato, bestehend aus Vollmilch, einem doppelten Espresso und einem Schuss Karamellsirup, den sie sich eigentlich längst abgewöhnen wollte.

Bald würden ihr Vater und ihre Brüder eintreffen, die nach dem Vieh gesehen und die Rancharbeiter eingewiesen hatten. Da Clementine heute frei hatte, würde ihre Mutter bald in die Küche kommen und gut gelaunt ein perfektes Montana-Ranch-Frühstück zubereiten. Nachdem die drei Männer satt waren, würde Maureen die Küche aufräumen und dann zum Bodine Resort aufbrechen, wo sie als Verkaufsleiterin arbeitete.

Maureen Bodine Longbow war ihrer Tochter ein Rätsel.

Bodine war sich nicht nur sicher, dass ihre Mutter sich keine extra Stunde wünschte. Sie brauchte sie auch gar nicht, um eine glückliche Ehe zu führen, zwei komplexe Firmen (die Ranch und das Resort) zu leiten und das Leben in vollen Zügen zu genießen.

Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als Maureen hereinstürmte. Ihr kurzes kastanienbraunes Haar umrahmte ein hübsches Gesicht mit wachen grünen Augen.

»Guten Morgen, mein Schatz.«

»Morgen. Du siehst toll aus.«

Maureen strich sich über die schmale Taille im waldgrünen Kleid. »Ich habe heute jede Menge Besprechungen und muss einen guten Eindruck machen.«

Sie öffnete die alte Scheunentür, die zur Vorratskammer führte, und nahm eine weiße Metzgerschürze vom Haken. Kein Spritzer Fett würde es wagen, auf diesem Kleid zu landen.

»Machst du mir auch so einen Latte?«, bat Maureen und band sich die Schürze um. »Keiner macht ihn so gut wie du.«

»Gern. Ich treff mich gleich mit Jessie«, sagte Bodine. Damit meinte sie Jessica Baazov, die Eventmanagerin des Resorts, die seit drei Monaten für sie arbeitete. »Um über Linda-Sue Jacksons Hochzeit zu reden. Linda-Sue kommt um zehn dazu.«

»Verstehe. Dein Dad sagt, Roy Jackson weint in sein Bier, weil es so teuer wird, sein Mädchen zu verheiraten. Kein Wunder, denn Linda-Sues Mutter kennt wirklich keine Grenzen. Die würde ihre Tochter glatt zum Klang von Engelschören zum Altar schicken, wenn wir welche organisieren könnten.«

Bodine schäumte sorgfältig Milch auf. »Wenn der Preis stimmt, dürfte Jessie auch das hinkriegen.«

»Sie macht ihre Sache wirklich gut, nicht wahr?« In einer riesigen Grillpfanne auf dem achtflammigen Herd begann Maureen Speck auszubraten. »Ich mag das Mädchen.«

»Du magst jeden.« Bodine reichte ihrer Mutter den Latte.

»Das macht das Leben deutlich angenehmer. Wenn man sich bemüht, sieht man, dass jeder Mensch gute Seiten hat.«

»Du bist wirklich einmalig, Mom.« Bodine beugte sich weit hinunter. Bereits mit zwölf hatte sie ihre eins sechzig große Mutter überragt und war seitdem dreizehn Zentimeter gewachsen. Sie küsste Maureen auf die Wange. »Ich hab genug Zeit, um den Tisch für dich zu decken, bevor ich los muss.«

»Ach, Schätzchen, du musst doch was frühstücken.«

»Ich hab ein wenig Joghurt gegessen.«

»Du hasst das Zeug.«

»Ich hasse es nur, wenn ich es esse. Es ist gesund.«

Seufzend ließ Maureen den Speck abtropfen und gab neuen in die Pfanne. »Meine Güte, manchmal glaube ich, dass du dich besser bemutterst, als ich es je getan habe.«

»Du bist die Beste«, erwiderte Bodine und nahm einen Stapel schlichter Teller aus dem Schrank.

Sie hörten die Bande, noch bevor die Hintertür aufgerissen wurde. Die Männer der Familie zwängten sich samt zwei Hunden herein.

»Putzt euch bloß die Stiefel ab.«

»Ach, komm schon, Reenie, als ob wir das je vergessen hätten.« Sam Longbow nahm seinen Hut ab, denn niemand setzte sich mit Hut an Maureens Tisch.

Sam war über eins neunzig groß, mit ewig langen Beinen. Der schlaksige, gut aussehende schwarzhaarige Mann mit den grauen Schläfen hatte Lachfältchen um die dunkelbraunen Augen. Sein linker Schneidezahn stand schief, was sein Lächeln aus Bodines Sicht noch charmanter machte.

Chase, Bodines zwei Jahre älterer Bruder, hängte seinen Hut an den Haken und schlüpfte aus der Arbeitsjacke. Er hatte die Größe und Figur seines Vaters, wie übrigens alle Longbow-Kinder, ähnelte vom Teint und der Haarfarbe her allerdings eher seiner Mutter.

Rory, drei Jahre jünger als seine Schwester, war mit seinem tiefbraunen Haar und den lebhaften grünen Augen eine Mischung aus seinen Geschwistern. Mit einem Gesicht, das dem von Sam Longbow zum Verwechseln ähnlich sah.

»Ist genug für eine Person mehr da, Mom?«

Maureen sah stirnrunzelnd zu Chase hinüber. »Na klar. Um wen geht es denn?«

»Ich hab Cal zum Frühstück eingeladen.«

»Dann deck noch einen Teller«, befahl Maureen. »Es ist schon lange her, dass Callen Skinner bei uns am Tisch saß.«

»Er ist wieder da?«

Chase nickte Bodine zu und ging zur Kaffeemaschine. »Er ist gestern Abend angekommen und zieht in den Schuppen wie besprochen. Ein warmes Frühstück wird ihm guttun.«

Während Chase schwarzen Kaffee trank, gab Rory großzügig Milch und Zucker in seinen. »Er sieht gar nicht aus wie ein Hollywood-Cowboy.«

»Zur großen Enttäuschung deines Jüngsten«, sagte Sam, der sich die Hände an der Spüle wusch. »Rory hat wohl gehofft, dass er mit klirrenden Sporen, einem silbern verzierten Hutband und polierten Stiefeln herumläuft.«

»Er besitzt nichts davon.« Rory naschte vom Speck. »Und sieht nicht viel anders aus als bei seinem Aufbruch. Höchstens älter.«

»Er ist kein Jahr älter als ich. Lass uns ein bisschen Speck übrig, ja?«, beschwerte sich Chase.

»Ich hab noch mehr«, beruhigte ihn Maureen und hob das Kinn, als Sam sich zu ihr herabbeugte, um sie zu küssen.

»Du siehst einfach zum Vernaschen aus, Reenie, und duftest auch so.«

»Ich habe heute Vormittag viele Besprechungen.«

»Apropos Besprechungen.« Bodine sah auf die Uhr. »Ich muss los.«

»Och, Schatz, kannst du nicht bleiben und Callen begrüßen? Du hast den Jungen seit zehn Jahren nicht gesehen.«

Seit acht Jahren, dachte Bodine und musste zugeben, dass sie neugierig war. »Das geht leider nicht. Ich werd ihn bestimmt bald sehen.« Sie küsste ihren Vater. »Rory, ich hab ein paar Dinge mit dir im Büro zu besprechen.«

»Chef, ich komme gleich.«

Schnaubend ging sie in den Hausflur, wo sie die Aktentasche bereitgestellt hatte. »Am Nachmittag soll es schneien«, rief sie, während sie ihre Jacke zumachte, den Hut aufsetzte, Schal und Handschuhe anzog und in die kalte Morgenluft hinaustrat.

