Liebe im Versteck der Seele - Gudbergur Bergsson - E-Book

Liebe im Versteck der Seele E-Book

Gudbergur Bergsson

4,8

  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Die Hauptakteure in diesem Werk sind zwei verheiratete Männer, die mit ihren Frauen in Reykjavik leben. Heimlich treffen sich die beiden regelmäßig zum Sex. Mit einem köstlich trockenen Humor erzählt der Autor von den Beziehungen zwischen Mann und Mann, sowie Mann und Frau, und spielt dabei mit den Stereotypen in der und über die isländische Gesellschaft. "Gudbergur Bergsson ist der stärkste Erzähler der Generation nach Halldór Laxness. Seine Sprache neigt zum Understatement und verbreitet gleichwohl einen intensiven Zauber" - Neue Zürcher ZeitungGudbergur Bergsson wurde 1932 geboren und ist ein isländischer Lehrer und Schriftsteller. Er lebte viele Jahre in Spanien. Sein erstes Buch erschien 1966. Seitdem veröffentliche Bergsson mehr als 20 Novellen, Kinderbücher, Autobiographien und mehr. Zudem schrieb er Artikel über Literatur und Kunst für Zeitungen und Magazine.-

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Gudbergur Bergsson

Liebe im Versteck der Seele

SAGA Egmont

Liebe im Versteck der Seele

Aus dem Isländischem von Hans Brückner nach

Sú kvalda ást sem hugarfylgsnin geyma

Copyright © 2000, 2017 Gudbergur Bergsson og Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711586297

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Dieses Buch ist Gott gewidmet

Jedes Ereignis in dieser Geschichte ist auf irgendeine Weise real, und alles, was hier niedergeschrieben steht, hat sich irgendwann in mehrfacher Bedeutung ereignet. Wenn daher jemand meint, er erkenne sich in diesem Werk wieder, so ist dies mehr als nur richtig, der Autor hat ihn zweifellos als Vorbild benutzt. Nun ist es nicht unwahrscheinlich, daß das Vorbild meint, es habe ein ausschließliches Recht an sich selbst, und sich dazu veranlaßt sieht, einen Prozeß anzustrengen, und ihn dafür verurteilen lassen will, aber dann soll es bedenken, daß Worte, die gesagt oder geschrieben worden sind, selbst wenn es nur einmal gewesen ist, niemals zurückgenommen werden, und schon gar nicht durch ein Gerichtsurteil oder den Buchstaben des Gesetzes.

Tagebücher

16. Oktober 1993

… Es hat mich eine ziemliche Zeit gekostet, ein geeignetes Zimmer zu finden, in dem wir uns treffen konnten, ohne daß es auffiel, denn es mußte in einem Keller sein, so daß man direkt von der Straße aus hineingehen konnte. Es mußte so aussehen, als käme man zufällig auf dem Gehsteig daher, und dann konnte man einfach auf dem Absatz kehrtmachen und verschwinden, als ob einen die Erde verschluckt hätte. Niemand sonst durfte dort wohnen, die Leute in Kellern haben kein Verständnis, sondern nur Neugier für die Situation derer übrig, die unter den gleichen Umständen wohnen wie sie selbst, und sie verachten sie innerlich, weil sie es im Leben nicht zu etwas gebracht und ein Haus erworben haben. Solche Leute haben die Angewohnheit, auf jedes Geräusch zu hören, doch sie lassen andere nicht dafür bezahlen, wenn sie über irgendeine Unstimmigkeit stolpern, Diebstahl oder Schwarzbrennerei, Prostitution, Ehebruch oder Schmuggelei. Das hat nichts mit Toleranz zu tun, sondern sie denken, daß sie, wenn sie nur das geringste Zeichen von Verachtung oder Einmischung zeigen, Gefahr liefen, ganz andere Sachen nicht mitzukriegen, etwas viel Übleres, denn bei solch armen Schluckern kann es noch viel schlimmer kommen. In dieser Hinsicht sind sie verständnisvoller als gesunde und anständige Leute. Man könnte glauben, Kellerbewohner seien die letzten Nachfahren der Höhlenbewohner, die Kontakt mit guten und schlechten Erdgeistern hatten, bevor wir zivilisiert wurden und einen sogenannten Menschengeist bekamen. Es sind nicht nur schlechte äußere Umstände, die einen in ein düsteres Loch treiben, um dort zu hausen, es trifft auch eine ganz spezielle Sorte Menschen mit den Wohnungen, die entweder in Kellern oder zu ebener Erde liegen.

Ich kannte das aus eigener Erfahrung und habe in meiner Schulzeit damit Bekanntschaft gemacht, als ich als Fremder in die Stadt kam. Da wohnte ich in Kellern zur Miete, nicht nur, weil ich wenig Geld zur Verfügung hatte und die Miete billig war, sondern auch, weil ich fast noch ein Erdbewohner im wahrsten Sinne des Wortes war. Seitdem hatte ich immer Sympathie für Kellerleute empfunden, und ich sah mich als ihnen in der Seele verwandt an, obwohl ich mich langsam, aber stetig in der Gesellschaft hochgearbeitet habe, die ich in meinem Herzen verachte, besonders die Ornamente auf ihrer leicht gekräuselten Oberfläche. Dennoch habe ich das gegründet, was man ein trautes Heim nennt, mit großen, hellen und stilvollen Räumen, vier Schlafzimmern und einer perfekt eingerichteten Küche. Das stimmt nicht ganz – keiner kommt im Leben nur aus eigener Kraft voran –, in meinem Fall sind es die Kontakte zu einem Jugendfreund und seinem Wohlstand oder seinem unglücklichen Schicksal, die mein finanzielles Wohlergehen oder Unheil bewirkt haben. So ist alles zu einem Ganzen verflochten, und daher kann es im Leben der Menschen gemeinsam zugrunde gehen.

Als ich nach einem geeigneten Ort suchte, hatte ich das Gefühl, daß ich beinahe jedes Kellerloch in der Stadt besichtigt und mir keines gefallen hätte. Zuletzt beschloß ich, eine Anzeige wegen einem geräumigen Abstellraum in einem Keller aufzugeben, in der Vorstellung, daß sich doch irgendwo eine alte wohlhabende Witwe verbergen müsse, die nicht mehr gut sah und die beschlossen hatte, das frühere Spielzimmer der Kinder neben der Waschküche, das lange leergestanden hatte, zu vermieten. Anscheinend war mein Bewußtsein zu jener guten Frau geschweift, die seinerzeit an mich vermietet hatte: eine halbblinde Witwe, desinteressiert an ihrem eigenen Aussehen, die nach altem Essen roch, aber eine warme Art hatte und verständnisvoll war, wie solche Frauen eben sein können. Aufgrund sinnloser Prüfungen in der Ehe, des Unglücks ihrer Kinder und der Blindheit der Augen sind sie über Vorurteile erhaben und lieben das Leben aus Gleichgültigkeit, aber nicht, weil sie selbst etwas davon verlangen, ganz im Gegenteil, sie haben schon lange aufgehört, sich etwas vom Dasein zu erwarten, und möchten, daß die, die jünger sind, dieses Leben genießen, das seinem Wesen nach nichts ist, wenn man vom Wesen von etwas sprechen kann, das an und für sich nichts ist, aber zur eigenen Erfüllung unendlich viel von anderen annehmen und so für den Menschen wünschenswert werden kann.

Nachdem ich zweimal in den Zeitungen annonciert hatte, bekam ich ein schriftliches Angebot. Als ich in das Haus kam, sah mich die alte Frau belustigt und mißtrauisch an und schien nicht ganz zu glauben oder erfreut darüber zu sein, daß ich eine Abstellkammer suchte; sie fragte:

Brauchst du nicht viel eher eine kleine Wohnung für deine Zwecke? Jetzt ist es leicht, eine zu kriegen. Das macht die schlechte Zeit, die in unserem Verständnis keine schlechte Zeit ist, weil wir die schlechte Zeit gekannt haben, und hoffentlich bist du nicht wie der junge Mann, dem ich einmal letztes Jahr vermietet habe.

