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Susanne Bechstein schreibt in ihrem neusten Buch über ihr bewegtes Leben, das an Dramatik nicht zu übertreffen ist. Dabei hatte sie gedacht, das Erlebte längst aus ihrem Gedächtnis verbannt zu haben. Begleiten Sie die Autorin zurück in ihre Kindheit, die geprägt ist durch den frühen Verlust ihres Vaters. Erleben Sie gemeinsam mit ihr die Liebe zu ihrem Opa, ihrer Tante und ihren Cousinen, das karge Leben in der Nachkriegszeit in Perleberg und nicht zuletzt die waghalsige Flucht nach Westberlin sowie die darauf folgenden Jahrzehnte mit ihrem Ehemann.
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Seitenzahl: 609
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„LIEBE DEINENNÄCHSTEN WIE DICH SELBST!“
Die Lebensgeschichte der Susanne Bechstein
Engelsdorfer Verlag Leipzig 2021
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei der Autorin
Titelbild © Arno Funke
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Einführung
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!
Die Bestimmung
Meine Kindheit und Jugend in Perleberg bis 1952
Unsere plötzliche Flucht nach Westberlin
Mit viel Zuversicht in die Zukunft
Er schaute schon durch mein Fenster!
Es war das Jahr 2005, als ich nach meiner Pensionierung anfing, mein bewegtes und dramatisches Leben aufzuschreiben. Ich dachte, dass ich das, was ich erlebt hatte, auf diese Weise besser verarbeiten könnte. Leider war das ein Irrtum. Es wäre aber auch zu schön, wenn man alles, was einen bewegt, einem weißen Stück Papier anvertrauen könnte und damit auf einen Schlag keine schlaflosen Nächte und Albträume mehr hätte. Die Welt wäre dann wieder in Ordnung. Mit dem Aufschreiben ist das aber nicht getan. Unser menschliches Gehirn ist schließlich in der Lage, bestimmte Dinge zu speichern, die einen dann ein ganzes Leben lang verfolgen.
Im Jahr 2007 erschien der erste Teil meiner Autobiografie mit dem Titel „zeitwaise: SCHICKSAL EINER FRAU“, von dem meine Mutter nichts erfuhr, weil ich über meine Erlebnisse aus der Kindheit nie mit ihr gesprochen hatte. Heute bereue ich, dass ich dachte, dafür wäre noch genügend Zeit. Doch wir haben keinen Einfluss auf bestimmte Dinge im Leben. Meine Mutter war stolz auf mich, als ich ihr meine Gedichte schenkte und behauptete, dabei handle es sich um mein erstes Werk als Autorin. Für meine Bücher wählte ich ein Pseudonym. Unter dem Namen „Susanne Bechstein“ habe ich inzwischen elf Bücher veröffentlicht und muss feststellen, dass Schreiben offenbar süchtig macht. Ich habe in meinem Leben so viel erlebt, dass ich anderen Menschen auch heute noch einen Einblick gewähren möchte. Zuletzt habe ich angefangen, ein schreckliches Erlebnis aufzuschreiben, das mir vor einigen Jahrzehnten widerfahren ist. Dieser Vorfall hätte für mich auch tödlich enden können. Dabei hatte ich angenommen, das Erlebte längst aus meinem Gedächtnis gestrichen zu haben.
Wie steht es doch in der Bibel geschrieben? Wenn du Gott liebst, dann kannst auch du deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Wie können Menschen sich selbst lieben, die in ihrer Kindheit nur Schläge, Misshandlungen und Brutalität erfahren haben? Wie können diejenigen auch noch ihren Nächsten lieben, wenn sie nicht einmal wissen, was das Wort „Liebe“ für eine Bewandtnis hat. Und was versteht jeder einzelne Mensch unter Nächstenliebe? Kann man Menschen vergeben, die ein schlimmes Verbrechen begangen haben? Überwiegen da nicht der eigene Schmerz und die Frage, was ein Mensch in einer solchen Situation durchmachen musste? Wie ist es möglich zu vergeben, wenn Menschen überall auf der Welt getötet werden oder Familien ihre Kinder verlieren, die noch nicht einmal richtig gelebt und geliebt haben? Wo ist in solchen Momenten unser Gott Vater? Warum hat er es nicht verhindert? Oder wollte er die Menschheit damit bestrafen, dass sein Sohn Jesus Christus so viel Schmerz und Leid am Kreuz ertragen musste? Wie konnte Gott seinen Sohn opfern als Beweis für seine Liebe? Für mich ist das unvorstellbar! War Gott wirklich ein Mensch? Gott hat seinen Sohn bewusst sterben lassen, obwohl er von dessen Unschuld überzeugt war. Hat Judas Jesus wirklich verraten? Er war doch einer seiner Anhänger. Dennoch hat er ihn für 30 Silberlinge an die Hohepriester verraten. Warum hielten sie Jesus für einen Hochstapler und nicht für den angekündigten Messias? Das römische Volk hat Jesus vorgeworfen, sich als „König der Juden“ aufzuspielen und über das Land herrschen zu wollen. Daher verurteilte Pilatus ihn zum Tode am Kreuz. Hatte Geld im Christentum auch schon so eine große Bedeutung wie heute? Ein Menschenleben für 30 Silberlinge zu opfern, das ist meiner Meinung nach kaum vorstellbar! Wie man im Neuen Testament nachlesen kann, hat Judas seinen Verrat bereut und den Hohepriestern die Silberlinge vor die Füße geworfen. Angeblich hat sich Judas erhängt, weil er nicht voraussehen konnte, was sein Verrat für Folgen haben würde.
Jesus Christus hatte die Gabe, Wunder zu vollbringen. Durch ihn konnten blinde Menschen wieder sehen und Wasser wurde zu Wein. Vieles andere hat er durch seine Botschaften verkündet. Wird von Gott erwartet, dass er für immer und ewig seine schützende Hand über uns Menschen hält? Gott, der alle Menschen liebt, was auch immer sie tun? Oder weist er uns nur auf den rechten Weg hin, damit wir erkennen, was richtig und was falsch ist? Sollen wir am eigenen Leib erfahren, was Schmerz und Leid bedeuten? Sind wir für alles, was mit uns oder der Welt geschieht, selbst verantwortlich? Alle beten zu Gott, wenn sie in Not sind. Dazu gehören auch Menschen, die vorher gottlos waren. Ich kenne Gott nicht – nur das, was man über ihn hört und liest, und da bin ich doch sehr am Zweifeln. Soweit es in meiner Macht stand, habe ich immer versucht, Gutes zu tun. Vorurteile hatte ich nie! Den Umstand, dass ein Mensch beispielsweise als Obdachloser auf der Straße lebt, hat er sich bestimmt nicht selbst ausgesucht. Jedes Leben hat ja eine Vorgeschichte! Für mich persönlich ist Nächstenliebe von großer Bedeutung, deshalb hatte ich auch nie ein Problem damit, einen Menschen in den Arm zunehmen, der unter einer Brücke lebt und nicht so sauber aussieht wie seine Mitmenschen. Ich lasse mich gerne auf Gespräche mit solchen Menschen ein, denn aus Erfahrung weiß ich, wie dankbar sie sind, sich ihr Leid von der Seele sprechen zu können.
Leider gibt es in unserer Gesellschaft zu viele Vorurteile. Manche sagen in Bezug auf Obdachlose: „Die sind doch an ihrer Situation selbst schuld. Mir könnte so was nicht passieren!“ Ich finde solche Sprüche einfach großkotzig. Ständig muss ich diese Menschen verteidigen und es ist schon so manches Mal zu lautstarken Diskussionen gekommen. Wann immer ich versuche, meinen Standpunkt zu vertreten, stoße ich auf taube Ohren. Dabei sind es ja nicht nur Menschen, die aus armen Verhältnissen stammen, die ganz plötzlich den Boden unter ihren Füßen verlieren. Manche kommen aus zerrütteten Ehen, in denen es für den einen Partner von heute auf morgen keinen Platz mehr in der gemeinsamen Wohnung gibt und die auch sonst niemanden haben, der sie auffängt. Mein Bemühen, mich um obdachlose oder alte Menschen zu kümmern, kommt zwar im Allgemeinen gut an, doch jetzt kommt das „ABER“. Meine Mitmenschen waren bisher immer der Ansicht, dass es damit auch genug sein müsste. Mit so einem blöden Argument wollten sie mich zur Vernunft bringen und es hieß, ich solle mir lieber einen Freundeskreis suchen, der meiner würdig sei. Oh nein, so geht ihr nicht mir um! Meine Würde lasse ich mir von niemandem nehmen! Deshalb antworte ich diesen Menschen, die es nur gut mit mir meinen, ich hätte sehr wohl den richtigen Freundeskreis, schließlich kenne ich obdachlose Menschen, die aus der sogenannten „Oberschicht“ kommen, die sogar ein Studium absolviert haben und aus welchen Gründen auch immer heute auf der Straße leben. Sie erzählen mir gerne aus ihrem früheren Leben, als sie noch in einer gehobenen Position ihr Geld verdient haben und ihr Leben so verlief, dass andere es als „normal“ bezeichnen würden. In unserer hektischen Gesellschaft gibt es aber immer mehr Menschen, die ohne Tabletten den Druck im Berufsleben nicht aushalten. Da bleibt ein Burnout oftmals nicht aus. Auch wenn ich nicht so leben wollte und könnte wie diese Menschen, aber jeder Mensch muss doch für sich selbst entscheiden dürfen, was für ihn das Beste und Richtige ist. Manch einer hat darauf gar keinen Einfluss und gerät wie von selbst in eine Situation, die andere als anrüchig empfinden.
