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Beschreibung

Angesichts von Textsortenorientierung und allgemeinem Zeitdruck bedarf der literaturgeschichtliche Unterricht einer neuen Legitimation: Wie lässt sich Literaturgeschichte in heterogenen Klassen, in einer globalisierten Mediengesellschaft neu denken und unterrichten? In diesem Heft sollen einerseits empirische Daten zu literaturhistorischen Lernprozessen vorgestellt sowie andererseits die Frage erörtert werden, wie sich literaturhistorisches Lernen zeitgemäß modellieren und ob es sich gar messen lässt. Zum anderen werden innovative Zugänge zur Literaturgeschichte gesucht: aus postkolonialer Perspektive, mittels fiktionaler Literatur oder künstlicher Intelligenz.

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Seitenzahl: 248

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Editorial

MATTHIAS PAULDRACH, JOHANNES ODENDAHL:Literaturgeschichte vernetzt – neue Wege zu alten Texten

Magazin

ide empfiehltNORBERT KRUSE:E. Haueis, H. Lösener (2022): Die sprechbare Schrift – Zur Sprachlichkeit des literarischen Lernens im Deutschunterricht

Neu im Regal

BerichtGERNOT KNITTELFELDER:»Kunst oder Leben?« Zweite ÖFDD-Tagung in Innsbruck

Konzeptionelle, historische und empirische Zugänge zum Literaturgeschichtsunterricht

CARLO BRUNE: Literaturgeschichte für alle. Funktionen, Inhalte und Vermittlungsformen im Deutschunterricht

CHRISTIAN DAWIDOWSKI: Das Unbehagen im Kanon. Literaturgeschichtsunterricht als Arbeit am Kanon im historischen Überblick

CHRISTEL MEIER: Zwischenbericht von einer »unaufgeräumten Baustelle«. Empirische Befunde zu Literaturgeschichtsunterricht und epochenbezogenen Kompetenzen aus dem Projekt »Literarästhetische Urteilskompetenz«

NATHALIE KÓNYA-JOBS: Literaturgeschichte im Deutschunterricht aus empirischer Perspektive

Vernetzungen, Ausblicke und neue Wege

HAJNALKA NAGY: Literaturgeschichte(n) aus Österreich: ein Thema für den Literaturunterricht

THOMAS HELLMUTH: Gesellschaftskritik als Unterrichtsziel. Fächerübergreifende Überlegungen zu einer historisch-literarischen Didaktik

MAGDALENA KISSLING: Literaturgeschichte im Unterricht. Ein postkolonialer Blick

KATHARINA BÖHNERT: Sprachreflexion als »Schlüssel« zum Erschließen (historischer) literarischer Texte

SEBASTIAN BERNHARDT: Literaturgeschichte unterrichten mit populärkulturellen Adaptionen

Unterrichtskonzepte

MIRIJAM GESSLER: Epochen einmal anders – mit KI

GÜNTHER BÄRNTHALER: Wernhers Helmbrecht: ein Unterrichtsarrangement

Service

GERNOT KNITTELFELDER: Literaturgeschichte im Deutschunterricht. Eine Auswahlbibliografie

 

»Literaturgeschichte« und »Literatur« in anderen ide-Heften

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Österreich im Blick

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Interpretieren

ide 3-2018

Die Sichtbarkeit (in) der Literatur

ide 3-2016

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ide 2-2015

Kulturen des Erinnerns

ide 4-2012

Literaturgeschichte im kompetenzorientierten Deutschunterricht

ide 4-2011

Österreichische Gegenwartsliteratur 2000-2010

ide 1-2010

Weltliteratur

 

Das nächste ide-Heft

ide 2-2024

Künstliche Intelligenzerscheint im Juni 2024

 

Vorschau

ide 3-2024

Dialekt und innere Mehrsprachigkeit

ide 4-2024

Friedensbildung und Deutschunterricht

 

https://ide.aau.atBesuchen Sie die ide-Webseite! Sie finden dort den Inhalt aller ide-Hefte seit 1988 sowie »Kostproben« aus den letzten Heften. Sie können die ide auch online bestellen.

 

www.aau.at/germanistik/fachdidaktikBesuchen Sie auch die Webseite des Instituts für GermanistikAECC, Abteilung für Fachdidaktik an der AAU Klagenfurt: Informationen, Ansätze, Orientierungen.

Literaturgeschichte vernetzt – neue Wege zu alten Texten

Ist die Literaturgeschichte noch ein produktives Thema für die Deutschdidaktik? Spätestens seit der kompetenzorientierten Wende muss sie als ein brachliegendes oder doch wenig beackertes Feld der Disziplin gelten – oder, um eine vergleichbare Metapher Karlheinz Fingerhuts anzuführen, als »eine unaufgeräumte Baustelle der kompetenzorientierten Deutschdidaktik« (Fingerhut 2013). Dass auf dieser Baustelle kaum jemand aus der fachlichen Zunft aufräumen, geschweige denn entschieden weiterbauen möchte, liegt möglicherweise daran, dass literaturgeschichtliche Kenntnisse im Deutschunterricht im Ruf stehen, häufig allzu starre Wissensbestände auszubilden. Als solche können sie, so die nicht ganz unberechtigte Befürchtung, produktive Zugänge zu literarischen Texten bisweilen eher verstellen, als sie zu eröffnen – nämlich indem Schülerinnen und Schüler sie schablonenartig auf Texte applizieren oder sozusagen mit der Checkliste in der Hand Epochenmerkmale abarbeiten, statt sich zunächst den Texten selbst in ihrer ästhetischen Faktur und Bedeutungsvielfalt zu öffnen. Und gerade die gerne als starr apostrophierten Epochenkonzepte sind seit langem einer Kritik von literaturwissenschaftlicher Seite ausgesetzt, die sie auch für eine literaturdidaktische Behandlung suspekt werden lassen (vgl. schon Korte 2003).