Wie war er? fragte ich, um etwas zu dieser gutmütigen Frau zu sagen, die mir im selben Moment, als ich sie vor mir stehen sah, prima gefallen hatte, etwas beleibt und ständig unbewußt mit den Daumen den Rock an den Seiten glattstreichend.

Nein, ich rede dummes Zeug, sagte sie und schien sich zu besinnen. Das war nicht jetzt, sondern zu der Zeit, als es fast keine Möglichkeit gab, eine Wohnung zu bekommen, selbst wenn man eine Menge Geld dafür bot. Er nahm das Zimmer hier im Keller, doch sein Zuhause stellte er sich auf seine ganz eigene Weise vor, die etwas speziell war, weil er die Küche im einen Stadtteil mietete, das Schlafzimmer in einem anderen, und den Gang bekam er im Zentrum.

Sie machte eine Pause, um Atem zu holen, denn sie war kurzatmig.

Kannst du dir ein solches Arrangement vorstellen? fragte sie.

Ja, antwortete ich und versuchte aus dem Labyrinth, das dieser Mensch offensichtlich konstruiert hatte, schlau zu werden, und ich war davon überzeugt, daß seine Bauweise etwas Besonderes bedeutete, sogar für mein Leben und für mich selbst.

Ich hingegen war etwas befremdet, fuhr die Frau fort, und fragte wegen dieser Lebensweise nach, und da sagte er: »Ich puzzle mir das Zuhause auf isländische Art und Weise zusammen; alles ist zu einem unlösbaren Knoten geworden, aber es ist an seinem Platz, und obwohl kein einziges Stück halbwegs zum andern paßt, so hält es vielleicht trotzdem irgendwie zusammen.« So war seine Situation. Alles war vorhanden, aber nichts paßte zusammen, weil jedes Teil ganz für sich war.

Die alte Frau lachte das tiefe Lachen der Kettenraucherin, und es endete mit einem komischen Knurren und dem Verlangen nach Tabak, den sie sich vorenthalten hatte, solange sie sprach. Sie war erheitert, nicht von dem, was sie sagte, sondern wahrscheinlich von einer ähnlichen Erinnerung aus ihrem eigenen Leben innerhalb dieser vier Wände, die sie mir vermietete.

Hoffentlich hat er trotzdem selbst irgendwie zu seiner fragmentarischen Lebensweise gepaßt, sagte ich und versuchte, mich gut, doch nicht zu gut auszudrücken.

Da antwortete sie und sagte geheimnisvoll:

Man darf nie etwas buchstäblich nehmen. Manche Leute leben ohne Zusammenhalt, und ihr Leben paßt sich daran an. Doch das kann ein ausgezeichnetes Leben sein. Und damit du es weißt, ich fand dabei die Methode des jungen Mannes gut, wie er die Zeit, die vergeht, mit der Zeit verband, die in unserem Zusammenleben mit anderen gewöhnlich zum Stehen gekommen ist und in Scherben in einer Küche liegt, vielleicht in einem Schlafzimmer, in einem Bad, in einem Gang oder an den unmöglichsten Orten.

Ja, sagte ich. Die Ehe war vielleicht etwas ausgeleiert und ohne Zusammenhalt.

Das kann man wohl sagen, stimmte sie zu. Er betrog natürlich seine Frau und gab zu, daß das Schwierigste gewesen sei, dem Alten, der ihm den Gang vermietete, klarzumachen, daß er einen Gang mieten wolle, der nicht zu einer Wohnung führe. »In was für einem vernünftigen Haus sind die Gänge so?« rief der Alte wütend, wie ratlose alte Leute es tun. Der junge Mann erklärte ihm daher, daß das Heim, das er gegründet hatte, in Trümmern lag, und es deshalb logisch wäre, daß er eine Wohnung mietete, die in Stücken über die ganze Stadt verstreut war. Da beruhigte sich der Alte und begriff den Stand der Dinge, und der Junge bekam den Gang, aber ich sagte: »Die Frauen, die dir das Schlafzimmer vermieten wollten, haben dieselben gewichtigen Argumente nicht verstanden, mein Lieber.« Darauf antwortete er: »Es ist ihr gutes Recht, nur das zu verstehen, was ihnen gerade paßt.«

Und was hast du gesagt? fragte ich.

Ich sagte nur: »Ach so, und wo soll dann deine Frau bei einer so seltsamen Lebensweise bleiben, soll sie dich kreuz und quer durch die ganze Stadt verfolgen?«

Nein, antwortete er, wir haben Trennung von Tisch und Bett, doch wir wohnen zusammen, jeder auf seine Weise, so daß sich die Mietverhältnisse danach zu richten haben. Wenn ich im Bad in dem einen Stadtteil bin, ist sie in der Küche im anderen und dann im Schlafzimmer, während ich in dem Zimmer bin, das du mir hier im Keller vermieten würdest. Andererseits begegnen wir uns mit unseren Herzen in der Stadtmitte in dem Gang, der zu keiner Wohnung führt, falls wir uns überhaupt begegnen, aus Furcht vor dem Alten, der an uns vermietet und den Gang benutzt, um dort herumzulaufen, furchtbar wütend darüber, wie schlecht man wieder das Erste Programm im Radio empfängt.

Sie seufzte geistesabwesend, rührte sich etwas und sagte:

Daran kannst du sehen, daß dieses Zimmer in mancher Beziehung viel Glück bringt. Ständig kamen Leute zu ihm.

Hoffentlich wird es bei mir genauso sein, aber nicht in derselben Beziehung, sagte ich.

Im selben Moment öffnete sie die Tür zum Zimmer und führte mich in ein kleines Bad mit Klo, und dann öffnete sie eine andere Tür, die zu einer Küchenzeile führte, und sie fügte mit einem leisen Schnalzen hinzu:

Du bekommst beide Türen dazu. Hier kannst du tun und lassen, was du willst. Ich bin sowieso schon halbblind, so daß ich nichts sehe, und dann bin ich auch noch mehr als taub, so daß ich nichts höre außer dem, was man mir direkt in die Ohren schwatzt.

Zum Beweis dafür sah sie mich an und sperrte die leeren Augen auf, ohne zu sehen oder sich über irgend etwas zu vergewissern, und schnalzte ein paarmal mit den Lippen und fügte hinzu:

In einem gewissen Alter wollen alle Männer das Leben genießen, und oft ist es höchste Zeit für sie; du bist in diesem Alter. Mein Mann dagegen war viel zu normal und anständig, daß er in seinen Sehnsüchten und Phantasien weiter gekommen wäre, als das Kabuff hier einzurichten, um es ganz für sich zu haben, wenn er miese Laune hatte und beleidigt war. Er hatte sein ganz privates Mieselaune-Zimmer, bis zu seinem Tod, ich aber setzte da nie einen Fuß hinein und vermiete es an andere Leute, die einen ähnlichen Zufluchtsort brauchen. Was wolltest du noch mal damit machen?

Ich sagte, daß ich daran gedacht hätte, es zum Schreiben oder zum Meditieren zu benutzen.

Ja, das ist eine gescheite und moderne Beschäftigung, sagte sie. Jetzt sehe ich, daß du eine Menge Kraftpunkte hast.

Übrigens bin ich Lehrer, sagte ich.

Sie sagte »Ja«, und ich dachte, daß sie noch hinzufügen wollte: »Das ist gescheit, weil die Lehrer eine Unzahl Kraftpunkte haben«, doch sie wurde plötzlich geistesabwesend und schien das Interesse ebenso verloren zu haben wie jemand, der sicher zu sein meint, daß er den anderen kein Wort mehr zu glauben braucht, alles ist unwahr, und er weiß es besser.