Natürlich haben meine Freundinnen ebenfalls ein gutes Herz. Auch sie sind großzügig und geben der einen oder dem anderen auf der Straße oft einen Euro oder auch etwas mehr oder kaufen diesen Menschen etwas zu essen. Für mich sind Menschen, die von vornherein ein Schwert brechen, einfach überheblich und sie wissen nicht, was Nächstenliebe tatsächlich bedeutet. Ich wünsche ihnen, dass sie nicht eines Tages selbst auf fremde Hilfe angewiesen sind, denn die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar!
Natürlich habe auch ich über Jahrzehnte hinweg einen Prozess durchgemacht und nehme heutzutage Dinge nicht mehr so wichtig wie in meiner Jugendzeit. Auch ich war vor Jahrzehnten einmal in einer prekären Situation, die mich daran zweifeln ließ, ob meine Nächstenliebe in diesem Fall möglicherweise doch nicht angebracht war.
Im Jahr 2017 saß ich eines Abends vor meinem Fernsehgerät, um mir die Nachrichten anzuhören. Als die Ansagerin verkündete, dass in Berlin ein Mann mit einem Fahrrad unterwegs sei und Passanten im Vorbeifahren eine brennende Flüssigkeit ins Gesicht sprühe, holte mich meine Vergangenheit wieder ein, die ich doch längst aus meinem Gedächtnis gestrichen hatte – zumindest hatte ich das angenommen. Das war für mich der Auslöser, damit zu beginnen, das damals Erlebte zu Papier zu bringen. Wie gesagt, das Leben geht manchmal seltsame Wege! Du läufst und läufst, um das Ende deines Weges endlich zu erreichen, aber oftmals sind es Irrwege, die du beschreitest, weil du am Ende immer noch kein Licht für dich am Horizont entdecken konntest. Wenn du schon am Verzweifeln bist und die Absicht hast umzukehren und alles aufzugeben, was du besitzt, es dann aber doch nicht tust, wird auch für dich eines Tages am Ende des langen Tunnels ein Lichtstrahl leuchten. Dann weiß du, dass du endlich angekommen bist und es der richtige Weg war, auf dem du schon seit so langer Zeit gelaufen bist.
Es war an einem Samstag im August, den ich mit meinen Freundinnen Katrin und Brigitte bei heißer Discomusik im Kasaleon, das sich in der Hasenheide in Berlin Neukölln befand, verbringen wollte. Wie immer war es gerammelt voll. Die Discokugel an der Decke drehte sich und verbreitete eine stimmungsvolle Atmosphäre. Auf der Tanzfläche war es sehr voll, sodass sich die vielen jungen Leute kaum bewegen konnten. Es war ein heißer Sommerabend und die Klimaanlage brachte an diesem Tag keine Erleichterung. Laut war es sowieso, sodass Schreien angesagt war, wenn man sich verständigen wollte. Alte und neue junge Leute trafen sich hier, die bester Stimmung waren. Man sagte „Hallo“ und „Schön, dich zu sehen“.
Meine Freundinnen hatten sehr schnell die passenden Tanzpartner gefunden und sie bewegten sich wie die Wilden bei Rock ’n’ Roll, Jazz und Twist. Ich stand etwas verloren da und mein Blick fiel auf einen jungen Mann, der offenbar gern auf Tuchfühlung tanzte. Ich dachte: Genau meine Art zu tanzen! Ich liebte nämlich unter anderem Tango und Blues. Das Tanzen wurde mir bereits in die Wiege gelegt oder ich habe die entsprechenden Gene von meiner Mutter geerbt. Jedenfalls konnte ich den Blick nicht von diesem jungen Mann wenden – er hatte mich in seinen Bann gezogen. Als er kurz zu mir herübersah, lächelte er. Nachdem der Tanz zu Ende war, kam er auf mich zu und fragte mich, ob ich tanzen wolle. „Ja, gerne sogar!“, antwortete ich. Er nahm mich in die Arme und wir tanzten eng zusammen, ohne dass es mir unangenehm war. Genau wie ich hatte er blondgelockte Haare und blaue Augen. Zum damaligen Zeitpunkt stand ich zwar eher auf Männer mit dunklem Haar und braunen Augen, aber hier passte es. Nach dem Tanz lud er mich auf einen Drink an die Bar ein und fragte mich, ob wir uns duzen wollten. Ich hatte nichts dagegen und stimmte ihm zu. Er reichte mir seine Hand und sagte: „Ich heiße Rudolf.“ Daraufhin nannte ich ihm meinen Namen.
„Doris – was für ein schöner Name!“, war Rudolfs Meinung. „Darauf müssen wir anstoßen. Was darf ich dir bestellen: Danziger Goldwasser, Escorial Grün oder lieber etwas anderes?“ Er sah mich fragend an.
„Weißt du, Rudolf, eigentlich trinke ich gar keinen Alkohol.“
„Ach, wirklich?“ Er sah mich ungläubig an.
Ich dachte, einer könne nicht schaden, und gab mir einen Ruck, zumal ich nicht als Memme dastehen wollte. So entschied ich mich für Danziger Goldwasser – ein Gewürzlikör, in dem etwas Goldenes schwamm, was faszinierend aussah. Rudolf bestellte bei der Dame hinter der Bar zwei Gläser Danziger Goldwasser und für sich ein neues Bier. Während wir auf die Getränke warteten, rauchten wir genüsslich eine Zigarette. Wenig später stießen wir an und ich nahm einen Schluck, der in einem Hustenanfall endete. Rudolf lachte und bestellte ein Glas Wasser für mich. Wir suchten uns ein gemütliches Plätzchen abseits vom Getümmel, wo wir uns ungestört unterhalten konnten. Zuerst sprachen wir über belanglose Dinge, zum Beispiel über seine Arbeit. Er sagte, er hätte Schreiner gelernt und arbeite derzeit bei der Fischfirma Loseid als Kraftfahrer. Aber unsere Themen wurden immer persönlicher und gingen dann doch sehr in die Tiefe. Jeder von uns hatte ja in seiner Kindheit und als Jugendlicher so einiges durchmachen müssen. Rudolf offenbarte mir, was er im Alter von sechs Jahren im Krieg erlebt hatte. Seine Mutter und zwei seiner Geschwister waren bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Er erzählte es mir in etwa wie folgt: „Normalerweise sind wir immer in einen der Luftschutzbunker in Berlin gegangen, wenn es Fliegeralarm gab. Mutter sagte: ‚Heute gehen wir in den Keller, und wenn sie Bomben abfeuern, werden sie bestimmt nicht auf unser kleines Haus zielen, sondern auf die großen, die daneben stehen.‘ Meine Mutter, meine Schwester Gerda und zwei weitere meiner Schwestern gingen daraufhin in den Keller, in dem wir uns sicher fühlten. Als dann die Bomben vom Himmel fielen, war es, als hätten sie sich ausgerechnet unser Haus ausgesucht. Berge von Steinen und Balken stürzten über uns zusammen und es brannte lichterloh. Wir hörten unsere Geschwister schreien. Meine Mutter wurde von einem Balken aufgespießt und auch eine meiner Schwestern war tot. Wenn wir nach oben schauten, sahen wir nur ein großes Loch, durch das der Himmel zu sehen war. Meine große Schwester Gerda war am Bein verletzt worden. Gemeinsam krabbelten wir die Schuttberge hinauf und krochen durch das Loch ins Freie. Das Haus brannte lichterloh und ich rannte hinein, weil ja noch eine meiner Schwestern in den Trümmern war. Ich konnte sie mit meinen sechs Jahren Gott sei Dank retten. Aber sie machte sich von meiner Hand los und sagte: ‚Wo Mutter ist, will ich auch sein!‘ Also rannte sie zurück ins Haus und verbrannte. Von meiner Mutter hat man später nur noch einen Schuh gefunden. Mein großer Bruder Fredi war im Krieg und unser Vater bei der Arbeit. Die anderen Geschwister waren in Sicherheit, wahrscheinlich in einem der Bunker, die es in Berlin gab. Die Tragödie konnte nicht schlimmer sein, als mein Vater nach Hause kam und vom Tod seiner Lieben erfuhr. Für ihn und meine anderen Geschwister brach eine Welt zusammen. Mein Vater starb einige Zeit später im Krankenhaus Friedrichshain an der Ruhr. Gerda hatte ihn mit dem Handwagen dort hingebracht. Keiner aus der Familie hat ihn jemals im Krankenhaus besucht und ich wusste später auch nicht, wo man ihn begraben hatte. Die Zeit danach verbrachte ich bei Pflegeeltern, die der Familie bekannt waren. Sie lebten am Schlesischen Bahnhof, wo es zur damaligen Zeitpunkt viele Laubenkolonien gab. Das Jugendamt setzte sich mit der Familie in Verbindung. Die wiederum erklärte sich bereit, mich aufzunehmen. Mir war es recht, da ich die Familie ja kannte und auf keinen Fall in ein Heim wollte. Meinen großen Geschwister war es wohl egal, da sie alle ihr eigenes Leben führten und viel älter waren als ich. Auch für sie war es nach dem Krieg nicht so einfach, denn unsere Familie hatte ja alles verloren – wir waren sechs Mal ausgebombt worden. Sie nahmen jedenfalls an, dass ich gut bei den Pflegeeltern aufgehoben war. Aus heutiger Sicht wäre ich wohl besser in ein Kinderheim gegangen. Bei meinen Pflegeeltern durchlebte ich die Hölle. Ich wurde brutal geschlagen, mein kleiner Körper war voller blauer Flecken. Einmal musste ich mit meinem Kopf in ein Ofenloch kriechen, dann schlug mein Pflegevater meinen Hintern mit einem Ledergurt grün und blau, nur weil ich die Katze vom Tisch gescheucht hatte, die von meinem Teller fressen wollte.“
Ich war von Rudolfs Schilderungen so schockiert, dass mir die Tränen über das Gesicht liefen. Er tat mir unendlich leid. Ich fragte ihn, warum seine Pflegemutter nicht eingegriffen hatte.