Sie war zu spät dran, deshalb marschierte sie zügig zu ihrem Pick-up. Sie hatte gewusst, dass Callen zurückkommen wollte, und war bei der Familienbesprechung dabei gewesen, auf der beschlossen worden war, ihn als Chefbereiter einzustellen.

Seit sie denken konnte, war er Chase’ bester Freund und damit der Fluch ihres Lebens, aber auch ihre erste große Liebe.

Während sie über den gefrorenen Feldweg fuhr, wurde ihr klar, dass er bei seinem Aufbruch aus Montana jünger gewesen war als Rory heute.

Um die zwanzig und mit Sicherheit stocksauer und frustriert, weil er um sein Erbe gebracht worden war. Um das Land, das ihr Vater den Skinners abgekauft hatte, als Callens Vater, höflich ausgedrückt, schwere Zeiten durchgemacht hatte.

Weil er alles verspielte.

Ein erbärmlicher Spieler, wie ihr Vater einmal gesagt hatte, vom Spiel genauso abhängig wie von der Flasche.

Als von seinem Grund kaum mehr als fünfzig Morgen, das Haus und ein paar Außengebäude übrig geblieben waren, war Callen Skinner aufgebrochen, um woanders sein Glück zu machen.

Wenn stimmte, was Chase so erzählte, war es Cal gut ergangen. Er hatte sich um Pferde beim Film gekümmert und sie trainiert.

Jetzt kehrte er zurück. Sein Vater war gestorben, seine Mutter Witwe, seine Schwester verheiratet und Mutter eines Kleinkinds, das zweite war gerade unterwegs.

Bodine wusste, dass das restliche Land der Skinners kaum etwas wert war, weil so viele Hypotheken darauf lasteten. Die Ranch stand leer, da Mrs. Skinner mit ihrer Tochter Savannah und deren Familie in ein hübsches Haus in Missoula gezogen war. Dort besaßen Savannah und ihr Mann ein Geschäft für Kunstgewerbe.

Bodine rechnete damit, dass man sich bald zusammensetzen würde, um ihm die restlichen fünfzig Morgen abzukaufen. Während der Fahrt überlegte sie, ob sich der Grund besser für die Ranch oder fürs Resort eignen würde.

Man könnte die Ranch renovieren. Sie an Gruppen vermieten oder für Events nutzen, für kleinere Hochzeiten, Firmenfeiern, Familienfeste.

Oder aber Zeit und Geld sparen, sie abreißen und neu bauen.

Sie ging die verschiedenen Möglichkeiten durch, während sie unter dem Bodine-Resort-Schild mit dem Kleeblattlogo hindurchfuhr. Sie bemerkte die Lichter im Handelsposten. Derjenige, der Frühschicht hatte, öffnete den Laden. In der kommenden Woche war ein Markt mit Lederwaren und Kunsthandwerk geplant, um Spätherbst-Touristen anzulocken. Oder dank Rorys Marketingkampagne auch Gäste von außerhalb, die in der Futterkrippe zu Mittag essen würden.

Sie hielt vor dem lang gestreckten, niedrigen Gebäude mit der breiten Veranda, in der die Rezeption untergebracht war.

Es machte sie jedes Mal stolz.

Das Resort war vor ihrer Geburt entstanden, nach einer Idee ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer Urgroßmutter. Damals hatte ihre Großmutter Cora Riley Bodine den Laden geschmissen.

Was als einfache Ferienranch für Naturburschen begonnen hatte, war inzwischen ein Luxusresort mit Fünf-Sterne-Küche, maßgeschneidertem Service, Abenteuer- und Verwöhnurlaub, Events, einem Unterhaltungsprogramm und vielem mehr. Das Ganze auf über dreißigtausend Morgen, zu denen zudem die normal bewirtschaftete Ranch gehörte. Das alles in der unbezahlbar schönen Landschaft Westmontanas.

Sie eilte ins Gebäude, wo bereits einige Gäste vor dem prasselnden Kaminfeuer Kaffee tranken.

Sie registrierte den Herbstduft von Kürbis und Nelken, winkte dem Empfang anerkennend zu und wollte in ihr Büro gehen und loslegen. Doch dann machte sie kehrt, als Sal, die kecke Rothaarige, die Bodine aus der Schule kannte, ihr ein Zeichen gab. »Linda-Sue hat gerade angerufen. Sie kommt später.«

»Sie kommt ständig zu spät.«

»Ja, aber diesmal kündigt sie es wenigstens an, anstatt einfach nicht zu erscheinen. Unterwegs holt sie ihre Mutter ab.«

Der erste Schatten auf Bodines perfekt geplantem Tag. »Ihre Mutter kommt mit?«

»Tut mir leid.« Sal schenkte ihr ein trauriges Lächeln.

»Das ist in erster Linie Jessies Problem, trotzdem danke.«

»Jessie ist noch nicht da.«

»Das passt schon, ich bin früh dran.«

»Das bist du immer«, rief ihr Sal hinterher, als Bodine schnurstracks das Büro des Resortmanagers ansteuerte. Ihr Büro. Es hatte genau die richtige Größe. Groß genug, um Besprechungen darin abzuhalten, und klein genug, um diesen Treffen einen intimen Anstrich zu geben.

Ein Doppelfenster bot einen Blick auf die natursteingepflasterten Wege und den Teil des Gebäudes, in dem die Futterkrippe sowie der exklusive Speisesaal untergebracht waren. Dahinter sah man hügelige Felder und im Hintergrund die Berge. Sie hatte den alten Schreibtisch ihrer Großmutter extra so hingestellt, dass sie dem Fenster den Rücken zukehrte, um nicht zu sehr abgelenkt zu sein. Im Büro standen außerdem zwei Ledersessel mit hoher Rückenlehne, die einst das Büro der Ranch geschmückt hatten, und ein kleines Sofa.

Sie hängte Jacke, Hut und Schal an die Garderobe in der Ecke und strich sich das Haar glatt, das genauso schwarz war wie das ihres Vaters. Sie trug es in einem langen Zopf, der ihr auf den Rücken fiel.

Sie ähnelte ihrem Großvater, wie seine Witwe stets betonte. Bodine hatte Fotos gesehen und musste zugeben, dass sie dem jungen, unglückseligen Rory Bodine, der vor seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr in Vietnam gefallen war, wie aus dem Gesicht geschnitten war. Er hatte leuchtend grüne Augen und einen vollen Mund gehabt. Sein schwarzes Haar war leicht gewellt gewesen, während ihres glatt herabhing. Dafür besaß sie seine hohen Wangenknochen, dieselbe vorwitzige Nase und die helle Haut, die literweise Sonnenschutz brauchte.

Sie wusste, dass sie zudem den ausgeprägten Geschäftssinn ihrer Großmutter geerbt hatte.

Als Erstes ging sie zum Sideboard mit der Pad-Maschine, die anständigen Kaffee machte, und nahm den Becher mit zum Schreibtisch, um ihre Notizen für die ersten beiden Besprechungen durchzugehen. Während sie gerade einen Anruf und eine E-Mail gleichzeitig beendete, kam Jessica herein.

Wie Maureen trug Jessie ein Kleid. Ihres war knallrot und mit einer kurzen cremebeigen Lederjacke kombiniert. Ihre hochhackigen Stiefeletten würden keine fünf Minuten im Schnee überstehen, dafür passten sie farblich perfekt zum Rot des Kleides. Bodine bewunderte sie für ihren Stil.

