Lotte in Weimar - Thomas Mann - E-Book
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Thomas Mann

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Beschreibung

Grundlage für Thomas Manns Goethe-Roman ist der historisch verbürgte Besuch Charlotte Kestners Goethes Jugendliebe und Vorbild für die Figur der Lotte im »Werther« 1816 in Weimar. 1939 ist der Roman unter schwierigen Bedingungen im Exil veröffentlicht worden. Im Rahmen der »Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe« wird »Lotte in Weimar« zum ersten Mal nach der Handschrift ediert und damit von zahlreichen Lese- und Druckfehlern bereinigt. In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe (GKFA), mit Daten zu Leben und Werk.

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Seitenzahl: 636

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Thomas Mann

Lotte in Weimar

Roman

FISCHER E-Books

In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk

Inhalt

MottoErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelAdele's ErzählungSechstes KapitelDas siebente KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelAnhangEditorische NachbemerkungDaten zu Leben und Werk

»Durch allen Schall und Klang

Der Transoxanen

Erkühnt sich unser Sang

Auf deine Bahnen!

Uns ist für garnichts bang,

In dir lebendig;

Dein Leben daure lang,

Dein Reich beständig!«

WEST-ÖSTLICHER DIVAN

Erstes Kapitel

Der Kellner des Gasthofes »Zum Elefanten« in Weimar, Mager, ein gebildeter Mann, hatte an einem fast noch sommerlichen Tage ziemlich tief im September des Jahres 1816 ein bewegendes, freudig verwirrendes Erlebnis. Nicht, daß etwas Unnatürliches an dem Vorfall gewesen wäre; und doch kann man sagen, daß Mager eine Weile zu träumen glaubte.

Mit der ordinären Post von Gotha trafen an diesem Tage, morgens kurz nach 8 Uhr, drei Frauenzimmer vor dem renommierten Hause am Markte ein, denen auf den ersten Blick – und auch auf den zweiten noch – nichts Sonderliches anzumerken gewesen war. Ihr Verhältnis unter einander war leicht zu beurteilen: Es waren Mutter, Tochter und Zofe. Mager, der, zu Willkommsbücklingen bereit, im Eingangsbogen stand, hatte zugesehen, wie der Hausknecht den beiden ersteren von den Trittbrettern auf das Pflaster half, während die Kammerkatze, Klärchen gerufen, sich von dem Schwager verabschiedete, bei dem sie gesessen hatte, und mit dem sie sich gut unterhalten zu haben schien. Der Mann sah sie lächelnd von der Seite an, wahrscheinlich im Gedenken an den auswärtigen Dialekt, den die Reisende gesprochen, und folgte ihr noch in einer Art von spöttischer Versonnenheit mit den Augen, indeß sie nicht ohne unnötige Windungen, Raffungen und Zierlichkeiten, sich vom hohen Sitze hinunterfand. Dann zog er an der Schnur sein Horn vom Rücken und begann zum Wohlgefallen einiger Buben und Frühpassanten, die der Ankunft beiwohnten, sehr empfindsam zu blasen.

Die Damen standen noch, dem Hause abgekehrt, bei dem Postwagen, die Niederholung ihres übrigens bescheidenen Gepäcks zu überwachen, und Mager wartete den Augenblick ab, wo sie, beruhigt über ihr Eigentum, sich gegen den Eingang wandten, um ihnen sodann, ganz Diplomat, ein verbindliches und gleichwohl leicht zögerndes Lächeln auf dem käsefarbenen, von einem rötlichen Backenbart eingefaßten Gesicht, in seinem zugeknöpften Frack, seinem verwaschenen Halstuch im abstehenden Schalkragen und seinen über den sehr großen Füßen eng zulaufenden Hosen, auf den Bürgersteig entgegenzukommen.

»Guten Tag, mein Freund!« sagte die mütterliche der beiden Damen, eine Matrone allerdings, schon recht bei Jahren, Ende fünfzig zumindest, ein wenig rundlich, in einem weißen Kleide mit schwarzem Umhang, Halbhandschuhen aus Zwirn und einer hohen Kapotte, unter der krauses Haar, von dem aschigen Grau, das ehemals blond gewesen, hervorschaute. »Logis für Dreie brauchten wir also, ein zweischläfrig Zimmer für mich und mein Kind« (das Kind war auch die Jüngste nicht mehr, wohl Ende zwanzig, mit braunen Korkzieherlocken, ein Kräuschen um den Hals; das fein gebogene Näschen der Mutter war bei ihr ein wenig zu scharf, zu hart ausgefallen) »– und eine Kammer, nicht zu weitab, für meine Jungfer. Wird das zu haben sein?«

Die blauen Augen der Frau, von distinguierter Mattigkeit, blickten an dem Kellner vorbei auf die Front des Gasthauses, ihr kleiner Mund, eingebettet in einigen Altersspeck der Wangen, bewegte sich eigentümlich angenehm. In ihrer Jugend mochte sie reizvoller gewesen sein, als die Tochter es heute noch war. Was an ihr auffiel, war ein nickendes Zittern des Kopfes, das aber zum Teil als Bekräftigung ihrer Worte und rasche Aufforderung zur Zustimmung wirkte, sodaß seine Ursache nicht so sehr Schwäche als Lebhaftigkeit oder allenfalls beides gleichermaßen zu sein schien.