Gleichwohl gibt es empirische Belege dafür, dass die Vermittlung von literaturgeschichtlichem Wissen und eben auch von (didaktisch simplifizierten) Epochenbegriffen nach wie vor eine große Rolle im Deutschunterricht der Sekundarstufe spielt (vgl. den Beitrag von Meier in diesem Heft) – und ein flüchtiger Blick in gängige Unterrichtswerke stützt diesen Befund. Literaturgeschichte ist also nach wie vor ein Thema im Schulunterricht und sollte es daher auch für die deutschdidaktische Forschung sein. Zumal kein Weg an der Einsicht vorbeiführt, dass (literar)historisches Wissen, oder zumindest die Sensibilisierung für die historische Dimension von Literatur, eine wichtige Rolle für eine kompetentere literarische Lektüre spielt.

Dieser Einsicht ist auch das vorliegende Heft verpflichtet. Ob es, um noch einmal auf Fingerhuts Metapher zurückzugreifen, nur erste überfällige Aufräumarbeiten auf der didaktischen Baustelle des Literaturgeschichtsunterrichts in Angriff nimmt oder bereits an der einen oder anderen Stelle weiterzubauen vermag, sei hier dahingestellt. Jedenfalls war für uns der Aspekt der Vernetzung leitend: einer Vernetzung zwischen unterschiedlichen Wissensbeständen, Kompetenzbereichen, lebensweltlichen Bezügen und methodischen Zugängen.

Während sich nämlich die literaturdidaktische Debatte in der Vergangenheit vor allem um die Konstruktion des Gegenstands drehte, etwa die Legitimation von Literaturgeschichte im Unterricht allgemein oder die Problematik von Epochenbegriffen (vgl. Der Deutschunterricht 6/2003 und ide 4/2012), rückt dieses Heft gesellschaftliche und unterrichtspraktische Aspekte in den Fokus. Dabei geht es konkret um folgende Fragen:

Wie lässt sich Literaturgeschichte in einer globalisierten und multiethnisch geprägten Mediengesellschaft unterrichten?

• Wie kann man Literaturgeschichte stärker mit den historischen Dimensionen anderer Fächer und der Universalgeschichte vernetzen?

• Sollte man den Gegenstand nicht stärker als eine Geschichte »von unten« modellieren, die an die Lebenswelt der Schüler*innen andockt?

• Wie kann man Literaturgeschichte attraktiver und anschaulicher für die Lernenden aufbereiten?

• Aus empirischer Perspektive wird gefragt: Wie ist es eigentlich um das literaturgeschichtliche Wissen von Schüler*innen und Lehrkräften bestellt und inwieweit können sie dieses Wissen sinnvoll mit literarischen Texten in Verbindung bringen?

Zielsetzung eines zeitgemäßen Literaturgeschichtsunterrichts wäre unter der Maßgabe einer vielfältigen Vernetzung nicht nur der Aufbau literaturgeschichtlichen Wissens und dessen Operationalisierung, sondern auch die Bildung eines »Geschichtsbewusstseins« (Pandel 1987), d. h. die Förderung von Einsichten in typische literaturhistorische Konstellationen und Prozeduren. Schüler*innen könnten so in die Lage versetzt werden, sowohl Bedingungen der Entstehung, Verbreitung und Rezeption von Literatur als auch die verschiedenen Möglichkeiten, wie Literaturgeschichte konstruiert und tradiert wird, zu entdecken und zu erforschen.

Dabei wollen wir bewusst nicht nur, wie üblich, die Sekundarstufe II, sondern auch die Sekundarstufe I in den Blick nehmen. Denn es ist nicht einzusehen, warum dort Geschichte unterrichtet wird, literaturgeschichtliches Lernen aber allein Schüler*innen der Oberstufe vorbehalten sein soll.

Zu den einzelnen Beiträgen: Konzeptionelle, historische und empirische Zugänge zum Literaturgeschichtsunterricht

Ganz in diesem Sinne stellt Carlo Brune im ersten der vier Basisbeiträge Literaturgeschichte für alle in Aussicht. »Für alle« meint hier: für Schüler*innen jeder Altersgruppe und Schulstufe. Überraschend und innovativ erscheint dies vor allem, weil Brune schon für den Deutschunterricht der Primarstufe zeigt, wie dort ein Bewusstsein für kultur- und literaturgeschichtliche Zusammenhänge geweckt werden kann – desto mehr und desto expliziter dann im Unterricht der Sekundarstufe 1 und selbstverständlich der Sekundarstufe 2. So demonstriert Brune zunächst anhand von Volksmärchen, wie sich zeitgebundene Konventionen in die Texte einschreiben und inwiefern schon Grund- bzw. Volksschüler*innen einen ersten Blick dafür entwickeln können. Der Fabelstoff von der Grille und der Ameise ist es sodann, der in seinen historisch höchst unterschiedlichen Gestaltungen auf der frühen Sekundarstufe zum Thema einer (literar)historischen Betrachtungsweise werden kann. Exemplarisch für den Unterricht der Sekundarstufe 2 zeigt Brune schließlich anhand des Epochenumbruchs um 1800, wie unterschiedliche Diskurse und Konventionen einander eher überlappen, statt sich im Zuge eines Epochenwechsels akkurat die Klinke in die Hand zu geben.