„Die wurde ja auch ständig von ihm geschlagen“, antwortete er. „Nach der Schule musste ich sofort nach Hause kommen. Und wehe, ich verspätete mich! Bereits auf dem Heimweg fing ich an zu zittern, weil ich wusste, was mich erwartete. In der Schule hatte ich zwei Freunde, Walter und Rolf, mit denen ich so gerne gespielt hätte. Aber es sollte nicht sein. Nachdem ich meine Schularbeiten gemacht hatte, musste ich mich um die Tauben und die Ziegen kümmern. Mein Pflegevater hatte eine große Taubenzucht und Tiere bedeuteten ihm mehr als Menschen. Schon als kleiner Junge musste ich den Tauben mit einem Beil den Kopf abschlagen und er ließ sie dann auf diese Weise verstümmelt herumfliegen. Noch heute sehe ich diese grausamen Bilder vor mir. Am Sonntag gab es immer Taubenbraten und ich hätte am liebsten quer über den Tisch gekotzt. Aus Angst vor Strafe aß ich meinen Teller jedoch leer.“
Ich sagte zu Robert: „Das ist ja grausam, was du erlebt hast!“ Dann fragte ich ihn, warum er das alles nicht der Frau vom Jugendamt erzählt hatte. Sie kam doch einmal im Monat ins Haus und wollte von ihm wissen, wie es ihm in der Familie gefiel.
„Weißt du, Doris, manchmal war mein Pflegevater auch nett zu mir. Dann schenkte er mir Geld, sodass ich mit meinen Freunden ins Kino gehen konnte. Außerdem hatte ich reichlich zu essen. Und was ganz wichtig war: Ich hatte Schuhe! Das konnte so kurz nach dem Krieg nicht jeder von sich behaupten. Also habe ich zu der Frau gesagt, dass es mir bei meinen Pflegeeltern gut gefiel.“
Weitere Einzelheiten möchte ich dem Leser ersparen, auch wenn heutzutage offen über solche Themen gesprochen wird. Roberts Erzählungen gingen aber weiter:
„Ich hatte die Schule beendet und wurde zusammen mit Walter und Rolf eingesegnet. Zu diesem Anlass bekam ich einen schönen Anzug. Wir Jungen waren an diesem Tag so glücklich. Anschließend begann ich eine Lehre als Schreiner. Mein Pflegevater vertrat die Meinung, dass es sich für mein späteres Leben auszahlen würde, wenn ich ein Handwerk erlernte. Von diesem Zeitpunkt an ließ ich mir nichts mehr von ihm gefallen. Wenn er mich schlagen wollte, drohte ich ihm damit, es dem Jugendamt zu melden. Als ich meine Lehre beendet hatte, mein eigenes Geld verdiente und mich häufig mit meinen Freunden traf, gab es immer öfter Streit, wenn ich spät heimkam. Als ich wieder einmal nicht pünktlich zum Essen nach Hause kam, erwartete er mich bereits an der Tür und schlug mir mit der Faust ins Gesicht. Jetzt war ich am Zuge. Ich stellte diesen alten Sadisten an die Wand und ließ meine ganze Wut und das Leid, das ich all die Jahre ertragen hatte, an ihm aus. Ich schlug so lange zu, bis er am Boden lag. Meine Pflegemutter – ich nenne sie mal „Frieda“ – griff nicht ein. Stattdessen nickte sie nur. Anschließend packte ich meinen Koffer und fuhr zu meinem Freund Walter und dessen Familie, die mich ohne zu zögern aufnahmen. Erst jetzt konnte ich mit jemandem über das Erlebte sprechen. Walters Familie war der Meinung, dass man den Mann anzeigen müsste. Ich habe meinen sadistischen Pflegevater nie wiedergesehen.“ Robert ließ das Gesagte kurz sacken und erzählte schließlich weiter:
„Walter arbeitete bei der Bahn und Rolf hatte die Absicht, Schauspieler zu werden, wie seine Eltern es waren. Sein Vater Franz hatte in dem Spielfilm „Kahn der fröhlichen Leute“ mitgespielt, der damals noch in Schwarz-Weiß gedreht wurde. Rolfs Idee zerplatzte allerdings schon bald wie eine Seifenblase. So beschlossen wir drei, gemeinsam zur Volksarmee zu gehen, um dem Volke in der DDR zu dienen. Allerdings wurde uns von nun an verboten, in den Westteil rüberzugehen. Das hielt uns jedoch nicht davon ab, wenn wir frei hatten und keine Uniform trugen, nach drüben zu gehen, wenn es einen neuen amerikanischen Spielfilm gab. Wir wurden überall eingesetzt. Beispielsweise mussten wir die Grenzen bewachen, nicht nur in Berlin, auch außerhalb im Osten. Wir unterhielten uns mit den Grenzsoldaten über die Sperrzonen, in denen die Soldaten aus dem Westen standen. Für uns junge Burschen war das alles aufregend und wir hatten viele Freunde, die bei der Armee waren. Der Westen reizte mich immer mehr, zumal es mir dort auch möglich war zu arbeiten. Immer mehr Menschen verließen den Osten, um in Westberlin ein besseres Leben zu führen. Wir mussten uns in Marienfelde im Aufnahmelager melden, um im Westen bleiben zu können.“ Hier unterbrach ich Rudolf und berichtete ihm, dass wir ebenfalls geflüchtet waren und Ähnliches durchgemacht hatten.
„Erzähl doch mal, wo ihr herkommt“, bat er mich. „Und warum seid ihr geflüchtet?“
Ich winkte ab. „Nein, Rudolf, dafür reicht die Zeit heute nicht aus. Es wäre eine zu lange Geschichte. Ein anderes Mal spreche ich gern darüber. Erzähl du ruhig weiter!“
Inzwischen waren wir fast die Letzten und es ging schon auf den Morgen zu. Wir hatten in dieser Samstagnacht unser Umfeld völlig vergessen, es gab nur noch uns beide. Tatsächlich sprach er weiter. Nach einer Weile sagte er: „Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle. Eigentlich spreche ich mit niemandem über mein Leben, aber zu dir hatte ich von Anfang an Vertrauen.“ Er lächelte und fuhr fort: „Natürlich wurden unsere Westbesuche beobachtet, und eines Tages wurden Walter, Rolf und ich aufgefordert, in das Büro unseres Kommandanten zu kommen. Uns ging natürlich ganz schön die Muffe. Doris, du glaubst nicht, was sie uns alles vorgeworfen haben! Angeblich hatten wir unseren Eid als Soldaten gebrochen und geplant, gemeinsam in den Westen zu fliehen. Was wir zu unserer Verteidigung vorzubringen hatten, wollten sie sich gar nicht anhören. Wir mussten unsere Waffen abgeben und wurden fürs Erste mit Arrest bestraft. Was hatten sie als Nächstes mit uns vor? Uns beherrschte die Angst, dass sie uns einsperren würden. Wir waren doch nur junge Burschen von nicht einmal zwanzig Jahren, die nichts Böses im Sinn hatten. Sie setzten sich mit unseren Familien in Verbindung. Walters Vater war ein hohes Tier bei der Partei, der, wie es schien, die Sache für uns in Ordnung brachte. Auf einmal durften wir wieder an allem teilnehmen, ohne dass man mit uns darüber sprach, was zu dieser Entscheidung geführt hatte. Und Fragen zu stellen, das kam für uns nicht infrage. Wir waren doch nur froh, dass die Sache für uns keine schlimmeren Folgen hatte. Aber der Westen reizte mich doch sehr, zumal ich keine Eltern hatte wie Walter und Rolf, die ja noch zu Hause lebten. Und weil ich wusste, wo meine noch lebenden Geschwister wohnten, war es für mich ein Leichtes, zu ihnen in den Westen zu flüchten. Ich dachte: Endlich bist du in Freiheit und kannst tun und lassen, was du willst. Ich nahm Kontakt zu meinen Geschwistern auf und Gerda bot mir an, bei ihr und ihrer Freundin Erna zu wohnen, bis ich im Aufnahmelager in Marienfelde alle Formalitäten hinter mich gebracht hatte. Nach meiner Anerkennung als Flüchtling suchte ich mir eine Stellung in meinen Beruf als Schreiner. Unseren Führerschein hatten wir drei Freunde bei der Volksarmee gemacht. Wie gesagt, ich arbeite inzwischen als Kraftfahrer, wo ich mehr Geld verdiene.“
Das war unser Kennenlernen an einem Samstag im August. Mein Herz hatte sich für diesen jungen Mann weit geöffnet, der mit seinen zweiundzwanzig Jahren innerlich zerbrochen war. Auf einmal hielt ich mein eigenes Leben nicht mehr für so wichtig. Am frühen Morgen – es wurde bereits hell – begleitete mich Rudolf bis zur U-Bahn. Ich fuhr in Richtung Innsbrucker Platz, wo ich bei einem älteren Ehepaar, das ebenso wie ich mit Nachnamen „Lange“ hieß, als Untermieterin wohnte. Von dem Tag an trafen wir uns, so oft es unsere Zeit erlaubte, und aus der anfänglichen Sympathie wurde Liebe. Und natürlich hegte ich Mitgefühl für Rudolfs Lebensgeschichte. Er lebte als Untermieter in einem möblierten Zimmer, das sich in Kreuzberg SO 36 in der Wrangelstraße befand. Wenn er Feierabend hatte, ging er in seine Eckkneipe, zumal die Wirtin für ihre Gäste auch Mittagessen kochte. So manches Mal trafen wir dort zusammen. In dieser Kneipe lernte ich auch Rudolfs Bruder Fredi kennen, der nach Feierabend gelegentlich dort sein Bierchen trank. Er und seine Frau Lilo lebten, verbunden mit einer Hauswartstelle, in einer Neubauwohnung in der Waldemarstraße/Ecke Pücklerstraße. An eine Neubauwohnung zu gelangen, war zu der damaligen Zeit schwierig.