»Sehr wohl«, erwiderte der Aufwärter, der Mutter und Tochter zum Eingang geleitete, während die Zofe, eine Hutschachtel schlenkernd, folgte. »Zwar sind wir, wie üblich, stark besetzt und könnten leicht in die Lage kommen, selbst Personen von Stand abschlägig bescheiden zu müssen, doch werden wir keine Anstrengung scheuen, den Wünschen der Damen aufs beste zu genügen.«

»Nun, das ist ja schön«, versetzte die Fremde und tauschte einen heiteren Achtungsblick mit ihrer Tochter ob der wohlgefügten und dabei stark thüringisch-sächsisch gefärbten Redeweise des Mannes.

»Darf ich bitten? Ich bitte sehr!« sagte Mager, sie in den Flur komplimentierend. »Der Empfang ist zur Rechten. Frau Elmenreich, die Wirtin des Hauses, wird sich ein Vergnügen daraus machen – Ich darf wohl bitten!«

Frau Elmenreich, einen Pfeil in der Frisur, die hochgegürtete Büste wegen der Nähe der Haustür von einer Strickjacke umhüllt, thronte bei Federn, Streusand und einer Rechenmaschine hinter einer Art von Ladentisch, der den nischenartigen Bureauraum von der Diele trennte. Ein Angestellter, von seinem Stehpult hinweggetreten, verhandelte seitlich auf englisch mit einem Herrn in Kragenmantel, dem die beim Eingang aufgehäuften Koffer gehören mochten. Die Wirtin, phlegmatischen Auges mehr über die Ankömmlinge hinwegblickend als von ihnen Notiz nehmend, erwiderte den Gruß der Aelteren, den angedeuteten Knicks der Jungen mit würdiger Kopfneigung, vernahm die vom Kellner vermittelte Zimmerforderung hingehaltenen Ohres und ergriff einen gestielten Hausplan, auf dem sie eine Weile die Bleistiftspitze herumführte.

»Siebenundzwanzig«, bestimmte sie, gegen den grünbeschürzten Hausdiener gewandt, der mit dem Gepäck der Damen wartete, »mit einer Einzelkammer kann ich nicht dienen. Die Mamsell müßte das Zimmer mit der Jungfer der Gräfin Larisch von Erfurt teilen. Wir haben eben viele Gäste mit Dienerschaft im Hause.«

Das Klärchen zog hinter dem Rücken ihrer Herrin ein Maul, doch diese war einverstanden. Man werde sich schon vertragen, erklärte sie und bat, schon zum Gehen gewandt, auf das Zimmer geführt zu werden, wohin gleich auch die Handkoffer gebracht werden möchten.

»Alsbald, Madame«, sagte der Kellner. »Nur eben noch diese Formalität wäre nebenher zu erfüllen. Um Lebens oder Sterbens willen bitten wir uns ein paar Zeilen aus. Nicht unser ist die Pedanterei, sondern der heiligen Hermandad. Sie kann nicht aus ihrer Haut. Es erben sich, möchte man sagen, Gesetz' und Rechte wie eine ew'ge Krankheit fort. Dürfte ich wohl um die Güte und Gefälligkeit ersuchen –?«

Die Dame lachte, indem sie wieder nach ihrer Tochter blickte und belustigt-erstaunt den Kopf schüttelte.

»Ja, so«, sagte sie, »das vergaß ich. Alles, was sich gehört! Übrigens ist er ein Mann von Kopf, wie ich höre,« (sie gebrauchte die Anredeform, die noch in ihrer Jugend üblich gewesen sein mochte,) »wohlbelesen und citatenfest. Geb' er her!« Und an den Tisch zurücktretend nahm sie mit den feinen Fingern ihrer nur halb bekleideten Hand den an einer Schnur hängenden Kreidestift, den die Wirtin ihr reichte, und beugte sich, noch immer lachend, über die Meldetafel, auf der schon ein paar Namen standen.

Sie schrieb langsam, indem sie allmählich zu lachen aufhörte und nur noch kleine amüsierte und seufzerartige Laute und Nachklänge ihrer verstummenden Heiterkeit nachfolgen ließ. Das nickende Zittern ihres Nackens machte sich dabei, wohl infolge der Unbequemlichkeit ihrer Stellung, deutlicher als je bemerkbar.

Man sah ihr zu. Von der einen Seite blickte die Tochter ihr über die Schulter, die hübschen, ebenmäßig gebogenen Augenbrauen (sie hatte sie von der Mutter) zur Stirn gehoben, den Mund moquant verschlossen und verzogen; und andererseits äugte, halb nur zur Aufsicht, ob sie die rot markierten Rubriken richtig benutze, halb auch aus Kleinstädter-Neugier und mit jener von Bosheit nicht ganz freien Genugtuung darüber, daß für jemanden der Augenblick gekommen war, die gewissermaßen dankbare Rolle des Unbekannten aufzugeben und sich zu nennen und zu bekennen, Kellner Mager ihr in die Schrift. Aus irgend einem Grunde hatten auch der Bureau-Verwandte und der britische Reisende ihr Gespräch unterbrochen und beobachteten die kopfnickend Schreibende, die mit fast kindlicher Sorgfalt ihre Buchstaben zog.