Literaturgeschichtsunterricht ist immer auch Arbeit an und mit dem Kanon: Um Epochenmerkmale zu demonstrieren, wird in aller Regel auf kanonisierte literarische Texte zurückgegriffen, zugleich damit schreibt die Schule einen Kanon fest und fort. In diesem Sinne erzählt Christian Dawidowski die Geschichte des Literaturunterrichts in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert als eine Geschichte der Kanonbildung, der Kanonrevision, der Perpetuierung eines Kanons und auch der Versuche, sich des Kanons wie einer Last zu entledigen. Dass einerseits solche Unternehmungen, einen Kanon abschütteln zu wollen, immer mit Scham verbunden sind, dass aber andererseits die Fortschreibung des Kanons durch dessen Persistenz Unbehagen erzeugt, ist ein kulturpsychologisches Phänomen, das Dawidowski auf erhellende Weise mit Freuds Arbeit zum Unbehagen in der Kultur in Verbindung bringt.

Auf der Grundlage der von ihr mitkonzipierten und -ausgewerteten empirischen LUK-Studie (Literarästhetische Urteilskompetenz, 2007–2013) argumentiert Christel Meier, dass literaturhistorisches Faktenwissen und dessen Zuordnung zu literarischen Texten eine veritable und unverzichtbare Teilkompetenz literarischen Verstehens darstellt. Das ist insofern von Bedeutung, als die Frage, ob literaturhistorisches Faktenwissen das Verstehen literarischer Texte eher befördere oder verhindere, im fachdidaktischen Diskurs durchaus umstritten ist. Im Rahmen der LUK-Studie wurde unter anderem erhoben, wie Lehrkräfte die Bedeutung von literaturhistorischem Wissen und Schüler*innen die eigenen Kenntnisse auf diesem Gebiet jeweils einschätzen. Wie literaturhistorisches Wissen allerdings erworben und bei der Textinterpretation operationalisiert wird, ist noch weitestgehend ungeklärt. Meier gibt hierzu einen kurzen Überblick über den überschaubaren Forschungsstand und formuliert Probleme sowie wichtige Forschungsdesiderate.

Auch Nathalie Kónya-Jobs befasst sich mit der Frage, ob literaturgeschichtliche Kontextualierung eine Teilkompetenz literarischen Verstehens ist, kommt dabei allerdings zu einem differenzierten Ergebnis: »Literarhistorisches Verstehen ist modellierbar, operationalisierbar und messbar, es ist also ein valides Konstrukt. Es ist auch kompetenzförmig, aber […] keine vollgültige Kompetenz, sondern eine Fähigkeitsdisposition.« Sie formuliert diese These in ihrer bald zum Thema Literaturgeschichte im Deutschunterricht erscheinenden, größtenteils empirisch ausgerichteten Habilitationsschrift, deren Ergebnisse sie im Beitrag zusammenfasst. In einem methodisch ausgefeilten Dreischritt nimmt sie curriculare Vorgaben, Überzeugungen von Lehrpersonen und Rezeptionsprozesse von Schüler*innen im Zusammenhang mit Literaturgeschichte in den Blick, untersucht beispielsweise, ob unterschiedliche paradigmatische Ansätze der Literaturgeschichtsdidaktik literarhistorischkontextualisierendes Verstehen mehr oder weniger fördern.

Vernetzungen, Ausblicke und neue Wege

Literaturgeschichte im Fach Deutsch ist nicht notwendig deutsche Literaturgeschichte. Eine speziell österreichische Perspektive auf das Thema eröffnet Hajnalka Nagy. Ausgehend von dem Befund, dass es eine verbindliche Geschichte »der« österreichischen Literatur nicht geben kann, schon gar nicht, wenn diese eine sprachliche und nationale Identität begründen soll (was natürlich auch für entsprechende Versuche in Deutschland gilt), schlägt sie einen kritisch-(re)konstruktiven Unterrichtszugang zur Thematik vor. Dazu sollen klischeeartige Zuschreibungen zu einer »typisch österreichischen« Literatur dekonstruiert und neuere Ansätze zur Literaturgeschichtsschreibung kritisch reflektiert werden. Ein Bewusstsein der Vielstimmigkeit und auch Mehrsprachigkeit von Literatur in bzw. aus Österreich sollen auch Projekte zur jeweils lokalen Literaturproduktion der Gegenwart zu wecken helfen.

Der Geschichtsdidaktiker Thomas Hellmuth skizziert einen interdisziplinären Zugang zur Literaturgeschichte. Ausgehend vom angenommenen gemeinsamen Ziel der Geschichts- und Literaturdidaktik, Gesellschaftskritik und soziale Teilhabe zu fördern, sieht er in literarischen Texten Reflexionsangebote, die ästhetische und emotionale Zugänge zu historisch relevanten Themen bieten. Anhand eines dieser Themen, die Hellmuth als »Basiskonzepte« bezeichnet, dem Konzept von »Freiheit«, exemplifiziert der Autor das Zusammenwirken genuin historischer Quellen und literarischer Texte, die so gemeinsam einen Deutungsrahmen für lebensweltliche Erfahrung bilden können, indem sie ein Basiskonzept von Freiheit hervorbringen, dieses aber auch, nicht zuletzt ob des ihnen innerwohnenden vorstellungsbildenden Potentials, immer wieder dynamisch verändern.

