Lotostochter - Anisha Mörtl - E-Book

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Anisha Mörtl

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Beschreibung

Ein adoptiertes indisches Mädchen auf der Suche nach seiner leiblichen Mutter

Anisha – elf Monate ist das indische Mädchen alt, als es von einem deutschen Ehepaar adoptiert wird. 13 Jahre später, zerrissen zwischen ihrer indischen Herkunft und ihrem Leben in Deutschland, begibt sich Anisha auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter. In Indien trifft sie auf ein korruptes System: ein katholisches Waisenhaus, geleitet von einer Nonne, die Anishas Mutter das Baby entriss und es ohne deren Einverständnis den westlichen Adoptiveltern übergab. Trotz großer Widerstände findet Anisha ihre Mutter wieder: Fatima, eine arme Frau, Analphabetin, die sich gegen die Ordensfrau nicht wehren konnte. Anisha ist heute eine starke junge Frau. Offen spricht sie über ihr bewegendes Schicksal und regt an, das Thema Adoption kritisch zu hinterfragen. Die unglaubliche Geschichte von Anisha und Fatima, von Kinderhandel und Korruption, von Mutterliebe, Sehnsucht nach Heimat und unendlicher Einsamkeit.

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Inhaltsverzeichnis

PrologDas schwierige Wort »Adoption«Die Erwartungen meiner MutterCopyright

Prolog

»Du bist ein gestohlenes Kind!«

Der junge Mann sah mir auf eine Weise in die Augen, die ich nicht gewohnt war. Was meinte er damit? Die indische Sonne stand schon tief, meine Eltern, Arun Dohle und ich saßen im Außenbereich eines Restaurants in Hyderabad. Gerade erst hatten wir uns kennengelernt, und jetzt überfiel mich Arun mit diesem ungeheuerlichen Satz. Ich konnte spüren, wie meine Eltern die Schultern strafften und auf Abwehr gingen. Meine Mutter warf Arun einen Blick zu, als sollte der ihn auf der Stelle in Stein verwandeln. Sie sog hörbar die Luft ein, doch ehe sie etwas sagen konnte, kam ich ihr zuvor.

»Wie meinst du das?«, fragte ich.

Vom ersten Augenblick an hatte ich große Sympathie für Arun Dohle empfunden. Wir hatten etwas gemeinsam, und damit meine ich mehr als nur unsere indische Abstammung. Arun hatte eine unglaublich intensive Art, die mir fast ein wenig übertrieben vorkam. Gleichzeitig ging von ihm eine Freundlichkeit aus, die mir das Herz erwärmte, und mit dieser Mischung schlug er mich in seinen Bann. Auf Anhieb sah ich in ihm einen Vertrauten, einen, der es gut mit mir meinte. Jemanden, der mich verstand.

»Und wie war das bei dir?«, hatte ich ihn gleich bei der Begrüßung gefragt. Auch er war in Indien geboren und von deutschen Eltern adoptiert worden. Meine Frage hatte ihn zum Lachen gebracht. Ich dagegen fand seinen Satz, ich sei ein gestohlenes Kind, überhaupt nicht lustig. War das nicht schrecklich übertrieben?

»Ganz einfach«, sagte er. »Es ist so, wie ich es sage. Genauso wie ich bist du deiner wahren Familie weggenommen worden.«

Ein Sturm der Entrüstung ging durch meine Eltern, die mich vor fast vierzehn Jahren adoptiert hatten. Wie er so etwas nur sagen könne. Das sei eine unverantwortliche Behauptung, die mich doch nur durcheinanderbringen würde. Sie waren entrüstet darüber, dass dieser Fremde einfach so daherkam und mich mit seiner unglaublich klingenden Geschichte erschütterte.