Wenn ich Rudolf besuchte, um bei ihm zu nächtigen, zog ich mir schon im Flur die Schuhe aus, damit seine Vermieterin, Frau Schulz, nichts davon mitbekam. Trotzdem knarrten die verdammten Treppenstufen! Zur damaligen Zeit war es jungen Frauen, die noch nicht einundzwanzig waren, verboten, bei einem Mann zu schlafen, der keine eigene Wohnung hatte. Frau Schulz bekam natürlich mit, was unter ihrem Dach vor sich ging. Wenn ich nachts im Haus war, sah sie garantiert am nächsten Morgen aus dem Fenster und drohte mir und Rudolf mit dem Finger. Die Sache löste Rudolf schließlich auf seine Weise. Von diesem Zeitpunkt an gab es keine Probleme mehr. Mir stand sogar die Küche zur Verfügung und Rudolf brauchte nicht mehr in die Kneipe zu gehen, denn von jetzt an kochte ich.
Wie Frauen nun mal so sind, beschäftigte ich mich im Laufe der Zeit damit, Rudolfs Zimmer umzugestalten und es mit Deckchen, Blümchen und bunten Kissen zu verschönern, damit wir uns wohlfühlen konnten. Rudolf und ich wollten unbedingt zusammenziehen. Wir würden eine Monatsmiete sparen und das ständige Hin- und Herfahren hätte ebenfalls ein Ende. Aber wie sollten wir an eine Wohnung gelangen, zumal ich nicht mit Rudolf verheiratet und zudem auch noch nicht mündig war. Daraufhin ließ Rudolfs Schwester Gerda ihre Beziehungen spielen, was nach einiger Zeit auch zum Erfolg führte. Einer ihrer Bekannten, Herr Weinrich, hatte die Absicht, auf unbestimmte Zeit in sein Gartenhaus zu ziehen, und suchte jemanden, der seine Wohnung übernahm. Für wie lange, das stand in den Sternen. Dieses Angebot wurde für uns zum Glücksfall. Natürlich kamen Schwierigkeiten auf uns zu, weil wir nicht verheiratet waren. Herr Weinrich meinte jedoch, dass es der Hauseigentümer, Herr Berthold, vorerst nicht erfahren müsse. Außerdem verlangte Herr Weinrich für seine Möbel fünfhundert Mark Abstand. Doch woher nehmen und nicht stehlen? Da Rudolf und ich noch nicht besonders gut verdienten und erst recht kein Spargeld besaßen, wussten wir uns zunächst keinen Rat. Aber auch hier gab es einen rettenden Engel. Gerdas Freundin Erna stellte uns das Geld zur Verfügung und war damit einverstanden, dass wir es ihr in Raten zurückzahlten.
Von da an hatten wir eine Einzimmerwohnung mit einer Küche, einem schmalen Flur, einem Badezimmer samt Wanne, einem Waschbecken – darüber hing ein Spiegel – und zwei kleinen Schränkchen. Die Toilette befand sich zwei Etagen tiefer und wurde von allen Hausbewohnern benutzt. Letzteres stellte für Rudolf das größte Problem dar, weil er äußerst schamhaft war. Im Zimmer befanden sich ein Klappbett, ein Kleiderschrank, ein runder Tisch aus Omas Zeiten, zwei Sessel, ein Flickenläufer und an den Fenstern bunte Vorhänge zum Zuziehen, damit man vom Bahnsteig aus nicht hereinschauen konnte. Die anderen schönen Möbel hatte Herr Weinrich bestimmt mitgenommen. Rudolf und ich besaßen beide keinerlei Hausrat, nicht einmal einen Löffel oder eine Gabel, geschweige denn Teller. Freunde, die das alles bereits im Überfluss besaßen, schenkten uns eine Erstausstattung. Wir waren glücklich, dass wir jetzt jeden Tag zusammen sein konnten. An unsere neue Lebenssituation gewöhnten wir uns rasch. Das Einzige, was uns störte, war die Toilettensituation. Hatten war ein Bedürfnis, standen garantiert Mieter vor der Toilette und unterhielten sich. Oder das Örtchen war besetzt und wir mussten warten. So kam Rudolf oft unverrichteter Dinge wieder nach oben, es gab ja noch den Eimer, der im Grunde keine Lösung war.
Vom Wohnzimmer aus konnten wir direkt auf den Bahnsteig Prinzenstraße sehen und dort die Fahrgäste beobachten. Die erste Zeit konnten wir nicht schlafen, weil die einfahrenden Züge schon von Weitem zu hören waren. Daran mussten wir uns gezwungenermaßen gewöhnen, weil sich bestimmte Dinge im Leben eben nicht ändern ließen. Wir schliefen in unserem Klappbett und waren glücklich, die Nähe eines anderen Menschen zu spüren. Das war etwas, was wir in unserer Kindheit vermisst hatten. Am Morgen klappten wir das Bett hoch und zogen es mit einem bunten Vorhang zu.
Wir lebten sehr sparsam, und jede Mark, die wir erübrigen konnten, legten wir zur Seite. Als Kraftfahrer bei Loseid erhielt Rudolf, ebenso wie seine Kollegen, jede Woche ein Kilo frischen Fisch geschenkt, was unserem Speiseplan zugutekam. Ich arbeite in der Druckerei Bettin, wo ich vom Steindruck bis hin zum Offsetdruck alles kennenlernte.
Rudolf wünschte sich eine Musiktruhe, da er nur ein Kofferradio besaß. Weil wir keine großen Sprünge machen konnten und eine solche Anschaffung nicht bar bezahlen konnten, beschlossen wir, uns diese mittels Ratenzahlung zu leisten. Da wir nicht verheiratet waren, lief der Vertrag auf Rudolfs Namen.
Unser neues Zuhause wurde mit der Zeit immer gemütlicher und wir genossen jeden Tag, den wir zusammen verbringen konnten. Zu seinen Geschwistern hatte Rudolf wieder gute Beziehungen aufgebaut. Oft besuchten wir Fredi und Lilo in deren edel eingerichteter Neubauwohnung. Fredi war 1953 aus Ost-Berlin geflüchtete, als es den ersten Aufstand gegeben hatte. Er arbeitete auf dem Bau und verdiente schönes Geld. Aufgrund der Hauswartstelle brauchten er und Lilo nur die Hälfte der Miete zu bezahlen.
Nach einem Jahr Ehe auf Probe wurde uns von Herrn Weinrich regelrecht die Pistole auf die Brust gesetzt, zumal er die Absicht hatte, seine Wohnung zu kündigen. Er plante, weiterhin auf seinem Grundstück zu leben, und brauchte die Wohnung nicht mehr. Wir mussten also entweder umgehend heiraten oder uns stand der Auszug bevor. Da ich immer noch nicht volljährig war und daher auch noch nicht mündig, um diese Entscheidung für mich zu treffen, wurde die Situation für Rudolf und mich zum Problem. Ich benötigte das Einverständnis meines gesetzlichen Vormundes, den ich nicht kannte …
Alles, was ich im Folgenden erzähle, habe ich während jahrzehntelanger Recherchen in Archiven, gleichzeitig aber auch aufgrund von Beobachtungen und Befragungen innerhalb meiner Familie herausgefunden. All dies machte mich zu einer starken und selbstsicheren Frau, und so spielte ich meine Rolle, wenn man es von außen betrachtete, sehr gut. Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus, denn ich litt mein ganzes Leben lang an einem zerbrochenen Herzen.