Einen kritischen Blick auf konventionelle Wege der Literaturgeschichtsschreibung wirft Magdalena Kißling, indem sie eine postkoloniale Perspektive auf das Thema eröffnet. Dieser gemäß verdecken die gängigen Konstruktionen literarischer Epochen durch ihre Orientierung an politischen Umbrüchen und literarischen Innovationen im abendländischen Kulturkreis übergreifende koloniale, rassifizierende Diskurse und Schreibweisen. Um diese, auch im Deutschunterricht, aufzudecken, empfiehlt Kißling postkoloniale Re-Lektüren kanonisierter Texte. Exemplarisch unternimmt sie eine solche Re-Lektüre anhand des erst kürzlich in den Schulkanon aufgenommenen Jugendromans tschick von Wolfgang Herrndorf. Abschließend gibt sie Ausblicke auf einen postkolonial und rassismuskritisch informierten schulischen Umgang mit Literatur sowie auf neuere Erzähltexte, welche die hegemonial-weiße Perspektivierung gezielt durchbrechen.

Katharina Böhnert zeigt in ihrem Beitrag, dass literaturhistorische Sinnbildung nicht ohne vertiefte Sprach-reflexion auskommt. Anhand dreier Texte aus unterschiedlichen Epochen (Mittelalter, Moderne/Expressionismus und Gegenwart) legt die Autorin dar, dass Metaphernbildung stark abhängig vom jeweiligen literaturhistorischen Kontext ist. Die sprachliche Ausgestaltung »uneigentlicher Rede« spiegelt, wie Böhnert an allen drei Beispieltexten zeigt, nicht selten das poetologische Programm von Autor*in/Epoche wider. Dies mit Schüler*innen zu erforschen, schärft deren Bewusstsein dafür, dass Literatur- und Sprachgeschichte zwei Seiten derselben Medaille sind. Denn die historische Entwicklung sprachlicher Bilder ist zwar (im weitesten Sinne) der Stilistik und damit der Sprachgeschichte zuzurechnen, andererseits jedoch immer wieder unverzichtbarer Gegenstand literaturhistorischer Überlegungen.

Sebastian Bernhardt erkundet Wege zum Literaturgeschichtsunterricht über verfremdende und parodierende mediale Adaptionen kanonisierter literarischer Texte. So zeigt er anhand von Jan Böhmermanns karikierender Nacherzählung von Fontanes Effi Briest, wie soziale Konventionen und Herrschaftsstrukturen (hier speziell im Bereich der Geschlechterhierarchie), die die Folie der Erzählung bilden, in der anachronistisch-satirischen Überzeichnung plakativ zur Diskussion gestellt werden; was wiederum Reflexionen über subtilere Ausleuchtungen von Herrschaft und (innerer) Unfreiheit in Fontanes Roman eröffnen kann. Ähnliches gilt für eine filmische Adaption des Grimm’schen Märchens Dornröschen: Der Film Maleficent (USA 2014) schreibt den Märchenplot gemäß gegenwärtig gültiger bzw. erwünschter Rollenbilder um und erlaubt durch diese kontrastierende Verfremdung einen distanzierten Blick auf vertraute Konventionen gesellschaftlicher und narrativer Art.

Unterrichtskonzepte

In einem ganz buchstäblichen Sinne hat Mirijam Geßler das Thema Literaturgeschichte vernetzt realisiert. Sie stellt ein an einer berufsbildenden Schule durchgeführtes Projekt vor, in welchem sie die Thematik literarischer Epochenbegriffe mit dem Einsatz der KI-Plattform ChatGPT verbunden hat. Das Sprachmodell sollte nach Maßgabe der Schüler*innen Gedichte oder Fabeln in epochentypischer Gestalt (Barock, Aufklärung, Sturm und Drang, Klassik) verfassen. Wie Geßler zeigen kann, führte diese Herangehensweise gerade nicht dazu, dass die Lernenden die Arbeit einfach an die KI delegierten. Vielmehr mussten sie die KI-generierten Texte kritisch auswerten und dementsprechend ihre Prompts fortgesetzt nachjustieren, wodurch sie sich auf motivierende und kognitiv anregende Weise mit Epochenkonzepten und Textmerkmalen auseinandersetzten.

Günther Bärnthaler schließlich zeigt in seinem Praxisbeitrag zu Wernhers Versnovelle Helmbrecht, dass Adoleszenzliteratur für die Schule nicht notwendig Gegenwartsliteratur sein muss. Durch den Vergleich des mittelalterlichen Textes mit Wolf Haas’ Roman Junger Mann eröffnen sich Schüler*innen nicht nur Perspektiven auf die literaturhistorische Entwicklung einer Gattung (Adoleszenz- bzw. Coming of Age-Roman). Indem er gegenwärtige Fragen des Erwachsenwerdens mit solchen, die im Helmbrecht verhandelt werden, kontrastiert, leistet Bärnthaler einen wertvollen Beitrag zur Identitätsarbeit im Literaturunterricht. »Nebenbei« thematisiert der Beitrag exemplarisch das Phänomen der Intertextualität als epochenübergreifendes Prinzip literarischen Schaffens.

Auswahlbibliografie und Magazin

Literaturgeschichte vernetzt, so heißt das Thema des vorliegenden Hefts. Um zentrale Anschlussstellen an den diesbezüglichen literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Diskurs kümmert sich Gernot Knittelfelder mit seiner Auswahlbibliografie. Dort bezieht er auch bewährte Unterrichtsmaterialien und einschlägige Internetquellen mit ein und stellt so eine hilfreiche Orientierung für die wissenschaftliche ebenso wie für die unterrichtspraktische Beschäftigung mit dem Themenkomplex bereit.