»Ist ja gut«, sagte Arun, und in seinen Augen lag etwas Gewitztes. »Wenn die Adoption bei Ihnen ganz anders verlaufen ist und Sie sich nichts vorzuwerfen haben, müssen Sie sich auch nicht aufregen. Dann haben Sie nichts zu verbergen und können Anisha bei der Suche nach ihrer leiblichen Mutter helfen.«

Während meine Eltern mit Arun diskutierten, hallte in mir dieser Satz wider. »Du bist ein gestohlenes Kind.« Das klang zu ungeheuerlich, als dass ich es damals glauben konnte, auch wenn Arun noch so sehr davon überzeugt zu sein schien. Lag es vielleicht daran, dass er selbst schlechte Erfahrungen gemacht hatte und nun dachte, dass das Gleiche auf alle adoptierten Kinder zutreffen müsste? Und doch konnte ich mir nicht vorstellen, warum er Lügen erzählen und sie dann auch noch mit einer solchen Vehemenz vortragen sollte. Je länger ich mit Arun sprach, umso mehr Eigenschaften entdeckte ich an ihm, die auch auf mich zutrafen. Wie er werde ich noch heute hitzig und temperamentvoll, wenn ich mir einer Sache ganz sicher bin und unbedingt möchte, dass mir mein Gegenüber glaubt. Und hatte ich nicht von Anfang an, all die Jahre in Deutschland, seit man mir von meiner indischen Herkunft und der Geschichte meiner Adoption erzählt hatte, das Gefühl gehabt, dass daran etwas nicht stimmte? Dass irgendein entscheidendes Detail fehlte? Und schien das, was Arun jetzt sagte, dieses Gefühl nicht zu bestätigen? Hatte ich nicht aus ebendiesem Grund meine Adoptiveltern gebeten, mit mir nach Indien zu fahren, um dort mit mir nach meinen Wurzeln zu suchen? Saß ich jetzt nicht genau deshalb hier, um mit Arun Dohle zu sprechen, der seit Jahren auf der Suche nach seiner leiblichen Mutter war und viel mehr über dieses Thema wusste als ich?

»Du bist ein gestohlenes Kind!«

Dieser Satz war nicht der Anfang meiner Suche nach der Wahrheit. Aber er bedeutete eine entscheidende Wendung auf meinem Weg zu ihr. Wäre er nicht ausgesprochen worden, wer weiß, ob ich meinen Ahnungen weiterhin gegen alle Widerstände, die sich mir entgegenstellten, gefolgt wäre. Wer weiß, ob es mir gelungen wäre, das Unrecht zu erkennen, das vierzehn Jahre zuvor rund um meine Geburt geschehen war. Aruns Worte sorgten dafür, dass ich das Ungeheuerliche nun immerhin für möglich hielt.

Denn es ist wahr. Jahre später sollte sich zeigen, dass Arun damals den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Und das Schlimme ist: Auch heute noch werden jeden Tag unzählige Kinder ihren Familien weggenommen und wie eine Ware in die ganze Welt verkauft. All das geschieht unter dem Deckmantel der Nächstenliebe. Darunter aber verbergen sich Geldgier, Korruption, Kaltblütigkeit und die Anmaßung, über Wohl und Weh fremder Schicksale zu entscheiden, sowie ein allgemein akzeptiertes Geschäft mit den Sehnsüchten von kinderlosen Paaren, ein Ausverkauf der Gefühle. Dahinter steht nichts anderes als ein globales Netz von gut organisierten und wohlgelittenen, ja sogar angesehenen Kinderhändlern. Im Namen der Menschlichkeit werden Familien gnadenlos auseinandergerissen, Kinder entwurzelt und die grundlegendsten Menschenrechte mit Füßen getreten. Meine Geschichte ist nur ein Beispiel unter Tausenden. Ja, Arun Dohle hatte recht. Ich bin ein gestohlenes Kind, und dies ist meine Geschichte.

Das schwierige Wort »Adoption«

Am Anfang war das Gefühl von heißem Asphalt unter den Füßen. Kleine Füße. Sie müssen schnell laufen, denn wenn sie stehen bleiben, dann brennen sie fest ...

Wenn ich versuche, mich an damals zu erinnern, dann ist es, als griffe ich nach hauchfeinen, flatternden Vorhängen. Doch statt sie zu erhaschen, lösen sie sich auf und werden überlagert von Dingen, die man mir erzählt hat. Von Fotos, die man mir zeigte. Von Geschichten, von denen ich nicht weiß, ob sie wahr sind. Nur das Gefühl von heißem Boden unter den Fußsohlen ist mir geblieben und noch heute liebe ich es, barfuß zu laufen und die Hitze der Erde zu spüren.