Im Benehmen der alten Frau war eher der Stil einer vergangenen Zeit als der Formbruch und die Gekünsteltheit der heutigen Zeit, die durch ihr ständiges Hin und Her jede Art von Zeit tilgt. Später sollte sich noch heraussteilen, daß sie niemals, weder zu Zeiten noch zu Unzeiten, im Keller herumschnüffelte, obwohl sie natürlich manchmal herunterkam, um in irgendwelche Schachteln zu schauen. So wird es auf der Erde bleiben, solange es Schachteln mit Krimskrams und alte Leute gibt. Ich sollte noch erfahren, wie gut es sein kann, sich zu lieben, während alte Frauen gerade auf der anderen Seite der Wand des Genießens nach altem Kram schauen oder darin herumsuchen, es ist, als ob man liebenswürdig gegen die weibliche Natur sündigte und sich gegen die Autoritäten auflehnte. Die alten Frauen wissen undeutlich, was auf der anderen Seite der Trennwand los ist, sie bekommen es durch den Instinkt mit und freuen sich, daß man sich endlich den Pflichten verweigert. Deshalb ist es wunderbar, mit Unterstützung der alten Weiber in solche gleichermaßen seltenen und schwierigen Situationen zu kommen.

Ich spürte, daß sie am liebsten wollte, daß ich meine Frau in einen tiefen Brunnen hinunterwarf, und sie mir und meinem Kumpan beim Liebesspiel am Brunnenrand zusehen durfte, während ich mich über den Brunnen beugte und so tat, als ob ich sie aus dem Wasser retten würde. Ich dachte bei mir: »Die Alte hätte gerne, daß meine Frau glaubt, meine Schreie wären Angstschreie, weil sie im kalten Wasser ist, daß ich Angst habe, sie würde aufgeben zu strampeln und ertrinken, doch die Alte amüsiert sich, und trotz ihrer Blindheit und Taubheit sieht und hört sie, daß die Schreie durch etwas anderes ausgelöst werden. Ich ertränke die Sorgen, während ich die Ehefrau ertränke. Das amüsiert die Alte. Doch ich bin kein Mörder, außer vielleicht ein theoretischer Mörder, sondern ein Mensch, der seine Pflichten nach festen Regeln erfüllt, obwohl ich sie umgehe und mich im Sonnensystem der Sittlichkeit nicht ganz auf der rechten Bahn halten kann.«

Gesegnet sei die Natur, die ihr Sonnensystem vergißt, sagt die Alte zum Schluß.

Wenn ich der armen Alten, die an mich vermietet, über den Weg laufe, tut sie, als ob sie mich nicht sieht, und erwidert nichts, wenn ich sie grüße. Andererseits nimmt sie am Letzten jeden Monats die Miete entgegen, entschieden, aber uninteressiert. Ich habe jedesmal Angst davor und denke, daß sie mir die Leviten liest oder mir kündigt, was sie nie tut. Trotzdem schlägt mein Herz heftig, wenn ich anklopfe und sie anscheinend schon gespannt auf die Bezahlung gewartet hat, doch sie öffnet die Tür nie mehr als gerade nötig, so daß sie einen Arm durch den Spalt stecken und das Geld entgegennehmen kann. Dann reicht sie mir die Quittung, die sie bereithält, und schlägt unter beträchtlichem Lärm die Tür zu.

Dann hallt der Knall im Takt des Herzschlags und eines fürchterlichen Schuldgefühls wider, doch das Verwunderlichste und Schlimmste dabei ist, daß trotz des Knalls – oder vielleicht gerade deswegen – in mir ein fast unwiderstehliches Verlangen erwacht, der Alten die Wahrheit zu sagen und um Trost oder Verständnis zu betteln, obwohl ich weiß, daß es in solchen Dingen nicht möglich ist, von anderen Trost oder Verständnis zu bekommen. Jeder Mensch muß mit seinen Gefühlen leben, das Leben leben, das er sich gewählt hat, und den Attacken, die eher von innen her gegen ihn und seine Zweifel erfolgen als von der Umgebung, zum Opfer fallen, falls es so kommen sollte, oder ihnen standhalten, denn es gibt kaum etwas so Schwächliches, daß es nicht die Attacken von etwas anderem als sich selbst abwehrt.

Zunächst war am auffälligsten, wie schrecklich die Stille im Haus war. Als ich versuchte herauszufinden, ob die Alte mich ausspionierte, und ich still dasaß und kaum zu atmen wagte, dachte ich, das Haus würde unter der Last der Stille zusammenbrechen und über mir einstürzen, bersten, nur um die Stille im Haus und die Unruhe in meiner Brust zu zerreißen. Ich konnte kaum atmen vor erstickender Ruhe und dachte:

Was wohl die Alte gerade oben bei sich treibt? Womit kann sich eine einsame alte Frau den ganzen Tag lang im Erdgeschoß und unter dem Dach so ganz allein beschäftigen?

Je länger ich dort zur Miete wohnte, desto mehr hatte ich Angst davor, daß sie sterben könnte, und ich dachte, daß sie vielleicht mausetot oben bei sich auf dem Fußboden lag, während wir in dem Zimmer unter ihrem Schlafzimmer gerade zugange waren. Aufgrund einer Art primitiver Furcht aus der Urzeit glaubt man, daß die Liebe mit Schicksalsschlägen, Schrecken oder dem Tod verbunden sein muß, oder zumindest mit schlimmen Nachrichten. Ich weiß, daß das ein Aberglaube ist, und ich erkenne ihn an mir selbst, doch es ist egal, wie sehr ich auch versuche, Verstand und Vernunft walten zu lassen, ich weiß, daß die Liebe mit dem Tod verbunden ist und daß wir (wahrscheinlich ich) früher oder später das Leben opfern müssen, vielleicht nicht für sie, sondern wegen ihr.

Natürlich bin ich darauf gefaßt, daß einer von uns oder wir beide Aids bekommen müssen, die Krankheit paßt wie die Faust aufs Auge des Aberglaubens, daß die Leidenschaft und die Liebe untrennbar mit einer Tragödie verbunden sind. Seitdem man die Krankheit zum ersten Mal diagnostiziert hat, war sie in den Augen des Christenmenschen die Strafe dafür, daß eine bestimmte verdorbene und gottlose Sorte Menschen die Liebe und das Bedürfnis nach körperlicher Nähe zu Intimität machte, die ihrem eigenen Zweck diente, die Liebe war Genießen und die Nähe an und für sich. Diese besondere Sorte im voraus verurteilter Menschen befreite sich mit ihrem Verhalten aus den Fesseln des gängigen Denkens und suchte eine Abreaktion und Befriedigung nur im Fleisch um des Fleisches willen, und obendrein beim eigenen Geschlecht.

Die Krankheit, das lodernde Schwert, kam deshalb in die Welt, geschickt von Gott, der einen speziellen Strafvirus erschuf, um den Körper des Verdorbenen mit einem schrecklichen Tod zu belegen, weil er die Liebe nicht auf gesunde Art in einer Ehe nach christlichen Regeln genoß, die Vermehrung der Menschen aus dem Mutterleib im Sinn und die Bevölkerung der Erde. Die Seuche entstand, weil Jemand wider das Heiligtum der Frau gelästert hatte, welches der Ursprung des Lebens ist, und dieser selbe jemand begehrte wohl niedrigere und dunklere Schluchten oder Öffnungen am Körper, wo kein Licht aus der Dunkelheit geboren wird und der Samen ausgesetzt wird, bevor durch Zeugung die Kinder entstehen, wie bei primitiven Leuten.

Dennoch mußte es an den Tag kommen, daß das Leben mechanisch und seelenlos ist, die Krankheit war nicht das Resultat des Wunschdenkens des Glaubens im Herzen christlicher Männer und Frauen, sondern sie war immun gegen Trauer und drang in alle Öffnungen und in jede Art von Blut ein, vornehm oder niedrig, blau oder rot, sie nahm ihren Weg, nichts verpflichtet außer ihren eigenen Gesetzen, und sie war nicht als Strafe für Verbrechen gegen die Gebote Gottes und seine Zeugungslöcher gekommen. Sie war allein gegen alle, auf dieselbe Art wie jeder andere Tod auch.