Das Heft schließt mit Ausblicken auf deutschdidaktische Neuerscheinungen: eine ausführliche Rezension in der Rubrik ide empfiehlt, verfasst von Norbert Kruse, sowie zwei Kurzrezensionen zu Büchern, die sich Neu im Regal finden.

MATTHIAS PAULDRACH JOHANNES ODENDAHL

Literatur

FINGERHUT, KARLHEINZ (2013): Literaturgeschichte – eine unaufgeräumte Baustelle der kompetenzorientierten Deutschdidaktik. In: Frickel, Daniela A.; Boelmann, Jan M. (Hg.): Literatur – Lesen – Lernen. Festschrift für Gerhard Rupp. Frankfurt/M.: Peter Lang, S. 79–103.

KORTE, HERMANN (2003): Editorial: Ein schwieriges Geschäft. Zum Umgang mit Literaturgeschichte in der Schule. In: Der Deutschunterricht, H. 6, S. 2–11.

PANDEL, HANS-JÜRGEN (1987): Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen. In: Geschichtsdidaktik 12, S. 130–141.

_______________

MATTHIAS PAULDRACH ist assoziierter Universitätsprofessor für Fachdidaktik Deutsch an der Universität Salzburg. Seine Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Literatur- und Mediendidaktik, inbesondere Filmdidaktik und (auto-)biographische Texte im Literaturunterricht. E-Mail: [email protected]

JOHANNES ODENDAHL ist Universitätsprofessor für Deutschdidaktik an der Universität Innsbruck. Sein besonderes Forschungsinteresse gilt der Erkundung des literarischen bzw. ästhetischen Verstehens, der Verwandtschaft von Literatur und Komik/Humor/Ironie sowie den intermedialen Berührungspunkten von Literatur und Film, bildender Kunst sowie speziell Musik. E-Mail: [email protected]

Carlo Brune

Literaturgeschichte für alle

Funktionen, Inhalte und Vermittlungsformen im Deutschunterricht

Der Beitrag stellt die Relevanz literatur- und kulturgeschichtlicher Reflexion im Deutschunterricht auf allen Klassen- bzw. Jahrgangsstufen heraus. Hierzu werden an die Primarstufe, die Sekundarstufe I und die Sekundarstufe II angepasste Ziele einer historischen Kontextualisierung literarischer Texte aufgezeigt und an konkreten Beispielen festgemacht. Sichtbar werden so – insbesondre im Bereich der Primarstufe – notwendige Ergänzungen schulischer Praxen. Schließlich werden in Anlehnung an Überlegungen Karlheinz Fingerhuts (vgl. Fingerhut 2002, S. 162) Zugänge zur Literaturgeschichte im Bereich der Sekundarstufe II skizziert, die epochenübergreifende Fragestellungen und Themenfelder sichtbar machen.

Literaturgeschichtlichen Entwicklungen und Kontextualisierungen kommt im Deutschunterricht, diesen Eindruck vermitteln zumindest die Lehrpläne und die Vorgaben für zentrale Abschlussprüfungen sowohl in Österreich als auch in Deutschland, primär in den höheren Klassen am Ende der Schullaufbahn Bedeutung zu. Im Primarstufenbereich, das heißt in der Volksschule in Österreich bzw. in der Grundschule in Deutschland, werden historische Kontexte ausgeblendet; im Bereich der Sekundarstufe I finden sie eher am Rande Berücksichtigung.

Vor diesem Hintergrund verfolgt der Beitrag drei Ziele: Zum einen wird dargelegt, warum kultur- und literaturgeschichtliche Zusammenhänge für das literarische Lernen unabdingbar sind, und zwar von Beginn der Schullaufbahn an. Dies gilt in jeweilig altersadäquater Art und Weise für formale Gestaltungselemente, etwa historisch vermittelte Gattungscharakteristiken, ebenso wie für die in den Texten verhandelten Inhalte, etwa im Zusammenhang von Handlungselementen oder Figurenkonstruktionen. Zum zweiten sollen diese Überlegungen an konkrete literarische Beispiele zurückgebunden werden, die exemplarisch ausgewählt sind und an denen die Relevanz kultur- und literaturgeschichtlicher Kontextualisierungen aufgezeigt wird. Zum dritten wird auf die Art und Weise, wie mit solchen Zusammenhängen schulstufenspezifisch gearbeitet werden kann und wie sie zu vermitteln sind, eingegangen.