Es war an einem ganz normalen Abend in unserer Moosacher Wohnung. Meine Mutter sah sich gerade eine Folge ihrer Lieblingsserie an, in der eine junge Frau ein Baby bekam. Sie hatte Schmerzen, das konnte man sehen und hören, und ich fragte meine Mutter: »Mama, hast du auch so geschrien und Schmerzen gehabt, als du mich bekommen hast?«

Da sagte sie: »Nein, Anisha. Ich habe dich anders bekommen. «

»Wie denn?«, wollte ich wissen.

»Du kommst aus einem anderen Land.«

»Aus welchem Land?«

»Aus Indien.«

Damals war ich drei Jahre alt und lernte ein schwieriges Wort: »Adoption«. Dieses neue Wort erklärte viele Dinge, die mich umtrieben. Warum meine Haut so dunkel war und die meiner Eltern nicht. Warum ich so anders aussah als die meisten Kinder, die mit mir in den Kindergarten gingen. Für all das war die Adoption verantwortlich, und ich war zufrieden, fragte nicht nach, ob ich dort im fernen Indien vielleicht Eltern hätte oder Geschwister. Ob dort Menschen lebten, die so aussehen wie ich. Diese Fragen kamen erst später, als ich in die Schule kam. Ich malte Bilder mit dunkelhäutigen Menschen, Papa, Mama und zwei Geschwister. Keiner von ihnen hatte ein Gesicht.

Das war, nachdem mir meine Eltern erzählt hatten, was sie über meine Herkunft wussten: Dass meine Eltern mich fortgeben mussten, weil sie bereits zwei Töchter hatten und für eine dritte nicht mehr sorgen konnten. Wie sie mich daraufhin bei Schwester Teresa abgaben, die so lieb war, auf mich aufzupassen, bis meine Eltern aus Deutschland kamen, um mich als ihre Tochter anzunehmen — zu adoptieren eben.

All das musste ich erst einmal verdauen. Ich hatte also zwei Schwestern? Dann tauchten mehr Fragen in mir auf, ich wollte es genauer wissen. Wie genau war das alles vor sich gegangen? Wo lebten meine richtigen Eltern? Und vor allem: Sahen sie mir ähnlich?

Ich hatte damals eine Freundin, die ihrer Mutter glich, als sei sie ihr aus dem Gesicht geschnitten, und das faszinierte mich enorm. Ich verbrachte viel Zeit im Haus dieser Freundin, und immer, wenn ich Mutter und Tochter betrachtete, musste ich darüber nachdenken, ob meine richtige Mutter mir wohl auch ähnlich sah. Und so kam es, dass mir immer öfter bewusst wurde, dass ich ja noch eine andere Mutter hatte als die, die für mich sorgte.

Wo diese echte Mutter wohl war? Und diese Schwestern, sahen sie so aus wie ich? Wie würde es sich anfühlen, wenn mir jemand ähnlich sähe? Doch all das konnten mir meine Eltern nicht beantworten. Sie wussten es einfach nicht. Irgendwann hörte ich auf, solche Fragen zu stellen, denn ich begriff, dass es nur diese eine Geschichte gab, die Schwester-Teresa-Geschichte, wie ich sie im Stillen nannte. Aber da war ein Gefühl, das ich nicht benennen konnte. Dieses Gefühl sagte mir, dass an der ganzen Sache irgendetwas nicht stimmte.

Dass meine richtigen Eltern arm waren, so arm, dass sie mich nicht hatten behalten können, beschäftigte mich oft. Einmal, als ich meinen Spinat mit Kartoffeln nicht aufessen wollte, sagte mein Papa zu mir: »Die armen Kinder in Indien haben nichts zu essen. Also iss du wenigstens auf.« Aber was half es den armen Kindern in Indien, wenn ich mein Essen aufaß, obwohl ich schon satt war? Also packte ich Kartoffeln und Spinat in einen Briefumschlag, auf den ich geschrieben hatte: »An die armen Kinder in Indien«, klebte ihn zu und warf ihn in den Briefkasten. Ein anderes Mal bewahrte ich eine Portion Fisch in einer Kiste auf, die ich ebenfalls zur Post bringen wollte, aber dann in meinem Zimmer vergaß, wahrscheinlich auch, weil ich sie nicht essen wollte, bis die Kiste eines Tages entdeckt wurde, als der Fisch schon Schimmel angesetzt hatte und schlecht roch. Meine Mutter schimpfte. Aber mein Papa fand es lustig.

