Lichtsturm II - Mark Lanvall - E-Book

Lichtsturm II E-Book

Mark Lanvall

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Beschreibung

Ein alter Zauber entfesselt seine Kraft: Nach zwei Jahrtausenden werden Menschen zu Alben. Sie sind die Erben der weißen Festung Galandwyn. Und sie sind Außenseiter in ihrer eigenen Welt. Bestaunt, gefürchtet, gejagt, gehasst. Auf einer Insel im Atlantik finden sie Zuflucht. Erst hier - mit Hilfe des Verwandelten Ben, des Nerds Maus und der Albenkriegerin Larinil - lernen sie, was es heißt, zum mystischen Volk der Alben zu gehören. Aber dann kehrt ein vergessener Krieg zurück in die Welt der Menschen. Der mächtige Albenmeister Sardrowain überschreitet die Grenze der Anderswelt, um die Kinder Galandwyns zu vernichten. "Lichtsturm II - Die andere Welt" ist die Fortsetzung des Fantasy-Thrillers "Lichtsturm - Die weiße Festung".

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Mark Lanvall

Lichtsturm II

Die andere Welt

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Bisher bei Lichtsturm:

Der Schwertführer

Silberne Pfeile

Der Gefangene

Verschwörung

Erkenntnisse

Verjüngung

Die erste Lektion

Einladung

Morcants Reich

Das Schwert

Das Antiquariat

Kellens Dorf

Der Sturm

Nur ein Schemen

Ein mächtiges Feuer

Leseprobe aus Lichtsturm III:

Impressum neobooks

Bisher bei Lichtsturm:

Ein blutiger Bürgerkrieg tobt in Lysin’Gwendain, der Anderswelt. Geschlagen und verfolgt fliehen abtrünnige Alben unter Führung des Großmeisters Geysbin und dessen Tochter Larinil in die Welt der Menschen, finden Zuflucht in der weißen Bergfestung Galandwyn. Aber auch dort sind sie vor dem Zorn ihrer Feinde nicht sicher. Die siegreichen Herrscher der Anderswelt stellen gegen sie ein Heer aus Gorgoils und Pandrai auf - monströse Kreaturen, geschaffen aus dunkler Magie. Dabei hilft ihnen der skrupellose, keltische Druidenhäuptling Bram, der als Belohnung für seine Dienste ein Elixier erhält, das ihm ein jahrhundertelanges Leben ermöglicht.

Geysbin und den Alben Galandwyns gelingt es, eine Schlacht gegen die Gorgoils und Pandrai zu gewinnen. Dennoch fürchten sie, den Krieg am Ende zu verlieren. Und dass der Welt der Menschen eine dunkle Zeit bevorsteht. Deshalb wirkt Geysbin einen Zauber an drei Keltenkriegern. Darunter ist auch der Häuptling Kellen, in den sich Larinil verliebt. Der Großmeister verbirgt tief im Inneren der Krieger einen Keim, der Generationen später aus ihren Nachfahren Alben werden lässt. Sein Plan ist, dass diese Verwandelten eines Tages über die Menschen wachen und einer Bedrohung aus der Anderswelt entgegentreten. Geysbin selbst will den neuen Alben dabei beistehen und sie unterweisen. Zusammen mit seiner Tochter Larinil begibt er sich daher in einen jahrhundertelangen Schlaf.

Doch sein Plan geht schief. Erst zwei Jahrtausende später erwacht der Großmeister. In der langen Zeit hat er sein Gedächtnis und seine magischen Fähigkeiten eingebüßt. In seiner Verwirrung löst er die Verwandlung Hunderter ahnungsloser Nachfahren der drei Kelten aus.

Darunter ist der frustrierte Ben, den die seltsame Veränderung seines Körpers zunächst ratlos macht. Ebenso wie eine Serie von Mordanschlägen gegen ihn und andere Verwandelte. Bald stellt sich heraus, dass der nun mehr als 2000 Jahre alte Bram hinter den Angriffen steckt. Bram, der sich inzwischen William Braxton nennt, sieht die Verwandelten als Erben der Galandwyn-Alben und damit als seine Feinde an. Außerdem hofft er auf eine weitere Belohnung aus der Anderswelt, denn sein Elixier reicht nur noch für eine einzige Verjüngung.

Die junge Wissenschaftlerin Natalie findet den verwirrten Geysbin und seine Tochter Larinil in den Bergen. Sie kümmert sich um die beiden und hilft ihnen dabei, in der den Alben fremden Welt nach Verwandelten zu suchen. Bald gründen sie, Larinil, Geysbin, Ben und dessen Freunde Maus und Viktoria eine Stiftung, deren Aufgabe es ist, die Verwandelten vor den zunehmenden Anfeindungen und Übergriffen durch Menschen zu schützen. Außerdem sollen sie erfahren, was sie jetzt sind, und lernen, ihre übermenschlichen Fähigkeiten zu nutzen. Doch in der Anderswelt ahnen die alten Feinde Galandwyns bereits, dass in der Welt der Menschen etwas in Bewegung geraten ist.

Der Schwertführer

Sardrowain wollte es nicht glauben. War dieser Kerl von Sinnen? Brachte ihn Dummheit oder Übermut dazu, derart frech zu reden? Ein Gedanke würde Sardrowain reichen, um den Schädel seines Begleiters platzen zu lassen - damit sich dessen nutzloser Inhalt blutrot über den Schnee verteilte. Wie verlockend diese Vorstellung war! Eine Versuchung, der er aber nicht erliegen durfte - noch nicht. Denn der Augenblick mochte kommen, in dem er den Schwertführer an seiner Seite brauchen würde. Er war schließlich sein einziger Begleiter. Trotzdem machte es ihm der Kerl wirklich schwer.

„Verzeiht mir, Meister Sardrowain. Es ist nicht meine Absicht, Euch zu maßregeln. Versteht es als Erinnerung an unseren Auftrag und daran, wie wichtig er ist. Die großen Adro’wiai - mögen Sie lange leben und herrschen - haben ihn uns selbst erteilt, wie Ihr wisst!“

Aufrecht saß der Schwertführer im Sattel seines Braunen und sah Sardrowain mit festem Blick an. Der junge Kerl kannte weder Demut noch Angst. Er war mutig, wenigstens das musste ihm Sardrowain lassen. Zu mutig, um auf ein langes Leben hoffen zu dürfen.

„Schwertführer Andrar, habt Ihr den Eindruck, dass die großen Adro’wiai - mögen sie lange leben und herrschen - über dieses verfluchte Land, das wir gerade durchstreifen, gebieten?“

„Es sind die Herrscher von ganz Lysin’Gwendain. Natürlich gebieten sie auch über dieses Land.“

Sardrowain schnaufte verächtlich und trieb seinen Schimmel an. Besser sie brachten diese baumlose Ebene rasch hinter sich. Hier, in tief verschneitem Gelände, waren sie weithin sichtbar. Er selbst hatte zwar weiße Kleidung und ein weißes Pferd gewählt, der Mann neben ihm war in seiner Arroganz aber nicht so vorsichtig gewesen. Voller Stolz trug er die strahlend blaue Offiziersuniform des Heers. Andrar war ein gutaussehender Mann, mit breiten Schultern, einem markanten Kinn und dichtem, dunklem Haar. In der Stadt mochten ihm die bewundernden und begehrlichen Blicke der edlen Töchter gewiss gewesen sein. Aber hier gab es niemanden, den er mit seinem blendenden Aussehen hätte beeindrucken können. Und das schloss Sardrowain ausdrücklich mit ein.

„An der Akademie lehrt man Euch, dass die Adro’wiai über diese Welt gebieten, die ganze Welt. Man bläut Euch ein, zu gehorchen, die Schöpfer zu ehren und Euch vor den Adro’wiai zu verbeugen.“

Andrars hellgrüne Augen zuckten. War es, weil er bei Sardrowain so etwas wie ‚verräterische Gedanken‘ vermutete? Oder, weil seinem letzten Satz der Anhang „Mögen sie lange leben und herrschen!“ gefehlt hatte?

Sardrowain hasste die Akademie und die Offiziere, die sie in den letzten zwei Jahrhunderten hervorgebracht hatte. Gewiss, es waren loyale Lakaien, überzeugt von der Überlegenheit und dem Herrschaftsanspruch seines Volkes. Bereit, jederzeit für die Adro’wiai in den Tod zu gehen. Aber in ihren Herzen war kein Platz für Leidenschaft, in den engen Korridoren ihres Kopfes kein Ort für Visionen. Sie dienten nicht aus eigenem Antrieb, sie dienten, weil sie es nicht anders kannten. Und sie wussten rein gar nichts über Lysin’Gwendain, über die Schöpfer, die Kriege gegen die Gorgoils und schon gar nicht über die andere Welt. Sie wussten nicht, dass die Elvan jal’Iniai, die Kinder des Lichts, kämpfen mussten, um eines Tages wieder ihren vorbestimmten Platz auf dem Thron beider Welten einzunehmen. Sahen diese Narren das denn nicht? Erkannten sie nicht, wie klein und erbärmlich ihr Dasein war? Verschanzt hinter mannsdicken Steinen beherrschten sie nicht einmal die Hälfte von Lysin‘Gwendain, der Welt, die ihr eigenes Volk für sich gefunden hatte. Die Hauptstadt San’tweyna gehörte ihnen, das Land, die Wälder und Hügel darum. Dazu ein Hafen. Das aber war auch alles. Der Rest Lysin‘Gwendains - ihrer Welt - war wildes, tödliches Land. Und sie befanden sich jetzt mitten darin.