1.   Primarstufe: Kulturgeschichtliches Bewusstsein schaffen, Veränderungen erkunden

Im Bereich der Volks- bzw. Grundschule (Klassenstufe 1–4) findet sich sowohl im österreichischen Volksschullehrplan (vgl. BMBWF 2023, S. 60–66 und BMUK 2023, S. 55–62) als auch im Lehrplan von Nordrhein-Westfalen (vgl. Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2021, S. 9–33) kein Hinweis, der explizit eine Berücksichtigung der geschichtlichen Dimension literarischer Texte einfordert. Dies ist umso erstaunlicher, als die Lehrpläne in anderen Fächern zu einer Auseinandersetzung mit historischen Kontexten anregen, etwa wenn in Österreich in der Gesamte[n] Rechtsvorschrift für Lehrpläne der Volksschule und der Sonderschulen auf der Grundstufe 1 (erste und zweite Schulstufe) für den Sachunterricht im Erfahrungs- und Lernbereich »Zeit« davon die Rede ist, »[a]lte Gebäude, Kulturdenkmäler in unmittelbarer Umgebung« aufzusuchen und so »durch eigene Erlebnisse und Erfahrungen zu einem altersgemäßen Geschichtsverständnis [zu] gelangen« (vgl. BMBWF 2023, S. 162). Und auch in Deutschland wird im Primarstufenlehrplan des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen sowohl im katholischen Religionsunterricht1 als auch im Sachunterricht2 ausdrücklich zur historischen Reflexion angeleitet. Wenn dies im Deutschunterricht fehlt, kann der Grund hierfür also nicht sein, dass den Schülerinnen und Schülern altersbedingt solche Leistungen nicht zuzutrauen wären.

In der Grundschule sollten literarische Texte zumindest insoweit kulturgeschichtlich situiert werden, als dass Schülerinnen und Schülern grundlegende Differenzen ihres heutigen Weltbildes zu demjenigen historischer Texte vermittelt werden. Ich konkretisiere dies am Beispiel einer nach wie vor populären Textgattung, den Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen. Hier lassen sich nicht nur zentrale Kennzeichen der literarischen Form »Märchen« im historischen Kontext vermitteln, sondern auch auf der Ebene der Figurenzeichnung respektive Handlung etwa typisierte Muster der Geschlechterrollen, gegebenenfalls erweitert um intersektionale Perspektiven3, kritisch reflektieren (vgl. Titzmann 2018, S. 293).

Märchen verstoßen gegen den zeitgenössischen »kulturellen Realitätsbegriff« (ebd., S. 295). Dass genau dies zugleich eines ihrer zentralen Merkmale bildet, kann und sollte bereits Schülerinnen und Schülern der Primarstufe bewusst sein und lässt sich leicht am Beispiel des Märchens Hänsel und Gretel erarbeiten. Ist der Anfang des Märchens mit der durch eine Hungersnot bedingten Aussetzung der Geschwister durch ihre Eltern im Wald noch mit unserem Wirklichkeitsbegriff vereinbar (und bildet eine, wenn auch gottlob nur äußerst seltene historische Tatsache ab), so wird dies spätestens mit dem aus Brot und Zucker gebauten Haus der Hexe durchbrochen. Gleiches gilt für deren Bewohnerin, die mit Kannibalismus in Verbindung gebracht wird, und noch mehr für das weiße Entchen, das die Bitte von Grete (und somit die menschliche Sprache) am Ende des Märchens versteht, die beiden Kinder auf ihrem Rücken über den Fluss trägt und so semantisch aus dem magischen Raum wieder hinaus- und in ihre Heimat zurückbringt. In anderen Märchen sind solche wirklichkeitsüberschreitenden Elemente zum Teil noch deutlicher markiert: Hexen oder böse Feen können wahr werdende Verwünschungen aussprechen, Figuren wie Schneewittchen oder Dornröschen für »lange, lange Zeit« (Grimm 2021, S. 200) respektive »hundert Jahre« (ebd., S. 162) in einen Totenschlaf ohne Verwesungsanzeichen fallen, um putzmunter wieder daraus zu erwachen.

Im Unterricht lässt sich das »intuitive[] Wissen« von den Regeln, denen Märchen folgen, »bewusst […] machen« und ein »Zugang zu wesentlichen Bestandteilen des kulturellen Wissens« ermöglichen (vgl. Titzmann 2018, S. 304). Die Schülerinnen und Schüler werden so befähigt, Funktionen zu benennen, die den oft magisch konnotierten Elementen (worunter auch zahlenmagische Vorstellungen fallen) und anderen Kennzeichen (wie festen Eröffnungs- und Schlussformeln, typisierten Figurenzeichnungen etc.) zukommen. Die Funktion der magischen Elemente deckt sich in Teilen zudem mit den Gründen, weshalb das Märchen in der Zeit der Etablierung des naturwissenschaftlichen Weltbildes um 1800 und einer zunehmenden Funktionalisierung des gesellschaftlich-kulturellen Lebens so populär wird: Es entwirft Gegenwelten, ermöglicht zumindest zeitweise, in der eigenen Imagination, ein Verlassen der als begrenzt erfahrenen Realität und so neue Blickwinkel auf das eigene und soziale Leben. Dies wird sich im Grundschulunterricht nicht in all seinen kulturgeschichtlichen Voraussetzungen und Implikationen (etwa, was das hiermit verbundene Interesse einer »Mythisierung der kulturellen Tradition des deutschen Volkes« [Kremer/Kilcher 2015, S. 26] betrifft) vermitteln lassen. Ein Bewusstsein dafür, dass unser heutiges, naturwissenschaftlich geprägtes Weltbild in literarischen Formen überschritten wird und gerade das faszinierend sein kann, aber sehr wohl.