Jessica trug das blondgesträhnte Haar in einem straffen Knoten – wie so oft, wenn sie arbeitete. Wie ihre Stiefeletten passte auch der Lippenstift perfekt zum Kleid, zu ihren markanten Wangenknochen, der schmalen geraden Nase und den gletscherblauen Augen.

Bodine legte auf. Jessica nahm Platz, zückte ihr Handy und checkte etwas.

Bodine lehnte sich zurück. »Die Koordinatorin des regionalen Schriftstellerverbands wird sich wegen einer dreitägigen Klausur einschließlich Abschiedsbankett bei dir melden.«

»Gibt es schon ein Datum? Teilnehmerzahlen?«

»Sie gehen von achtundneunzig Personen aus. Am 9. Januar sollen sie eintreffen und am 12. Januar wieder fahren.«

»Diesen Januar?«

Bodine grinste. »Der vorherige Veranstaltungsort ist geplatzt, deshalb ist es so kurzfristig. Ich habe nachgesehen, wir können das schaffen. Direkt nach den Feiertagen wird es etwas ruhiger. Wir könnten die Mühle für ihre Besprechungen und das Bankett reservieren. Blockhütten gibt es für die zwei Tage auch genug. Die Koordinatorin, Mandy, scheint gut organisiert zu sein. Ich habe meiner Mutter, Rory und dir eine Mail mit den Details geschickt. Ihr Budget sollte reichen.«

»Gut. Ich werde mit ihr reden, einen Menüplan aufstellen, mich um den Personentransport, die verschiedenen Aktivitäten und so weiter kümmern. Schriftsteller?«

»Ja.«

»Ich werd den Saloon vorwarnen.« Jessie machte sich eine weitere Notiz auf dem Handy. »Schriftsteller haben immer eine große Getränkerechnung.«

»Umso besser für uns.« Bodine zeigte mit dem Daumen auf die Kaffeemaschine. »Bedien dich.«

Jessica hob einfach nur den mit Wasser gefüllten Thermotrinkbecher des Bodine Resorts, den sie dabeihatte.

»Wie kannst du nur ohne Kaffee überleben?«, fragte Bodine aufrichtig entsetzt. »Oder ohne Cola. Wie schaffst du es, nur mit Wasser auszukommen?«

»Weil es auch Wein gibt. Und Yoga und Meditation.«

»Lauter Sachen, die müde machen.«

»Nicht, wenn man es richtig anstellt. Du solltest wirklich mehr Yoga machen. Meditation würde dir helfen, mit weniger Koffein auszukommen.«

»Wenn ich meditiere, muss ich die ganze Zeit an Sachen denken, die ich lieber tun würde.« Bodine drehte sich auf ihrem Stuhl hin und her. »Die Jacke ist echt toll.«

»Danke. Ich war an meinem freien Tag in Missoula und hab richtig Geld ausgegeben. Sal hat mir erzählt, dass Linda-Sue zur Abwechslung später kommen und außerdem ihre Mutter dabeihaben wird.«

»Das hat uns gerade noch gefehlt. Aber sie buchen vierundfünfzig Blockhütten für drei Tage. Polterabend, Hochzeit und anschließender Empfang. Davor werden sie das Wellness-Village mehr oder weniger komplett mit Beschlag belegen, von den anderen Aktivitäten einmal abgesehen.«

»Bis dahin sind es gerade mal vier Wochen. Da ist nicht mehr viel Zeit für Programmänderungen oder Extras.«

Bodines volle Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. »Du kennst Dolly Jackson, oder?«

»Ich komm schon klar mit Dolly.«

»Besser als jeder andere«, gab Bodine zurück. »Schauen wir mal, was wir haben.«

Sie gingen die ganze Liste durch und waren gerade bei einer kleineren Party in der Weihnachtsvorwoche angelangt, als Sal den Kopf hereinsteckte. »Linda-Sue und ihre Mutter.«

»Wir kommen sofort. Moment, Sal, bestell Sekt mit O-Saft.«

»Gute Idee.«

»Sehr gut«, pflichtete ihr Jessica bei, nachdem Sal verschwunden war. »Je mehr Wind wir um sie machen, desto umgänglicher werden sie.«

»Linda-Sue ist gar nicht so schlimm. Chase war in der Highschool kurz mit ihr zusammen.« Bodine stand auf und zupfte ihre dunkelbraune Weste zurecht. »Auf in den Kampf.«

Die hübsche, kurvige und leicht nervöse Linda-Sue durchquerte die Lobby, die gefalteten Hände an die Brust gepresst. »Siehst du es nicht vor dir, Mom? Alles ist weihnachtlich dekoriert, die Bäume, die Lichter. Dazu Kaminfeuer, so wie heute. Außerdem hat Jessica gesagt, dass die Mühle nur so funkeln wird.«

»Das sollte sie auch! Aber wir brauchen unbedingt diese großen Kandelaber, Linda-Sue, mindestens ein Dutzend. Goldene wie in dieser Zeitschrift. In klassischem Mattgold.«

Währenddessen kritzelte Dolly etwas in ihren ziegelsteinschweren, brautweißen Hochzeitsplaner.

»Und einen roten Samtläufer, dunkelrot, nicht knallrot. Genau dort, wo der Schlitten hält. Das betont dein Kleid besser. Außerdem brauchen wir unbedingt eine Harfenistin, die etwas aus rotem Samt mit Goldbordüre trägt und spielt, während die Leute Platz nehmen.«

Jessica atmete tief durch. »Wir werden ein paar Flaschen Sekt brauchen.«

»Du sagst es.« Bodine setzte ein Lächeln auf und marschierte los.

***

Bodine gab der stilvollen Riesenhochzeit vierzig Minuten, bevor sie die Flucht ergriff. In den drei Monaten, die Jessica als Eventmanagerin für sie arbeitete, hatte sie bewiesen, dass sie einer durchgeknallten Mutter und einer unschlüssigen zukünftigen Braut absolut gewachsen war.

Bodine musste zu einem Treffen mit dem für das Catering zuständigen Manager und anschließend Fragen eines Fahrers beantworten. Außerdem wollte sie ein unangenehmes Gespräch mit einem der Pferdepfleger hinter sich bringen.

Die gewundene, über Hügel führende Kiesstraße von ihrem Büro zum Bodine Activity Center (BAC) war bestimmt achthundert Meter lang, aber sobald sie in die klare Luft hinaustrat, entschied sie sich, lieber zu laufen statt zu fahren.

Noch war der Himmel unter den sich zusammenballenden Wolken hellblau. Aber sie roch den Schnee in der Luft, der vermutlich am Nachmittag fallen würde. Sie ging an ein paar grünen Kleinwagen vorbei, die Gästen während ihres Aufenthalts für Fahrten auf dem Gelände zur Verfügung standen, und wandte sich wieder der Straße zu. Niemand in Sicht.

Zu beiden Seiten erstreckten sich schneebedeckte Felder. Sie sah drei Rehe darüberhüpfen, mit weiß aufblitzenden Wedeln und dunklem Winterfell. Der Schrei eines Habichts ließ sie nach oben schauen. Sie sah zu, wie er am Himmel seine Kreise zog. Der Wind wirbelte Schnee auf, der sie umstäubte, während ihre Stiefelabsätze auf dem gefrorenen Boden klapperten.

Sie sah ein paar Leute unweit des BAC, Angestellte mit ein paar Pferden auf dem überdachten Sattelplatz. Warmer Pferdeduft wehte zu ihr herüber, begleitet vom Geruch von geöltem Leder, Heu und Getreide. Sie hob grüßend die Hand, als ein Mann mit schwerer Arbeitsjacke und braunem Stetson zu ihr herübersah. Abe Kotter tätschelte die gefleckte Stute, die er gerade striegelte, und ging Bodine ein Stück entgegen.