„Drei Tage ist es her, Schwertführer Andrar, dass wir die schützenden Mauern San’tweynas verlassen haben. Nur drei verfluchte Tage. Und doch sind wir in dieser Wüste aus Schnee und Eis so allein, wie wir nur sein können. Hier gibt es keine Mauern, keine Soldaten und gewiss keinen der drei Adro’wiai.“

Andrar zuckte wieder. Sein Mund öffnete sich leicht und gab den Blick auf zwei strahlend weiße Zahnreihen frei.

Sardrowain deutete eine demütige Verbeugung an. „Verzeiht. Mögen sie lange leben und so weiter.“

Der Schwertführer schnaufte und beherrschte seinen Zorn offenbar nur mit großer Mühe. Sardrowain fuhr fort: „Alles, was wir hier in dieser Ödnis finden, Schwertführer, das sind Gorgoils, jede Menge wilder, blutdürstiger Gorgoils. Jeder Einzelne von ihnen hätte gerne unseren Arsch zum Abendbrot. Und der Einzige, der verhindern kann, dass sie ihn bekommen, bin ich. Wisst ihr, wer ich bin?“

Andrar stutzte. Die Frage schien ihn zu verwirren. Es gab wohl keine passende Antwort, die er auf der Akademie hatte auswendig lernen können. Dennoch versuchte er es.

„Sicher, Ihr seid Sardrowain, ein großer Krieger, seit vielen Jahrhunderten ein Meister des Lichts und ein Vertrauter der drei Adro’wiai. Mögen sie lange leben und herrschen!“

Sardrowain lächelte mit einer gewissen Genugtuung. Das war fast wortgleich die Antwort, mit der er gerechnet hatte.

„Ihr irrt Euch, Andrar! Ich bin kein großer Krieger. Im Gegenteil. Ich bin, ebenso wie die Mauern von San’tweyna, der Beweis dafür, wie unvollkommen und schwach die Adro’wiai in Wahrheit sind.“

Der Schwertführer stoppte sein Pferd und blickte den Meister mit unverhohlener Empörung an. Sardrowain bemerkte, wie sich Andrars Hand unter seinem samtenen Mantel dem Schwertknauf näherte, dann aber wieder rasch entfernte. Wie bedauerlich, dachte der Meister. Wie gerne hätte er dieses jämmerliche Leben mit einer Explosion aus Blut und Hirnmasse beendet.

„Erklärt mir das!“, brachte der Schwertführer hervor.

Sardrowain lachte.

„Ich gehöre zu denen, die keiner schätzt und jeder verachtet. Zu jenen, die dennoch gebraucht werden, um den Dreck beiseitezuschaffen, der einem glanzvollen Trugbild zwangsläufig im Wege stehen muss. Für Ruhm und Ehre habe ich keine Verwendung, ebenso wenig kenne ich Mitgefühl. Es macht mir sogar Freude zu töten, Schwertführer. Wusstet Ihr das nicht? Meine Taten sind nicht der Stoff für Heldenepen und sicher nicht für die Lehrbücher der Akademie. Und doch sind es Männer und Frauen wie ich, die dafür sorgen, dass sich in der silbernen Stadt San’tweyna alle wohl und behütet fühlen können. Dass sie sich weiter einreden können, sie seien die Herrscher der Welt.“

Andrars Miene war versteinert. Ratlos fuhr er sich durch die langen Haare. Sardrowain sah, dass die Spitzen seiner Ohren zitterten. Ob vor Zorn oder aus Angst, wusste er nicht. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem.

„Also, Schwertführer Andrar. Was wollen wir nun tun? Auf diesem Pfad ist vor weniger als einer Stunde eine Rotte Gorgoils vorbeigezogen. Wollen wir nun herausfinden, was sie so weit im Westen verloren haben und sie töten, wenn wir können? Oder sollen wir unsere Erkenntnis beiseiteschieben und hoffen, dass uns bei unserer Rückkehr niemand zur Verantwortung zieht, etwa für einen Überfall, den diese Kreaturen vielleicht im Sinn haben?“

Andrars Pferd schnaubte, die Hufe knirschten im Schnee, als es für einen Moment zurücksetzte. Das Tier spürte die Zweifel und die Furcht seines Reiters. Sardrowain blieben solche Dinge nicht verborgen. Sie halfen ihm beizeiten, Falschheit und Verschlagenheit zu entlarven. In Andrars Kopf allerdings konnte er auch ohne sie mühelos lesen. Der junge Schwertführer war kein Gegner für ihn. Und das, was er las, war grenzenlose Verwirrung.

„Meister, es ist nur, dass …“ Er hielt inne.

„Nun, Schwertführer?“

„Ihr habt recht, Meister. Wir sollten die Gelegenheit, Gorgoils zu töten, nicht verstreichen lassen. Es ist gewiss im Sinne der drei Adro’wiai. Mögen sie lange leben und herrschen!“

Sardrowain nickte und drückte seinem Schimmel die Fersen in die Flanken. Der Wald war noch fern. Als dunkles Band spannte er sich entlang des Horizonts im scharfen Kontrast zum Weiß der großen Ebene. Dorthin führten die beiden Spuren. Die der Gorgoils und die der anderen, von denen Sardrowain dem Schwertführer nichts gesagt hatte.

Die Sonne stand hoch, als sie endlich im Schutz der hohen Bäume reiten konnten. Sardrowain war schon einmal hier gewesen. In jener Zeit, in der die Gorgoils dem Heer Lysin’Gwendains eine erste, schändliche Niederlage beigebracht hatten. Jene Zeit, in der Sardrowain den Unterschied zwischen Demut und Hochmut gelernt hatte. Bis dahin hatte sein Volk die Gorgoils als hirnlose, grobe Kreaturen angesehen. Jahrhunderte davor waren sie aus der anderen Welt zurückgekehrt. Seitdem hatten sie gelernt, hatten sich entwickelt. Die Starken und Klugen unter ihnen hatten sich durchgesetzt. Und sie hatten sich vermehrt. Die Gorgoils - eigentlich erschaffen, um zu gehorchen, zu töten und zu sterben - hatten ihren Platz in Lysin‘Gwendain erobert. Sie hatten sich von ihren Herren befreit, waren ihren eigenen Weg gegangen. Und sie waren auf Rache aus. Als das aber die Heerführer der Elvan jal’Iniai erkannten, war es zu spät. Hier, in diesem Wald wurden die Soldaten der Neuen Herrscher, der Adro’wiai, wie sie sich heute nannten, niedergemacht. Jede Minute, jede Stunde dieses grauenhaften Gemetzels hatte sich in Sardrowains Gedächtnis eingebrannt, hatte die 700 Jahre, die seitdem verstrichen waren, überdauert.

Noch immer sah er die Bilder vor sich. Von Elvan jal’Iniai, deren Gesichter von Angst verzerrt waren, voller Fassungslosigkeit darüber, auf einen überlegenen Gegner gestoßen zu sein.

Sie wurden durch den Wald gehetzt, aus dem Dickicht beschossen. In kleinen Gruppen griffen die Gorgoils immer wieder an, töteten, verstümmelten und zogen sich wieder zurück. Nach drei Tagen wurden die überlebenden Truppen in ein enges Tal gedrängt, wo sie in der Falle saßen. Das Abschlachten dauerte bis in die tiefe Nacht hinein. Dann waren mehr als 5000 Elvan jal’Iniai tot. Sardrowain, der damals als einfacher Fußsoldat diente, verbarg sich unter den Kleidern der Vergangenen, in einem Haufen silbernen Staubs. Er wagte kaum, zu atmen. Stunde für Stunde lauschte er dem Brüllen der Gorgoils, ihren dumpfen Schritten, dem Geräusch von Speeren, die in die Staubhaufen fuhren, um sicherzugehen, dass keiner seiner Kameraden mehr lebte. Nur er allein blieb verschont, wie durch ein Wunder. Dennoch starb Sardrowain in gewisser Weise in jenen Stunden im Staub. Und als alles vorbei war, erhob er sich als ein anderer wieder aus dem Dreck.

So lange war das her. Und doch glaubte Sardrowain den Pfad, auf dem das Heer damals marschiert war, wiederzuerkennen. Die Bäume seitlich davon reichten über hundert Mannslängen weit in den Himmel. Ihre hellen Stämme waren schlank und stark, ihre Kronen ebenmäßig. Sonnenlicht drang flackernd durch das dichte, blätterlose Geäst und zeichnete bizarre Formen in den Schnee. Und hier und da erkannte der Meister das zarte Violett von Sol’ywen-Bäumen. Beinah unscheinbar verbargen sie sich, so gut es ging, zwischen massiven Stämmen und dichten Sträuchern. Aber jetzt im Winter gab es nur wenig, das ihre immerwährenden, feingliedrigen Blätter vor Blicken schützen konnte. Hier waren so viele von ihnen. Weit mehr noch als in den Gärten der silbernen Stadt, wo sie kostbar geworden waren. Hier trachtete ihnen niemand nach den Wurzeln, wollte ihnen niemand die Kraft des Lichts rauben. Fast niemand. Sardrowain würde schon bald seine Vorräte aufbessern. In der anderen Welt, so stand es in den Schriften, gab es keine Sol’ywen-Bäume. Mit den wenigen Wurzelkugeln, die er in seiner Satteltasche mit sich führte, würde er nicht weit kommen.

„Diese Gorgoils sind dumm wie Tiere, Meister. Sie geben sich keine Mühe, ihre Spuren zu verwischen. Wie erbärmlich diese Kreaturen doch sind.“

Sardrowain seufzte.