Zugleich lassen sich aus heutiger Sicht problematische Elemente auf Ebene der histoire zur Reflexion bringen. Dies betrifft etwa die Figurenzeichnungen mit ihren typisierten, vermeintlich natürlichen Merkmalszuschreibungen und den hiermit verbundenen Wertungen von Geschlechterrollen – oft in intersektionaler Verbindung zu bestimmten Altersgruppen und/oder sozialen resp. ethnisch-kulturellen Zugehörigkeiten (vgl. Titzmann 2018, S. 293). Bei der Auseinandersetzung mit dem Märchen Hänsel und Gretel etwa kann ausgehend von einem Textvergleich in unterschiedlichen Auflagen der Kinder- und Hausmärchen die Frage aufgeworfen werden, weshalb es in späteren Fassungen nicht länger die Mutter, sondern die Stiefmutter ist, die die Kinder im Wald aussetzen will. Die Frage, was mit diesen Veränderungen bezweckt wird, liegt auf der Hand: Es erscheint gemäß einem idealisierten Mutterbild nicht plausibel, dass die leibliche Mutter derart unmenschlich handelt, da sie, wie angenommen wird, aufgrund der engen Bindung an und Fürsorge für ihr Kind zu einer solchen Tat nicht fähig sein kann. Diese Naturalisierung von Geschlechterrollen, in diesem Fall spezifisch der Mutterrolle als Gegenbild der Stiefmutterrolle (vgl. Thiessen 2019), lässt sich im Zuge dessen hinterfragen; zumal es Kinder geben wird, die nach der Scheidung mit einem »Stiefvater« oder einer »Stiefmutter« großwerden und vielleicht sogar bessere Erfahrungen sammeln als mit ihrem leiblichen Elternteil.

Doch ist es nicht nur die auffallend häufige Negativattribuierung der Stiefmutter4, über die in vielen Grimm’schen Märchen Frauen aus heutiger Sicht fragwürdige Eigenschaften zugeschrieben werden. Das Handeln der weiblichen Figuren kennzeichnet in der Regel entweder ein Verhalten, das von Uneigennützigkeit und Demut geprägt ist: Unter der Voraussetzung makelloser Schönheit, die zentrales Differenzmerkmal junger Frauenfiguren ist, wird Demut durch die gegebenenfalls nach geduldig ertragenem, langem und oft leidvollem Warten erfolgende Heirat mit dem Prinzen belohnt (so etwa in Dornröschen oder Aschenputtel), die zum eigentlichen Lebensziel wird. Oder die Frauen zeigen sich von Neid und Egoismus getrieben (vgl. neben der Stiefmutter in Hänsel und Gretel etwa die Stiefschwestern oder wiederum die Stiefmutter in Aschenputtel), wobei sich das Verhalten der weiblichen Figuren oft über den Kontrast zu dem der männlichen Figuren noch schärfer konturiert (was bereits für das Elternpaar in Hänsel und Gretel gilt, stärker aber noch etwa für die Eheleute im Märchen Von dem Fischer un syner Fru).5 Da diese naturalistische Typisierung von Geschlechterrollen sich gerade in zeitgenössischen populärkulturellen Produktionen für Kinder im Grundschulalter wiederfindet (vgl. etwa die Disney-Verfilmung Cinderella oder vor dem Hintergrund von Andersens Kunstmärchen Die kleine Meerfrau auch Arielle, die Meerjungfrau), ist die Sensibilisierung für die historische Bedingtheit der aufgegriffenen Rollenmuster und deren Problematisierung gerade für Primarstufenschülerinnen und -schüler von hoher Relevanz.

2.   Sekundarstufe I: Bedingtheiten reflektieren, kulturgeschichtliche Kontexte für Sinnbildungsprozesse erschließen

Hinweise auf die Relevanz literatur- und kulturgeschichtlicher Kontexte in der Sekundarstufe I finden sich sowohl in den für Österreich gültigen Lehrplänen als auch in dem des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen in Deutschland. Im Lehrplan für die Mittelschule in Österreich heißt es, dass in der Auseinandersetzung mit »[l]iterarische[n] und pragmatische[n], lineare[n] und nichtlineare[n] Texte[n] […] auch historisch-gesellschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte Beachtung« finden sollen (BMUKK 2023, S. 34; mit identischer Formulierung auch in den Lehrplänen für die unteren Klassen der Allgemeinbildenden höheren Schulen, vgl. BMUK 2023, S. 57). Der Kernlehrplan für die Sekundarstufe I von Nordrhein-Westfalen formuliert wie folgt:

Die Begegnung und Auseinandersetzung mit Literatur – auch in ihren unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Bezügen – soll Leseinteresse wie Lesevergnügen wecken und zur Lektüre von Literatur anregen. Sie ermöglicht es, Grundmuster menschlicher Erfahrungen kennenzulernen [sic] und trägt dazu bei, eigene Positionen und Werthaltungen zu entwickeln. (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2019, S. 9)

Das in beiden Formulierungen Verwendung findende »auch« markiert zwar, dass beide Lehrpläne kultur- und literaturgeschichtliche Aspekte nicht in den Vordergrund stellen, doch werden sie berücksichtigt – auch um Brücken in die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu schlagen. Die Notwendigkeit einer solchen historischen Kontextualisierung, die für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden kann, wird im Folgenden am Beispiel einer in den unteren Klassenstufen der Sekundarstufe I relevanten literarischen Form herausgearbeitet: der Fabel. Die im Unterricht eingesetzten Beispiele folgen in der Regel dem Typ der Lehrfabel, die seit der griechischen Antike etabliert und gerade zur Zeit der Aufklärung im Kontext eines Literaturverständnisses populär ist, dem das (vermeintliche) Diktum Horaz’: prodesse et delectare6 zugrunde liegt. An ihrem Beispiel können Schülerinnen und Schüler sich im Unterricht zunächst deren (geschichtlich übergreifendes) Strukturprinzip erarbeiten: die Unterscheidung von Bild- und Sachebene. Auf der Bildebene arbeitet die Fabel mit einer »textübergreifende[n] Anthropomorphisierung« (Zymner 2002, S. 80; vgl. dazu und zum Folgenden: Brune 2022): Die Tiere verkörpern typisierte menschliche Eigenschaften, die als bekannt vorausgesetzten kulturellen Konventionen entsprechen und historisch weitgehend invariabel bleiben. Hier dient die »erzählte Geschichte als bloßes Beispiel zu einer allgemeinen ›Lehre‹« (Zymner 2002, S. 100). Doch schon bei deren Erschließung wird es notwendig, den Schülerinnen und Schülern kultur- und literaturgeschichtliche Hintergründe zu vermitteln. Dies soll am Beispiel der Fabel Die Grille und die Ameise aufgezeigt werden.7