Ich habe Kinder gezeugt, aber nichtsdestoweniger erwachte in mir das komische Verlangen danach, an dem teuflischen Virus zu sterben. Es ist es durchaus wert, daß man auf eine besondere Weise für die Wahrheit von Seele und Körper stirbt. Es verschafft einem ein Gefühl der Versöhnung, heute wie damals, zur Zeit der großen Erleuchtung, als überzeugte Menschen für eine Idee sterben wollten, sterben für ihre Ansichten, das Leben für den Glauben lassen oder etwas anderes, das dem Menschen nahesteht, wie zum Bespiel sich für den Vater zu opfern, Mutter, Frau oder Kinder, Gott oder die Gesellschaft: für die ganze Welt, auf dieselbe Weise wie der Erlöser es getan hat; die Kunst, ihm nachzufolgen, ist zu den Tugenden gezählt worden. Doch Aidskranke werden kaum von irgend jemand zu den Heiligen gerechnet, sich zu lieben und deshalb an einer realen und fürchterlichen Krankheit zu sterben hat nichts mit Philosophie oder Ökonomie oder Göttern zu tun, sondern mit einem unklaren und unberechenbaren Verlangen, von dem christliche Menschen behaupten, daß es pervers sei, denn es stirbt an sich selbst, sowie es befriedigt worden ist.

Damals wußte ich noch nicht, daß es einmal ans Licht käme, daß nach wissenschaftlichen Untersuchungen alle Menschen, gute oder schlechte, gerechte oder ungerechte, ebenso wehrlos und anfällig für diese Krankheit sind wie auch für andere, weil Krankheiten kaum einen Unterschied zwischen den Menschen machen, sie haben keine Moral, Vernunft oder Logik wie gebildete Menschen, und sie haben keinen Gott, und sie bekennen sich zu keinem Gesetz und keiner wahren Religion.

So dachte ich in dem Zimmer.

Als ich einen Telefonanschluß bekommen hatte und fand, daß nun alles fertig und bereit sei, daß mein Gefährte anrufen könnte, wann immer er wollte, da rief er vor ein paar Wochen an und sagte:

Jetzt komme ich dir nicht mehr nahe, bis du einen Aidstest gemacht hast und ein Attest vom Arzt vorzeigen kannst, daß du nicht infiziert bist.

Ich betrachtete das als Beleidigung, meinen Überlegungen zum Trotz und dem Bedürfnis nach heiligen Martyrien, und ich fühlte mich, als ob mir jemand eine Ohrfeige verpaßt hätte, und ich sagte:

Soweit gehe ich dir zuliebe nicht; das tue ich nie, lieber krepiere ich.

Na, das war’s dann wohl und tschüß, sagte er.

Also ging ich zur Untersuchung und wedelte mit dem Attest in seinem Gesicht herum. Er strahlte vor Zufriedenheit und wurde ganz stolz.

Tja, was man sich nicht alles traut, quietschte er vor Vergnügen. Was steht im Attest?

Daß ich serenpositiv bin, antwortete ich.

Was bedeutet das?

Ich habe positives Blut, antwortete ich.

Du bist immer positiv mir gegenüber gewesen, sagte er vergnügt.

Ja, sagte ich. Ich habe ein positives Leben gelebt.

In meinem ist auch alles positiv, sagte er und wurde noch vergnügter.

Gut, sagte ich.

Ja, was man sich nicht alles traut, quietschte er wieder.

Ich war es, der sich getraut hat, sagte ich mit Nachdruck. Und ich traue mich auch für meine Wesensart und meine Krankheit zu sterben.

Spar dir bloß deine Heldendarstellungen, sagte er kurz und drohend. Ich war es, der die Idee hatte, weil ich dachte, daß ich Aids von du weißt schon bekommen und dich angesteckt hätte.

Manchmal betrachtete er das Attest und war so begeistert, daß er vergaß, weshalb er gekommen war.

Was würde passieren, wenn etwas anderes dastehen würde und du mit Aids infiziert wärst? fragte er und antwortete sich sofort selbst: Natürlich würde meine Frau alles herauskriegen, und ich wäre ebenfalls dem Tod geweiht.

Man ist nicht nur hierin dem Tod geweiht, sondern in allem, seit wir geboren sind, sagte ich kalt und barsch.

Er hörte dieser Wahrheit nicht einmal zu und wiederholte ständig dieselben Worte:

Verdammt, wie kalt man sein kann; ich habe es gewagt, dich hinzuschicken!

Was würde passieren, wenn ich Aids hätte und es von dir bekommen hätte? fragte ich und versuchte, die Fassung zu bewahren.

Ich müßte Selbstmord begehen, bevor es alle mitbekommen haben, wie dein Jugendfreund es gemacht hat. Der war kaltschnäuzig.

Wie denn? fragte ich, und mir gefiel diese Art von Gespräch nicht.

Das ist ja wohl klar, daß es am mutigsten überhaupt ist, wenn man sich umbringt, antwortete er.

Ich verstand nicht, was daran mutig sein sollte, sich das Leben zu nehmen, bis er sagte:

Sich selber umzubringen ist mutiger, als andere umzubringen, weil man so gleichzeitig die ganze Welt für sich umbringt.

Warum? fragte ich und sah ihn an, wich dabei aber irgendwie aus, gefühlsmäßig betrachtet.

Natürlich deshalb, weil man dann den Schmerz selbst spürt, antwortete er, verwundert über meine Einfalt. Wenn man einen anderen umbringt, spürt keiner den Schmerz, außer dem, der umgebracht wird.

Ich hatte nie an unser ständiges Spiel gedacht und an das Vergnügen, das darin besteht, den Schmerz herauszufordern.

Einmal, als mein Gefährte kam und begeistert mit dem Aidstest dasaß, schien ihm ein Licht aufzugehen, und er sagte halb verwundert:

Das Kondom ist dann also für die Menschheit die größte Hoffnung auf Leben geworden!

Er fing an, schallend über seine Entdeckung zu lachen.

Ja, es ist Lebensspender und Mörder zugleich, sagte ich kurz.

Nein, das gibt es nicht, das widerspricht sich, protestierte er. Wie soll das gehen?

Der, der ihn überzieht, bleibt am Leben, das, was reingeht, stirbt und wird nie ein Mensch, sagte ich.

Ach so siehst du das, sagte er erstaunt und fügte hinzu:

Ich habe mir nie den Kopf darüber zerbrochen, wie es war, als ich tot war, bevor ich geboren wurde, aber meine Frau sagt oft:

Wenn jemand für die Menschheit gestorben ist, dann nicht Jesus Christus, sondern die Ratten, die benutzt werden, um in den Labors Medikamente auszuprobieren, damit wir Kranke geheilt werden können. Die sterben ganz sicher für die Menschheit. Und es ist eigentlich viel interessanter und rätselhafter, wie es war, tot zu sein, bevor man zur Welt kam, als zu wissen, wohin man geht, wenn man sie wieder verläßt.

Man fährt natürlich mit dem Körper ins Grab, doch die Seele fliegt zu Gott, sage ich dann, sagte er.

In welchem Grab waren wir vor der Geburt begraben und bei welchem Gott? fragt sie zurück.

Und was sagst du, wenn sie das sagt? fragte ich.

Ich versuche mir weder die Zukunft noch die Vergangenheit vorzustellen, wo wir waren oder sein werden, ich will nur, was mir zusteht, antwortete er.

Mir gefiel nicht, wie er mich ansah.

Nach solchen Gesprächen kriege ich immer, was mir zusteht, sagte er triumphierend. Auch wenn wir manchmal bis spät in die Nacht herumdiskutieren oder bis einen der Geist völlig verlassen hat; dann kommt statt dessen nur das Verlangen.

Wo der Geist aufhört, beginnt die Leidenschaft, sagte ich.

Erstes Tagebuch

13/10 1988

Ich war nachmittags zur festgesetzten Zeit im Bett, weil er vorhatte, sich zwischen eins und zwei »blicken zu lassen«. Ich hatte ein Bad genommen, damit ich sauber war und er mich eine Weile mit heiliger Unsauberkeit beschmutzen konnte, mich mit Leidenschaft verunreinigen, mich in seiner Gischt wälzen, meine Liebe mit dem verwöhnen, was von seiner Seite sicher nur Lust ist, doch bei mir so etwas wie gequälte und klare Liebe.