„Erbärmlich sind Eure Worte, Schwertführer. Und Eure Arroganz. Ich frage mich, was man Euch auf der Akademie über diese Kreaturen lehrt. Dass sie einfach zu besiegen sind? Dass sie sich mit uns, den Elvan jal’Iniai, nicht messen können? Nun, das sehen sie vermutlich anders.“

„Ich bin nicht dumm, Meister“, protestierte Andrar. Auf seiner Stirn hatten sich Zornesfalten gebildet.

„Ich weiß, dass es die Mauer von San’tweyna aus gutem Grund gibt. Dass Gorgoil-Rotten ganze Familien ausgelöscht haben. Und trotzdem würden sie es nicht überleben, wenn unser Heer gegen sie in die Schlacht ziehen würde. Sie sind unvollkommen - wie alles, das aus der anderen Welt kommt.“

Sardrowain lachte leise. Es war ein bitteres Lachen. Er verstand schon lange nicht mehr, was die Adro’wiai damit bezweckten, solche Lakaien heranzuzüchten. Hofften sie, ihre Macht durch die Unwissenheit ihrer Untertanen bewahren zu können? Glaubten sie, ihr Volk besser führen zu können, indem sie selbst die Wahrheit unterjochten? Sardrowain wusste, wie töricht das war. Er wusste, dass Furcht und Lügen auf Dauer niemals genug waren. Was sein Volk brauchte, waren Ziele. Nur deshalb hatte er den Adro’wiai berichtet, was den Sehern über die andere Welt offenbart worden war. Nur deshalb hatte er tagelang die alten Schriften studiert, um den drei Herrschern schließlich seinen Vorschlag zu unterbreiten. Er hatte die Angst in ihren Augen gesehen. Sie fürchteten um ihr armseliges kleines Reich, den Überfluss, den sie ihrem ummauerten Land abtrotzten. Sie fürchteten, dass sich etwas ändern könnte. Und deshalb ließen sie Sardrowain ziehen. Er sollte Gewissheit erlangen, die Gefahr, in der anderen Welt wenn möglich, bannen. Und zurückkehren. Genau das hatte der Meister vor. Aber da war noch weit mehr. Er würde eine Idee mit zurück nach Lysin’Gwendain bringen. Eine, die stärker war als die Lust am Müßiggang, stärker als das Trugbild der Adro’wiai. Die Idee von der göttlichen Macht der Elvan jal’Iniai, die ihnen seit Jahrtausenden zustand.

„Unvollkommen? Ihr habt recht, Schwertführer. Und das, obwohl ihr nur einen verblassenden Abglanz dessen kennt, was wirklich geschehen ist.“

„Ich wurde an der Akademie unterrichtet, Meister. Ich kenne unsere Geschichte.“

„Ihr kennt ein Ammenmärchen, das man Euch erzählt hat, damit Ihr Euren Verstand nicht allzu sehr gebrauchen müsst. Eines von allmächtigen Schöpfern, die Lysin’Gwendain geschaffen haben, damit wir darin glücklich werden. Und von Dämonen, die aus Neid die andere Welt hervorbrachten - mit Menschlingen und Gorgoils, diesen unvollkommenen, bösartigen Kreaturen, die uns nach dem Leben trachten. Aber das ist Pferdescheiße!“

Andrar sah ihn wütend an. Wäre Sardrowain nicht einer der alten Meister gewesen, wäre das hier nicht der falsche Ort dafür, der Schwertführer hätte ihn wohl verhaften und töten lassen. Daran gab es keinen Zweifel. Die Wahrheit war ein Verbrechen geworden innerhalb der Mauern der silbernen Stadt. Hier draußen allerdings hatten die Lügen keine Bedeutung. Der Meister überlegte einen Moment, ob er Andrar die Wahrheit sagen sollte. Ob er ihm erklären sollte, dass alles vor Jahrtausenden in der anderen Welt seinen Anfang genommen hatte, dass die Gorgoils eine Art waren, die von ihnen, den Elvan jal’Iniai selbst, geschaffen wurde, um die Abtrünnigen zu besiegen. Abtrünnige ihres Volkes, die sich in der anderen Welt in einer Bergfestung verschanzt hatten, um dort nach ihren überkommenen, alten Werten zu leben.

Aber was hatte das für einen Sinn? Der Schwertführer würde ihm nicht glauben. Und er würde sein Wissen wohl ohnehin bald mit in den Tod nehmen.

Die Gorgoils waren nicht mehr weit. Der Geruch eines gelöschten Feuers lag in der Luft. Er war schwach, aber Sardrowain nahm ihn dennoch wahr. Er zügelte sein Pferd, glitt aus dem Sattel und lauschte ein paar Atemzüge lang.

„Hört ihr das, Schwertführer?“, fragte er leise.

Andrar sah sich um.

„Ich höre nichts, Meister.“

„Keine Vögel? Die Hufe von Graurücken-Gazellen? Nicht einmal das Rascheln eines Schneehörnchens?“

Der Schwertführer versuchte es noch einmal.

„Da ist nichts, Meister.“

„Ihr habt recht. Da ist nichts. Weil die Tiere Gorgoils meiden.“

Nun stieg auch Andrar aus dem Sattel. Er nahm die Zügel und band den Braunen abseits des Weges in einem Dickicht fest. Auch er hatte erkannt, dass es besser war, nun zu Fuß im Schutz des Waldes weiterzugehen. Vielleicht war der Junge doch nicht nur dumm, ging es Sardrowain durch den Kopf. Auch der Meister ließ seinen Schimmel zurück. Allerdings verzichtete er darauf, ihn festzubinden. Das Pferd würde auf ihn warten. Oder nach San’tweyna zurückkehren, sollte er nicht wiederkommen.

Der Geruch des erloschenen Feuers wurde bald stärker. Sie schlichen nahezu geräuschlos zwischen den Stämmen hindurch, überquerten einen zugefrorenen Bach und umrundeten halb einen steilen Hügel, der sich wie ein Bollwerk aus dem Waldboden erhob. Und genau das war er einst auch gewesen - in jenen Tagen, in denen sich die Gorgoils in der Tiefe des Waldes verschanzten, um das Heer Lysin’Gwendains immer wieder hart zu treffen und dann ausbluten zu lassen. Aus der Ferne betrachtet waren solche Hügel kaum vom Rest des Waldes zu unterscheiden. Sie boten Schutz für ganze Rotten und für mehrere Hütten. Mit einer Handbewegung befahl Sardrowain seinem Begleiter, stehenzubleiben.

„Nun, Schwertführer, könnt Ihr beweisen, ob Ihr auf der Akademie auch gelernt habt zu kämpfen“, sagte er.

Andrar schnaufte. Ein wenig ratlos sah er sich um.

„Was soll ich tun, Meister?“

„Haltet mir den Rücken frei!“

Dann erhob er sich und lief aufrecht und mit schnellen Schritten vorwärts.

Andrar hatte Mühe, Sardrowain zu folgen. Was für ein verfluchter Mistkerl! Schon seit ihrem Aufbruch versuchte der Meister ihn herauszufordern, stellte seine Loyalität zu den Adro’wiai auf die Probe. Natürlich hatte Andrar nicht die Erfahrung von Jahrhunderten, hatte noch in keinem Kampf gedient. Aber verdammt nochmal, er war einer der Besten seines Jahrgangs gewesen. Er war einer der jüngsten Schwertführer, die jemals die Akademie verlassen hatten. Er würde sich auch dieser Aufgabe, wo auch immer sie ihn hinbringen würde, gewachsen zeigen.

Das heißt, wenn dieser ketzerische Meister, der das Erbe der Schöpfer verspottete, das zulassen würde. Was taten sie bloß hier? Sie sollten den Übergang in die andere Welt finden und ihn durchschreiten. Und nicht Jagd machen auf ein paar versprengte ... Gorgoils!

Der Anblick verschlug ihm den Atem. Er hatte schon einmal eine dieser groben Kreaturen gesehen. Auf den Großen Platz von San’tweyna hatten sie den Gorgoil geschleppt, um ihn dort vor aller Augen zu töten. Erbärmlich hatte er gewirkt, kurz bevor sich sein schwarzer Staub über den marmornen Boden ausgebreitet hatte. Aber diese Gorgoils hier waren anders. Stechende, braune Augen blickten stolz aus dem Schädel eines großgewachsenen Stiermannes. Zwei weitere, büffelähnliche Kreaturen standen etwas abseits und musterten sie mit bebenden Nüstern. Die Köpfe ruhten auf haarigen Körpern mit breiten Schultern und kräftigen Klauen. Etwas verwirrt standen sie da, aber es war offensichtlich, dass sie zum Kampf bereit waren. Bereit, um die drei kleinen Rundhütten zu verteidigen, die sie oder ihresgleichen aus Rinde und Astwerk gebaut hatten. Aus einem Loch, der als Eingang diente, lugte der schmale Kopf eines Kalbes, mit großen, neugierigen Augen. Schnell zog er sich wieder zurück, stattdessen kroch eine größere Kreatur hervor, die, wie die meisten anderen, mit einer groben Streitaxt bewaffnet war. Andrar vermutete, dass es die Mutter des Kleinen war. Auch in ihren Augen spiegelten sich Hass und Entschlossenheit. Diese Gorgoils würden ihr Leben und das ihrer Familien bis zuletzt verteidigen.

Was Sardrowain da tat, war Wahnsinn! Mit festem Schritt ging er auf die Hütten zu, als würde er die Gefahr gar nicht sehen. War der alte Meister nicht mehr bei Trost? Suchte er vielleicht sogar den Tod? Angst kroch in Andrars Magen, breitete sich von dort in seiner Brust, seinen Gliedern und in seinem Kopf aus. An Flucht war nun nicht mehr zu denken. Viel zu nah waren sie den Gorgoils bereits gekommen. Ein Kampf war unausweichlich. Andrar zog sein Schwert.