Später erzählten meine Eltern mir immer wieder, fast mit ein wenig Wehmut in der Stimme, was für ein süßes Kind ich gewesen sei, als ich noch ganz klein war. Meine Eltern waren mit mir durch die ganze Welt gereist. Das war kein Problem, denn ich schlief überall wie ein Murmeltier, sei es im Flugzeug oder in irgendwelchen Unterkünften. Ich kam mit der Zeitverschiebung gut zurecht, jammerte nicht, wenn die Reise anstrengend war, vertrug jedes Essen und hatte immer gute Laune. Das Einzige, was meinen Eltern Sorgen machte, war mein schlimmer Husten, den ich bereits aus Indien mit nach Deutschland gebracht hatte. Eine chronische Bronchitis, wie sich herausstellte, und den Optimismus meiner Eltern Lügen strafte, die der Meinung gewesen waren, erst einmal in Deutschland, würden mich anständige Ärzte schon heilen. Doch trotz aller Anstrengungen der Götter in Weiß blieb die Bronchitis meine ständige Begleiterin. Bis ein Arzt schließlich ein homöopathisches Mittel fand, das mir endlich half. Damals war ich zwölf Jahre alt, und noch heute ist er der Einzige, der mir helfen kann, wenn es mir wieder einmal gesundheitlich schlecht geht.

Davor allerdings war meine Bronchitis mitunter so schlimm, dass ich Blut hustete und meine Eltern fürchteten, ich würde ersticken. Seltsamerweise störte mich selbst dieser Husten gar nicht so sehr, ich war an ihn gewöhnt, er gehörte zu mir wie meine dunkle Haut und meine widerspenstigen Locken. Auch wenn mir meine Mutter diese eines Tages radikal abschnitt, sodass ich aussah wie ein kleiner Junge und mich im Spiegel selbst nicht mehr wiedererkannte, so wuchsen sie doch immer wieder nach, nur leider fand ich sie nie wieder so schön wie zuvor. Den Husten habe ich heute ebenfalls noch, allerdings hat er sich durch die Homöopathie entscheidend gebessert.

Als ich sechs Jahre alt war, zogen wir in ein eigenes, schönes, geräumiges Haus. Auf den Fotos vor dem Rohbau schaue ich finster drein, denn ich hatte keine Lust umzuziehen. Meine Freundinnen lebten in unserem alten Wohnort, und ich fand es außerdem völlig unnötig, dass zwei Erwachsene und ein kleines Kind in einem so großen Haus wohnen sollten. Schnell fand ich heraus, dass ich in unserer Siedlung die einzige Ausländerin war, hier lebten fast nur hellhäutige Mädchen mit blonden Haaren, unter denen ich herausstach wie ein schwarzes Schaf unter lauter weißen Lämmern. Zudem kannten sich die Familien dort seit Generationen. Schon die Eltern waren in den gleichen Kindergarten, auf das gleiche Gymnasium oder die gleiche Realschule gegangen und hatten die gleiche Fahrschule besucht, und so ging es bei ihren Kindern weiter. Nur ich war bei dieser Entwicklung ein klein wenig später eingestiegen und unterschied mich somit noch etwas mehr von den anderen Kindern.

Bei meiner Einschulung hatte ich eine riesige Schultüte, sie war fast so groß wie ich selbst. Dennoch denke ich auch heute noch ungern an diesen Tag, denn es war einer der ersten von vielen, die folgen sollten, an denen ich erbitterten Streit mit meiner Mutter hatte. Der Anlass? War wie immer nichtig. Ich hasste es, wenn mir Leute etwas in meine Haare steckten. Mein dichtes dunkles Haar mit den großzügigen Wellen schien Erwachsenenhände geradezu magisch anzuziehen, sie wollten es unbedingt scheiteln, kämmen, flechten oder zurechtstecken. Das konnte ich überhaupt nicht leiden, und wenn ich heute das Foto meiner Einschulung betrachte, dann bleibt mein Blick immer an dem roten Spängchen hängen, das mir meine Mutter unter meinem Protest ins Haar gepresst hatte. Auch am Tag meiner Taufe stritten wir. Ich wurde erst mit sieben Jahren getauft. Zu diesem Anlass hatte ich ein neues Kleid bekommen mit passenden Schuhen und Söckchen. Am Tag zuvor wollte ich die Schuhe vor dem Spiegel anprobieren. Als meine Mutter das sah, schrie sie mich an, was mir denn einfiele, die neuen Sachen dürfe ich erst an meinem großen Tag tragen. »Warum?«, wollte ich wissen. Ich konnte nicht einsehen, warum ich mich nicht schon vorher an den neuen Sachen freuen durfte. Ich fühlte mich ungerecht behandelt, und wieder entbrannte ein erbitterter Streit, der das gesamte Tauffest überschattete.