»Gleich wird es schneien«, sagte sie.

»Gleich wird es schneien«, bestätigte er. »Ein Paar aus Denver wollte ausreiten. Sie wussten, was sie tun, also ist Maddie mit ihnen raus. Sie sind gerade zurückgekommen.«

»Sag einfach Bescheid, wenn du Pferde zur Ranch zurückbringen und austauschen willst.«

»Mach ich. Bist du vom Hauptgebäude hergelaufen?«

»Ich wollte mir ein bisschen die Beine vertreten. Weißt du was? Ich glaub, ich werd ein Pferd satteln, zurückreiten und anschließend nach den Ladies im Bodine House schauen.«

»Grüß sie schön von mir. Ich werd dir ein Pferd satteln, Bo. Three Socks kann etwas Bewegung gebrauchen. Und ich kann meine müden alten Knochen etwas ausruhen.«

»Von wegen alt.«

»Ich werde im Februar neunundsechzig.«

»Das findest du alt? Pass auf, dass meine Grannies das nicht hören, sonst gibt es eine Gardinenpredigt.«

Er lachte, trat einen Schritt zurück und streichelte noch einmal die gefleckte Stute. »Gut möglich. Trotzdem werde ich wie besprochen eine Winterpause machen. Ich will zusammen mit meiner Frau meinen Bruder in Arizona besuchen und bis Ende April dort bleiben. Direkt nach Weihnachten.«

Sie zuckte nicht mit der Wimper, auch wenn sie es gern getan hätte. »Wir werden Edda und dich sehr vermissen.«

»Mit zunehmendem Alter werden die Winter härter.« Er kontrollierte die Hufe der Stute und zog einen Hufkratzer hervor, um sie zu säubern. »Außerdem ist die Nachfrage nach Ausritten im Winter geringer. Maddie kann einspringen und die Pferde versorgen. Sie ist ein gutes Mädchen.«

»Ich rede mit ihr. Ist sie drinnen? Ich muss sowieso rein und mit Matt reden.«

»Ja. Ich werde Three Socks inzwischen für dich vorbereiten.«

»Danke, Abe.« Sie marschierte los, machte aber noch einmal kehrt. »Was zum Teufel willst du in Arizona?«

»Wenn ich das wüsste! Auf jeden Fall im Warmen sein.«

Sie betrat das Gebäude. Von Frühling bis Oktober war der große scheunenartige Raum für die Gruppen da, die sich auf Wildwasserrafting, Quad-Touren, Ausritte, Viehtreiben und geführte Wanderungen vorbereiteten.

Wenn es schneite, wurde es etwas ruhiger. Im Augenblick hallten ihre Schritte in dem großen Raum wider, während sie zur geschwungenen Theke des verantwortlichen Managers ging.

»Und, wie läuft’s, Bo?«

»Gut, Matt, alles bestens. Und bei dir?«

»Auch gut, es ist ein weniger ruhiger, sodass wir ein paar Sachen aufarbeiten können. Morgen will eine zwölfköpfige Familie ausreiten, und ich hab Chase Bescheid gegeben. Er meinte, Cal Skinner ist wieder da und wird sich um sie kümmern.«

»Stimmt.« Sie sprach mit Matt über die Lagerbestände und darüber, welche Ausrüstungsgegenstände ersetzt werden mussten. Dann zückte sie ihr Handy, um weitere Aktivitäten anlässlich der Jackson-Hochzeit zu besprechen.

»Ich werde dir eine Mail mit sämtlichen Details schicken. Bitte plan schon mal die Zeit ein und such dir die Unterstützung, die du brauchst.«

»Okay.«

»Abe meinte, Maddie ist hier?«

»Sie ist gerade auf der Toilette.«

»Gut.« Sie kontrollierte die Uhrzeit, bevor sie ihr Handy verstaute. Sie wollte noch einen Ausritt zu ihren Grannies machen und musste dann dringend zurück ins Büro. »Ich warte so lang.«

Sie ging zum Getränkeautomaten. Jessica hatte recht, sie sollte mehr Wasser trinken. Aber sie hatte keine Lust auf Wasser. Sie hatte Lust auf was Süßes, Belebendes. Sie hatte Lust auf eine verdammte Cola.

»Ach, Jessie«, seufzte sie, steckte Münzen in den Automaten und zog eine Flasche Wasser. Genervt nahm sie einen ersten Schluck, als Maddie von der Toilette kam.

»Hallo, Maddie.«

Bodine ging der Bereiterin entgegen. Sie wirkte etwas blass und müde um die Augen, trotz ihres spontanen Lächelns.

»Hallo, Bo, ich komme gerade von einem Ausritt zurück.«

»Ich weiß. Alles in Ordnung? Du siehst ein bisschen erschöpft aus.«

»Alles bestens.« Maddie winkte ab und seufzte laut. »Hast du eine Minute Zeit?«

»Klar.« Bodine zeigte auf eines der Tischchen, die überall im Raum verteilt waren. »Stimmt was nicht?«

»Alles prima. Wirklich, fantastisch.« Maddie, eine Freundin, seit sie denken konnte, setzte sich und schob ihren Hut zurück, der auf sonnenblondem, kinnlangem Haar saß. »Ich bin schwanger.«

»Du bist … Maddie! Das ist ja toll.«

»Es ist toll, wunderbar und fantastisch, aber auch ein bisschen beängstigend. Thad und ich haben uns gedacht: Warum warten? Wir haben zwar erst letzten Frühling geheiratet und wollten uns eigentlich ein, zwei Jahre Zeit lassen. Aber dann haben wir es einfach versucht.« Sie lachte und zeigte auf Bodines Wasser. »Kann ich einen Schluck haben?«

»Trink es ruhig aus. Ich freu mich so für dich, Maddie. Geht es dir gut?«

»In den ersten Monaten hab ich dreimal am Tag gekotzt. Morgens nach dem Aufstehen, mittags und abends. Ich werde schnell müde, aber der Arzt hat gesagt, das ist ganz normal. Die Übelkeit sollte bald nachlassen, zumindest hoffe ich das. Vorhin war mir etwas fies, aber ich habe mich nicht übergeben, und das ist ein Fortschritt.«

»Thad muss Purzelbäume schlagen vor Begeisterung.«

»Das tut er auch.«

»In welchem Monat bist du denn?«

»Am nächsten Samstag werden es zwölf Wochen.«

Bo machte den Mund auf und wieder zu. Dann griff sie zur Wasserflasche und nahm einen großen Schluck. »In der zwölften Woche.«

Maddie seufzte und biss sich auf die Unterlippe. »Ich hätte es dir am liebsten sofort gesagt, aber es heißt, dass man die ersten drei Monate abwarten soll, das erste Trimester. Wir haben nur unsere Eltern eingeweiht, denen kann man so was einfach nicht verheimlichen. Selbst bei ihnen haben wir gewartet, bis der erste Monat um war.«

»Du siehst kein bisschen schwanger aus.«

»Das wird sich bald ändern. Offen gestanden ist meine Jeans in der Taille schon so eng, dass ich sie mit einer Sicherheitsnadel zusammenhalte.«

»Nicht dein Ernst!«

»Doch.« Um es zu beweisen hob Maddie ihre Bluse.