Mager las blinzelnd: »Hofräthin Witwe Charlotte Kestner, geb. Buff, von Hannover, letzter Aufenthalt: Goslar, geboren am 11. Januar 1753 zu Wetzlar, nebst Tochter und Bedienung.«

»Genügt das?« fragte die Hofrätin; und da man ihr nicht antwortete, beschloß sie selbst: »Das muß genügen!« Damit wollte sie den Griffel energisch auf die Tischplatte legen, vergaß, daß er nicht frei war und riß den Metallständer um, an dem er hing.

»Wie ungeschickt!« sagte sie errötend, indem sie abermals einen raschen Blick auf ihre Tochter warf, die spöttisch verschlossenen Mundes die Augen gesenkt hielt. »Nun, das ist bald wieder hergestellt und alles wäre getan. Machen wir endlich, daß wir aufs Zimmer kommen!« Und mit einer gewissen Hast wandte sie sich zum Gehen.

Tochter, Jungfer und Kellner, der glatzköpfige, Schachteln und Reisetaschen tragende Hausknecht hinterdrein, folgten ihr über den Flur zur Treppe. Mager hatte nicht aufgehört zu blinzeln, er fuhr unterwegs damit fort und zwar so, daß er in Intervallen immer drei oder viermal sehr rasch mit den Lidern nickte und dann eine Weile mit den geröteten Augen unbeweglich blickte, wobei er den Mund auf eine gewisse, nicht blöde zu nennende, sondern sozusagen fein geregelte Weise geöffnet hielt. Es war auf den Dielen des ersten Treppenabsatzes, daß er den Zug zum Stehen brachte.

»Um Vergebung!« sagte er. »Recht sehr um Vergebung, wenn meine Frage … Es ist nicht gemeine und unstatthafte Neugier, die … Sollten wir den Vorzug haben mit Frau Hofrätin Kestner, Madame Charlotte Kestner, der geborenen Buff, aus Wetzlar –?«

»Die bin ich«, bestätigte die alte Dame lächelnd.

»Ich meine … Sehr wohl, gewiß doch, aber ich meine, – es handelt sich also am Ende doch wohl nicht um Charlotte – auch kürzer Lotte – Kestner, geborene Buff aus dem Deutschen Hause, dem Deutschordenshause zu Wetzlar, die ehemalige …«

»Um eben die, mein Guter. Aber ich bin garnicht ehemalig, ich bin hier sehr gegenwärtig, und wünschte wohl, auf das mir zugewiesene Zimmer …«

»Unverzüglich!« rief Mager und nahm mit gesenkter Stirn einen Anlauf zum Weitereilen, blieb dann aber doch wieder an die Stelle gewurzelt stehen und schlang die Hände in einander.

»Du liebe Zeit!« sagte er mit tiefem Gefühl. »Du liebe Zeit, Frau Hofrätin! Frau Hofrätin mögen verzeihen, wenn meine Gedanken sich nicht sogleich an die hier waltende Identität und die sich eröffnende Perspektive … Dies kommt sozusagen aus heiterem Himmel … Das Haus hat also die Ehre und die unschätzbare Auszeichnung, die wahre und wirkliche, das Urbild, wenn ich mich so ausdrücken darf … Mit einem Wort, es ist mir beschieden, vor Werthers Lotte …«

»Dem wird wohl so sein, mein Freund«, entgegnete die Hofrätin mit ruhiger Würde, indem sie der kichernden Zofe einen verweisenden Blick zuwarf. »Und wenn es für ihn ein Grund mehr wäre, uns reisemüden Frauen nun ungesäumt unser Zimmer zu zeigen, so wollte ich's wohl zufrieden sein.«

»Im Augenblick!«, rief der Marqueur und setzte sich in Eilschritt. »Das Zimmer, Numero siebenundzwanzig, mein Gott, es liegt über zwei Treppen. Sie sind bequem, unsere Treppen, wie Frau Hofrätin bemerken, aber hätten wir geahnt … Es hätte sich zweifelsohne trotz unserer Besetztheit … Immerhin, das Zimmer ist ansehnlich, es blickt vornheraus auf den Markt und dürfte nicht mißfallen. Noch kürzlich haben Herr und Frau Major von Egloffstein aus Halle dort logiert, als sie zu Besuch ihrer Frau Tante, der Oberkammerherrin gleichen Namens, hier weilten. Oktober dreizehn hatte es ein Generaladjutant Seiner kaiserlichen Hoheit des Großfürsten Konstantin inne. Das ist gewissermaßen eine historische Erinnerung … Aber, du mein Gott, was rede ich von historischen Erinnerungen, die für einen Menschen von Sentiment nicht im mindesten den Vergleich aushalten mit … Nur wenige Schritte noch, Frau Hofrätin! Von der Treppe sind es nur noch ganz wenige Schritte diesen Korridor entlang. Alles frisch geweißt, wie Frau Hofrätin sehen. Wir haben seit Ende dreizehn, nach dem Besuch der Donschen Kosaken, durchgehend renovieren müssen, Treppen, Zimmer, Gänge und Konversationsräumlichkeiten, was vielleicht längst überfällig gewesen wäre. Nun haben die wilden Gewaltsamkeiten des Weltgeschehens es erzwungen, woraus die Lehre zu ziehen sein möchte, daß die Erneuerungen des Lebens vielleicht nicht ohne kräftig nachhelfende Gewaltsamkeit zustandekommen. Ich will übrigens nicht ausschließlich den Kosaken das Verdienst an unserer Erfrischung zuschreiben. Wir hatten auch Preußen und ungarische Husaren im Hause, von den vorangegangenen Franzosen zu schweigen … Wir sind am Ziel. Wenn ich Frau Hofrätin bitten dürfte!«