Ich finde, daß der Körper besser zum Liebesakt taugt, wenn er nicht frischgewaschen dazukommt, sondern nachdem er seine Salze auf der Haut wieder bekommen hat und nicht mehr unnatürlich sauber nach Seife oder Parfüm riecht. Das gilt zumindest für Männer. Es ist etwas anderes, wenn ich mit meiner Frau schlafe: Sie ist am besten, wenn sie direkt aus einem gerade angenehm warmen Bad kommt. Ich muß eine kalte Dusche nehmen oder nackt auf dem Fußboden herumlaufen, bevor ich ihr nahekommen darf, denn wie sagt sie immer:

Klare Gegensätze, hierin wie in anderen Dingen, sind am besten.

Ich habe nie die neue Frau meines Freundes gesehen, doch wahrscheinlich ist sie übertrieben reinlich, denn er geht sorgfältig mit seinen Sekreten um, fast auf weibliche Art und Weise, obwohl er ansonsten natürlich rauh im Umgang mit dem Fleisch ist. In bezug auf die äußere Sauberkeit muß ich ihm mit genügend Bädern und Waschen entgegenkommen. Am Telefon sagt er immer, wenn er sein Kommen ankündigt:

Du mußt gebadet haben und fertig sein, wenn ich mich blicken lasse.

Ich möchte, daß der Körper bei der Liebe seinen natürlichen Geruch behält. Ich mag ihn am liebsten, wenn er gerade von der Arbeit gekommen ist und nach Anstrengung duftet und etwas müde ist und bei der Liebe Erholung suchen muß.

Ich hatte zu Mittag gegessen und den Körper darauf vorbereitet, daß wir gegenseitig unser Fleisch verschlingen konnten, unter Schweigen, das von vereinzelten, dürftigen Worten unterbrochen wird, die immer die gleichen sind und dennoch inmitten aller Heftigkeit genauso wirkungsvoll wie zu Beginn, hinterher jedoch problematisch werden und in Gedanken kurios klingen, so daß man sich fast schämt und sich darüber wundert, daß so leere und banale Worte am richtigen Ort und zur richtigen Zeit wahr scheinen und einem Freude bereiten können.

Gerade als ich fertig war, rief er wieder an und sagte mit tiefer, heiserer und ängstlicher Stimme, daß er mich nicht treffen könne. Seine Frau war unten in der Waschküche und konnte ihn jeden Moment überraschen, so daß er so schnell wie möglich zum Telefon gegriffen hatte, und das Gespräch wurde kurz und abrupt.

Irgendwie habe ich das Gefühl, daß seine Frau abends ziemlich oft im Keller ist, um zu waschen und das Bett und alles um sich herum sauberzuhalten. Währenddessen schleicht er zum Telefon, um anzurufen und mir vor Einbruch der Nacht erregende Worte zu sagen. Wenn ich versuche, ihn damit zu ärgern, daß er damit wohl die Potenz steigern muß, dann widerspricht er und sagt:

Er steht mir immer einwandfrei bei der Frau, und ich brauche keine besonderen Tricks.

Trotzdem ist es nicht unwahrscheinlich, daß er sich mit mir erregt und die Leidenschaftlichkeit auf die Frau überträgt, wenn sie endlich aus dem Keller gekommen ist, mit wolkenlosen Gedanken und strahlend weißer Wäsche, und seine Zudringlichkeit nicht begreift.

Es kommt mir vor, als müßte ich abends kaum in den Keller gehen, damit du in Hochstimmung bist, wenn ich wieder raufkomme, sagt sie erschöpft, doch im selben Moment ist sie sich ihrer Macht über ihn bewußt, und es macht ihr Spaß, widerstrebend nachzugeben.

Ich vermisse dich so, sagt er mit der Heiserkeit im Hals, die Männer oft bekommen, wenn sie in dieser Stimmung sind.

Nur, wenn ich schnell mal in den Keller gehe? fragt sie und fügt hinzu: Das ist eigenartig.

Er erzählt mir das oft, nicht direkt im Vertrauen, sondern in unschuldiger Verwunderung darüber, daß er sich genötigt fühlt, etwas zu sagen, wenn wir fertig sind; er möchte sofort verschwinden. Wenn ich die Inbrunst in seinen Worten höre, denke ich, daß er mir ein besonderes Vertrauen zeigt, das einer aufrichtigen Haltung entsprungen sein muß. Ich frage unwillkürlich, um meinen Wunsch bestätigt zu bekommen: »Warum bist du mit mir zusammen, wenn deine Frau nur mal kurz mit der dreckigen Wäsche runtergehen muß, damit du hinterher nicht ohne sie im Bett sein kannst?« Ich hoffe, daß er etwas sagt, das auf wärmere Gefühle mir gegenüber hinweist, aber meistens sagt er entweder: »Ich habe keine Gewalt über mich, weil irgendwas in mir drin sitzt«, oder: »Ich treffe mich mit dir, um der Frau eine Pause zu gönnen. Und willst du deiner damit nicht auch eine gönnen?«

Ist das, was wir tun, nur dazu da, um den Ehefrauen eine Pause zu gönnen? frage ich.

Natürlich, antwortet er und sieht mich an, beleidigt, daß ich etwas anderes denken kann. Das ist das Gute daran, daß man in der Ehe betrügt. Verheiratete Frauen und Mütter halten nicht viel Belastung durch ihre Männer aus.

Mir wird ganz sonderbar zumute, ich bin etwas durcheinander und weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll angesichts einer ebenso kindischen wie auch natürlichen Einstellung dem gegenüber, was zwischen uns ist, und seiner Ansichten darüber, was Rücksicht auf Mütter sei, doch ich nehme mich zusammen, wappne mich gegen seine festverwurzelten Ansichten über die Sünde und welcher Art das Recht des Körpers in bezug auf sie sein kann, und sage mit einem Sarkasmus, der eher in meinen Gedanken als in Worten oder auf meinen Lippen ist:

Was mich betrifft, so gönne ich nicht der Frau eine Pause, sondern ich mag dich einfach.

Da wirft er mir schweigend und beunruhigt einen Blick zu, und ich glaube, daß er denkt: »Ach so, bist du dann nachts bei deiner Frau, um mir tagsüber eine Pause zu gönnen? Ich dachte, sie hat Urlaub.« Er ist offensichtlich zufrieden mit dem Gedanken, ja sogar selbstzufrieden über seinen Anteil an meiner Potenz, doch er sagt ganz einfach:

Die Frauen müssen auch ihren Anteil kriegen.

Als er vor kurzem anrief, wollten sie gerade zusammen in die Innenstadt fahren. Sie mußte für ihn etwas zum Anziehen kaufen, denn er sagt oft: »Die Frau wählt alles für mich aus; auch die Socken.«

Das Schiff fährt morgen nach Amerika, flüsterte er am Telefon. Wir sehen uns erst in drei Wochen wieder.

Blut und Saft gerannen plötzlich in meinem Körper. Ich bekam Kopfschmerzen, und mir war nach jenem typischen schmerzlichen Weinen zumute, von dem ich mir vorstelle, daß alte Menschen es stets in ihrem Dasein empfinden, jenes trockene Weinen, das der Trauer über ein schwindendes Leben in einem rasch verfallenden Körper entspringt, der eine immer kürzere Zukunft vor sich hat, wenn die Lebenszeit vorbei ist. Wenn einem das widerfahren ist, kann nicht einmal die Trauer von Dauer sein; in einem alten Körper ist schon alles geschehen außer dem eigenen Ende. Das Leben ist vorbei und weit weg. Deshalb ist all das, was alte Leute verpassen, nur ein Teil von keiner Zukunft. Wenn man ein vernünftiger alter Mensch ist, dann macht man sich klar, daß man auch die Zukunft verlieren und diesen Verlust dem hinzufügen kann, was man im Leben verloren hat. Ich fühlte mich ungefähr genauso, da ich die Mitte des Lebens erreicht habe und die Potenz schwindet, doch zum Trost dachte ich mir, daß ich ihn nicht immer zum Gefährten gehabt habe und trotzdem lebte, und ich habe ihn immer noch nicht ganz sicher, aber ich lebe dennoch weiter.