Der Stiermann warf seinen mächtigen Kopf in den Nacken und stieß ein tiefes, wütendes Brüllen aus. Dann hob er die Axt und stürmte auf Sardrowain los. Die beiden Büffelmänner folgten ihm, ohne zu zögern. Den Rücken freihalten! Andrar verringerte den Abstand zu Sardrowain. Wenn sie überhaupt eine Chance hatten, dann nur gemeinsam. Der Schwertführer hielt seine Waffe mit beiden Händen. Wie stark und wie oft würde er zuschlagen müssen, um einen solchen Riesen zu töten? Wie gewaltig würde die Wucht sein, wenn er den Schlag einer Gorgoil-Axt parieren müsste?

Andrar wandte sich dem Stierköpfigen zu. Er würde sie zuerst erreichen. Aber, noch ehe seine Axt auf sie hinabfahren konnte, stoppte ein dumpfer Schlag den Angriff der Kreatur. Ein Armbrustbolzen ragte aus ihrer linken Schulter. Der Gorgoil taumelte, brüllte ungläubig. Andrar drehte sich den beiden anderen zu und sah gerade noch, wie einer von ihnen zu schwarzem Staub zerfiel. Der dritte holte mit der Axt aus.

„Nun, Schwertführer, könnt Ihr beweisen, ob Ihr auf der Akademie auch gelernt habt zu kämpfen.“

Dieser Mistkerl! Andrar trat dem Angreifer entgegen.

Sardrowain überließ den überlebenden Büffelmann Andrar. Sollte der Grünschnabel zeigen, ob er etwas taugte. Der Stierkopf war der Anführer. Ihn zu töten war vorrangig. Er war ein mächtiger Kerl, den ein einzelner Bolzen nicht hatte umbringen können. Der Meister trug in jeder Hand eine ellengroße, doppelsehnige Armbrust. Die Waffen waren klein, aber er würde sie gegen nichts auf der Welt eintauschen wollen. Einmal gespannt, konnte jede von ihnen zweimal kurz hintereinander abgeschossen werden. Nach dem ersten Schuss schob ein Mechanismus den zweiten Bolzen an die Sehne heran und ohne Zutun war die Armbrust damit wieder geladen. Ein technisches Meisterstück, das ihn gerade deshalb so faszinierte, weil es ohne Magie auskam. Sardrowain zielte mit beiden Waffen auf den Stierkopf und schoss. Die Wucht der Bolzen riss den Gorgoil um. Mit einem dumpfen Schlag stürzte er auf den Rücken und löste sich Augenblicke später in Staub auf. Der Meister ging auf die Knie und sah sich um. Es gab keine weiteren Angreifer. Die Weibchen blieben bei ihrer Brut. Um sie würde er sich später kümmern.

Nun aber genoss er das Schauspiel, das ihm der Schwertführer und der Büffelkopf boten. Der Gorgoil hieb mit aller Macht auf Andrar ein. Der parierte, indem er die groben Schläge von sich zur Seite hin ablenkte. Das war klug. Würde er sie direkt abfangen, müsste er jedes Mal der vollen Wucht standhalten. Dann würde ihm eher früher als später die Kraft ausgehen. Aber auch so musste er sich allmählich fragen, wohin der Zweikampf führen sollte. Denn der Büffelkopf ließ dem Elvan jal’Iniai keine Gelegenheit zu einem tödlichen Konter. Diesen Kampf würde der gewinnen, der sich länger auf den Beinen halten konnte. Und Sardrowain wollte keine Wette darauf abschließen, dass das Andrar war.

Ohne die Augen abzuwenden lud und spannte der Meister seine Armbrüste wieder. Er hatte keine Eile. Noch war der Zweikampf nicht entschieden. Andrar stöhnte, als die Axt in seinen dunkelblauen Mantel fuhr und einen Teil davon abriss. Die Waffe des Gorgoils hatte ihn nur knapp verfehlt. Aber jetzt hatte sie sich nur einen Wimpernschlag lang im Stoff verfangen. Zu spät riss der Büffelkopf seine Axt wieder los, um zu einem neuen Hieb auszuholen. Andrar trieb der Kreatur sein Schwert in den Rachen. Blut spritzte ihm ins Gesicht. Die Axt fiel zu Boden. Der Gorgoil stieß ein gurgelndes Brüllen aus und ging in die Knie. Keuchend zog der Schwertführer seine Waffe zurück und stach damit seinem Gegner in die Brust. Der Büffelkopf zerfiel zu dunklem Staub.

„Das war schon gar nicht schlecht“, sagte Sardrowain in ruhigem Ton. Er meinte das ernst. Ihm entging aber auch nicht, welche Wut seine Worte bei seinem Begleiter auslöste.

„Das war ... was?“, presste Andrar hervor. „Wann wäre es Euch eigentlich genehm gewesen, mir zu helfen, wenn ich fragen darf?“

„Überhaupt nicht.“ Wieso sollte er ihn anlügen?

„Ihr hättet mich verrecken lassen? Was seid Ihr nur für ein unwürdiger, ketzerischer Meister? Ich reite lieber mit einer Rotte Gorgoils als weiter mit Euch.“

„Das ließe sich sicher arrangieren“, gab Sardrowain mit einem Lächeln zurück. „Aber nicht jetzt. Wir haben zu tun. Es sind noch Gorgoils übrig.“

„Frauen und Kinder, die sich in schäbigen, kleinen Hütten verbergen. Wollt Ihr sie wie ein ehrloser Meuchler einfach abschlachten?“

Sardrowain sah den Schwertführer ernst an.

„Habt ihr mir vorhin nicht zugehört, Andrar? Ich kenne keine Ehre. Und ich liebe es, zu töten.“

Der Schwertführer wusste, dass Gnade ein Zeichen von Schwäche war. Wenn ein Soldat Lysin’Gwendains die Waffe erhob, dann tat er das, um einen Feind zu richten - aus keinem anderen Grund. Dann tötete er einen, der sich der göttlichen Macht der Adro’wiai - mögen sie lange leben und herrschen - nicht beugte und damit den Tod verdiente. Und doch war das Blutbad, das Sardrowain in den drei Hütten angerichtet hatte, nicht recht. Der Meister hatte zuerst die Mütter erschossen, hatte ihnen Bolzen in Hals und Brust getrieben, noch ehe sie selbst zum Schlag ausholen konnten. Das Brüllen und Heulen der Gorgoil-Jungen würde Andrar niemals vergessen. Es war anklagend, voller Schmerz und flehend. Aber Erbarmen war von Sardrowain nicht zu erwarten. In seinen hellen, braunen Augen loderte der Hass, seine Mundwinkel zuckten vor Wollust, jedes Mal wenn er einem der kleinen Körper das Leben entriss. Er tat das auf eine Weise, wie es der Schwertführer niemals zuvor gesehen hatte. Er ließ die Köpfe der Gorgoil-Kinder platzen. Ein Wort des Meisters reichte dazu aus. Mit erhobener, geöffneter Hand sprach er es und löste damit eine Kraft aus, die nur Wimpernschläge später ihr vernichtendes Werk tat. Und als es endlich getan war, als sie alle - es mochten wohl 20 gewesen sein - getötet waren, ging Sardrowain erschöpft auf die Knie, strich mit der Hand durch die blutige Masse, die sich über den Boden verteilt hatte, und sah Andrar an, als habe er eben einen besonders feinen Tropfen aus den Metkellern der silbernen Stadt genossen. Das war nicht die Tat eines Soldaten gewesen, nicht der Akt eines Kriegers. Das war nichts weiter als blanke Mordlust. Wie konnten die drei Adro’wiai - mögen sie lange leben und herrschen - solche barbarischen Taten dulden?

„Die Gorgoils vermehren sich“, hatte der Meister im Ton eines Lehrers wenig später erklärt. „Das sollten sie nicht. Die Neuen Herrscher von Lysin’Gwendain hatten sie einst in der anderen Welt aus Menschlingen und Tieren geformt, um zu kämpfen und dann zu sterben. Ihre Aufgabe hatte darin bestanden, Abtrünnige unter uns zu richten. Mehr nicht. Aber die Neuen Herrscher waren so arrogant, zu glauben, dass selbst der naturgegebene Lauf der Dinge ihrer Macht unterworfen war. Das war vermessen. Denn die Gorgoils hatten nicht vor, einfach so wieder im Nichts zu verschwinden. Sie erhoben sich, fingen an zu denken, fanden heraus, dass einige wenige unter ihnen befähigt waren, ihre Art zu erhalten. Und sie wandten sich gegen jene, die sie geschaffen hatten. Sie wollten Rache an ihren Schöpfern, die sie als Monster in eine Welt aus Krieg und Blut gesetzt hatten. Und so kehrten sie nach Lysin’Gwendain zurück. Und jetzt, nach mehr als zwei Jahrtausenden, sind sie hier noch immer. Aus einem einzigen Grund.“

Trotzig und zugleich ratlos hatte der Schwertführer den Meister angesehen - außerstande, ihm zu widersprechen. Was waren das für Geschichten? Die Gorgoils kamen aus der anderen Welt, aus der Welt des Bösen. Das lernte jedes Kind. Und nun wollte ihm dieser Mistkerl weismachen, dass die Adro’wiai selbst diese Kreaturen einst erschaffen hatten, um sie gegen andere Elvan jal’Iniai zu hetzen. Für wie dumm hielt er ihn eigentlich?