Ich erblickte das Licht der Welt am 16. März 1939 vier Wochen zu früh in Perleberg. Diese Stadt wird auch „die Perle der Prignitz“ genannt. Ab 1772 war Perleberg Garnisonsstadt und hatte 300 Jahre Militär, Pest und Krieg überstanden. Ein romantisches Städtchen in der Prignitz am großen Markt Nummer 4 – ein Haus, das bis heute eines der ältesten Gebäude in der Stadt ist und unter Denkmalschutz steht. Das sogenannte Knaggenhaus, ein architektonisches Kleinod.
Beginnen wir bei meiner Familie bei meinem Opa, Max Lange, der am 15. November 1885 im Vogtland Reichenbach zur Welt kam. Er heiratete am 25. Juli 1903 seine Cousine Martha Lange, die am 20. Dezember 1883 in Altmannsgrün/Treuen Auerbach, Vogtland das Licht der Welt erblickte. Während ihrer Ehe brachte sie drei Jungen und drei Mädchen zur Welt. Das jüngste ihrer Kinder war meine Mutter Anna Irmgart Lange, geboren am 22. November 1919 in Perleberg. Und dann ist da noch mein Vater zu erwähnen, Alfred May, geboren am 17. April 1917 in Dortmund.
Meine Großmutter Martha verstarb am 27. Oktober 1930 in Perleberg an Kehlkopfkrebs. Sie wurde nur siebenundvierzig Jahre alt. Meine Mutter war zu der Zeit elf Jahre alt und liebte ihre Mutter abgöttisch. Der frühe Verlust belastete sie bis zu ihrem Tod im Jahre 2010. Martha war also meine richtige Oma, die ich leider nie kennengelernt habe.
Mein Opa Max war Oberschweizer (Melker) und Handelsmann von Beruf. Weil es ihm schwerfiel, seine große Familie zu ernähren, versuchte er sich in mehreren Berufen. Zum Beispiel war er eine Zeit lang Dorfpolizist, allerdings war ihm in dieser Funktion sein zu großes Herz im Wege. Eines Tages erhielt er den Befehl, zwei Diebe bei der Polizei abzuliefern. Als er sie zu dem begangenen Diebstahl befragte, behaupteten sie, sie seien hungrig gewesen und hätten etwas zu essen gestohlen. Opa ließ die Männer laufen und war damit seinen Posten los. Laut seinen Erzählungen hatte er es auch mit einem Zigarrengeschäft versucht. An dessen Eingang stand eine große Figur, ein Mohr, der mit dem Kopf nickte. Nach einigen Jahren ging Opa mit dem Geschäft pleite.
Nach dem Tod seiner Frau heiratete Opa ein zweites Mal. Hertha Palm aus Havelberg, die angeblich zwanzig Jahre jünger war als Opa, brachte ihre Tochter Gerda Palm mit in die Ehe. Diese wiederum war am 28. Februar 1925 geboren worden und somit sechs Jahre jünger als meine Mutter. Auf diese Weise kam meine Mutter zu einer Stiefmutter, mit der sie sich nicht verstand, und einer Stiefschwester, die in allen Belangen den ersten Platz einnahm.
Nach ihrem Schulabschluss arbeitete meine Mutter bei der Firma Borchert in Perleberg. Dabei handelte es sich um ein Schreibwarengeschäft. Kein Tanzboden war vor ihr sicher, was ihr bereits in jungen Jahren reichlich Ärger einbrachte. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, kam es nicht selten vor, dass ihr Vater in den späten Abendstunden durch die Lokale streifte, um sie zu suchen. Fand er sie schließlich, prügelte er sie mit dem Teppichklopfer nach Hause.
Ab April 1935 und 1936 begann wieder der Flugbetrieb auf dem Fliegerhorst in Perleberg, der inzwischen neu angelegt worden war. Hier war mein Vater stationiert und hatte mittlerweile den Rang als Obergefreiter erreicht.
In Perleberg tobte von nun an das Leben. Laut den Erzählungen meiner Mutter lernte sie meinen Vater, den jungen Alfred May aus Dortmund, beim Tanzen im Bürgergarten im Hagen an der Stepenitz kennen. Angeblich war es Liebe auf den ersten Blick. Mein Vater war nur zwei Jahre älter als meine Mutter. Nach seinem Schulabschluss meldete er sich vor Kriegsbeginn freiwillig zum Militär, wo er zum Flugzeugmonteur und zum Fluglehrer ausgebildet wurde. Ab April 1936 war unter anderem das Kampfgeschwader III./KG 153 auf dem Fliegerhorst stationiert.
Meine Mutter war achtzehn, als sie schwanger wurde. Wie bereits erwähnt, kam ich vier Wochen zu früh zur Welt. Es war, wie damals üblich, eine Hausgeburt. Als mein Vater an dem Tag vom Dienst nach Hause kam und meine Mutter im Bett liegen sah, war er sehr erstaunt und fragte, ob sie krank sei. Das wohl nicht, antwortete sie, er solle aber mal in das Körbchen schauen, das am Ofen stand. Daraufhin sah er Mutter mit seinen großen blauen Augen erstaunt an, und als er erkannte, was sich in dem Körbchen befand, liefen ihm Freudentränen über das Gesicht. Vorsichtig hob er sein zerbrechliches Kind heraus und setzte sich zu meiner Mutter auf die Bettkante. „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“, wollte er wissen. „Ein Mädchen“, antwortete meine Mutter. Eines, das genau solche blonden Locken und ebenso blaue Augen hatte wie er. Mittlerweile hatte sich die ganze Familie um das Bett versammelt, um meinen Vater, der schon längst zur Familie gehörte, zu beglückwünschen. Oma Hertha kochte Kaffee und die Hebamme schilderte meinem Vater, wie die Geburt verlaufen war. Leider hatte sie keine so erfreuliche Mitteilung, denn während meiner Geburt hatte sich herausgestellt, dass meine Mutter mit Zwillingen schwanger gewesen war. Der Junge, der mein Bruder geworden wäre, war als Embryo im Mutterleib abgestorben, wahrscheinlich hatte das auch die Frühgeburt ausgelöst.
Wie aus dem Geburtenregister hervorgeht, erkannte mein Vater am 16. April 1939 die Geburt seines unehelichen Kindes an. Während dieser Zeit schloss er eine Lebensversicherung über 30.000 Reichsmark ab.
Nachdem sich meine Mutter von den Strapazen der Geburt erholt hatte, wurde das Aufgebot bestellt. Die Eltern meines Vaters lebten in Dortmund und durften von meiner Existenz nichts erfahren. Er war nämlich vonseiten seiner Familie einer anderen Frau aus reichem Hause versprochen worden, deren Familie ein großes Hotel in Dortmund besaß. Sein Vater Paul May, der krank war und im Rollstuhl saß, würde es angeblich nicht überleben, dass sein Sohn eine andere Frau liebte und zudem auch noch ein uneheliches Kind hatte.
Mein Vater liebte mich sehr. Wenn er dienstfrei hatte, wickelte er mich, gab mir das Fläschchen und schob mit stolzer Miene den Kinderwagen vor sich her. Das beweisen Fotos, die ich mir auch heute noch wehmütig ansehe. Wir waren eine glückliche Familie. Allerdings war das Geld knapp. Mutter konnte nicht arbeiten und mit dem Zigarrengeschäft ihres Vaters ließ sich keine fünfköpfige Familie ernähren. Das Kindergeld und das, was meine Mutter von meinem Vater erhielt, reichte zwar, aber große Sprünge konnte sie damit nicht machen. Dabei liebte sie das Leben und legte großen Wert auf elegante Kleidung.
Um mehr Geld für die Familie zu verdienen, meldete sich mein Vater freiwillig als Pilot und flog die Ju 52, in der er Flugschüler ausbildete. Damit war es ihm möglich, seiner kleinen Familie 50 Reichsmark im Monat mehr zukommen zu lassen. Das war noch vor dem Krieg. Der wiederum begann am 1. September 1939, als Hitler den Befehl gab, Polen anzugreifen.
Meine Mutter und meine Großeltern machten sich zu der Zeit Sorgen um meinen Vater, weil er nun nicht mehr zum Bodenpersonal gehörte und sich der Gefahr aussetzte, ein so großes Flugzeug zu fliegen. Wenn er morgens zum Flughafen fuhr, klopfte er zum Gruß von draußen an die Fensterscheibe. „Junge, pass bloß auf, dass dir nichts passiert!“, rief meine Oma Hertha ihm dann jedes Mal zu. Vater nahm es mit Humor, indem er sagte: „Ach Mutter, der Himmel hat doch Balken, da kann mir nichts passieren.“ Mir kommen die Tränen, während ich das schreibe, und mir wird das Herz schwer.