Das Alter bringt eine besondere Art von Freude mit sich, die von Trauer begleitet wird; sie ist von der Art, daß man nicht länger Angst vor dem Leben hat, je kürzer es wird. Diese Art von Liebe ist auch eine Art von Mut: Sie ist völlig anders als die Liebe, die ich natürlich und aufrichtig gegenüber meiner Frau empfand, als sie noch eine eheliche Liebe war und hieß. Wenn man durch eine andere Art von Liebesbanden gebunden wird, beginnt man unwillkürlich ein Leben zu leben, das nicht offen oder auf reale Weise gelebt wird, es wird zu einer Art Phantasie und Dichtung, die man schlecht beschreiben kann.

Vielleicht ist das eine mögliche Erklärung dafür, daß ich mich in meinem Alter mit einem gleichaltrigen und verheirateten Mann in etwas gestürzt habe, dem ich nicht einmal im Traum erlaubt hätte, sich in mein Begehren zu schleichen, als ich noch jung war und noch dazu ein Frauenheld.

Die längste Zeit meines Lebens, beziehungsweise seit ich verheiratet bin, war ich sehr auf meinen guten Ruf bedacht und duldete keinen einzigen Makel auf meinem Leben. Jetzt aber lebe ich hauptsächlich für diesen Makel, der wahrscheinlich ein Muttermal gewesen ist, das erst jetzt zum Vorschein kommt, wie rein und weiß auch immer mein Körper oder meine Seele sonst gewesen sein mögen, bevor es in meinem Umgang mit der Welt, der Frau und den Kindern, doch besonders mit meiner jüngsten Tochter sichtbar wurde. Wie jemand, der hinreichend streng im lutherischen Glauben erzogen und dessen Ideen verpflichtet ist, so hatte ich die Absicht gehabt, das Leben ebenso rein, makellos und nackt zu verlassen, wie ich es bei meiner Geburt in die Welt bekommen hatte. Jetzt habe ich beschlossen, es eines anderen Glaubens wegen tot zurückzulassen.

Also treffe ich ihn dieses Mal nicht, bevor er in See sticht. Nach dem Telefongespräch zu urteilen, hat er sich entschieden, das Ganze fortzusetzen, wenn er nach zwei, drei Wochen oder noch längerer Zeit wiederkommt; wer weiß, wann die Schiffe die Nebel auf dem Meer verlassen und den Hafen ansteuern, selbst wenn sie nach einem Fahrplan segeln?

Er hatte kaum aufgelegt, als unsere Bekannte Sigga anrief. Manchmal kommen die Anrufe für mich alle auf einmal. Oft vergehen mehrere Tage, ohne daß jemand anruft. Dann beginnen Freunde und Bekannte plötzlich anzurufen, und das passierte jetzt. Sigga schien zu spüren, daß mich etwas bedrückte, oder das Ungestüm, mit dem ich den Hörer abnahm, und die Enttäuschung, als ich hörte, daß sie es war, kamen ihr merkwürdig vor. Tatsächlich dachte ich, daß mein Gefährte seine Meinung geändert oder seine Frau plötzlich den Plan umgeworfen hätte, nachdem sie im Schrank gewühlt und gesehen hatte, daß sie in der untersten Schublade mehr als genug Socken und Unterhosen für ihn hatte, und ihn dann gebeten hätte, das Auto zu wachsen, während sie aufräumte, das ist bei Ehepaaren normal, und er würde vom Autowaschplatz anrufen, um zu sagen, daß er käme, doch es müsse schnell gehen. Als ich hörte, daß Sigga am Telefon war und nicht er, hatte ich meine Erregung nicht gleich unter Kontrolle. Jemand, der auf dieselbe Art liebt wie ich, muß Selbstkontrolle haben, am besten darf er seine Gefühle nicht anders zeigen als in kryptischen Zeichen, oder er muß sie im Umgang mit anderen Leuten so entstellen, daß sie nie richtig darauf achten oder ihnen direkt eine Bedeutung beimessen. Das Gesagte muß das normale Verständnis eher verwirren als ihm etwas deutlich machen. So ist die Ausdrucksweise des Clowns, der einen gleichzeitig bezaubert und abstößt.

Als Sigga anfing, neugierige Fragen nach meinem Gemütszustand zu stellen, und versuchte, die Wahrheit aus mir herauszulocken, machte ich sie glauben, ich sei etwas erregt, nachdem ich nach dem Essen mit der Frau im Bett gewesen war. Da räusperte sie sich auf übertriebene und langgezogene Weise, um damit gewisse Andeutungen zu machen und auf gutmütige Art komisch zu sein. Natürlich machte es ihr nichts aus, daß ich durcheinander und erregt war, sie hatte mit ihren eigenen Angelegenheiten zu tun und wollte mit jemandem darüber und über sich reden – wie leid sie es wäre, die Kontoführung in der Bank zu machen, und die Theater fände sie, gelinde gesagt, furchtbar, weder ertrüge sie die Lebensweise der Isländer noch das Konsumverhalten der Leute, die sich trotzdem ständig beschwerten, oder die isländische Kultur, falls man das überhaupt als Kultur bezeichnen könne, und sie würde aus dem Land fliehen, wenn sie im Lotto gewänne.

In einer winzigen Pause gelang es mir, auf ähnliche Weise, wie es gerade Mode ist, zu fragen:

Ja, aber wohin soll man denn gehen, wenn nirgendwo etwas passiert, außer in Dingen, die den Devisenhandel und den Markt angehen, und da ist die Lage kritisch, und alles liegt völlig darnieder?

Das sagst du aus gutem Grund, sagte sie. Das ist eine gute Frage, denn die Politik lief bis jetzt darauf hinaus, daß es nirgends auf der Welt etwas anderes gibt als die Gleichberechtigung der Mittelmäßigkeit.

Im selben Moment mußte ich aus irgendeinem Grund an meine Mutter denken, in der Weise, daß ich mich als breiten und langen Strich empfand, der in das unendliche Weltall gezogen ist. Ich weiß nicht, warum mir das in den Sinn kam, oder was eine so lächerliche Vorstellung mit meiner Mutter zu tun hatte, außer daß sie seinerzeit das eintönige Leben draußen auf dem Land gründlich satt hatte und ständig damit drohte, sich von Papa scheiden zu lassen und nach Reykjavik zu ziehen, bis er es in die Tat umsetzte, sich scheiden ließ, eine andere Frau fand und dort hinzog, und sie blieb allein im Haus zurück, damit sie nicht am gleichen Ort wohnen mußte wie er. Ich erzählte das Sigga und nahm Mama als gutes Beispiel für die Entschlußfreudigkeit der Frauen, und jetzt sei sie heilfroh, daß sie Papa dazu gezwungen hatte, einen Entschluß zu fassen, und ihn mit einer anderen Frau in die Stadt verjagt hatte, sie selbst war jetzt frank und frei und viel näher am Flughafen in Keflavik dran als er und konnte ins Flugzeug steigen, wann immer es ihr einfiel, und mit ihrer Rente in die Welt hinaus fliegen.

Sag mal, Sigga, glaubst du, daß mich meine Mutter nur geboren hat, damit ich jemand einen großen Strich durch die Rechnung mache, und daß der vielleicht im Weltraum ist? fragte ich.

Ich weiß nicht, was mit dir los ist, man kann heute mit dir nicht vernünftig reden, sagte Sigga und legte auf.

Kurz darauf klopfte die Frau von der Wohnung gegenüber an, um nach meiner Frau zu fragen, und als ich antwortete, daß sie Ferien im Norden mache, sagte sie, daß die Sprechanlage in unserem Treppenhaus im Block anscheinend kaputt sei, ein Bekannter von ihr wäre gekommen und hätte geläutet, doch man hätte es nicht gehört. Ich erschrak, doch die Frau sagte, daß es nicht so schlimm wäre, man könnte ja immer noch das Telefon benutzen und seinen Besuch zu einer bestimmten Zeit ankündigen, was nur höflich wäre und europäische Sitte, und dann würde man hinuntergehen und an der Eingangstür auf den Gast warten, wenn die Klingel kaputt wäre.

Ich pflichtete ihr aus vollem Herzen bei, und da fügte sie hinzu:

Diese gute Sitte kann man hierzulande nur einführen, indem man die Gegensprechanlagen in allen Häusern mindestens ein Jahr lang kaputt bleiben läßt.