Er beugte sich, Einlaß gewährend, mit der Tür, die er angelweit öffnete, tief in das Zimmer hinein. Die Augen der Frauen streiften in flüchtiger Prüfung die gestärkten Mullvorhänge der beiden Fenster, den goldgerahmten und freilich etwas blindfleckigen Konsolenspiegel zwischen ihnen, die weiß gedeckten Betten, die einen kleinen gemeinsamen Himmel hatten, die übrigen Bequemlichkeiten. Ein Kupferstich, landschaftlich, mit antikem Tempel, schmückte die Wand. Der Fußboden glänzte reinlich geölt.

»Recht artig«, sagte die Hofrätin.

»Wie glücklich wären wir, wenn die Damen sich hier leidlich zu behagen vermöchten! Sollte irgend etwas mangeln, – hier ist der Glockenzug. Daß ich für heißes Wasser sorge, versteht sich am Rande. Wir wären so überaus hochbeglückt, wenn wir die Zufriedenheit der Frau Hofrätin …«

»Aber ja doch, mein Lieber. Wir sind einfache Leute und unverwöhnt. Habt Dank, guter Mann«, sagte sie zu dem Hausknecht, der seine Last auf den Gurtbock, den Estrich abgesetzt hatte und sich entfernte. »Und Dank auch Ihnen, mein Freund«, wandte sie sich mit entlassendem Kopfnicken an den Kellner. »Wir sind versorgt und versehen und möchten uns nun wohl ein wenig …«

Aber Mager stand unbeweglich, die Finger in einander geschlungen, die rötlichen Augen in die Züge der alten Dame versenkt.

»Großer Gott«, sagte er, »Frau Hofrätin, welch buchenswertes Ereignis! Frau Hofrätin verstehen vielleicht nicht ganz die Empfindungen eines Menschen von Herz, dem unverhofft und wider alles Vermuten ein solches Evenement mit seinen ergreifenden Perspektiven … Frau Hofrätin sind sozusagen gewöhnt an die Verhältnisse und an Dero uns allen heilige Identität, Dieselben nehmen die Sache möglicherweise leger und alltäglich und ermessen nicht ganz, wie es einer fühlenden, von jungauf literärischen Seele, die sich dessen nicht im geringsten versah, zu Mute sein muß bei der Bekanntschaft – wenn ich so sagen darf – ich bitte um Entschuldigung – bei der Begegnung mit einer vom Schimmer der Poesie umflossenen und gleichsam auf feurigen Armen zum Himmel ewigen Ruhmes emporgetragenen Persönlichkeit …«

»Mein guter Freund!«, erwiderte die Hofrätin mit lächelnder Abwehr, obgleich man das nickende Zittern ihres Kopfes, das bei den Worten des Kellners wieder auffallend geworden war, als Zustimmung hätte deuten können. (Die Zofe stand hinter ihr und sah dem Manne mit amüsierter Neugier in das fast zu Thränen bewegte Gesicht, während die Tochter sich mit ostensibler Gleichgültigkeit im tieferen Zimmer mit dem Gepäck zu schaffen machte.) »Mein guter Freund, ich bin eine einfache alte Frau ohne Ansprüche, ein Mensch wie andere mehr; Sie aber haben eine so ungemeine, gehobene Art sich auszudrükken …«