Ich war fünf Jahre alt, als etwas geschah, das mein Verhältnis zu meinen Eltern und dem Wort »Adoption« für immer verändern sollte. Meine Eltern beschlossen, dass sie noch ein zweites Kind annehmen wollten. Eines Tages fragte mich meine Mutter, was ich davon hielte, ein Geschwisterchen zu bekommen.

Ein Geschwisterchen? Aber woher?

»Wir fahren in den Sommerferien nach Brasilien«, erklärte mir mein Vater. »Und dort werden wir vielleicht ein Brüderchen für dich finden.«

Finden?

»Na so, wie wir dich gefunden haben. Wir suchen ein Kind, das keine Eltern mehr hat.«

Aber ich habe doch Eltern ...

»Na ja, ein Kind, das entweder keine Eltern mehr hat oder welche, die nicht für es sorgen können.«

Und warum einen Jungen? Ein Schwesterchen hätte mir auch ganz gut gefallen. Vielleicht dachte meine Mutter, dass ein Sohn Mutterliebe viel mehr zu schätzen wüsste als eine Tochter?

Es dauerte eine Weile, bis ich mich an diesen Gedanken gewöhnte. Warum denn noch ein Kind? Wie der kleine Bruder wohl sein würde? Ob ich mich mit ihm verstehen würde? Doch die Vorbereitungen auf die Reise stellten meine Bedenken in den Hintergrund.

Es war wie gesagt nicht der erste weite Flug, den meine Eltern mit mir unternahmen. Mein Vater war schon immer ein Weltenbummler gewesen, und da er als Lehrer genügend Urlaub hatte, reisten die beiden gerne und weit. Meine Mutter hatte früher als Arzthelferin gearbeitet, hatte ihren Job aber aufgegeben, als ich zu ihnen kam. Und so hatten sie mit mir schon viele ferne Länder besucht. Dieses Mal ging es also nach Brasilien. Bis wir dort ankamen, hatte ich mich mit dem Gedanken an ein Brüderchen angefreundet und konnte es kaum erwarten, ihn endlich kennenzulernen.

Damals war ich noch viel zu klein, um mitzuverfolgen, welche Wege meine Eltern einschlugen, um in Brasilien ein Kind vermittelt zu bekommen. Heute weiß ich, dass ihnen eine Frau behilflich war, die selbst mehrere Kinder adoptiert hatte, unter anderem auch eines aus Brasilien. Adoptiveltern haben untereinander ein reges Netzwerk, tauschen sich aus, geben einander Ratschläge. Damals war es noch schwieriger als heute, Informationen über Auslandsadoptionen zu bekommen. Das Internet wurde gerade erst für Laien populär und man konnte sich noch nicht in Foren darüber informieren, wie es anderen Adoptiveltern erging. In den darauffolgenden Jahren war es dann möglich, über das Internet zu erfahren, wie viel manche Paare für ein Kind in einem bestimmten Land zahlen mussten.

Bei meinen Eltern jedoch waren oft nervenaufreibende und langwierige Telefonate notwendig, um herauszufinden, welche Stelle wofür zuständig war. Und so war es nur natürlich, dass sich angehende Adoptiveltern gegenseitig unterstützten. Meine Eltern hatten bereits vor unserer Reise von Deutschland aus alles in die Wege geleitet und erfahren, dass in Brasilien ein kleiner Junge zur Adoption freigegeben war. Als wir dort ankamen, wartete er bereits auf uns: Sebastian, vielleicht drei oder vier Jahre alt. Das Erste, was ich dachte, war: Oh, wie schön, der sieht mir ja richtig ähnlich! Auch er hatte dunkle Haut, riesige schwarze Augen und dunkle Locken. Genau wie ich. Als Nächstes fiel mir auf, dass Sebastian keine Sekunde still stehen konnte. Selbst wenn er auf einem Stuhl saß, wirkte er wie ein Gummiball, hüpfte und sprang herum, hopste und zappelte. Damals wusste ich noch nicht, dass es ein Wort für sein Verhalten gibt: Sebastian war höchstwahrscheinlich hyperaktiv, und am Anfang ging er mir damit ziemlich auf die Nerven. Um ihn besser kennenlernen zu können, nahmen wir ihn mit in unser Hotel, und dort ging die Hopserei und Zappelei weiter.