Maddie hob ihren Hut und beugte den Kopf, um zu zeigen, dass ihr blondes Haar mehrere Zentimeter dunkel nachgewachsen war. »Man soll sich nicht mehr die Haare färben. Ich werd meinen Hut erst wieder absetzen, wenn das Baby da ist, das schwör ich dir. Ich hab meine natürliche Haarfarbe nicht mehr gesehen, seit ich dreizehn bin. Du hast mir damals beim Färben geholfen. Mit so einer Tube aus dem Drogeriemarkt.«

»Und mir haben wir eine blonde Strähne gefärbt, die dann leider kürbisorange wurde.«

»Ich fand das total cool. Tief in meinem Herzen bin ich eine Blondine, Bo, werde aber eine schwangere Brünette sein. Eine fette, watschelnde Brünette, die alle fünf Minuten aufs Klo muss.«

Lachend gab Bodine ihr das Wasser zurück. Während Maddie trank, strich sie über ihren unsichtbaren Babybauch. »Ich fühle mich anders, wirklich. Es ist ein Wunder. Bodine, ich werde Mutter.«

»Du wirst eine fantastische Mutter sein.«

»Das habe ich zumindest fest vor. Aber es gibt etwas, das ich eigentlich nicht machen sollte.«

»Reiten.«

Nickend nahm Maddie einen weiteren Schluck. »Ich weiß, ich hätte es dir längst sagen sollen. Meine Güte, ich reite, seit ich ein Baby bin, aber die Ärzte sind da sehr streng.«

»Ich auch. Du warst heute mit Gästen draußen, Maddie.«

»Ich weiß. Ich hätte Abe einweihen sollen, aber ich fand, du solltest es zuerst erfahren. Und dann hat er mir erzählt, dass ich ihn während seiner Winterpause ersetzen soll. Ich wollte nichts sagen, sonst hätte er seinen Urlaub abgesagt.«

»Er wird ihn nicht absagen, und du wirst nicht mehr im Sattel sitzen, bis du die ärztliche Erlaubnis dazu hast. Keine Widerrede.«

Wieder biss sich Maddie nervös auf die Unterlippe und spielte mit dem Schraubverschluss der Flasche. »Und der Reitunterricht?«

»Wir werden einen Ersatz finden.« Ihr würde bestimmt etwas einfallen. »Pferde müssen nicht nur geritten werden, Maddie.«

»Ich weiß. Ich kann relativ viel Verwaltungskram erledigen. Ich kann striegeln, füttern, den Pferdeanhänger fahren und die Gäste zum Reitcenter fahren. Ich kann …«

»Du kannst mir vor allem eine Liste von deinem Arzt bringen, damit ich weiß, was du machen darfst und was nicht. Was nicht erlaubt ist, lässt du gefälligst bleiben.«

»Der Arzt ist übertrieben vorsichtig und …«

»Das bin ich auch«, unterbrach Bodine sie. »Du hältst dich an die Liste. Oder ich muss dich entlassen.«

Maddie ließ sich zurückfallen und schmollte. »Thad hat auch so was gesagt.«

»Du hast keinen Idioten geheiratet. Außerdem liebt er dich. Genau wie ich. Den Rest des Tages hast du frei.«

»Nein, ich muss nicht heim.«

»Du gehst heim«, befahl Bo. »Mach einen Mittagsschlaf. Nach deinem Nickerchen rufst du den Arzt an und sagst ihm …«

»Es ist eine Sie.«

»Egal. Du sagst ihr, dass sie diese Liste schreiben soll. Anschließend sehen wir weiter. Im schlimmsten Fall wirst du den Sattel gegen einen Bürostuhl eintauschen müssen, Maddie.« Bodine grinste. »Du wirst fett werden.«

»Ich freu mich schon darauf.«

»Prima, denn das kannst du schließlich nicht ändern. Jetzt geh nach Hause.« Bodine stand auf und nahm Maddie fest in den Arm. »Gratuliere noch mal.«

»Danke. Danke, Bo. Ich sag Abe Bescheid, bevor ich gehe, okay?«

»Mach das.«

»Offen gestanden werde ich es allen sagen. Darauf freue ich mich, seit ich auf dieses Stäbchen gepinkelt habe. Hallo, Matt.« Maddie stand auf und tätschelte sich den Bauch. »Ich bin schwanger.«

»Was?«

Bodine sah noch, wie er über die Theke sprang und zu Maddie rannte, um sie hochzuheben.

Eltern erfahren als Erste von den Babys, dachte Bodine, während sie wieder nach draußen ging. Aber dann gab es ja auch noch die Familie drumherum.

2

Auf der Fahrt überlegte Bodine, was sie erledigen musste. Sie hatte zwei ihrer wichtigsten Bereiter verloren. Einen bis zum Frühling und eine für ganze acht Monate. Also hatte sie ein Problem, das sich aber bestimmt lösen ließ.

Schnee fiel, noch spärlich und nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was kommen würde. Sie mochte den Geruch, die kühle Luft und die weiß verschneiten Felder.

Sie trieb Three Socks an und gewährte ihm dann einen schönen Galopp. Sie sah einen der Service-Pick-ups über die Straße zu den Blockhütten holpern und gönnte sich das Vergnügen eines kleinen Umwegs. Dorthin, wo sich der Blick auf die verschneiten Berge unter einem blassgrauen Himmel weitete.

Eine Weile dachte sie an gar nichts.

Sie ritt an den weißen Zelten des Wellness-Village vorbei, den Hang hinauf zu den geschützt liegenden Hütten und nahm dann die gewundene Straße zum Haus ihrer Grannies.

Es lag ein Stück zurückgesetzt, sodass genug Platz fürs Gärtnern blieb, das beide sehr liebten. Ein weiß-blaues Puppenhaus mit Panoramafenstern und zwei großzügigen Veranden nach vorn und hinten hinaus, auf denen man es sich gemütlich machen konnte.

Sie ritt mit dem Wallach auf die Rückseite des Hauses zur kleinen Scheune und stieg ab. Nachdem sie das Pferd lobend getätschelt hatte, band sie es fest. Über die dünne Schicht Neuschnee lief sie zur Hintertür, wo sie sich gründlich die Stiefel abtrat. Der Duft köstlichen Essens wehte ihr entgegen, sobald sie die Küche betreten hatte.

Noch während sie sich die Jacke aufknöpfte, ging sie zum Topf auf dem Herd, um daran zu schnuppern. Hühnchen mit Lauch. Genüsslich sog sie den Duft ein. Ein Eintopf, der bei ihrer Urgroßmutter Cock-a-Leekie hieß.

Sie sah sich um. Die Wohnküche ging in einen Essbereich mit einer gemütlichen Couch, ein paar Sesseln und einem großen Flachbildfernseher über. Die Grannies liebten ihre Fernsehsendungen. Es lief gerade eine Serie mit unfassbar schönen Menschen. Sie entdeckte zwar den Stickkorb von Grammy, ihrer Urgroßmutter Miss Fancy, und den Häkelkorb von Nana, ihrer Großmutter Cora. Von den beiden Frauen fehlte jedoch jede Spur.

Bodine schaute im Gäste- und Arbeitszimmer nach. Doch das war aufgeräumt und leer. Sie betrat ein Wohnzimmer, in dem ein Kaminfeuer prasselte und von dem zwei Schlafzimmer samt angeschlossenen Bädern abgingen. Sie wollte gerade nach den Frauen rufen, als sie von nebenan eine Stimme hörte.

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich das reparieren kann.«

Cora kam aus ihrem Schlafzimmer, einen rosa Werkzeugkasten in der Hand. Sie schrie und fasste sich an die Brust.

»Himmelherrgott, Bodine! Du hast mich zu Tode erschreckt. Ma! Bodine ist da.« Mit schepperndem Werkzeugkasten eilte Cora zu Bodine und umarmte sie.

UGG-Slipper, der Duft von Chanel No. 5, eine Figur, die so schlank und rank war, dass sie deutlich jünger wirkte. Heute trug sie eine Jeans und einen weichen weiten Pulli, den vermutlich ihre Mutter gestrickt hatte.