»Mein Name ist Mager«, sagte der Kellner gleichsam zur Erläuterung. Er sagte »Mahcher« nach seiner mitteldeutsch weichen Sprechweise; der Laut hatte etwas Bittendes und Rührendes. »Ich bin, wenn es nicht überheblich klingt, das Faktotum in diesem Hause, die rechte Hand, wie man es zu nennen pflegt, Frau Elmenreichs, der Besitzerin des Gasthofs, – sie ist Witwe, schon seit zehn Jahren, Herr Elmenreich ist ja leider anno sechs unter tragischen Umständen, die nicht hierher gehören, dem Weltgeschehen zum Opfer gefallen. In meiner Stellung, Frau Hofrätin, und nun gar in Zeiten, wie unsere Stadt sie durchlebt hat, kommt man mit vielerlei Menschen in Berührung, es zieht manche bedeutende Erscheinung, bedeutend durch Geburt oder Verdienst, an einem vorüber, und eine gewisse Abgebrühtheit, natürlicherweise, greift Platz gegen die Berührung mit hochgestellten, ins Weltgeschehen verflochtenen Personen und Trägern respekteinflößender, die Einbildungskraft aufregender Namen. So ist es, Frau Hofrätin. Allein, diese berufliche Verwöhntheit und Abgestumpftheit, – wo ist sie nun! In meinem Leben nicht, das darf ich bekennen, hat ein Empfang und eine Bedienung mir obgelegen, die mir Herz und Geist bewegt hätte wie die heutige, wahrhaft buchenswerte. Denn wie es dem Menschen ergeht, – es war mir bekannt, daß das verehrungswürdige Frauenzimmer, das Urbild jener ewig lieblichen Gestalt, unter den Lebenden verweilte und zwar in der Stadt Hannover, – ich werde jetzt wohl gewahr, daß ich es wußte. Allein dies Wissen hatte keine Wirklichkeit für mich, und nie habe ich mir die Möglichkeit beikommen lassen, diesem geheiligten Wesen irgend einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen. Ich habe es mir einfach nicht träumen lassen. Als ich diesen Morgen – es ist wenige Stunden her – erwachte, war ich überzeugt, daß es sich um einen Tag handle wie hundert andere, einen Tag durchschnittlichen Gepräges, angefüllt mit den gewöhnlichen und geläufigen Funktionen meines Berufes im Flur und bei Tafel. Meine Frau – ich bin verheiratet, Frau Hofrätin, Madame Mager ist in obgeordneter Stellung in der Küche tätig – meine Frau wird bekunden können, daß ich kein Zeichen einer Vorahnung von irgend etwas Außerordentlichem gegeben habe. Ich dachte nicht anders, als daß ich mich heute Abend als derselbe Mann wieder zu Bette legen würde, als der ich aufgestanden. Und nun! ›Unverhofft – kommt oft‹. Wie recht hat der Volksmund mit dieser schlichten Weltbemerkung! Frau Hofrätin werden meine Wallung verzeihen und auch meine möglicherweise unstatthafte Redseligkeit. ›Weß das Herz voll ist, deß geht der Mund über‹, sagt der Volksmund in seiner nicht weiter litterärischen und doch so treffenden Art. Wenn Frau Hofrätin die Liebe und Verehrung kennten, die ich sozusagen von Kindesbeinen für unseren Dichterfürsten, den großen Goethe, hege, und meinen Stolz als Weimarer Bürger darauf, daß wir diesen erhabenen Mann den unsrigen nennen … Wenn Dieselben wüßten, was insbesondere gerade des jungen Werthers Leiden diesem Herzen von jeher … Aber ich schweige, Frau Hofrätin, ich weiß wohl, es kommt mir nicht zu, – wenngleich ja die Wahrheit ist, daß ein so sentimentalisches Werk wie dieses allen Menschen gehört und Hoch und Niedrig mit den innigsten Wallungen beschenkt, während allerdings auf Produkte wie Iphigenia und die Natürliche Tochter vielleicht nur die höheren Schichten Prätensionen mögen machen dürfen. Wenn ich denke, wie oft Madame Mager und ich uns zusammen bei der Abendkerze mit zerflossenen Seelen über diese himmlischen Blätter gebückt haben, und mir in einem damit klar mache, daß in diesem Augenblick die weltberühmte und unsterbliche Heldin derselben mir in voller Leiblichkeit, als ein Mensch wie ich … Ums Himmels willen, Frau Hofrätin!« rief er und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Ich rede und rede, und jählings schießt es mir ein siedend heiß, daß ich ja noch nicht einmal gefragt habe, ob Frau Hofrätin denn überhaupt schon Kaffee getrunken haben!«

»Danke, mein Freund«, erwiderte die alte Dame, die dem Erguß des Biedermannes verhaltenen Blickes und dabei mit leicht zuckendem Munde zugehört hatte. »Wir haben das zeitig getan. Im Übrigen, mein lieber Herr Mager, gehen Sie viel zu weit bei Ihren Gleichsetzungen und übertreiben gewaltig, wenn Sie mich oder auch nur das junge Ding, das ich einmal war, einfach mit der Heldin jenes vielbeschrieenen Büchleins verwechseln. Sie sind der Erste nicht, den ich darauf hinweisen muß; ich predige es vielmehr seit vierundvierzig Jahren. Jene Romanfigur, die freilich ein so ausgebreitetes Leben, eine so entschiedene und gefeierte Wirklichkeit gewonnen hat, daß Einer kommen und sagen könnte, sie sei die Eigentliche und Wahre von uns beiden, was ich mir aber denn doch verbitten wollte, – dies Mädchen unterscheidet sich gar sehr von meinem einstigen Selbst, – mein gegenwärtiges ganz bei Seite zu lassen. So sieht ja ein jeder, daß ich blaue Augen habe, während Werthers Lotte bekanntlich schwarzäugig ist.«

»Eine dichterische Lizenz!« rief Mager. »Man müßte ja nicht wissen, was das ist, – eine dichterische Lizenz! Und sie vermag doch, Frau Hofrätin, von der waltenden Identität kein Titelchen abzudingen! Möge der Dichter sich ihrer zum Zweck eines gewissen cache-cache bedient haben, um ein wenig die Spur zu verwischen …«

»Nein«, sagte die Hofrätin mit abweisendem Kopfschütteln, »die schwarzen Augen kommen woanders her.«

»Und wenn auch!« eiferte Mager. »Sei es auch so, daß diese Identität durch solche winzigen Abweichungen ein wenig abgeschwächt wird …«

»Es gibt viel größere«, schaltete die Hofrätin nachdrücklich ein.