Der Stoff dieser Fabel stammt aus der Antike und wurde dort schon mehrfach bearbeitet. Ausgehend von einer Sammlung, die Äsop im sechsten vorchristlichen Jahrhundert zugeschrieben wird, finden sich Bearbeitungen bei Phaedrus, Babrios und Avianus (vgl. Vida 1990, S. 162). Ich wähle im Folgenden die Fassung von Babrios aus dem frühen zweiten nachchristlichen Jahrhundert aus und fokussiere die sprachliche Gestaltung, die rezeptiv Sym- und Antipathien lenkt: Die Grille hat mit ihrem sorglosen Gesang im Sommer und der hiermit verbundenen Weigerung, durch Arbeit Vorräte für den Winter anzulegen, kein Mitleid verdient, die fleißige Ameise handelt ihr gegenüber moralisch richtig. Die Antipathien, die der Text gegenüber der Grille auslöst, lassen sich etwa an der im Befehlston gehaltenen Äußerung der Grille ablesen, die es auf den Vorrat der Ameise abgesehen hat: »Gib mir davon […]« (Babrios 1975). Ebenso zielt die Antwort der Grille auf die Frage der Ameise, was sie denn im Sommer getan hätte: »Da war ich sehr beschäftigt, sang und sang immer« (Babrios 1975), über die Wiederholung des Verbs darauf, die ausschließliche Beschäftigung mit dem eigenen Gesang als unnütze Tätigkeit auszuweisen.

Zur Einordnung dessen werden kulturgeschichtliche Kontexte hinsichtlich des Menschen- und Gesellschaftsbildes der Antike relevant. Das Leben ist auf den Staat zurückbezogen, dies kann im Unterricht anhand kurzer Auszüge aus der Staatsphilosophie des Aristoteles erarbeitet werden, die zumindest in diesem Punkt noch für die Früh- und Hochzeit des römischen Reiches von Bedeutung bleibt. Der Staat, so heißt es, gehöre »zu den von Natur aus bestehenden Dingen« und der »Mensch [ist] von Natur aus ein staatsbezogenes Lebewesen« (Aristoteles 2010, S. 78 – I, 1252b). Ein neuzeitlicher Subjektbegriff kann nicht vorausgesetzt werden. Im Zuge dessen wird die künstlerische Betätigung als Zeitverschwendung abgewertet; sie schafft keine Lebensgrundlage und lässt die Gemeinschaft dafür aufkommen. Legitimiert ist Kunst, so lässt sich die Fabel auch lesen, einzig in der Veranschaulichung moralischer Lehren, die einen gesellschaftlichen Erziehungsauftrag haben.

Im Neuhumanismus und zur Zeit der Aufklärung prägen sich im kulturellen Diskurs Vorstellungen menschlicher Individualität und Subjektivität zunehmend aus. In Frankreich sind diese Prozesse zeitlich früher anzusiedeln als in Deutschland, und die Fabeln Jean de La Fontaines weisen in ihrer Kritik des höfischen Lebens und der sich in ihnen dokumentierenden Freigeistigkeit bereits auf »die aufgeklärten Salons« des 18. Jahrhunderts (vgl. Grimm 2021, S. 193) voraus. Dies spiegelt sich in der aufwändigen lyrischen Faktur: Neben der metrischen Gestaltung, der siebensilbigen Versstruktur und Reimen arbeitet La Fontaine mit sprachspielerischen Verfremdungen der Alltagssprache.8 Ohne den Begriff der Performativität einführen zu müssen, können im Unterricht Reflexionsprozesse in Gang gesetzt werden, inwieweit diese kunstvolle sprachliche Ausgestaltung der Fabel in Spannung zu ihrer bei La Fontaine schon nicht mehr so klaren Lehre steht.

Doch noch durch ein anderes Mittel wird diese in ihrer Eindeutigkeit, die sie in den antiken Fassungen hat, aufgebrochen: Die Sympathielenkung verschiebt sich meines Erachtens zugunsten einer Empathie mit der Grille. Ablesbar ist dies zum einen an einer Charakterisierung der Ameise: »[S]ie krankt ein wenig an Knausrigkeit« (La Fontaine 1975). Zum anderen am demütigen Auftreten der Grille, die nur um ein paar Körnchen bittet, die sie zudem geliehen, nicht geschenkt haben will, und Rückgabe verspricht, was eine künftige Verhaltensänderung impliziert. Die Weigerung, dieser Bitte zu entsprechen und der Grille so ein Überleben in diesem einen Winter zu ermöglichen, erscheint so ausgesprochen herzlos. Dies unterstreicht der zynische Satz der Ameise, mit dem die Fabel schließt: »Gesungen habt Ihr? Ei, der Daus, [/] wohlan, so tanzet jetzt!« (La Fontaine 1966, S. 51)