Trotzdem, oder vielleicht auch deswegen, schloss ich Sebastian in den folgenden Tagen fest in mein Herz. Wir schliefen im selben Zimmer und mit der Zeit gewöhnte ich mich an ihn. Dieses Kerlchen war ja noch kleiner als ich, und meine Beschützerinstinkte erwachten. Ich nahm ihn an der Hand, spielte mit ihm, zog ihn auf meinen Schoß und gab ihm Bussis. Jetzt hatte ich ein Brüderchen, und wenn Sebastian auch manchmal anstrengend sein konnte, war ich überglücklich.

Und dann, eines Tages, war er plötzlich wieder verschwunden.

Es hatte Ärger mit der Vermittlungsorganisation gegeben, die auf einmal exorbitante Geldforderungen stellte. Meine Eltern hatten Sebastian zu einem Arzt gebracht und einen Gesundheitscheck mit ihm machen lassen. Das hatten wiederum die Adoptionsvermittler als Beleidigung aufgefasst. Als meine Eltern sich schließlich weigerten, die überraschend hohe Vermittlungsgebühr zu bezahlen, verweigerte man ihnen das Sorgerecht für den kleinen Sebastian.

»Er hat eh so gehustet«, sagte meine Mutter noch Jahre später, »wir hätten ihn sowieso nicht mit nach Deutschland nehmen können.«

Von einem anderen Adoptivkind war danach nie wieder die Rede.

Ich aber war enttäuscht. Und erschüttert. Ich hatte mich an Sebastian gewöhnt, für mich war er bereits mein kleiner Bruder gewesen. Ich hatte ihn lieb gewonnen, hatte ihn an der Hand gehalten, auf meinem Schoß gewiegt und ihm Bussis gegeben. Und dann war er auf einmal wieder weg. Weil er hustete. So wie ich.

Die Erwartungen meiner Mutter

Meine Mutter hat kurz nach meiner Ankunft in Deutschland ihren Beruf aufgegeben, um sich ganz mir und meiner Erziehung widmen zu können. Und so hatte sie sehr viel Zeit für mich. Ich bin mir sicher, dass sie ihre Sache gut machen und mir, dem Waisenmädchen aus den Slums von Indien, eine echte Chance für ein besseres Leben geben wollte. Schon vor meiner Einschulung sagte sie oft zu mir: »Für eine Frau ist es wichtig, dass sie auf eigenen Beinen stehen kann. Sie braucht einen guten Beruf, eine solide Ausbildung, am besten ein Studium. Das ist das A und O, denn dann haben die Leute Respekt vor dir und du wirst von allen geachtet.«

Sie selbst, sagte sie, hätte diese Möglichkeiten nicht gehabt. Sie wuchs als Älteste von drei Geschwistern auf und musste auf die Jüngeren aufpassen. Sie waren Mamas Lieblinge, während meine Mutter nicht wirklich zählte. So kam es, dass sie mit siebzehn Jahren von zu Hause wegging und ins Ausland zog. Ich denke, sie fühlte sich von ihrer Familie nie wirklich geliebt und bekam zudem nicht die Chance, eine gute Schulbildung, geschweige denn ein Studium zu absolvieren. Während ihre jüngere Schwester einen Zahnarzt heiratete, wurde ihr kleiner Bruder Arzt. Und das war es, was sie für mich beschlossen hatte: Auch ich sollte einmal Ärztin werden.

Sie selbst war Arzthelferin.

Es ist ganz normal, dass Mütter für ihre Kinder nur das Beste wollen, doch meine Mutter übertrieb es von Anfang an. Schon in der Grundschule wachte sie streng über meine schulischen Leistungen, und wehe, ich brachte einmal nicht die beste Note mit nach Hause, dann gab es fürchterlichen Ärger.