Von den Kriegsvorbereitungen bekam die Bevölkerung Perlebergs kaum etwas mit. Nur dass jetzt tagsüber und sogar nachts der Fluglärm in der gesamten Region zu hören war. Damals, im nationalsozialistischen Reich, war die Stimmung äußerst angespannt angesichts dessen, was die Bevölkerung aus dem Radio (Goebbelsschnauze) zu hören bekam. Hinter vorbehaltender Hand wurde gemunkelt, dass Adolf Hitler seit seiner Machtergreifung im Jahr 1933 etwas im Schilde führte, was sich ja später nicht nur mit der Vernichtung der Juden als wahr herausstellen sollte. Mein Vater machte meiner und seiner eigenen Familie in Dortmund gegenüber nur Andeutungen, um niemanden zu beunruhigen. Dass es womöglich bald Krieg geben würde, war ihm allerdings wohl schon klar.
Nicht nur der Fliegerhost wurde neu gestaltet und umgebaut, auch das Lyzeum wurde umfunktioniert und diente den Soldaten als Kaserne. Auch weiterhin waren die Tanzlokale jeden Abend der Mittelpunkt des Interesses und die Stimmung unter den Frauen konnte nicht besser sein. Hier verkehrten schmucke Fliegersoldaten, die in ihren Uniformen äußerst ansprechend aussahen. Die Frauen hatten freie Wahl, wenn es darum ging, den passenden Mann oder einen geeigneten Tanzpartner zu finden. Ich war bei meinen Großeltern gut aufgehoben, wenn meine Mutter und ihre Stiefschwester Gerda zum Tanzen ausgingen, was meinem Vater so gar nicht recht war.
Es war Mitte Mai 1939. Ich war inzwischen acht Wochen alt und schlief die meiste Zeit. Ich hatte ja vier Wochen nachzuholen, die ich normalerweise in meiner sicheren „Taucherglocke“ verbracht hätte. Sogar zu den Mahlzeiten musste meine Mutter mich wachmachen, wie sie mir später erzählte. Der 19. Mai – es war ein Freitag – war der schwärzeste Tag im Leben meiner Familie. Eigentlich hatte mein Vater endlich mal einen ganzen Tag frei. Diesen wollte er mit seiner kleinen Familie an der Stepenitz – ein Fluss, der durch Perleberg fließt – im Hagen verbringen. Aber wie ich schon schrieb, geht das Leben manchmal seltsame Wege, gegen die man einfach machtlos ist. Ein Fliegerkamerad und Freund meines Vaters kam am Abend des 18. Mai zu uns und bat meinen Vater, ob er dessen Dienst am nächsten Tag übernehmen könne. Er wolle sich an diesem Tag verloben und alle Vorbereitungen seien bereits getroffen. Natürlich war es unter Kameraden Ehrensache, dass der eine für den anderen da war. Also übernahm mein Vater diesen Dienst für seinen Freund. Es sollte sein letzter Flug werden, denn das Flugzeug, in dem er saß, stürzte am Nachmittag um 15:45 Uhr über dem östlichen Flugplatzhangar von Perleberg ab. Zwei seiner Kameraden waren sofort tot, während mein Vater zunächst noch lebte. Mit dem Krankenwagen sollte er in das Krankenhaus in der Bergstraße in Perleberg gebracht werden. Unterwegs – etwa auf Höhe der Bäckerstraße – murmelte er immer wieder Mutters Kosenamen: „Mulle, Mulle“, bevor er noch während der Fahrt verstarb.
Eine Freundin meiner Mutter, die unmittelbar am Flughafen wohnte, hatte den Absturz beobachtet und insgeheim gedacht: Hoffentlich war das nicht der Fred – so nannten ihn seine Freunde.
Mein Vater Alfred May 1938
Mutter hatte mich auf dem Arm und war im Begriff, mir das Fläschchen zu geben, als es am Abend an der Tür klopfte. Als Oma Hertha öffnete, standen zwei Herren in Uniform vor ihr und wollten Fräulein Lange sprechen. Sie ließ die Herren eintreten, woraufhin die beiden meiner Mutter die unfassbare Nachricht mitteilten. Daraufhin fiel sie in Ohnmacht! Gott sei Dank gelang es Oma Hertha, mich aufzufangen, bevor ich auf den Fußboden stürzte.
Von diesem Moment an geriet das Leben meiner Mutter völlig aus den Fugen. Sie war kaum noch ansprechbar und beweinte Tag und Nacht den Verlust ihres Liebsten, der nur sechsundzwanzig Jahre alt geworden war. Mein Vater wurde mit allen Ehren auf dem Fliegerhorst verabschiedet und schließlich nach Dortmund überführt. Damit erfuhr seine Familie auch von meiner Existenz, denn die Schwester meines Vaters, Emmi May, war von Dortmund nach Perleberg gereist, um der Überführung beizuwohnen und die nötigen Formalitäten zu erledigen. Völlig überrascht registrierte sie, dass ihr Bruder eine Familie gegründet hatte. Sie blieb einige Tage in Perleberg und wohnte im Hotel Deutscher Kaiser. Nachdem Emmi alle Formalitäten im Fliegerhorst und mit meiner Familie erledigt hatte, kehrte sie nach Dortmund zurück, wo sie bei ihren Eltern lebte und in einer Bank arbeitete.
Mit der Zeit entwickelte sich ein Briefwechsel zwischen Emmi und meiner Mutter. Von den Eltern meines Vaters war allerdings nie die Rede und sie meldeten sich auch nicht. Hin und wieder bekam meine Mutter ein Päckchen mit Babybekleidung und einmal auch eine Käte-Kruse-Puppe für mich. Ob und inwieweit meine Großeltern daran beteiligt waren, konnte meine Mutter nicht in Erfahrung bringen. Nur dass der Vater offenbar nicht tot umgefallen war, als er erfuhr, dass sein Sohn einen tödlichen Unfall gehabt hatte. Aber ein Enkelkind hätte angeblich seinen Tod bedeutet.
Von der Versicherungssumme, die der Familie meines Vaters zugesprochen worden war, bekam ich als sein Kind 3000 Reichsmark, die für mich mündelsicher angelegt wurden, damit ich später in der Schule und während der Zeit meiner Ausbildung versorgt war.
Am 23. Juli 1939 wurde ich in der St. Jacobi Kirche am Großen Markt auf den Namen Doris Martha Lange getauft. Wie in meiner Taufurkunde zu lesen ist, waren Fräulein Emmi May und Frau Hertha Lange meine Taufpaten.
Meine Mutter arbeitete wieder bei der Firma Borchert, die in der Zwischenzeit auf dem Fliegerhorst ein weiteres Schreibwarengeschäft eröffnet hatte. Ich frage mich, wie Mutter an dem Ort arbeiten konnte, an dem mein Vater zu Tode gekommen war. Sie hatte ihn doch beweint und um ihn getrauert! Ich habe später nie mit ihr über dieses Thema gesprochen. Schließlich dauerte es nicht lange, und Mutter hatte sich wieder in einen Flieger verliebt. Sie schwebte auf Wolke sieben. Sein Name war Erich Manke und er war besessen von meiner Mutter – wie alle Männer, die sie kennenlernten. Er wurde am 11. Oktober 1919 in Leipzig geboren und war Angehöriger der Einheit 1. Staffel I Kampfgeschwader 30.
Mutters Stiefschwester Gerda, war Dienstmädchen bei einem bekannten Arzt in Perleberg. Er war verheiratet und dessen Familie gehörte zu den gut betuchten Leuten. Sie waren Inhaber einer großen Fleischerei. Im Alter von sechzehn Jahren wurde Gerda schwanger. Wie sich herausstellte, war sie von ihrem Arbeitgeber vergewaltigt worden. Um einen Skandal zu vermeiden, wurde der Familie Lange eine beträchtliche Summe Schweigegeld angeboten. So einigte man sich und damit war das Problem für den Arzt und dessen Familie aus der Welt geschafft worden. Niemand erfuhr, wer der Vater von Gerdas Kind war.
Inzwischen war es September geworden und der Krieg mit Polen hatte begonnen. Jetzt starteten die Flugzeuge tagsüber und auch nachts vom Fliegerhorst und der Fluglärm war laut Schilderungen meiner Familie kaum zu ertragen. Trotzdem vergnügten sich die Frauen auf den Tanzböden, als sei die Welt noch in bester Ordnung. Sogar aus der näheren Umgebung wie zum Beispiel aus Wittenberge und aus anderen Städtchen oder Dörfern kamen Frauen, um sich mit den schmucken Fliegern zu zeigen und sich mit ihnen zu amüsieren. Natürlich waren meine Mutter und ihre Freundinnen auch dabei. Erich Manke, Mutters neue Liebe, bat sie, sich mehr um mich zu kümmern und ihr Versprechen einzuhalten, auf das Tanzengehen zu verzichten. Er sei schließlich im Krieg und kämpfe jeden Tag um sein Leben. Ein Foto meiner Mutter hatte er in der Kanzel angebracht, sodass sie ihn auf diese Weise während seiner Einsätze im Krieg begleitete. Erichs Warnung, seine Kameraden würden es ihm schon berichten, wenn meine Mutter doch tanzen ginge, hatte sie leichtfertig hingenommen. Sie nahm überhaupt das ganze Leben leicht und tat stets das, wonach ihr der Sinn stand, und dazu gehörte es, sich zu amüsieren.