„Sie wollen uns vernichten, jeden Einzelnen von uns. Macht Euch das klar, Schwertführer, bevor Ihr mich mit vorwurfsvollen Blicken bedenkt, wenn ich wieder eines dieser Monster töte. Diese jungen Gorgoils mochten klein und hilflos gewesen sein, aber sie wären zu erbarmungslosen Kriegern herangewachsen, hätte ich sie nicht vernichtet. Das ist gewiss.“

Andrar schwieg. Was sollte er sagen? Dieser Logik hatte er nichts entgegenzusetzen. Und, wenn er ehrlich zu sich selbst war: Er hatte auch Sardrowain nichts entgegenzusetzen. Der Meister mochte ehrlos sein und einen verworrenen Geist haben, aber er verfügte über Kräfte, die weit über die seinen hinausgingen. Andrar hatte Zauber gelernt, die ihn vor Kälte oder Hitze schützen konnten, die verhinderten, dass seine Füße in Schnee oder Matsch versanken und verräterische Spuren hinterließen. Aber er konnte nicht mit Worten töten. Und er wollte gar nicht wissen, zu was der Meister noch fähig war. Er hatte eine Ahnung, dass er es bald herausfinden würde.

Es gab weitere Spuren, denen sie folgten. Eine Gruppe Gorgoils hatte sich lange vor ihrem Angriff vom Lager hinter dem Wall entfernt - von den drei Hütten, in denen sie ihre Familien wohl in Sicherheit wähnten. Das Blut, das bereits vergossen war, reichte Sardrowain nicht. Er wollte alle Gorgoils vernichten. Und so eilten sie weiter durch den Wald. Auch wenn einer der gewaltigen Bäume dem anderen zu gleichen schien, prägte sich der Schwertführer ihren Weg so gut es ging ein. Er achtete auf abgebrochene Äste, auf Schneeverwehungen, auf knorrige Wurzeln, auf einfach alles, das geeignet war, ihm Orientierung zu geben. Er wollte nicht auf den Meister angewiesen sein, um schnell zu seinem Pferd zurückzufinden. Das hier konnte kein gutes Ende nehmen.

Ihr Weg führte sie weit hinein in die Tiefen des Waldes. So lange, bis Sardrowain endlich anhielt und ihm mit einem Handzeichen bedeutete, Deckung zu suchen. Wie auch der Meister legte sich Andrar bäuchlings in den Schnee. Sie krochen ein gutes Stück bis hin zu einer leichten Erhebung. Der Schwertführer erkannte die rauen, tiefen Grunzlaute von Gorgoils. Ob es Worte waren, konnte er aus dieser Entfernung nicht verstehen.

„Wartet! In Eurer feinen Uniform kann Euch jeder Gorgoil von hier bis an die Küste Nowotnans deutlich erkennen.“

Sardrowain grinste, als wäre das alles nur ein großer Spaß. Dann richtete er die Hand auf ihn und sprach jene mächtigen Worte, die Andrar bereits in den Hütten der Gorgoils gehört hatte: „Iniai, hunuma ni larei!“

Der Schwertführer hörte auf zu atmen, kniff die Augen zusammen. Seine Finger gruben sich tief in den knisternden Schnee. Er war sich in diesem Moment sicher, dass sein Leben jeden Augenblick mit der Explosion seines Schädels enden würde. Er würde das Opfer eines grausamen, launenhaften, alten Meisters werden.

Aber nichts dergleichen geschah. Er lebte. Andrar sog erleichtert die klare, kühle Luft in seine Lungen. Als er aufblickte, war Sardrowain verschwunden. Er hatte sich in nichts aufgelöst.

„Was in aller Welt …?“

„Seht Euch vor, Schwertführer!“ Die Stimme des Meisters war wie ein scharfes Zischen - nah und gebieterisch.

Andrar warf sich auf die andere Seite. Nichts. Sein Blick suchte selbst die Stämme und Baumkronen ab. Wo war der alte Narr nur?

„Seid leise, bleibt in meiner Nähe und, bei allen ehrwürdigen Schöpfern, bewegt Euch nicht. Dieser Zauber hat seine Grenzen.“

„Ihr seid ...“

„… noch immer neben Euch, aber für unkundige Augen nicht zu sehen, Schwertführer.“

Andrar blickte auf die Stelle, an der Sardrowain eben noch gelegen hatte. Das Gewicht seines Körpers hatte eine flache Mulde in den Schnee gedrückt. Der Schwertführer erkannte ein Flimmern, unstete Konturen, die denen der Oberfläche des Wassers in einem Glas ähnelten. Sein Verstand brauchte eine Weile, um diese wirren Bilder zusammenzusetzen. Es waren die Konturen eines unsichtbaren Körpers. Die Konturen des Meisters.

„Ich frage mich einmal mehr, was in der Akademie gelehrt wird, außer Lügen. Törichterweise sind es ausgerechnet die wesentlichsten Geheimnisse des Lichts, die man Euch nicht offenbart hat“, sagte seine Stimme.

Der Schwertführer sah auf seine Arme und Hände. Das heißt, er versuchte es, denn er sah nicht viel mehr als wässrige Schemen, die immer dann aufschienen, wenn er sich bewegte.

„Das Licht zu kontrollieren, bedeutet wahre Macht, Schwertführer Andrar. Es kann heilen, zerstören oder, wie in diesem Fall, verbergen. Dieser Zauber bringt es dazu, unsere Körper zu meiden, an ihm vorbeizufließen. Allerdings kostet er Kraft und muss deshalb mit Bedacht verwendet werden.“

„Ich danke Euch für diese neue Lektion, Meister.“ Andrar konnte nicht verhindern, dass seine Worte sarkastisch klangen. Dieser Zauber, er faszinierte ihn, gleichzeitig machte er ihn zornig, weil er offenlegte, wie unzureichend seine Ausbildung an der Akademie doch gewesen war. All die Orden und Ehrungen, all die großen Worte. Die letzten drei Tage mit Sardrowain, so sehr er ihn auch hasste, straften all das Lügen. Und zum ersten Mal fragte sich Andrar ernsthaft, ob der Meister auch mit den ketzerischen Geschichten über die Adro’wiai und die Herkunft der Gorgoils recht haben könnte.

„Ihr wollt lernen, Schwertführer? Das ist gut so. Unser Volk braucht Elvan jal’Iniai, die sich der Wahrheit nicht verschließen. Nun, vielleicht hat es sogar einen Sinn, Euch in einem Stück wieder mit nach Hause zu bringen.“

Andrar schnaubte. Ein Schüler dieses ehrlosen Narren? Diese Vorstellung jagte ihm einen Schauer den Rücken hinunter.

„Aber nun schweigt. Und lernt. Diese Gorgoils sind nicht ohne Grund hier. Dies hier ist ein Treffen, wie es es in der Geschichte Lysin’Gwendains gewiss noch nicht gegeben hat.“

Vorsichtig kroch der Schwertführer noch ein Stück vorwärts, sodass er über den Rand der kleinen Erhebung blicken konnte. Keine zwanzig Pferdelängen entfernt, auf einer Lichtung stand eine Gruppe Gorgoil-Krieger. Es waren neun kräftige Kerle, bewaffnet meist mit Streit-Äxten, manche hatten stattdessen große Breitschwerter oder mit Eisendornen bestückte Keulen. Und wie bei Gorgoils üblich, ähnelte keiner dem anderen. Es gab bärenartige, gedungene Gestalten neben solchen, deren Beine denen von Graurücken-Gazellen ähnelten. Manche waren gehörnt, andere hatten wulstige, mit dunklem Fell überzogene Schädel. Was sie gemeinsam hatten, war, dass sie allesamt furchterregend aussahen. Andrar schien es, als würden sie sich unterhalten. Er meinte, so etwas wie gespannte Erwartung bei ihnen zu erkennen. Rechneten sie mit einem Überfall? Hatten sie womöglich schon erfahren, dass Sardrowain und er ihre Familien niedergemetzelt hatten? Aber nein, das war unmöglich. Das Lager war weit entfernt und niemand hatte überlebt, um davon zu berichten.

Plötzlich, als hätte jemand einen Befehl gebrüllt, fuhren ihre Schädel herum. Drei von ihnen hoben ihre Waffen, ein weiterer stieß ein wütendes Brüllen aus, wurde aber sogleich von einem empörten Stierkopf an seiner Seite umgestoßen.

„Das sind sie. Sie kommen“, flüsterte der Meister. War da so etwas wie Ehrfurcht in seiner Stimme?

Andrar wollte nachfragen, aber das, was er sah, lähmte augenblicklich seine Kehle. Drei Männer, gehüllt in lange, weite Kapuzenmäntel, traten mit anmutigen Schritten aus dem Dickicht. Ihre Gewänder mochten von hellem Grau gewesen sein. Doch schlicht waren sie nur auf den ersten Blick. Sie waren mit silbernen Fäden bestickt. Am Mantel des Mittleren erkannte Andrar sogar ein paar kleinere Edelsteine, die den Saum auf Höhe der silbernen Fibel schmückten. Und noch etwas hob den Mann in der Mitte von den anderen beiden ab: Er hielt einen langen, weißen Stab, in dessen oberes Ende etwas Dunkles eingelassen war. Wie ein rötlich-schwarzes Auge blickte es aus einer Fassung, die den Schwertführer an eine Kelchblüte erinnerte. Die beiden anderen Männer trugen auf dem Rücken Bögen und Köcher. Aber es sah nicht so aus, als dachten sie auch nur daran, ihre Waffen gegen die Gorgoils einzusetzen. Furchtlos schritten die drei auf die unruhig schnaubenden Gorgoils zu. Es schien den Kreaturen offenbar schwerzufallen, nicht augenblicklich auf die Neuankömmlinge loszustürzen, um sie niederzumachen. Etwas hielt sie zurück, etwas, das mächtiger war, als der Durst nach Blut, der, so heißt es, den Gorgoils angeboren war.