Bodine sog ihren Duft ein. »Was hast du repariert?«

»Ach, das Waschbecken in meinem Bad hat geleckt.«

»Soll ich den Hausmeister verständigen?«

»Du hörst dich an wie deine Grammy. Ich pflege meine Reparaturen selbst zu erledigen. Das Leck ist beseitigt.«

»Klar.« Bo küsste Cora auf beide Wangen und schaute lächelnd in ihre klaren blauen Augen.

»Hast du auch was, das repariert werden muss?«

»Ich habe zwei Bereiter zu wenig, aber dieses Problem schaff ich selbst aus der Welt.«

»Darin sind wir gut, was? Verflixt, Ma, Bodine ist da.«

»Ich komm schon. Du brauchst nicht so zu schreien.«

Während Coras Haar, ein angeschrägter Pagenkopf, graumeliert war, leuchtete das von Miss Fancy so rot wie in ihrer Jugend. Mit knapp neunzig könnte sie es eigentlich ein wenig langsamer angehen lassen, aber sie war stolz darauf, alle Zähne im Mund zu haben, alles zu hören, was sie hören wollte, und nur eine Lesebrille für die Nähe zu brauchen. Klein und eher rundlich als dick, liebte sie T-Shirts und Baseballkappen mit Slogans, die sie im Internet bestellte. Auf der von heute stand: So sieht eine Feministin aus.

»Du wirst wirklich mit jedem Tag hübscher«, sagte Miss Fancy, als Bodine sie umarmte.

»Du hast mich doch erst vorgestern gesehen.«

»Das tut dem keinen Abbruch. Komm und setz dich. Ich muss nach der Suppe sehen.«

»Sie duftet köstlich.«

»Sie braucht noch mindestens eine Stunde. Falls du zum Essen bleiben möchtest …«

»Das geht leider nicht. Ich wollte nur kurz vorbeischauen.«

Miss Fancy rührte in ihrer Suppe, während Cora den Werkzeugkasten wegräumte.

»Dann wenigstens einen Tee und Plätzchen«, befahl Cora. »Was sein muss, muss sein.«

»Cora und ich haben gestern Abend Snickerdoodles gebacken.« Miss Fancy lächelte, als sie den Kessel aufsetzte.

Ausgerechnet Snickerdoodles, ihre Lieblingsplätzchen. »Dafür habe ich Zeit. Setz dich, Grammy, den Tee mach ich.«

Sie holte die Kanne, die Tassen und die Teesiebe, da Beuteltee unter der Würde der Damen war.

»Ihr verpasst eure Sendung«, sagte Bodine.

»Ach, die nehmen wir auf«, winkte Miss Fancy ab. »Es macht viel mehr Spaß, abends zu gucken und die Werbung vorzuspulen.«

»Wie ich hörte, ist der Skinner-Junge aus Hollywood zurück und arbeitet auf der Ranch?«, meinte Miss Fancy.

»Du hast richtig gehört.«

»Ich hab den Burschen immer gemocht.« Cora stellte eine Schale mit Plätzchen auf den Tisch.

»Besser kann man gar nicht aussehen.« Miss Fancy nahm ein Plätzchen. »Und er ist nicht langweilig.«

»Chase und seine ernsthafte Art haben ihm gutgetan. Und du warst verliebt in ihn«, sagte Cora zu Bodine.

»Nein, war ich nicht.«

Die Grannies sahen sich nur grinsend an.

»Ich war zwölf. Woher wollt ihr das überhaupt wissen?«

»Ich kann eben Gedanken lesen.« Miss Fancy legte die Hand aufs Herz. »Meine Güte, wäre ich etwas jünger oder er älter gewesen, hätte ich mich auch in ihn verliebt.«

»Was Grandpa dazu gesagt hätte?«, gab Bodine zu bedenken.

»Wir waren siebenundsechzig Jahre verheiratet, bevor er gestorben ist. Gucken war immer erlaubt. Anfassen geht nur, wenn man miteinander verheiratet ist.«

Lachend brachte Bodine den Tee.

»Sag diesem Jungen, dass er uns bald besuchen soll«, verlangte Cora. »Ein gut aussehender Mann hebt die Laune.«

»Versprochen.« Bodine warf einen Blick auf die Plätzchen.

Gesund essen konnte sie später.

***

Als Bodine ihren Arbeitstag beendete, schneite es heftig. Sie war dankbar für die Plätzchen vom Nachmittag, da sie keine Gelegenheit zum Mittagessen gehabt hatte. Sie stellte ihren Pick-up vor der Ranch ab und war bereit, alles zu verschlingen, was man ihr vorsetzen würde.

Sie ließ ihre Outdoor-Ausrüstung im Hausflur, nahm ihren Aktenkoffer und ertappte Chase in der Küche dabei, wie er sich ein Bier aus dem Kühlschrank nahm.

»Auf dem Herd steht Rindereintopf«, sagte er. »Mom hat gesagt, dass ich ihn warm halten soll, bis du da bist.«

Dabei wollte sie eigentlich weniger rotes Fleisch essen.

Egal. »Wo sind die andern?«

»Rory ist verabredet. Und Mom hat gemeint, dass sie den Rest ihres Lebens in der Badewanne verbringen will. Dad dürfte ihr dabei Gesellschaft leisten.«

Sofort hielt sich Bodine die Ohren zu. »Musst du dieses Bild heraufbeschwören?«

»Sein Blick hat es heraufbeschworen. Wie heißt es so schön? Geteiltes Leid ist halbes Leid.« Er winkte mit der Flasche. »Auch ein Bier?«

»Lieber Wein. Ein Glas Rotwein am Tag ist gesund«, schickte sie hinterher, als er nur grinste. Gut möglich, dass sie eher großzügig einschenkte, doch es blieb bei einem Glas.

»Maddie ist also schwanger.«

»Woher weißt du das?« Sie schöpfte Eintopf in eine Schale.

»Maddie hat Thad informiert, dass sie es allen gesagt hat. Da hat er es mir erzählt. Ich hab damit gerechnet.«

»Warum denn das?«

»Ich hab ab und zu Bemerkungen von Thad zum Thema Vaterschaft aufgeschnappt.«

»Wenn du damit gerechnet hast, warum hast du ihn nicht darauf angesprochen?« Verärgert gab sie Chase einen Stoß zwischen die Rippen. »Hätte ich das ein paar Wochen früher gewusst, hätte ich eine der Saisonkräfte behalten können. Aber wenn man es mit Charles Samuel Longbow zu tun hat, heißt die Losung natürlich: Kein Wort zu viel.«

»In der Regel erfährt man alles früh genug. Ich nehm mein Bier mit nach nebenan und trink es am Kamin.«

Den Löffel im Eintopf, folgte ihm Bodine. Wie ihr Bruder ließ sie sich aufs große Sofa fallen und legte die Füße auf den Couchtisch. »Ich hab jede Saisonkraft angerufen, der ich das zutraue, und brauche mehr als einen Bereiter. Sie sind für den Winter alle ausgebucht.« Sie aß und dachte nach. »Es sind noch ein paar Wochen, bis Abe abhaut. Ich würde nur ungern jemandem eine Leitungsfunktion geben, den ich nicht kenne und nicht richtig einarbeiten konnte. Da wären noch Ben und Carol, aber die haben keine Führungsqualitäten.«

»Nimm Cal.«

»Cal?«

»Ja, er kann doch einspringen. Er kann super mit Pferden umgehen und hat Führungsqualitäten. Sonst wird es bei dir echt eng. Dad und ich können aushelfen. Oder Rory und Mom. Sogar Nana könnte Ausritte führen. Die reitet sowieso fast jeden Tag.«