Als Erich von einem seiner Einsätze zurückkehrte, trafen sich beide wie gewohnt im Hotel „Prinz Heinrich“, das sich ganz in der Nähe vom Bahnhof befand. Er brachte Geschenke mit, unter anderem Nylonstrümpfe, die sich zu der Zeit kaum eine Frau leisten konnte. Dann kam es zwischen ihnen zu einer Aussprache. Erichs Kameraden hatten ihm nämlich berichtet, dass meine Mutter tatsächlich zum Tanzen ausging und sich mit anderen Männern vergnügte. Sie war im Hotel Stadt Magdeburg und nicht nur dort gesehen worden. Erichs Gedanken waren bei jedem seiner Einsätze bei ihr, und weil er oft in brenzligen Situationen ums nackte Überleben kämpfte, wünschte er sich eine Frau, auf die er sich verlassen konnte. Er erklärte meiner Mutter, sie sei deshalb nicht die Richtige für ihn. So endete wieder einmal eine ihrer Liebesgeschichten. Diese eine Nacht verbrachten die beiden noch gemeinsam im Hotel, und dann war Schluss. Davon erzählte mir meine Mutter Jahrzehnte später und sie bedauerte, damals einen großen Fehler gemacht zu haben. Im Alter von dreiundachtzig Jahren erkundigte sie sich beim Roten Kreuz nach Erich, um zu erfahren, ob er den Krieg überlebt hatte. In dem Schreiben, das ich besitze, wurde ihr mitgeteilt, dass „Herr Erich Manke geb. 11. Oktober 1919 in Leipzig-Mockau, in unseren Unterlagen als Verschollener des II. Weltkrieges verzeichnet ist. Er wird seit dem 26. Juli 1943 nach einem Feindflug gegen die Hafenanlage La Valletta/Malta vermisst. Er war zu diesem Zeitpunkt Angehöriger der Einheit 1. Staffel 1 Kampfgeschwader 30. Meldungen über den Verbleib oder Tod des sogenannten liegen nicht vor.“ Meine Mutter meinte daraufhin, dass Erich sich im Falle seines Überlebens bestimmt bei ihr gemeldet hätte.
Am 20. März 1940 erblickte Monika, die Tochter von meiner Mutters Stiefschwester Gerda, das Licht der Welt. Genau wie ich war sie ein ungewolltes und ungeliebtes Kind. Ich war inzwischen ein Jahr alt.
Im Jahr 1935, genau genommen am 26. Juni, wurde der Reichsarbeitsdienst erlassen. Das war eine Organisation im nationalsozialistischen Deutschen Reich, um dem Reich zu dienen. Im Jahr 1938 führten die Nazis das Pflichtjahr für Mädchen im Alter zwischen vierzehn und fünfundzwanzig Jahren ein. Damit traf dieses Gesetz jetzt auch auf die Frauen in und um Perleberg zu. Sie wurden arbeitsverpflichtet und mussten in Wittenberge in der Zellwolle, in der Ölmühle und in anderen Bereichen dem Deutschen Reiche dienen. In den Fabriken herrschten eine strenge Hierarchie und strenge Vorgaben, über die meine Mutter und ihre Stiefschwester Gerda hinwegsahen. Wenn sie in den frühen Morgenstunden vom Tanzen nach Hause kamen, hatten sie natürlich keine Lust, sich dem strengen Gesetz der Nazis zu unterwerfen, und blieben der Arbeit fern. Wie oft wurden sie von ihren Freundinnen und Vorgesetzten ermahnt, ihrer Arbeit nachzukommen. Vermutlich stieß auch das bei beiden auf taube Ohren. Die Nazis sahen sich das nicht länger an. Meine Mutter war dreiundzwanzig Jahre alt, Gerda achtzehn, als sie im August 1942 abgeholt und nach Potsdam gebracht wurden, wo man sie vorübergehend in Gewahrsam nahm. Von dort wurden die beiden einige Wochen lang tagtäglich mit dem Auto zur Arbeit nach Wittenberge gebracht, bis über sie ein Urteil gefällt wurde. Beide wurden aus politischen Gründen am 2. Dezember 1942 in das größte Frauenkonzentrationslager Ravensbrück interniert. Unterlagen, die ich während meiner Nachforschungen erhielt, belegen diesen Umstand. Ich denke, die Haftnummer und der Stern, den die beiden tragen mussten, sind nicht wichtig für meine Leser. Oma Hertha wurde verurteilt, weil sie ihrer Aufsichtspflicht als Mutter nicht nachgekommen war, außerdem beschuldigte man sie der Kuppelei. Dafür kam sie für einige Zeit ins Gefängnis. Opa Max befand sich in Holland und erfüllte dort als Arbeitsvermittler seine Pflicht. Was er in Holland unter „Pflicht“ verstand, konnte ich bis heute nicht in Erfahrung bringen. So wurde eine Familie aufgrund ihres leichtsinnigen Lebenswandels zerstört. Zu der Zeit war ich drei Jahre alt. Monika wurde nach Wittenberge in ein Heim gegeben und auch ich wurde von einem Tag auf den anderen aus meiner vertrauten Umgebung gerissen. Ich kam in das Kinderheim in Perleberg und fand mich zwischen vielen anderen Kindern und Frauen in schwarz-weißen Gewändern wieder. Auf ihren Köpfen trugen die Frauen eine Haube mit einer Schleppe. Sie waren sehr lieb zu mir und den anderen Kindern und sie trösteten uns, wenn wir weinten. Kein einziges vertrautes Gesicht war mir geblieben. Ich hatte von nun an keine Mutter und keine Großeltern mehr, stattdessen war da eine Nonne, zu der wir Kinder „Mütterchen“ sagten.
Zusammen mit den anderen Kindern bewohnte ich einen großen Raum. Abends weinte ich mich in den Schlaf und hatte seltsame Träume, die ich in dem jungen Alter nicht zu deuten wusste. Ständig war ich auf der Suche nach meiner vertrauten Umgebung, nach Gesichtern, die mir vermittelten, dass ich geliebt wurde, aber ich fand nichts von alledem. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an meine neue Umgebung, begriff aber noch lange nicht, was mit mir geschehen war.
Beim Frühstück saßen wir an einem langen Tisch und beteten jeden Morgen zu Gott, dass er seine schützende Hand über uns halten möge. Wer bereits singen konnte, sang mit den Nonnen. An manchen Tagen gingen wir mit Mütterchen und den anderen Nonnen auf den Markt, auf dem ein großer Mann aus Stein stand, der ein Schild und ein Schwert in der Hand hielt. Im Hagen, wo die Stepenitz fließt, tobten wir auf der Wiese und pflückten Butterblumen und Gänseblümchen, um daraus mit Mütterchens Unterstützung einen Blumenkranz zu flechten, den wir dann stolz auf unseren Köpfen trugen. Oder wir spielten auf dem Hof, wo wir mit Vergnügen schaukelten.
Als Weihnachten herangekommen war, beteten wir zu Gott und aßen gemeinsam zu Abend. Anschließend wurde das Zimmer geöffnet, in dem ein bunt geschmückter Weihnachtsbaum stand. Unsere Kinderaugen leuchteten, denn so etwas hatten wir bis zu dem Tag noch nie gesehen. Schließlich überreichte uns Mütterchen Geschenke. Ich bekam unter anderem einen kleinen Kochherd und ein paar Töpfe, mit denen ich richtig kochen konnte, wenn ich eine Kerze in den Herd stellte. Es gab selbstgebackene Kekse und Süßigkeiten, wie wir sie von den Nonnen nur selten bekamen. Das war natürlich das Schönste an Heiligabend für uns Kinder.
Dann wurde ich plötzlich sehr krank und sah die folgende Szene vor mir: Ich liege alleine in einem Zimmer. Ein Mann kommt zu mir und pikst mir mit einer Nadel in den Arm. Das tut so weh, dass ich mein ganzes Stimmenvolumen zum Einsatz bringe. Ich falle in einen tiefen Schlaf und habe wieder seltsame Träume. Viele Hände greifen nach mir; es sind dicke und dünne Männer, die mich aus meinem Bett zerren wollen. Ich wehre mich heftig und fange laut an zu schreien … Dann wachte ich auf.
Als Kind vergaß ich derartige Träume rasch, doch irgendwann holten sie mich wieder ein und ich sah immer neue Szenen: Ich stehe am Fenster und schaue nach draußen. Ich höre einen lauten Knall und sehe, wie ein Mann und sein Pferd plötzlich umfallen. Auf der Straße ist es sehr laut. Es wird geschossen und viele große Autos fahren an unserem Haus vorbei … Waren das alles tatsächlich nur Träume gewesen oder spiegelten diese Bilder die Realität wider? Seit meinem Einzug in das Kinderheim waren zweieinhalb Jahre vergangen und es wurde immer noch geschossen. Zahlreiche Bomben waren vom Himmel gefallen. Wir Kinder hatten große Angst, wenn Panzer durch unsere Stadt fuhren und zahlreiche Männer mit ihren Gewehren an die Häuser klopften. Menschen standen vor unserem Haus und gaben Befehle in einer Sprache, die wir nicht verstanden. Es waren böse Männer in Uniform und ihr Geschrei klang entsetzlich laut und wütend. Wir Kinder saßen im Keller und klammerten uns an Mütterchen und die anderen Nonnen. Die Frauen beruhigten uns und beteuerten, uns werde nichts passieren. Gott habe unsere Gebete erhört und die Männer seien unsere Befreier. „Der Krieg ist zu Ende“, erklärte Mütterchen. Wir Kinder konnten mit dem Wort „Krieg“ nichts anfangen. Nur dass es etwas Böses zu bedeuten hatte.