»…so bleibt doch völlig unangetastet die andere, mit jener sich überkreuzende und von ihr untrennbare, – die Identität mit sich selbst, will sagen: mit jener ebenfalls legendären Person, von welcher der große Mann uns noch kürzlich in seinen Erinnerungen ein so innig Bildnis gemalt hat, und wenn Frau Hofrätin nicht bis aufs letzte Titelchen die Lotte Werthers sind, so sind Sie doch aufs Haar und ohne jeden Abzug die Lotte Goe –«

»Mein Wertester«, sagte die Hofrätin Einhalt gebietend. »Es hat einigen Aufenthalt gegeben, bis Sie die Freundlichkeit hatten, uns unser Zimmer zu zeigen. Es entgeht Ihnen offenbar, daß Sie uns jetzo hindern, davon Besitz zu nehmen.«

»Frau Hofrätin«, bat der Kellner des »Elephanten« mit gefalteten Händen, »vergeben Sie mir! Vergeben Sie einem Manne, der … Mein Benehmen ist unverzeihlich, ich weiß es, und dennoch bitte ich um Ihre Absolution. Ich werde durch meine sofortige Entfernung … Es reißt mich ja«, sagte er, »es reißt mich ja ohnedies, von aller Rücksicht und Schicklichkeit abgesehen, längst von hier dahin und dorthin; denn wenn ich denke, daß Frau Elmenreich bis zu diesem Augenblick sicher noch keine Ahnung hat, da sie bisjetzt wohl kaum einen Blick auf die Gästetafel geworfen und selbst ein solcher vielleicht ihrem schlichten Sinn … Und Madame Mager, Frau Hofrätin! Wie reißt es mich längst zu ihr in die Küche, um ihr die große städtische und literärische Neuigkeit brühheiß … Dennoch, Frau Hofrätin, und gerade um die herzbewegende Neuigkeit zu vervollständigen, wage ich es, um Vergebung zu bitten für noch eine einzige Frage … Vierundvierzig Jahre! Und Frau Hofrätin haben den Herrn Geheimen Rat in diesen vierundvierzig Jahren nicht wiedergesehen?«

»So ist es, mein Freund«, antwortete sie. »Ich kenne den jungen Rechtspraktikanten Dr. Goethe aus der Gewandsgasse zu Wetzlar. Den Weimarischen Staatsminister, den großen Dichter Deutschlands habe ich nie mit Augen gesehen.«

»Es übernimmt einen!« hauchte Mager. »Es übernimmt den Menschen, Frau Hofrätin! Und so sind denn Frau Hofrätin nun also nach Weimar gekommen, um –«

»Ich bin«, unterbrach ihn die alte Dame etwas von oben, »nach Weimar gekommen, um nach vielen Jahren meine Schwester, die Kammerrätin Ridel wiederzusehen und ihr auch meine Tochter Charlotte zu bringen, die aus dem Elsaß, wo sie lebt, zu Besuch bei mir ist und mich auf dieser Reise begleitet. Mit meiner Jungfer sind wir zu dritt, – wir können meiner Schwester, die selbst Familie hat, nicht als Logirgäste zur Last fallen. So sind wir im Gasthofe abgestiegen, werden aber schon zu Tische bei unseren Lieben sein. Ist er's zufrieden?«

»Wie sehr, Frau Hofrätin, wie sehr! – obgleich wir auf diese Weise darum kommen, die Damen an unserer Table d'hôte … Herr und Frau Kammerrat Ridel, Esplanade 6, – o, ich weiß. Die Frau Kammerrätin ist also eine geborene – aber ich wußte es ja! Die Verhältnisse und die Beziehungen waren mir ja bekannt, nur daß ich sie mir nicht gegenwärtig … Du Grundgütiger, die Frau Kammerrätin befand sich also unter jener Kinderschar, die Frau Hofrätin im Vorsaal des Jagdhauses umdrängten, als Werther zum ersten Male dort eintrat, und die ihre Händchen nach dem Vesperbrot streckte, welches Frau Hofrätin …«

»Mein lieber Freund«, fiel Charlotte ihm wieder ins Wort, »es gab keine Hofrätin in jenem Jagdhause. Bevor Sie nun auch unserm Klärchen, das darauf wartet, gefälligst ihr Kämmerlein zeigen, sagen Sie uns lieber: Ist es weit von hier nach der Esplanade?«

»Nicht im Geringsten, Frau Hofrätin. Eine Kleinigkeit von einem Wege. Bei uns in Weimar gibt es dergleichen wie weite Wege nicht; unsere Größe beruht im Geistigen. Ich selbst bin mit Freuden erbötig, die Damen vor das Haus der Frau Kammerrätin zu geleiten, wenn Dieselben nicht vorziehen, sich einer Mietskutsche oder Portechaise zu bedienen, woran es in unserer Residenz nicht mangelt … Aber noch eins, Frau Hofrätin, nur dieses Eine noch! Nichtwahr, wenn auch Frau Hofrätin in erster Linie zu Besuch von Dero Frau Schwester nach Weimar gekommen sind, so werden Frau Hofrätin doch zweifellos Gelegenheit nehmen, auch am Frauenplan –«