Die drei Männer blieben stehen. Der mittlere schob die Kapuze zurück und offenbarte graue, wellige Haare, durch die zwei spitze Ohren stachen. Er verbeugte sich und sprach etwas, das Andrar nicht verstand.

„Das sind Elvan jal’Iniai!“, entfuhr es dem Schwertführer. Sardrowain nickte.

„Bei den Adro’wiai! Mögen sie lange leben und herrschen! Ich dachte, wir wären hier draußen alleine.“

„Seid still, Andrar! Redet nicht so töricht! Natürlich sind wir alleine. Diese Elvan jal’Iniai sind unsere Feinde, seit der Lorrwain, der große Krieg, unser Volk vor so langer Zeit entzweit hat. Sie sträubten sich gegen die Macht der Neuen Herrscher, die wir heute Adro’wiai nennen. Sie wurden aus Lysin’Gwendain vertrieben, flohen in die andere Welt, verschanzten sich in einer weißen Festung in den Bergen. Und dann kehrten sie zurück. Seit mehr als tausend Jahren schon leben sie wieder in Lysin’Gwendain. Sie haben ihren Unterschlupf in den steilen Hängen der Kant’ras-Berge - weit weg von hier und noch weiter weg von den Mauern, mit denen wir unsere Welt in eine sichere und eine tödliche Hälfte unterteilt haben.“

Der Schwertführer war verwirrt. Er hatte niemals davon gehört, dass es außer in der Stadt und in den Landen von San’tweyna weitere Elvan jal’Iniai geben sollte. Nicht in Lysin’Gwendain und auch nicht in der anderen Welt. Und doch spürte Andrar, dass der alte Meister die Wahrheit sprach. Verdammt! Er sah sie schließlich vor sich: drei Männer in fremdartiger Kleidung, die sich mit Gorgoils trafen.

„Was geschieht dort, Meister? Sagtet Ihr nicht, dass die Gorgoils geschaffen wurden, um die Abtrünnigen zu töten?“

Sardrowain nickte.

„Nun, dann hat der Plan offensichtlich nicht funktioniert. Diese Abtrünnigen leben. Und mehr noch. Sie scheinen sich mit den Gorgoils bestens zu verstehen.“

„Genau das ist es, was mich beunruhigt, Schwertführer. Wenn sich alte Widersacher zusammentun. Dann ist das nicht gut.“

Andrar verstand. „Es ist vor allem dann nicht gut, wenn beide einen gemeinsamen Feind haben.“

Der Meister bewegte sich. Sah er ihn an? Schenkte er ihm einen anerkennenden Blick?

„So ist es, Schwertführer. Die Dinge sind in Bewegung geraten. Etwas wird geschehen. Das ist auch den Elvan jal’Iniai in den Kant’ras-Bergen nicht entgangen. Sie handeln. Und genau das sollten auch wir tun. Ihr müsst nun gehen, Schwertführer! Und etwas für mich finden.“

Silberne Pfeile

Andrar rannte, so schnell ihn seine Beine tragen konnten. Zweige peitschten gegen seine Waden, seine Oberarme und Schultern. Er übersprang Wurzeln, gefallene Stämme, einen tiefen Graben. Die klare Luft stach ihm mit eisigen Stacheln ins Gesicht, jedes Mal, wenn es ihr gelang, den Zauber zu durchdringen, der Andrar vor der Kälte schützen sollte. Der Schwertführer war so schnell, wie er es dank seiner trainierten Muskeln und der Kraft des Lichts nur sein konnte. Und doch wagte er es nicht, zurückzuschauen. Der eindringliche Satz, mit dem Sardrowain seine Befehle an ihn beendet hatte, hallte in seinem Gedächtnis nach, weigerte sich standhaft, sein Bewusstsein zu verlassen.

„Und, Andrar. Lasst Euch nicht zu viel Zeit. Die Gorgoils werden uns jagen - vor allem, wenn sie herausgefunden haben, was wir mit ihren Familien gemacht haben.“

„Und was werdet Ihr tun?“, hatte er gefragt.

„Dieses Treffen hier beenden. Es hätte niemals stattfinden dürfen.“

Andrar war sich sicher, dass der Meister bei diesen Worten gelächelt hatte, auch wenn er sein Gesicht natürlich nicht hatte sehen können.

Dieser Zauber. Er faszinierte ihn. Und er beneidete Sardrowain darum, ihn wirken zu können. Er war stark. Und doch war er schnell wieder verblasst, nachdem sich Andrar nur wenige Mannslängen vom Meister entfernt hatte. Der Schwertführer war wieder sichtbar geworden. Und er fühlte sich nun noch verwundbarer als zuvor. Deshalb rannte Andrar. Er rannte auch dann noch, als ihm längst die Waden schmerzten und die Lunge brannte. Er würde erst dann anhalten, wenn er an einem Ort war, so wie ihn der Meister beschrieben hatte.

Sardrowain wusste, was Angst war. Er hatte sie erlebt. Hier in diesen Wäldern hatte sie seinen Verstand einst gelähmt, als er unter dem Staub seiner Kameraden lag und wider jede Vernunft darauf hoffte, sein erbärmliches Leben noch retten zu können. Er erinnerte sich an den Gestank der Schlacht, an das Zittern, das er nicht kontrollieren konnte, an das Schnaufen der Gorgoils, die nach Überlebenden suchten, um ihnen die Schädel einzuschlagen. Nichts davon konnte er vergessen. Er hatte Jahrzehnte gebraucht, um jene dunklen Stunden aus den Träumen fiebriger Nächte zu verbannen. Und um jene eine Lehre aus ihnen zu ziehen: Dass die Angst ein machtvoller Freund war. Inzwischen begrüßte er sie, umarmte sie und er benutzte sie.

Und genau das war es, was er tat: Er verbreitete Angst. Jetzt, in diesem Moment. Die Gorgoils spürten die unsichtbare Gefahr. Ihr Instinkt sagte ihnen, dass da irgendetwas war. Ihr Fell zitterte, Hufe und Tatzen schabten über den gefrorenen Boden, die Nüstern blähten sich auf, saugten Luft ein, die Kraft versprach für einen schnellen, rettenden Hieb. Aber sie konnten Sardrowain nicht sehen. Sie ahnten nicht, dass der Meister nur noch wenige Mannslängen von ihnen entfernt stand und die Griffe seiner beiden Armbrüste fest umschlossen hielt - bereit, so viele von ihnen zu töten wie möglich.

Aber auch Sardrowain machte sich nichts vor. Er mochte unsichtbar sein, aber er war nicht unverwundbar. Vor allem der weißhaarige Elvan jal’Iniai beunruhigte ihn. Zweimal schon war der Blick des Mannes dort hängen geblieben, wo er stand. Ahnte er etwas? Hatte er ihn gesehen? Sardrowain spürte seine Macht. Es war eine sehr alte Macht. Der Meister würde ihn mit einem der ersten beiden Bolzen töten müssen.

Ruhig und tief redete der Weißhaarige nun auf die Gorgoils ein. Seine Laute waren bisweilen hart und kehlig, und doch verlieh er ihnen eine Sanftheit, die keinen Zweifel an seinen guten Absichten ließ. Der Meister verstand nicht, was er sagte. Aber er spürte, dass die Worte wirkten. Die Gorgoils sogen sie auf, hießen sie willkommen. Sardrowain konnte das nicht zulassen. An ihm war es, dieses unerhörte Treffen zu beenden. Er wagte noch zwei weitere vorsichtige Schritte auf die Gorgoil-Gruppe zu. Dann schoss er.

Der erste Bolzen fuhr in die wulstige Büffelstirn eines Gorgoils. Noch bevor sein schwerer Körper auf den Boden schlagen konnte, war er zu Staub zerfallen. Und auch der zweite Bolzen jagte seinem Ziel entgegen. Er flog gut, würde dem Weißhaarigen unweigerlich den Tod bringen, dachte Sardrowain voller Befriedigung. Doch was stattdessen geschah, ließ ihn für einen kurzen Augenblick erstarren. Mit einer weichen, fast beiläufigen Bewegung wischte der Elvan jal’Iniai den Bolzen beiseite, als wäre er nichts weiter als ein lästiges Insekt. Das Geschoss fuhr direkt neben seinen Füßen in einen kleinen Haufen Schnee und brachte ihn zum Zerbersten.

Sardrowain blieb keine Zeit zum Denken. Sein dritter Bolzen tötete einen hirschartigen Gorgoil, der panisch seine gestachelte Keule kreisen ließ und dem Meister damit gefährlich nahegekommen war. Und mit dem vierten traf er einem der Bogenschützen in die Brust. Auch er hatte mit erstaunlicher Geschwindigkeit reagiert, den Bogen von der Schulter genommen und einen Pfeil auf die Sehne gelegt. Doch bevor er schießen konnte, zerfiel er zu silbernem Staub. Er war nicht der erste seines eigenen Volkes, den Sardrowain tötete.

Der Meister nutzte die Verwirrung, die sich unter den überlebenden Gorgoils breitmachte, und brachte sich mit einem Satz in ihre Mitte, wo er für den Moment vor den Blicken der beiden Elvan jal’Iniai geschützt war. Er zog sein Kurzschwert und hieb einem Gorgoil den Schwertarm ab, einem anderen rammte er die Waffe in den Hals. Brüllend schlugen die übrigen um sich, trafen ins Leere, ihre Augen suchten vor Angst geweitet nach irgendetwas, das sie bekämpfen konnten. Aber sie sahen nicht viel mehr als einen Schemen, der sich mit atemberaubender Geschwindigkeit bewegte und im nächsten Moment einem weiteren Gorgoil-Krieger die Kehle aufschlitzte.