Der Krieg endete am 2. Mai 1945 und auf dem Kirchturm im Ort wurde durch Georg Müller die weiße Fahne gehisst. Es folgte eine kampflose Übergabe der Stadt Perleberg an die sowjetischen Truppen. Am 8. Mai 1945 wurde Rudolf Borsch als Bürgermeister eingesetzt, und zwar in Zusammenarbeit mit dem Kriegskommandanten Major Wasiljew. Für uns war der Krieg im Grunde noch nicht vorbei, weil die Russen in Perleberg mit ihren Panzern, Lastkraftwagen und Maschinengewehren Angst und Schrecken verbreiteten. Alles, was ihnen im Weg stand, walzten sie einfach nieder. Die deutsche Abwehr oder genau genommen das, was von ihr übrig war, flog immer noch über die Region, um sich dem Einmarsch zu widersetzen. Was natürlich zwecklos war, wir hatten den Krieg ja längst verloren.
Eines Tages kam Mütterchen zu mir und sagte: „Doris, dein Opa Max ist gekommen, um dich nach Hause zu holen. Ich sagte „Guten Tag“, machte einen Knicks und sah den Mann mit großen Augen an. Er erklärte, er sei mein Opa Max und wolle mich zu meiner Familie bringen, der Krieg sei vorbei. Ich kannte diesen Mann nicht und war entsprechend verunsichert. Mütterchen betonte noch einmal: „Doris, du musst mit ihm gehen, deine Familie wartet auf dich!“ Was war das – eine Familie? Ich kannte so etwas nicht. Wie sollte ich mich als Fünfjährige an das erinnern, was ich zwei Jahre zuvor im Alter von drei Jahren erlebt hatte? Ich hatte keinerlei Erinnerung an meine Vergangenheit, nur vage Erscheinungsbilder, die mich während der Nacht heimsuchten. Natürlich hatte ich große Angst und fing an zu weinen. In meiner Verzweiflung klammerte ich mich an Mütterchen. Der Mann, der mein Opa sein sollte, war nett zu mir. Er strich mir mit der Hand über den Kopf und zog an meinen langen blonden Zöpfen. Dabei lachte er mich mit seinen gütigen Augen freundlich an. „Komm, Doris“, sagte er, „wir müssen jetzt gehen, sie warten alle auf dich!“ Ich umarmte Mütterchen zum Abschied und die anderen Nonnen küssten und herzten mich ein letztes Mal. Die übrigen Kinder winkten mir zu und riefen auf Befehl: „Doris, auf Wiedersehen!“ Der fremde Mann hatte inzwischen meinen Koffer entgegengenommen und hielt meine kleine Hand ganz fest. Zögerlich lief ich neben ihm her und blickte zu ihm auf. Er war ein großer Mann!
Auf unserem kurzen Fußmarsch, der mich in mein neues Zuhause bringen sollte, sah ich mich um. Zahlreiche Häuser und Straßen waren von den Bomben zerstört worden. Ununterbrochen fuhren Lastwagen an uns vorbei, in denen Männer saßen, die lauthals sangen und lachten. Ich wollte von Opa Max wissen, wohin diese Autos mit den Männern fuhren und warum sie so fröhlich waren. Er erklärte mir, dass die Autos und die vielen Männer, die in Kolonnen marschierten, den Flugplatz besetzt hatten. Der hatte einst unseren deutschen Fliegern und Soldaten gehört und jetzt hatten die Russen ihn übernommen. Mit Opas Erläuterungen konnte ich natürlich nichts anfangen.
Wir waren vielleicht zehn Minuten gelaufen, da sagte Opa Max auf einmal, wir seien jetzt zu Hause. Wir befanden uns in einer kleinen Gasse und standen vor einem Haus, das größer war als das Kinderheim und zu dem eine große Toreinfahrt führte. Mein Zuhause befand sich also im Parterre des Hauses Nachtigallstraße 4, einem alten Gebäude mit Fensterklappen, wo ich tatsächlich bereits erwartet wurde. In den nächsten Stunden stürzte unendlich viel Neues auf mich ein. Fremde umarmten mich. Liebevolle Menschen küssten und streichelten mich. Sie sagten: „Du siehst aus wie dein Vater Fred. Er hatte ebenso blaue Augen wie du und sein Haar war genauso blond.“
„Wo ist mein Vater?“, wollte ich wissen.
„Doris, er ist nicht hier und er kommt auch nie wieder. Aber du bist noch zu klein, um das zu verstehen.“ Merkwürdig, eben war ich noch zu klein gewesen, und im nächsten Moment hieß es, ich sei groß geworden. Ich kannte diese Menschen nicht, keines ihrer Gesichter hatte ich jemals gesehen. Und alles, was sie zu mir sagten und was sie mir zu erklären versuchten, hatte für mich keine Bedeutung.
Dann sagte eine Frau zu mir: „Ich bin deine Oma Hertha, und das ist deine Tante Gerda.“ Ein kleines Mädchen, das mich mit großen braunen Augen ängstlich ansah, stellte sie mir als meine Cousine Monika vor. Ich ging zu der Kleinen, sagte guten Tag und nahm einfach ihre Hand. Da standen wir nun und sahen uns an: zwei Mädchen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Meine neue Oma zeigte mir ein Zimmer, in dem ich mit ihr und Opa Max in Zukunft das Bett teilen würde. Tante Gerda und Monika hatten ein eigenes Zimmer. Dann gab es noch ein drittes Zimmer, in dem Regale standen und Kisten mit Obst und Gemüse gelagert wurden. Ich fragte Oma Hertha, ob ich einen Apfel haben dürfe. „Natürlich darfst du dir einen Apfel nehmen!“, antwortete sie. Ich nahm mir einen aus der Kiste und Oma sagte, das seien Hasenköpfe. Ich drehte meinen Apfel hin und her, betrachtete ihn von allen Seiten und fragte, warum er „Hasenkopf“ heiße. „Weil er wie ein Hasenkopf aussieht“, bekam ich zur Antwort. Ich hatte noch nie einen Hasen gesehen und konnte Oma Hertha deshalb nicht folgen. Mit fragendem Blick sah ich sie an. „Schau mal, Doris, dieser Apfel ist nicht rund wie die anderen Äpfel in der Kiste.“ Sie nahm mir meinen Apfel aus der Hand und schüttelte ihn. „Hörst du, wie es in diesem Apfel klappert?“ Ich nickte und wollte wissen, warum es darin so klapperte. „Das sind die Kerne im Gehäuse. Erst wenn sie klappern, sind die Äpfel reif und wir können sie essen. Weißt du, meine Kleine, dein Opa Max hat einen sehr großen Garten. Da wachsen Gemüse, Kartoffeln und Johannisbeeren und es gibt viele Obstbäume. Aber das lernst du noch alles kennen.“ Sie erklärte mir, dass sie und die anderen meine richtige Familie seien. „Wir haben dich vermisst und lieben dich alle sehr.“ Als meine neue Oma mich ganz fest an sich drückte, schlang ich meine Arme um ihren Hals und hielt sie ebenfalls ganz fest.
In der großen Wohnküche, in der Tante Gerda das Mittagessen zubereitet hatte, befand sich auch die Toilette. Ich setzte mich brav an den großen Tisch, der bereits gedeckt war. Dann stellte Tante Gerda einen Topf auf den Tisch, in dem Grießsuppe war, dazu gab es trockenes Brot. Als alle Platz genommen hatten und die Teller bis zum Rand gefüllt waren, wünschte Opa Max uns einen guten Appetit. Ich hatte meine Hände gefaltet und wollte beten, wie ich es im Kinderheim gelernt hatte. Opa sah das und sagte: „Wir beten immer erst nach dem Essen.“
Während ich still dasaß und aß, redeten die anderen ohne Unterlass. So etwas hatte man uns im Kinderheim nicht erlaubt, weil es sich angeblich nicht gehörte, mit vollem Mund zu sprechen. Anstand und Sitte, das hatten uns die Nonnen beigebracht. Dennoch fand ich es, wie ich es in meinem neuen Zuhause erlebte, viel schöner. Ich konnte mit meiner Cousine und den Erwachsenen am Tisch sprechen und lachen, wie es mir gefiel. Ich weiß heute nicht mehr, was an meinem ersten Tag gesprochen wurde und worüber die anderen mich ausfragten. Aber eines weiß ich noch ganz genau: dass ich nämlich schon immer ein neugieriges Kind gewesen war und lange Ohren machte, wenn sich Erwachsene unterhielten.
Nach dem Essen kündigte Opa an, dass es an der Zeit sei zu beten. Ich faltete meine kleinen Hände, und alle sprachen nach, was Opa in seiner unnachahmlichen Art vorbetete: „Lieber Gott, wir danken dir, dass es uns wieder geschmackes hat. Amen!“