»Das findet sich, mein Lieber, das findet sich! Mach er nun und bring' er die Mamsell hier in dem Ihren unter, denn ich werde sie baldigst brauchen.«

»Ja, und sag' er mir unterwegs«, zwitscherte die Kleine, »wo der Mann wohnt, der den herrlichen ›Rinaldo‹ geschrieben hat, das touchante Romanbuch, das ich wohl schon fünf mal verschlungen, und ob man ihm wohl, wenn man Glück hat, auf der Straße begegnen kann!«

»Soll geschehen, Mamsell, soll gern geschehen«, erwiderte Mager zerstreut, indem er sich mit ihr zur Tür wandte. Aber hier tat er sich noch einmal Einhalt, stemmte bremsend ein Bein auf den Boden und hielt der Balance halber das andere in die Luft.

»Auf ein Wort noch, Frau Hofrätin!« bat er. »Auf ein einzig letztes und rasch zu beantwortendes Wörtchen! Frau Hofrätin müssen begreifen – Man steht unverhofft vor dem Urbilde, es ist einem beschieden, an der Quelle selbst – Man muß es wahrnehmen, man darf es nicht ungenutzt – Frau Hofrätin, nichtwahr, jenes letzte Gespräch vor Werthers Abreise, jene herzaufwühlende Szene zu dritt, wo von der seligen Mutter die Rede war und von der Todestrennung und Werther Lottens Hand festhält und ausruft: ›Wir werden uns wiedersehn, uns finden, unter allen Gestalten werden wir uns erkennen!‹ – nichtwahr, sie beruht auf Wahrheit, der Herr Geheime Rat hat's nicht erfunden, es hat sich wirklich so zugetragen?!«

»Ja und nein, mein Freund, ja und nein«, sagte die Bedrängte gütig, mit zitterndem Kopfe. »Geh' er nun! Geh' er!«

Und der Aufgeregte enteilte mit Klärchen, dem Kätzchen.

Charlotte seufzte tief auf, indem sie sich des Hutes entledigte. Ihre Tochter, die während des vorangegangenen Gespräches beschäftigt gewesen war, ihre und ihrer Mutter Kleider ins Spind zu hängen und den Inhalt der Necessaires auf dem Toilettetisch, den Simsen der Waschtischchen zu verteilen, blickte spöttisch zu ihr hinüber.

»Da hast du«, sagte sie, »deinen Stern entblößt. Der Effekt war nicht übel.«

»Ach Kind«, erwiderte die Mutter, »was du meinen Stern nennst, und was mehr ein Kreuz ist, wobei es ja immerhin ein Orden bleiben mag, – der kommt zum Vorschein ohne mein Zutun, ich kann's nicht hindern und ihn nicht verbergen.«

»Ein wenig länger, liebe Mama, wenn nicht für die ganze Dauer dieses etwas extravaganten Aufenthaltes, hätte er allenfalls verhüllt bleiben können, wenn wir doch lieber bei Tante Amalie logiert hätten anstatt im öffentlichen Gasthofe.«

»Du weißt sehr gut, Lottchen, daß das nicht anging. Dein Onkel, deine Tante und deine Cousinen haben keinen Überfluß an Raum, ob sie auch – oder eben weil sie – in vornehmer Gegend wohnen. Es war unmöglich, ihnen zu drei Personen ins Haus zu fallen und sie, sei es auch nur für einige Tage, zum unbehaglichsten Zusammenrücken zu zwingen. Dein Onkel Ridel hat sein Auskommen als Beamter, aber es haben ihn schwere Schläge getroffen, anno sechs hat er alles verloren, er ist kein reicher Mann, und es würde sich keineswegs für uns ziemen, ihm auf der Tasche zu liegen. Daß es mich aber verlangt, meine jüngste Schwester, unsere Mali, endlich einmal wieder in die Arme zu schließen und mich des Glückes zu freuen, das sie an der Seite ihres wackeren Mannes genießt, wer will mir das verargen? Vergiß nicht, daß ich mich diesen lieben Verwandten vielleicht sehr nützlich erweisen kann. Dein Onkel macht sich Hoffnungen auf den Posten eines großherzoglichen Kammerdirektors, – durch meine Verbindungen und alten Freundschaften kann ich möglicherweise hier an Ort und Stelle seine Wünsche wirksam befördern. Und ist nicht der Augenblick, wo du, mein Kind, nach zehnjähriger Trennung wieder einmal an meiner Seite bist und mich begleiten kannst, der allergeschickteste für diese Besuchsreise? Soll das eigentümliche Schicksal, das mir zuteil geworden, mich hindern dürfen, den rechtmäßigsten Trieben meines Herzens zu folgen?«