»Ich war gerade bei ihr und Grammy. Ich bin auf Three Socks hin. Als Nana das hörte, wollte sie mit ihm zum BAC zurückreiten. Ich habe es ihr wegen des Schnees verboten. Sie sollte im Winter keine Ausritte führen.«

Chase nickte nachdenklich und nahm noch einen Schluck Bier. »Sie könnte Reitunterricht geben.«

»Ja, daran hab ich auch gedacht. Das dürfte ihr gefallen. Gut, wenn ich Personal von der Ranch abziehen kann, solange Abe weg ist, muss ich niemand Neues suchen. Du bist doch nicht ganz nutzlos, Chase.«

»Ich?« Er trank von seinem Bier. »Ich hab jede Menge verborgene Qualitäten.«

»Ich fürchte, sie erstrecken sich nicht zufällig auf zehn Kilometer roten Samt, ein Dutzend goldene Riesenkandelaber sowie auf eine Harfenistin im roten Samtkleid?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Linda-Sues Hochzeit. Ihre Mutter war heute dabei und hat so gut wie alles verkompliziert, verändert und verworfen. Der Sekt mit O-Saft hat rein gar nichts genutzt«, murmelte Bodine.

»Du wolltest Managerin werden.«

»Ja, und ich mag den Job immer noch, sogar an Tagen wie heute. Außerdem sind Samt, Harfenistin und Gold Jessicas Problem. Es war sehr schlau von mir sie einzustellen.«

»Ich hätte nie gedacht, dass sie es so lange aushält.« Die Füße hochgelegt, sah er zufrieden zu, wie es vor dem Fenster schneite. »Sie hat noch keinen Winter hier erlebt.«

»Sie packt das schon. Warum auch nicht?«

»Sie kommt aus der Stadt. Von der Ostküste.«

»Und ist die beste Eventmanagerin, seit Martha vor fünf Jahren in Rente gegangen ist. Ich muss sie kaum kontrollieren.«

»Du tust es aber trotzdem.«

»Nicht so oft wie vorher.« Wie Chase sah sie aus dem Fenster und betrachtete das Schneetreiben vor dem dunklen Himmel. »Es dürfte dreißig Zentimeter Neuschnee geben. Ich schreib Len eine SMS, dass er die Wege freischaufelt.«

»Du bist und bleibst ein Kontrollfreak.«

»Das gehört zu meinem Job.« Bodine sah zur Decke. »Glaubst du wirklich, die liegen da oben zusammen in der Badewanne?«

»Worauf du wetten kannst!«

»Ich glaube, ich kann da jetzt unmöglich hochgehen. Vorher brauch ich noch ein Glas Wein.«

»Bring mir bei der Gelegenheit ein Bier mit.« Er spähte ebenfalls zur Decke. »Ich gebe ihnen eine halbe Stunde.«

***

Bodine verbrachte fast den ganzen nächsten Tag damit, die Wege durchs Resort zu kontrollieren, Vorschläge unter die Lupe zu nehmen, Entscheidungen zu vertagen und Druck zu machen, damit schnellstens neue Leinenbettwäsche für die Hütten geliefert wurde. Sie war gerade dabei, die Winter-Aktionen in Broschüren, Serienmails, auf Webseiten, Facebook und Twitter durchzusehen, als Rory hereinkam.

Er ließ sich in einen ihrer Sessel fallen und streckte alle viere von sich, als plante er länger zu bleiben.

»Ich werfe gerade einen letzten Blick auf die Winterangebote«, hob Bodine an.

»Gut, denn wir können noch was anpreisen.«

»Was denn?«

»Eine neue Idee.« Er sah sich lächelnd um, als Jessica hereinkam. »Da ist ja meine Komplizin. Mom ist beschäftigt, kommt aber, sobald sie sich freimachen kann.«

»Worum geht es? Die Broschüren sollen morgen in Druck gehen, die Daten für die Webseite nächste Woche hochgeladen werden.«

»Ein paar Tage hin oder her spielen doch keine Rolle.«

Wohl wissend, dass das genau die falsche Strategie bei Bodine war, gab Jessica Rory einen sanften Stoß und kniff ihn sogar in den Arm, bevor sie sich setzte.

»Was haben wir den Leuten eigentlich im Winter zu bieten?«, meinte der daraufhin. »Schnee und noch mehr Schnee. Die Leute kommen von der Ostküste oder Kalifornien hierher. Sie wollen Cowboy spielen, Ausritte machen und Büffelburger probieren.«

Der geborene Verkäufer. Rory schlug die Füße, die in coolen Frye Boots steckten, übereinander. »Die Leute, die im Winter herkommen, fahren ein bisschen mit Schneemobilen rum oder machen es sich in einer der Blockhütten gemütlich, wo sie sich massieren lassen. Aber zwei Meter Schnee schrecken sie ab. Damit verlieren wir potenziellen Umsatz. Warum sollten wir uns den Schnee nicht zunutze machen, um den Umsatz zu steigern?«

Bodine hatte gelernt, in Rory nicht nur den kleinen Bruder zu sehen, wenn es ums Marketing ging, auch wenn ihr das anfangs schwergefallen war. »Ich höre.«

»Ein Schneeskulpturen-Wettbewerb. Ein Wochenend-Event. Das Ganze läuft folgendermaßen. Wir bieten vier Kategorien an. Bis zwölf Jahre, zwölf bis sechzehn Jahre, Erwachsene und Familien. Wir loben Preise aus und sorgen dafür, dass die hiesige Presse darüber berichtet. Und wir geben Rabatt, wenn die Teilnehmer für zwei Tage eine Blockhütte buchen.«

»Die Leute sollen Schneemänner bauen?«

»Keine Schneemänner«, schaltete sich Jessica ein. »Schneekunst. Skulpturen. So wie bei den Sandskulptur-Wettbewerben in Florida. Wir bauen einen Kinderbereich auf und sorgen für angemessene Betreuung. Es gibt heiße Schokolade und Suppe.«

»Und Eiszapfen-Wassereis«, sagte Bodine.

»Eiszapfen-Wassereis.« Rory nickte anerkennend.

»Wir stellen das Werkzeug zur Verfügung. Schaufeln, Spaten, Palettenmesser und so«, fuhr Jessica fort. »Die Motive müssen sich die Teilnehmer selbst ausdenken. Am Freitagabend gibt es ein geselliges Beisammensein, danach teilen wir den Leuten ihre Unterkünfte zu. Am Samstag geht es um Punkt neun los.«

»Wir werden Aktivitäten für kleinere Kinder brauchen«, überlegte Bodine laut. »Die können sich nicht so lange konzentrieren. Außerdem müssen sie irgendwann ins Warme, was essen oder naschen. Das gilt auch für die Erwachsenen. Kein Muss, aber manche wünschen sich vielleicht Pausen.«

»Wir bauen ein Büfett in der Futterkrippe auf. Vielleicht auch ein paar beheizte Zelte für Nacken- und Schultermassagen. Für die Kleinen denk ich mir bis dahin was aus.« Jessica runzelte die Stirn. »Etwas, das zum Winterthema passt. Wir könnten gegen zusätzliche Bezahlung Schlittenfahrten anbieten. Und am Samstagabend eine Party steigen lassen, auf der wir die Gewinner verkünden und Preise verleihen.«

»Die Idee gefällt mir, aber sie muss noch ausgearbeitet werden, samt Werbeslogans und Preisen. Besorgt Fotos. Und Schneeskulptur-Event klingt besser als Wettbewerb.«

»Stimmt«, pflichtete ihr Rory bei.