Machtvoll übertönte die Stimme des weißhaarigen Elvan jal’Iniai die Geräusche des Kampfes, verbannte jeden angstvollen Schrei und auch jedes kleinste Rascheln in die Bedeutungslosigkeit. Sardrowains Ohren schmerzten und im nächsten Moment zogen sich die Gorgoils zurück. Sie gehorchten dem Befehl des Alten, sammelten sich nun hinter seinem Rücken.

Sardrowains Atem ging schwer. Seine Kehle brannte, als er versuchte, seine Lungen zu beruhigen. Jede Bewegung, und war sie auch noch so klein, konnte seinen Standort nun entlarven. Der Weißhaarige hatte seinen Stab vor sich in den Boden gerammt und sich mit dem Bogen seines vergangenen Begleiters bewaffnet. Er und der überlebende Elvan jal’Iniai standen nun direkt nebeneinander. Auf ihren gespannten Bögen lagen silberne Pfeile. Was waren das für Kerle?, ging es Sardrowain durch den Kopf. Sie waren mutig, ihre Worte hatten Macht über die Gorgoils, als wären sie dressierte Hunde. Sardrowain wünschte, die drei Adro’wiai könnten sehen, was hier geschah. Es würde ihnen die Augen öffnen, würde ihnen ihre Überheblichkeit nehmen. Aber das war nun seine geringere Sorge. Zunächst einmal musste er das hier überleben.

Die silberne Pfeilspitze des Weißhaarigen zeigte in seine Richtung, schwenkte einige Male von links nach rechts und wieder zurück. Er suchte nach ihm und schien zu wissen, worauf er zu achten hatte. Der Meister wog ab, was er tun konnte. Würde er einfach davonrennen können? Er bezweifelte das. Die beiden würden ihn erschießen, sobald ihn eine Bewegung verriet. Sardrowain zog es deshalb vor, so still wie möglich stehen zu bleiben, auch wenn ihm klar war, dass dieses Spiel spätestens dann enden würde, wenn der Zauber seine Kräfte aufgezehrt hatte. Aber dann hielten beide Bogenschützen inne, als hätten sie ein Ziel gefunden. Sardrowain versuchte abzuschätzen, ob die Flugbahn der Pfeile direkt auf ihn zuführte. Aber das war von hier aus unmöglich zu sehen. Nichts geschah einen langen Moment lang. Der Meister hörte das Rauschen des Windes und das nervöse, blutdürstige Schnaufen der Gorgoils. Dann schoss der Bogenschütze.

Sardrowain warf sich zur Seite und rollte sich auf dem weichen Schnee ab. Der Pfeil des Schützen verfehlte ihn um mehrere Mannslängen. Der des Weißhaarigen dagegen - nur einen Wimpernschlag später abgeschossen - traf sein Ziel.

Andrar hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Sol’ywen-Bäume waren ihm nicht fremd. Er hatte an der Akademie gelernt, wie sie aussahen, und was ihre Wurzeln vermochten. Die violetten Blätter nahmen das Licht auf - fast ebenso wie die Haut der Elvan jal’Iniai. Aber statt es sofort in Kraft umzusetzen, speicherten sie es über Jahre hinweg in ihren Wurzeln. Kundige Meister waren in der Lage, dies zu nutzen und ihre Zauber umso mächtiger zu machen. Andrar erinnerte sich an einen Vormittag in den Anfangsjahren seiner Ausbildung. Ein Meister hatte eine aus der Sol’ywen-Wurzel geformte Kugel in das Innere einer massiven Holzkiste gesteckt, diese fest verschlossen und in der Erde vergraben. Er sprach ein paar Worte und sofort stach eine Säule aus Feuer und Licht in den Himmel. Die Hitze, die davon ausging, war so groß, dass selbst der Umhang eines anderen Lehrmeisters entflammte, der dem Geschehen zu nahe gekommen war. Von der Kiste war nichts übrig geblieben. Im Boden klaffte ein gewaltiger Krater.

Andrar wusste seitdem, warum die Sol’ywen-Wurzel in San’tweyna so begehrt war und warum es im Land hinter der Mauer immer schwerer wurde, sie zu bekommen. Hier dagegen, in der Wildnis standen die Bäume noch dicht an dicht. Hier würde der Schwertführer nur graben müssen, um sie zu bekommen.

Aber er würde es schnell tun müssen. Der Meister verlangte mindestens zehn große Wurzeln. Andrar fühlte sich nun ein wenig sicherer, nachdem er sein Pferd wieder in seiner Nähe wusste. Er war erleichtert gewesen, als er es ohne große Mühe wiedergefunden hatte. Und auch den Schimmel des Meisters hatte er bei sich - mehr oder weniger. So eigenwillig war er wie sein Besitzer. Er gehorchte nicht auf Andrars Befehl, ließ sich schon gar nicht am Zügel nehmen. Aber er folgte ihm in einigem Abstand, als wäre das mit Sardrowain so besprochen gewesen. Und er schien ihn argwöhnisch zu beobachten.

Die Gorgoils. Hatten sie die Jagd auf den Meister und ihn bereits eröffnet? Sardrowain, dieser Mistkerl, hatte einen Sturm entfesselt. Es schien, als sehne sich der alte Mann geradezu nach einem Krieg, dachte Andrar und rammte den spitzen, schweren Stein immer wieder in den harten Boden.

Der silberne Pfeil des Weißhaarigen hatte seine linke Schulter durchbohrt. Die Schmerzen lähmten Sardrowain für einen langen Augenblick, ließen den Zauber, der ihn unsichtbar machte, vergehen. Aber bald gewann sein Geist wieder die Oberhand und er warf sich hinter den mächtigen Stamm eines alten Baumes. Keinen Atemzug später fuhr ein weiterer Pfeil mit Wucht in das feste Holz seiner Deckung. Er schloss die Augen, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm, versuchte das brennende Pochen in seiner Schulter aus seinem Bewusstsein auszuschließen. Mit Erleichterung nahm er wahr, dass ihm seine Arme und Hände noch gehorchten. Er verlor keine Zeit. Aus einer verborgenen Tasche an der Außenseite seiner Hose holte er vier Bolzen und lud seine Armbrüste damit. Erst jetzt wagte er einen schnellen Blick in Richtung seiner Feinde. Sofort jagten ihm zwei weiter Pfeile entgegen. Einer schlug in den Schnee. Der andere prallte vom Baum ab und verschwand im Dickicht eines Busches. Sie waren noch da, aber sie kamen nicht näher. Der Erfolg ihrer Begegnung war ihnen wichtiger als der Tod des unsichtbaren Angreifers, vermutete Sardrowain. Aber mochte es sein, wie es war. Er hatte immerhin gezeigt, dass die Herrscher Lysin’Gwendains noch da waren, dass sie zuschlagen würden, wenn man sie herausforderte. Das war alles, was zählte. Und der Meister erkannte, dass seine eigentliche Mission nun keinen Aufschub mehr duldete. Etwas geschah in der anderen Welt. Und er musste dafür Sorge tragen, dass es seinem Volk von Nutzen war. Und wenn nicht, dann würde er es stoppen müssen. Er lehnte sich ein Stück zur Seite und schob seine Waffen dicht am Stamm entlang. Als sie gerade so weit um den Baum herumreichten, dass sie freies Schussfeld hatten, zog er den Abzug durch. Die vier Bolzen schossen ungezielt in die grobe Richtung, in der die überlebenden Gorgoils und Abtrünnigen standen. Ein schrilles Brüllen sagte ihm, dass wenigstens einer ein Ziel getroffen hatte. Er lud seine Waffen abermals nach. Diesmal zitterte sein linker Arm so stark, dass ihm zweimal ein Bolzen entglitt und in den Schnee fiel. Keuchend brachte er die Armbrüste schließlich in Anschlag und spähte um den Baum herum. Aber da war niemand mehr. Sie waren weg. Sardrowain atmete erleichtert durch. Dann musste er husten. Eine Böe hatte ihm den grauen Staub der Vergangenen ins Gesicht geweht.

Der Meister hatte es ihm nicht gesagt, aber Andrar wusste, dass es jener Hügelkamm war, auf dem sich der Übergang in die andere Welt befinden musste. Warum sonst hätte Sardrowain ihm befohlen, ausgerechnet hier auf ihn zu warten? Dieser Ort war weithin sichtbar und leicht aus dem Verborgenen des angrenzenden Waldlands heraus anzugreifen. Zumindest drohte vom Osten und Süden her keine Gefahr. In der Eiswüste dort waren mögliche Angreifer über viele hundert Pferdelängen hinweg ungeschützt und leicht zu erkennen. Es waren die dunklen Bäume, die dem Schwertführer Sorge bereiten. Er hielt die Zügel kurz, sodass sein Pferd dicht bei ihm stehen musste, während er hinter einem eiförmigen Felsen kauerte und angestrengt ins Dickicht starrte. Und doch verbarg der Stein ihn nur notdürftig, von dem Braunen gar nicht erst zu reden. Und Sardrowains Schimmel gehorchte ohnehin nicht seinem Befehl. Ungeduldig umkreiste das Tier die Anhöhe, als würde das irgendetwas bringen.

Andrar hatte getan, was der Meister von ihm verlangt hatte. 13 riesige Sol’ywen-Wurzeln steckten nun in seiner Satteltasche. Seine Unterarme schmerzten von der Buddelei, seine Hände waren schwarz vor Dreck. Andrar hoffte, dass all das nicht umsonst geschehen war. Dass der Meister bald zu ihm stoßen würde, und sie diesem Ort würden entfliehen können.