Ich bekam einen Schreck, da ich es nicht mitbekommen hätte, wenn mein Freund vorbeigekommen wäre. Während ich mich mit der Frau unterhielt, rief J. an, so daß ich einer weiteren Diskussion über Gegensprechanlagen entkam. Als ich abnahm, fing er an, davon zu erzählen, daß er sich seit der Beerdigung von M. vor zehn Jahren immer noch nicht erholt hätte, sie hätte in ihm zum ersten Mal Erinnerungen aus seiner Jugendzeit geweckt, und er dachte, daß er bald mehr Verwandte und Freunde im Grab hätte als im Leben.

Das war eine ziemliche Lebenserfahrung, sagte er.

Beerdigungen neigen dazu, Erinnerungen zu wecken und die Leute zu denkenden Wesen zu machen, zumindest in Büchern, antwortete ich.

Das ist mir passiert, wo ich doch keine besonderen Talente habe, und ich bin nicht so bemerkenswert, daß ich als Vorlage in einem Roman taugen würde, sagte er. Ich sah das Blut der Fische daheim auf dem Kai vor mir, wie es in der Kälte zu feinen Kristallen gefror, und mitten in der Leichenrede des Pfarrers kam mir der Gedanke, daß mit meinem eigenen Blut etwas Ähnliches passiert sei. Die Erinnerung ist merkwürdig.

Ja, das kann man wohl sagen, sagte ich und hatte schon keine Lust mehr zuzuhören, doch er redete in einem fort, mit poetischen Schilderungen, wie ihn in der Kirche ein strenger Frost aus der vergangenen Jugendzeit befallen hätte.

Ich hörte nur mit einem Ohr desinteressiert hin, denn es ist jetzt der neueste Schrei hierzulande, daß alle so tun, als seien sie gläubig, und sagen, daß man sich in der Ungewißheit und dem Chaos zur Jahrhundertwende an Gott anlehnen müsse.

Gott ist heute das Größte! fügen sie hinzu und tun so, als ob diese Erkenntnis auf ihrem eigenen Mist gewachsen ist.

Vor der Beerdigung dachte ich, daß in meiner Jugend immer Regen war oder Tauwetter und Glatteis auf den Pfützen im fahlgelben Moor, aber so ändert Gott unsere Erinnerung an das Wetter und die Farben, sagte er.

Während ich versuchte zuzuhören, ergriff mich eine Niedergeschlagenheit, die ich mit der Unendlichkeit verbinde und von der ich glaube, daß sie in der absoluten Leere an einem unbekannten Ort im Weltall entstanden ist. Es ist nicht das Weltall der Sterne und Planeten, sondern die Weite des Universums, die, so habe ich das Gefühl, in jedem Menschen ist, da die Trauer zweifellos aus der Weite der Seele kommt. Sie stammt nicht von einem bekannten oder bestimmten Ort, sondern schleicht sich an uns heran aus der Erfahrung des Daseins, aus dem unendlichen Bereich des Gedankenlebens: Sie entspringt zugleich allem und nichts, auf dieselbe Weise wie die Angst. Ich hielt den Hörer etwas vom Ohr weg – das mache ich oft, wenn die Leute anrufen und lange reden –, so daß ich aus der Distanz nur den Klang der Worte hörte.

All das entsprang nur der Sehnsucht nach dem, der mit dem Schiff wegfuhr. Das wußte ich. Wahrscheinlich sehnte ich mich nach Trauer. »Du bist versessen auf Traurigkeit wie die Kinder auf Schokolade«, hat meine Frau einmal gesagt.

Als ich das Haus verließ und den Laugavegur hinunterging, um das schlechte Gefühl abzuschütteln, das überall in mir war, fiel mein Blick auf eine Gruppe von Leuten, die um irgend etwas in einer Hofeinfahrt herum zu stehen schienen. Gleichsam von dem Bedürfnis nach Trauer geleitet, stieg ich auf einen Absatz und sah eine ältere Frau an der Treppe liegen, eine andere, jüngere, war damit beschäftigt, sie zuzudecken. Während ich zusah, wie sie sich hinabbeugte und die ältere Frau streichelte, fragte ich mich, warum man sterbende Menschen oder Leichen immer zudeckt. Es scheint ganz egal zu sein, wo man sich aus dem Leben verabschiedet, innerhalb kürzester Zeit erscheint eine Decke aus dem Nichts oder aus Humanität, die sich auf diese Weise bemerkbar macht, wenn sie nicht mehr nötig ist. Denn was nützen eine Wolldecke und Gutherzigkeit angesichts des Todes? Welche Decke kann einen Körper wärmen, der in den Zustand seiner Erkaltung übergeht?

Die Frau, die auf dem Rücken dalag, das eine Bein leicht untergeschoben, war schon älter, sie war sorgfältig geschminkt, die Lippen waren bemalt und halbgeöffnet. Man sah die ebenmäßigen Zähne der Prothese, die in dieser Situation so unnatürlich waren wie die rote, leuchtende Schminke im Gesicht. Die halbgeschlossenen Augen schienen gebrochen, oder die Hornhaut war von einem trockenen Film überzogen, das linke Auge hatte sich in die Augenhöhle gedreht, als ob es im Augenblick des Todes nirgendwohin gerichtet wäre, um in der letzten Sinnlosigkeit des Lebens völlig blind auf nichts blicken oder starren zu können.

Da begann ich darüber nachzudenken, was im Leben es sein kann, das am meisten stirbt, wenn wir sterben, und ich stellte mir vor, daß es nicht der Körper als Ganzes war, sondern der Mund und die Augen. Sogleich begriff ich, daß der Zweck des Lebens höchstwahrscheinlich darin besteht, daß man andere sehen und mit ihnen reden kann: entweder mit sich selbst, mit Tieren oder mit anderen Menschen. Darüber zerbrach ich mir auf meinem erhöhten Platz den Kopf und betrachtete die Frauen, die aus allen Richtungen herbeiströmten, um ihre sterbende Geschlechtsgenossin zu streicheln, sie streichelten sie sanft, aber bestimmt, offenbar, um zu versuchen, sie wieder ins Leben zu prügeln, es mit Schlägen zu Gehorsam zu bringen und zur Rückkehr zu bewegen, so wie Mütter es mit unartigen Kindern machen, die sich nicht um ihre Regeln kümmern, und versuchen, sie zum Gehorsam zu prügeln. Ich sagte zu mir selbst: »Es ist egal, ob die Frau gestreichelt, ausgelacht oder beweint wird, einerlei, was man probiert, sie ist tot und unempfindlich gegen alles. Das Leben ist erbarmungslos und unbändig, und nur seine Gesetze können dem Körper den Tod aufzwingen.«

Kurz darauf war das heulende Herzauto am Schauplatz erschienen, die Männer, die darin saßen, stürzten heraus und hatten mit solchen Fällen offensichtlich Routine; sie sahen gleich, wie die Sache stand, und nahmen ihr Funksprechgerät zur Hand, einer hob fachmännisch mit zwei Fingern beide Augenlider der Frau an, die Augen bewegten sich dabei nicht heftig, verwundert und pulsierend vor Leben, beinahe spöttisch frohlockend, wie wenn die Lider eines Menschen, der tot scheint, aber nur in Ohnmacht gefallen ist, angehoben werden, sondern sie waren so leblos wie die Augenlider. Dann packten sie den Körper auf eine Bahre, schoben sie hinten in das Auto hinein, schlossen die Türen und fuhren weg. Die Gruppe der Frauen zerstreute sich, und danach war es so, als ob auf der Straße nichts geschehen sei. Zu meiner Erleichterung war meine Deprimiertheit weg, und ich rief meine Frau an und sagte:

Komm doch in den Sonnenschein hier im Süden, laß dir nicht länger im Norden auf die Brüste regnen.

Brauchst du nicht mehr Muße, um deine Angelegenheiten zu Ende zu bringen? fragte sie.

Nein, antwortete ich. Ohne dich bin ich am Ende.