Besonders im Fach Heimat- und Sachkunde, aus dem in späteren Klassen einmal der Biologieunterricht wird, duldete sie keine Schwäche. Erst viel später begriff ich, dass sie möglicherweise damals schon ihr großes Ziel, aus mir eine Ärztin zu machen, gefährdet sah. In der dritten Grundschulklasse meldete sie mich zu einem freiwilligen Englischkurs an und zunächst hatte ich auch große Lust dazu. Denn schon seit einer Weile kauften mir meine Eltern regelmäßig ein Kindermagazin mit lustigen Comics und Sprachkassetten, das mir großen Spaß machte. Meine Mutter besuchte Englischkurse in der Volkshochschule und erklärte mir unentwegt, wie wichtig es für mich sei, diese Weltsprache möglichst früh fließend zu beherrschen. Täglich hörte sie mich ab und war unerbittlich, wenn ich die Sätze nicht richtig aussprechen konnte. So kam es, dass mir die Freude an der neuen Sprache ziemlich schnell abhandenkam. Meine Mutter übte auf mich bereits im Alter von neun Jahren einen solchen Druck aus, dass mir Englisch bald verleidet war.

Sie förderte mich in diesen Jahren, wo immer sie nur konnte, doch leider überspannte meine Mutter meiner Meinung nach oft den Bogen, sodass sie das Gegenteil von dem bewirkte, was sie eigentlich erreichen wollte. Ich lernte leicht und gern, doch der Druck, den sie mir schuf, sorgte dafür, dass sich in mir Blockaden aufbauten und ich statt besserer eher schlechtere Leistungen ablieferte.

Wofür ich ihr bis heute dankbar bin, ist, dass sie meine Freude an Büchern immer unterstützt hat. Sobald ich Buchstaben entziffern und Wörter aneinanderreihen konnte, liebte ich es zu lesen. Ganz in der Nähe unseres Hauses gab es eine Bibliothek, und jede Woche lieh ich so viele Bücher aus, wie ich nur durfte. Später borgte meine Mutter mir ihren eigenen Bibliotheksausweis, damit ich noch mehr Lektüre mit nach Hause nehmen konnte. So kam es, dass ich mich nie für Computerspiele interessierte, Bücher waren einfach nicht zu toppen, und bald hatte ich die ganze Kinder- und Jugendabteilung durch. Irgendwann mischte sich meine Mutter in meine Auswahl ein, regte an, ich solle doch »bessere« Bücher lesen, nicht diesen »Mist« wie Harry Potter oder Ähnliches. Ich aber liebte Harry Potter und mein Vater teilte meine Begeisterung für die alljährlich erscheinenden Bände, sodass wir uns stundenlang über die Abenteuer des Zauberlehrlings unterhalten konnten. Meine Mutter schien das zu ärgern. Ich glaube, weil sie sich ausgeschlossen fühlte und ein bisschen eifersüchtig war. Um dem entgegenzuwirken, schenkte mein Vater ihr eines Tages einen eigenen Harry Potter-Band.

»Lies es doch auch mal«, versuchte er sie zu überzeugen, »dann weißt du, wovon wir reden.«

Aber sie weigerte sich strikt und las stattdessen weiterhin die Biografien von berühmten emanzipierten Frauen in der Geschichte und der Gegenwart. Dabei wollte sie mein Vater doch nur einbinden.

Es gab noch mehr Freizeitbeschäftigungen, bei denen ich etwas lernen durfte. Mit sechs Jahren begann ich auf eigenen Wunsch Klavier zu spielen. Jedoch stellte sich auch hier bald heraus, dass meine Motivation für das Instrument eine ganz andere war als die meiner Mutter. Ich wollte aus Spaß Musik machen und Freude dabei haben, meine Mutter aber verlangte auch hier Leistung. Ich musste jeden Tag eine bestimmte Zeit lang üben, und das Stück, das ich gerade erarbeitete, sollte dann fließend über die Tasten perlen.

So baute sich nach und nach ein ungeheurer Leistungsdruck auf, der mir alle Freude am Lernen und Üben nahm.