Daran, was er tun würde, wenn Sardrowain schon tot war, wagte er gar nicht zu denken. Er griff in die Innentasche seines vom Kampf zerschlissenen Umhangs und holte eine getrocknete Zerdrak-Frucht hervor. Er biss ein großes Stück ab und kaute darauf herum. Zweifel keimten in ihm auf. War dies der richtige Hügel, auf dem er wartete? Aber die Wegbeschreibung des Meisters war eindeutig gewesen. Er war hier richtig. Es war Sardrowain, der so lange nicht kam. Zu lange. Oder war das vielleicht wieder einer seiner hinterhältigen Tricks, mit denen er den Schwertführer prüfen oder demütigen wollte? Verdammt! Als wäre das alles nur ein Spiel.

Ein Rascheln ließ ihn zusammenfahren. Der Schimmel wieherte nervös. Andrar legte die Zerdrak-Frucht auf den Felsen und umklammerte die Zügelschlaufe ein wenig fester - bereit, sich in den Sattel seines Braunen zu schwingen und zu fliehen. Das war nicht der Ort für Heldenmut. Es gab hier nichts, für das es sich zu kämpfen lohnte. Und für den zynischen, alten Meister würde er gewiss nicht sein Leben geben.

Zwei Blaukopf-Vögel stoben aus der Krone eines Baumes, drehten noch eine ungläubige Runde über dem Dickicht und flogen dann rasch davon. Der Schwertführer hörte das Krachen von Ästen. Andrar entspannte sich. Wer auch immer da kam, stellte sich entweder selten blöd an, oder ihm war nicht daran gelegen, unentdeckt zu bleiben.

„Seid Ihr das, Meister?“, rief er und ärgerte sich gleich darauf über diese unüberlegte Frage. Ein Feind würde wohl kaum darauf antworten und Sardrowain offenbarte sie doch nur wieder seine Unerfahrenheit. Als der Meister schließlich aus dem Wald kam, blieben hämische Bemerkungen allerdings aus. Dass er auf diese Gelegenheit diesmal verzichtete, war gewiss allein dem erbärmlichen Zustand geschuldet, in dem er sich befand, vermutete der Schwertmeister. Sardrowain konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Ein großer, silberner Pfeil steckte in seiner linken Schulter. Die Spitze ragte ein gutes Stück aus seinem Körper heraus. Das Blut, mit dem ein großer Teil seines Mantels durchtränkt war, bildete einen scharfen Kontrast zum sonst makellosen Weiß seiner Kleidung. Das Gesicht des Meisters war leichenblass. Er schwitzte und zitterte - offenbar außerstande, einen Schutzzauber zu wirken. Andrar lief ihm entgegen, ergriff seinen heilen Arm und führte Sardrowain die letzten Mannslängen hinauf auf den Hügelkamm. Dort ging der Meister augenblicklich auf die Knie, stützte sich mit der rechten Hand am Boden ab. In dieser grotesken Haltung verharrte er.

„Leider …“, keuchte er. „Leider sind mir ein paar von ihnen entkommen.“

Andrar lachte laut auf. Er konnte nicht anders. Was musste eigentlich geschehen, damit diesem Mistkerl die Hochnäsigkeit verloren ging? Er zog sein Schwert und holte aus.

„Ihr haltet jetzt besser still, Meister!“

Sardrowain sah ihn entsetzt an.

„Wollt Ihr …?“

„ … die Spitze des Pfeils abschlagen“, ergänzte der Schwertführer. „Wie sonst könnte ich ihn herausziehen?“

Ohne weitere Vorwarnung schlug er zu. Sardrowain stöhnte. Dann hob er mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand.

„Schluss damit Schwertführer! Lasst den Rest des Pfeils stecken. Sonst verblute ich, bevor wir die andere Welt erreicht haben.“

Andrar sah ihn erstaunt an.

„Ihr seht nicht so aus, als könnte Ihr in diesem Zustand einen machtvollen Zauber wirken. Und ich kann den Übergang nicht öffnen.“

Sardrowain stöhnte abermals. Dann sah er den Schwertführer eindringlich an.

„Das habe ich auch nicht ernsthaft erwartet. Aber lasst uns bitte weitere Diskussionen über die Qualität der Akademie, an der Ihr gelernt habt, auf später verschieben. Es ist nicht schwer, den Übergang zu öffnen, wenn man weiß, was zu tun ist. Beide Welten sind von Kraftlinien durchdrungen. Überall dort, wo sie sich kreuzen, kann man sie dazu nutzen. Hättet ihr ein wenig Zeit in den grünen Gewölben der Bibliothek von San’tweyna verbracht, dann wüsstet Ihr das.“

„Die grünen Gewölbe sind uns verboten.“

„Weil sich dort die Wahrheit verbirgt, Schwertführer. Aber nun helft mir auf. Es ist den Gorgoils gewiss ein Leichtes, meiner Spur zu folgen. Ich fürchte, sie werden sich eher früher als später an uns rächen wollen. Besser, wir sind weg, wenn sie hier ankommen.“

Polizeihauptmeister Erwin Kolpp hatte in zwei Stunden Dienstschluss. Und er freute sich bereits auf ein kühles Bier, das er sich auf dem Sofa vor dem Fernseher genehmigen wollte, während die 05er der Eintracht ordentlich auf die Mütze gaben. Es war mal wieder Zeit für einen Sieg der Mainzer über Frankfurt und Kolpp hatte das gute Gefühl, dass es heute Abend so weit sein würde. Worüber er sich nicht freute, war, dass er die Wache jetzt nochmal verlassen musste - für nichts und wieder nichts. Das war jetzt schon klar. Kolpp wusste, wann ein Einsatz für die Füße war. Das sagte ihm seine Erfahrung. Aber er wusste auch, dass er den Anruf nicht einfach ignorieren konnte.

„Sie halten mich jetzt wahrscheinlich für völlig verrückt“, hatte der entgeisterte Mann am Telefon gesagt.

„Ach wo. Bleiben Sie einfach, wo sie sind, und warten Sie auf mich. Es ist bald Fastnacht. Das erklärt zurzeit so Einiges.“

„Fastnacht? Haben Sie mir eigentlich richtig zugehört? Das waren keine bunt kostümierten Saufbrüder, die ich da gesehen habe. Da war plötzlich eine dunkelrote Waberwolke, die sich aus dem Nichts gebildet hatte. Und - puff - noch ehe ich mich richtig darüber wundern konnte, sind zwei sehr merkwürdige Gestalten herausgeritten. Mutierte in mittelalterlichen Klamotten. Der eine hat ziemlich heftig geblutet. Mit Fastnacht hat das nichts zu tun. Und, um auch das klar zu sagen: Ich trinke keinen Alkohol! Ich bin Wanderer, und zwar ein kerngesunder.“

Der Mann hatte daraufhin einfach aufgelegt. Aber das machte keinen Unterschied. Formal war es ein Notruf. Und auch, wenn sich Kolpp sicher war, dass hier irgendein harmloser Unsinn im Gange war, musste er nach dem Rechten sehen. Es war seine Pflicht. Am besten gleich, sonst würde er es zum Anpfiff nicht mehr schaffen.

Die Abendsonne gab den Weinbergen ein mildes, orangefarbenes Licht. Die Reben waren noch kahl, wellten sich wie sorgsam ausgelegte Bänder über die sanften Hügel und durch schattige Täler - unterbrochen hier und da durch ein kleines Wäldchen oder einen alten Turm, von dem aus man die Aussicht genießen konnte. Kolpp mochte es, in Rheinhessen auf dem Land Dienst zu tun - fernab vom Trubel der Städte, ihren Banden, Besoffenen, Drogenhändlern und Zuhältern. Hier gab es so etwas nicht. Nur Wanderer, die vermutlich ihre Kräfte überschätzt hatten und am Ende des Tages Dinge sahen, die es gar nicht gab, dachte der Polizeihauptmeister mit einem bitteren Grinsen.

Es war warm und Kolpp öffnete das Fenster einen Spalt breit. Eine angenehme Brise wehte ins Innere seines Einsatzwagens, als er zügig, gerade so im Rahmen des Tempolimits die Landstraße entlangfuhr. Kolpp verzichtete darauf, das Martinshorn einzuschalten. Er hätte es tun können. Immerhin war ihm rein formal ein Schwerverletzter gemeldet worden - und so was wie eine Explosion. Aber daran glaubte er nicht wirklich. Und wegen ein paar maskierter Witzbolde, die einen Wanderer aufgeschreckt hatten, wollte er die Ruhe dieses wunderbaren Tages nicht stören. Etwa zweihundert Meter nach der Ortsausfahrt bog er links ab in einen schmalen Flurweg. Er durchquerte einen kleinen Wald, passierte einen Aussiedlerhof und erreichte schließlich eine geteerte Weinbergsstraße, die kaum breiter war als der Weg, den er kurz davor entlanggerumpelt war. Normalerweise fuhren hier nur Traktoren und Erntewägen. Sonst wurde die Straße gerne von Spaziergängern genutzt. Einer kam ihm gerade entgegen - mit gesenktem Haupt und fahrigem Blick. Der Mann war Ende 50, hatte aber unter seinem albernen Tirolerhut eine gesunde Hautfarbe. Er sah weder besoffen noch verwirrt aus, nur ängstlich.

„Da sind sie ja“, sagte Kolpp gelassen, nachdem er seinen Wagen neben dem Spaziergänger zum Halten gebracht hatte.

„Wie meinen Sie das? Ich hab die Polizei nicht ... nein, das war ich nicht“, stammelte der Mann.

„Machen Sie sich nichts draus. Ich bin ja schon dabei, herauszufinden, was da oben los ist. Auch, wenn es am Ende nur ein blöder Scherz ist, war es richtig, dass Sie angerufen haben.“