»Kümmern wir uns um die Details.« Jessica verstaute ihr Handy und stand auf. »Rory, wie wär’s, wenn wir uns in einer Stunde zusammensetzen und Nägel mit Köpfen machen?«

»Gern.« Er sah ihr nach und drehte sich anschließend lächelnd zu seiner Schwester um. »Wie gut sie riecht.«

»Tatsächlich?«

Mit seinem unwiderstehlichen Lächeln wackelte Rory mit den Brauen. »Tatsächlich.«

»Sie ist viel zu alt für dich und hat viel zu viel Stil.«

»Alter ist nur eine Frage der Einstellung, und ich hab jede Menge Stil, wenn es sein muss. Nicht, dass ich was mit ihr anfangen will. Ich sag nur, wie es ist.« Er sprang auf. »Weißt du, ich kann da eine riesige Marketingaktion draus machen.«

Allerdings, das konnte er. »Sieh zu, dass die Kosten gedeckt sind«, ermahnte sie ihn.

»Erbsenzählerin!«

»Tagträumer! Mach, dass du fort kommst, ich hab zu tun.«

***

Als Bodine am Abend Schluss machte, warf sie einen Blick in den Speisesaal und auf die Autos und Pick-ups auf dem Parkplatz. Kleinwagen des Resorts, viele Geländewägen, Pick-ups und Autos von auswärtigen Restaurantbesuchern.

Nicht schlecht.

Sie wollte endlich zu Abend essen, sich etwas ausruhen und niemandem mehr Rede und Antwort stehen müssen. Vielleicht würde sie heute früh ins Bett gehen.

Nachdem sie vor der Ranch angehalten, zu ihrem Aktenkoffer gegriffen und den Hausflur betreten hatte, stand ihr Abendprogramm bereits fest.

Ein Glas Wein.

Abendessen.

Eine lange, heiße Dusche.

Ein bisschen lesen.

Schlafen.

Ein perfekter Plan.

Wenn sie sich nicht täuschte, lag der Duft von Clementines Lasagne in der Luft. Es gab doch noch einen Gott!

Als Bodine in die Küche kam, lachte Clementine, schlaksige eins achtzig groß, gerade das für sie so typische herzhafte Lachen. Ihr Wahlspruch lautete: Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.

»Junge, du hast dich wirklich kein bisschen verändert.«

»Nichts auf dieser Welt kann meiner tiefen, unverbrüchlichen Liebe zu dir etwas anhaben.«

Bodine kannte diese Stimme und ihren Charme. Sie sah zu Callen Skinner hinüber, der an der Küchentheke lehnte und ein Bier trank, während Clementine die Spülmaschine einräumte.

3

Und ob er sich verändert hat, dachte Bodine. Er war ziemlich schlaksig gewesen, als er fortging. Inzwischen hatte er richtig Muskeln bekommen. Lange Beine und schmale Hüften, aber breite Schultern, auch sein Gesicht war markanter als früher. Er trug das dunkelbraune Haar länger, als sie es in Erinnerung hatte. Es lockte sich über den Ohren und fiel bis auf den Hemdkragen. Ob er immer noch sonnengebleichte Strähnchen bekam, sobald er seinen Hut länger als zehn Minuten absetzte? Er drehte den Kopf und musterte sie aus grauen Augen, die sowohl ins Blaue als auch ins Grünliche spielen konnten.

»Hallo, Bodine.«

Clementine wirbelte herum und stemmte die Hände in die knochigen Hüften. »Das wird aber Zeit. Glaubst du, ich bin deine Kantine? Du kannst froh sein, dass noch was für dich übrig ist.«

»Das ist allein Rorys Schuld. Er hat mir am Ende eines langen Tages noch mehr Arbeit aufgebürdet. Hallo, Callen.«

»Wasch dir die Hände«, befahl Clementine. »Und setz dich an den Tisch.«

»Zu Befehl, Madam.«

»Möchtest du ein Bier?«, fragte Callen.

»Sie will bestimmt ein Glas Rotwein, weil das angeblich Herzproblemen vorbeugt oder so. Den da.« Clementine zeigte darauf.

»Tatsächlich? Ich hol ihn dir.« Callen schenkte Bodine Wein ein, während sie sich pflichtschuldig die Hände wusch.

»Iss den Salat.« Clementine gab etwas in ein Schälchen und machte ihn an. »Und beschwer dich nicht übers Dressing.«

»Nein, Madam. Danke«, schickte Bodine hinterher, als Callen ihr das Glas gab.

Sie nahm Platz und den ersten Schluck Wein. Als Clementine eine Serviette über ihren Schoß breitete, griff sie zur Gabel. »Du leistest ihr Gesellschaft, Cal. Ständig kommt sie zu spät und muss allein essen. Wirklich ständig! Im Ofen hab ich ihr einen Teller warm gestellt. Sieh zu, dass sie alles aufisst.«

»Wird gemacht.«

»Möchtest du noch ein Stück Apfelkuchen?«

»Liebste Clem, dafür ist leider kein Platz mehr.«

»Dann nimm wenigstens ein großes Stück mit, wenn du gehst.« Sie kniff ihn in die Wange. Sofort blitzte sein Grinsen auf.

»Willkommen daheim. Ich gehe jetzt.« Bodine bekam einen Klaps auf den Hinterkopf, der in eine Liebkosung überging. »Brav aufessen, junge Dame. Wir sehen uns morgen früh.«

»Gute Nacht, Clementine.« Bodine wartete, bis sich die Tür zum Hausflur geschlossen hatte, bevor sie laut seufzte und wieder zu ihrem Weinglas griff. »Du musst nicht bleiben und mir beim Essen zusehen.«

»Ich hab’s aber versprochen. Ich könnte diese Frau vom Fleck weg heiraten, allein wegen ihrer schlagfertigen Art. Und ihrer Kochkünste.« Er nahm einen vorsichtigen Schluck von seinem Bier, ohne den Blick von Bodine abzuwenden. »Du bist hübscher geworden.«

»Findest du?«

»Du warst schon früher hübsch, aber heute bist du noch hübscher. Und, wie geht’s dir so?«

»Gut. Viel zu tun. Und du?«

»Ich freue mich, wieder hier zu sein. Ich war mir erst nicht so sicher, deshalb ist das ein erheblicher Pluspunkt.«

»Du hattest bisher gar keine Zeit, Hollywood zu vermissen.«

Er ließ die Schultern kreisen. »Die Arbeit hat Spaß gemacht. Sie war interessant. Härter, als die meisten Leute glauben. Härter, als ich mir das anfangs vorgestellt hatte.«

Aus ihrer Erfahrung galt das für jede Arbeit, die Spaß machte. »Hast du gefunden, was du gesucht hast?«

Wieder trafen sich ihre Blicke. »Ja.«

»Es ist ein paar Jahre her, trotzdem möchte ich dir mein Beileid wegen deines Vaters aussprechen. Bitte entschuldige, dass ich nicht auf der Beerdigung war.«

»Danke. Du hattest die Grippe oder so?«

»So was, ja. Drei Tage lang. So schlecht war mir noch nie, und ich möchte diese Erfahrung nur ungern wiederholen.«

»Wo wir gerade dabei sind: Auch von meiner Seite mein herzliches Beileid wegen deines Großvaters – Urgroßvaters. Er war ein guter Mann.«

»Allerdings. Wie geht es deiner Mutter, Callen?«

»Gut. Viel besser als früher, weil sie einen Enkel verwöhnen kann und sich auf den zweiten freut. Wir werden den Rest unseres Grunds an deinen Vater verkaufen.«