Ich war immer eine durchschnittliche Schülerin. In Latein aber hatte ich — nach einem schwierigen Start — sehr gute Noten. Ich freundete mich so mit dem Fach an, dass ich in der Oberstufe Latein als Leistungskurs wählte. Denn Latein war etwas, von dem meine Mutter nichts verstand, hier konnte sie mir nicht hineinreden oder mir gute Ratschläge erteilen, und darum machte mir dieses Fach ganz besonders großen Spaß. Das war in Englisch ganz anders, und fatalerweise schlug sich der Stress, den meine Mutter mir bereitete, auf meine Ergebnisse in dieser Sprache nieder, ausgerechnet in dem Fach, das meiner Mutter gleich nach allen naturwissenschaftlichen Fächern, die man ihrer Meinung nach für ein Medizinstudium brauchte, am wichtigsten war. In Englisch hatte ich von Anfang an Schwierigkeiten, und das zog sich durch bis zum Abitur.

Hatte mein Husten schon verhindert, dass wir Sebastian zu uns ins Haus holten, so war er auch der Grund dafür, dass ich ganz selten mit den anderen Kindern draußen spielen durfte.

»Du erkältest dich bloß«, hieß es immer. »Dann hustest du wieder und ich kann nicht schlafen.«

Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter mich einfach stets um sich haben wollte. Ständig ruhten ihre Augen beobachtend auf mir, unablässig kontrollierte sie, was ich tat. Ich fühlte mich nicht wohl unter ihrem Blick. Als warte sie darauf, dass sich eines Tages etwas Unberechenbares, Fremdes in mir zeigen würde.

Ich kann mich nur an wenige Gelegenheiten erinnern, bei denen ich mit den Nachbarsjungen draußen spielen durfte, ansonsten kam das einfach nicht vor. Entweder besuchte meine Mutter mit mir ein anderes Kind zu Hause, wo im Haus gespielt wurde, oder das Kind kam zu uns. Dabei wäre ich so gerne einfach mal bei schönem Wetter mit den anderen Kindern über die Wiesen gelaufen, hätte draußen herumgetollt und mich so richtig ausgetobt.

Die ständige Präsenz meiner Mutter empfand ich mit der Zeit als enorm belastend. Seit ich in die Schule ging, hatte sie aufgehört, mich zu umarmen, zu streicheln oder auf ihren Schoß zu nehmen. Zwischen uns spürte ich eine Kälte, die ich nicht greifen, nicht begreifen konnte. Ständig wurde ich bewertet, immer ging es darum, ob ich etwas richtig gemacht hatte oder nicht, und, obwohl ich mir große Mühe gab, hatte ich das Gefühl, dass ich meistens das Falsche tat. Der Zorn meiner Mutter konnte sich an unglaublichen Nichtigkeiten entzünden und so sehr ich mich auch bemühte, es ihr recht zu machen, so gelang mir das doch so gut wie nie.

Dabei wollte ich doch so gerne alles richtig machen. Sogar als ich mit sieben Jahren als Prinzessin verkleidet zum Kinderfasching ging, bemühte ich mich, den in mich gesetzten Erwartungen gerecht zu werden. Mein Vater erzählte mir erst vor Kurzem eine kleine Anekdote, an die er sich noch gerne schmunzelnd erinnert. Damals hatte ich ihn ganz ernsthaft gefragt: »Papa, sag mal, was muss man denn so tun als Prinzessin?«

Es gab eine einzige Sache in meinem Leben, die ganz allein mir gehörte und in der ich auch so gut war, dass meine Mutter daran nichts auszusetzen hatte: Im Alter von sieben Jahren begann ich zu tanzen. Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal dem Training der Mädchen in meinem Alter zusehen durfte. Es handelte sich um Showdance, eine Mischung aus klassischem und modernem

eISBN 978-3-641-06518-8

© 2011 by Südwest Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten. Vollständige oder auszugsweise Reproduktion, gleich welcher Form (Fotokopie, Mikrofilm, elektronische Datenverarbeitung oder andere Verfahren), Vervielfältigung und Weitergabe von Vervielfältigungen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Programmleitung: Silke Kirsch Projektleitung: Stefanie Heim Lektorat: Angela Stangl, Lektorat Stangl Bildredaktion: Sabine Kestler Bildnachweis: Privatfotos mit Ausnahme Bild 1: Christian M. Weiß Litho: Artilitho snc, Lavis (Trento)

Layout und Satz: Nadine Thiel | kreativsatz, Baldham Umschlagfoto und -gestaltung: Christian M. Weiß

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