14/11

Ich wartete den ganzen Morgen rastlos, daß mein Gefährte anrufen und sagen würde, daß er kurz von Bord verschwinden könnte oder eine Entschuldigung gefunden hätte, um die Arbeit einen Moment zu verlassen, doch der Wunsch und seine Kraft sind weit davon entfernt, einen solchen Einfluß zu haben, daß er in Erfüllung geht. Mittags hatte ich alle Hoffnung aufgegeben, ich ließ von meinem Wunsch ab und begleitete das Schiff in Gedanken aus dem Hafen hinaus. Ich sah seine Frau vor mir, wie sie sich von ihm verabschiedete. Sie tat es auf dieselbe Weise, wie einfache Leute sich voneinander verabschieden, auf eine neutrale und distanzierte Art, als ob sie ihre Gefühle nicht auf eine Weise zeigen könnten, daß sie den erreichen, an den sie eigentlich gerichtet sind, und deshalb dem eine Bürde scheinen, für den sie sich regen, und aus Verlegenheit verlöschen.

Ich sah ihn deutlich vor mir, ein bißchen wie ein Schaf, wie er sich über die Reling beugte, mit viel zu großen Arbeitshandschuhen an den Händen, erleichtert, daß er nach kurzer Zeit aus dem Blickfeld der Frau entschwinden würde, die ebensowenig wußte, was sie neben dem Auto auf dem Kai mit sich anfangen sollte, ob sie winken oder etwas rufen sollte; ihr fiel nichts ein, und es war nicht mehr möglich, ihn wegen irgend etwas fortzuschikken oder mit ihm über die ewigen Probleme der Kinder zu reden, die niemals auf eigenen Füßen stehen konnten und sich ständig Geld von den Eltern leihen mußten, die wiederum gezwungen waren, bei der Bank einen Kredit mit hohen Zinsen aufzunehmen, um dem ohnmächtigen Gejammer zu entkommen. Er legte den Zeigefinger auf ein Nasenloch und blies aus dem anderen, um irgend etwas zu machen, bevor er sich ganz vergaß und in die Arbeit und Anstrengung versank, zufrieden, daß er nun seinen Körper mehr spürte als seine Gefühle, denn auf einem Schiff gibt es viel zu tun, nicht nur ständig etwas anzustreichen und den Rost von der Brücke zu klopfen, da gibt es keine Zeit, um an Kleinigkeiten an Land zu denken, Probleme und Sentimentalitäten. Ich hatte ihn einmal gefragt:

Sitzt die Liebe bei dir mehr im Kopf oder da …?

Er zeigte sofort auf »da« und fragte verwundert:

Wo soll sie denn sonst sitzen?

Vielleicht erfinde ich das bloß, vielleicht ist das schon lange zur Gewohnheit geworden, daß er bei jedem Wetter hinaus ins Ungewisse fährt, daß er mit der Unsicherheit lebt und nie selbst über seine Zeit verfügen kann, daß es nicht möglich ist, mit Sicherheit zu wissen, wann er heimkommt und wann er den Hafen wieder verläßt, daß das ganze Leben in der Kunst besteht, mit verschieden großen Ungewißheiten und Risiken im Dasein und in der Arbeit bei niedrigem Lohn leben zu können, hart zu schuften, schlimme Unwetter, starken Seegang zu erleben, nur wenig Liebe an Land zu erfahren, wo ihn ständig irgendwelche Zahlungen und ewige Besorgungen per Auto erwarten.

Ich erinnere mich jetzt daran, als ich am Nachmittag desselben Tages in das Lehrmittelzimmer im ersten Stock ging, wie klar das Blau über den Sunden war, und ich wußte, daß in diesem Moment, als ich zum Fenster hinaussah, der Eindruck mehr von meinem seelischen Zustand, meinen Gefühlen und meiner Sehnsucht herrührte als vom Meer selbst. Tags darauf ging ich wieder ins Lehrmittelzimmer hinauf, frühmorgens in der Dunkelheit des Winters, bevor es Tag wurde, und blickte unausgeschlafen aufs Meer hinaus und zu den Bergen, aus der unnatürlichen Helligkeit des elektrischen Lichts in die Dämmerung, die trüber war, als die wilde Helligkeit tatsächlich ist, da der Uhr zufolge der Tag bereits angebrochen sein mußte. Ich sah hinaus in die Dunkelheit unterhalb des Hauses, auf die Kiste oder den kleinen Container, der dort auf der Seite lag und auf dem Sjoskip h.f. stand. Ich tat das, um meines Freundes zu gedenken und ihm auf diese Weise nahe zu sein, indem ich einen konkreten, sichtbaren Gegenstand betrachtete, der mit seiner Arbeit und seiner Reederei zu tun hatte. Obwohl ich den Container nicht berühren konnte und ihn in der Morgendämmerung nur undeutlich sah, leistete er mir in gewisser Hinsicht Gesellschaft, während ich die Regale absuchte und das Material für den Unterricht zusammenstellte.

Keiner von meinen Schülern konnte wissen oder ahnen, daß ich oft nicht in das Lehrmittelzimmer im ersten Stock hinaufging, um Unterrichtsmaterial für sie zusammenzusuchen, oder auf die Toilette, um mich zu erleichtern, sondern um mein Gemüt zu beschweren und die Trauer zu verstärken, indem ich eine Weile aus dem Fenster den Container der Reederei betrachtete. Auf diese Weise segelte ich immer weiter und tiefer hinein in die Qual, die Liebe weckt.

Wenn ich wieder ins Klassenzimmer zurückkehre, rötet sich manchmal der Gipfel des Berges. Der Schein ist schwach, aber voller Hoffnung auf einen klaren Tag oder voller Sehnsucht nach einem neuen Tag. Dann, wenn ich begonnen habe, eine andere Klasse weiter oben im Schulgebäude zu unterrichten, erscheinen die Sunde in den großen Fenstern des Raumes, hell und klar, je weiter die Helligkeit den Himmel öffnet. Das Licht ist langsam, doch die Morgendämmerung dringt entschieden aus der Nacht.

Auf einmal war ich während des Unterrichts völlig in Gedanken verloren oder folgte den Schiffen und ihren Fahrten über die Sunde in den Hafen, doch nie zuvor hatte ich ihnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt, ich entdeckte die Aussicht zugleich mit der Schönheit, vor allem, wenn man an dem Ort aus dem Fenster blickte, den ich früher bloß als für einen einzigen Zweck notwendig angesehen hatte, nämlich daß sich der Körper dort erleichtern konnte, und ich hatte mich beeilt, hinunter zu meinen Schülern oder Kollegen zu kommen, um über Politik herumzudiskutieren und so zu tun, als ob man von allem zwischen Himmel und Erde eine Ahnung hätte. Jetzt wurde er zu einem Platz für Träumereien, die mehr mit der Jugendzeit zu tun hatten, der Pubertät, als mit dem mittleren Alter eines verheirateten Mannes in seinem Heim oder den reifen Gefühlen eines Vaters dreier Kinder. Aber was zeugt von größerer Reife, als einem voll ausgewachsenen Körper und Charakter zu gestatten, aus dem Ei der Gewohnheit schlüpfen zu dürfen?

Unten im Klassenzimmer sitzen meine Schüler, froh darüber, daß ich kurz verschwunden bin, so daß sie einen Moment miteinander schwatzen und sich mit ihren Privatangelegenheiten beschäftigen können. Währenddessen ergehe ich mich in Klarheit. Einmal als ich wieder in die Klasse zurückkehrte, sprach ein Mädchen gerade von ihrer Traurigkeit darüber, daß ihr Freund auf See war. Es war in der Zeichenstunde. Ich hatte sie zuvor nie besonders beachtet, doch ich begriff, daß wir etwas gemeinsam hatten, während ich schwieg und zuhörte, wie sie offen von ihrem Kummer erzählte, da ihre Liebe und die Trauer, die ihr entsprang, natürliche Reaktionen eines Bedürfnisses waren, das darin besteht, daß man mit einer Meereswelle zusammenfließen möchte, die über einen strömt, doch dann taucht der, der die Klippe ist, rein und unversehrt am Strand auf, wie ein freies und unabhängiges Individuum.