»Gewiß nicht, Mama, gewiß nicht.«

»Wer konnte auch denken«, fuhr die Hofrätin fort, »daß wir sogleich würden einem solchen Enthusiasten in die Arme laufen wie diesem Ganymedes im Backenbart? Da beklagt sich der Goethe in seinen Memoires über die Plage, die er immerfort mit der Neugier der Leute gehabt, welches die rechte Lotte denn sei und wo sie wohne, und daß er sich vor dem Zudrang durch kein Inkognito habe schützen können, – eine wahre Pönitenz nennt er's, glaub' ich, und meint, wenn er sich denn versündigt habe mit seinem Büchlein, so hab' er die Sünde büßen müssen gründlich und über Gebühr. Aber da sieht man's, daß die Männer – und die Poeten nun gar – nur an sich denken; denn er bedenkt nicht, daß wir die Neugiersnot auch noch auszustehen haben wie er, zu allem andern dazu, was er uns angetan, deinem guten seligen Vater und mir, mit seiner heillosen Vermischung von Dichtung und Wahrheit …«

»Von schwarzen und blauen Augen.«

»Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, am wenigsten für den seines Lottchens. Mußt' ichs dem tollen Menschen doch verweisen, daß er mich so geradehin, wie ich da leibe und lebe, für Werthers Lotte nähme.«

»Er war impertinent genug, dich über die Unstimmigkeit damit zu trösten, daß er dich Goethes Lotte nannte.«

»Auch das, mein' ich wohl, habe ich ihm nicht durchgehen lassen, sondern es ihm mit unverhohlenem Unwillen verwiesen. – Ich müßte dich nicht kennen, mein Kind, um nicht zu fühlen, daß ich nach deiner strengeren Gesinnung den Mann von Anbeginn hätte kürzer im Zügel halten sollen. Aber sage mir, wie? Indem ich mich verleugnete? Indem ich ihn bedeutete, daß ich von mir und meinen Bewandtnissen nichts wissen wolle? Aber hab' ich auch ein Verfügungsrecht über diese Bewandtnisse, die nun einmal der Welt gehören? – Du, mein Kind, bist eine so andere Natur als ich, – laß mich hinzufügen, daß das meine Liebe zu dir um kein Quentchen mindert. Du bist nicht das, was man leutselig nennt, – und was sich von Opferwilligkeit, von der Bereitschaft sein Leben für andre hinzugeben noch gar sehr unterscheidet. Sogar schien es mir oft, alsob ein Leben des Opfers und des Dienstes an anderen eine gewisse Herbigkeit, ja, sagen wir ohne Lob und Tadel, oder selbst mit mehr Lob als Tadel: eine gewisse Härte zeitigte, die die Leutseligkeit wenig befördert. Du kannst, mein Kind, an meiner Achtung vor deinem Charakter so wenig als an meiner Liebe zweifeln. Seit zehn Jahren bist du im Elsaß der gute Engel deines armen, lieben Bruders Carl, der seine junge Frau und ein Bein verlor – ein Unglück kömmt selten allein. Was wäre er ohne dich, mein armer, heimgesuchter Junge! Du bist ihm Pflegerin, Helferin, Hausfrau und Waisenmutter den Kindern. Dein Leben ist Arbeit und selbstloser Liebesdienst, – wie hätte nicht sollen ein Zug von Ernst sich darin eingraben, der müßiger Fühlsamkeit widersteht, bei sich und andern. Du hältst von Ächtheit mehr als von Interessantheit – wie tust du recht daran! Die Beziehungen zur großen Welt der Leidenschaften und des schönen Geistes, die unser Teil geworden sind –«

»Unser? Ich unterhalte solche Beziehungen nicht.«

»Mein Kind, die werden uns bleiben, und unserm Namen anhaften bis ins dritte und vierte Glied, ob's uns nun lieb ist oder leid. Und wenn warmherzige Menschen uns anliegen um ihretwillen, begeisterte oder auch nur neugierige – denn wo ist da die Grenze zu ziehen –, haben wir ein Recht, mit uns zu geizen und die Inständigen schnöde zurückzustoßen? Sieh, hier ist der Unterschied zwischen unseren Naturen. Auch mein Leben war ernst, und an Verzicht hat's ihm nicht ganz gefehlt. Ich war deinem teuren, unvergeßlichen Vater, glaube ich, eine gute Frau. Ich habe ihm elf Kinder geboren und neune aufgezogen zu ehrbaren Menschen, denn zwei mußt' ich hingeben. Auch ich habe Opfer gebracht, in Tun und Leiden. Aber die Leutseligkeit oder die Gutmütigkeit, wie du es tadelnd nennen magst, hat mir das nicht verkümmert, des Lebens Härte hat mich nicht hart gemacht, und so einem Mager den Rücken zu drehen und ihm zu sagen: ›Narre, laß er mich in Ruh!‹– ich bring' es nun einmal nicht über mich.«

»Du sprichst genau«, erwiderte Lotte, die Jüngere, »liebe Mama, als hätte ich dir einen Vorwurf gemacht und mich unkindlich vor dir überhoben. Ich habe ja gar den Mund nicht aufgetan. Ich ärgere mich, wenn die Leute deine Güte und Geduld auf so harte Proben stellen, wie die eben bestandene, und dich erschöpfen mit ihrer Aufregung – willst du mir den Aerger verargen? – Dies Kleid hier«, sagte sie und hielt eine eben dem Gepäck der Mutter entnommene Robe, weiß, mit Schleifen, mit blaßroten Schleifen geziert, in die Höhe, »sollte man es nicht doch ein wenig aufplätten, bevor du es etwa anlegst? Es ist arg zerdrückt.«

Die Hofrätin errötete, was sie gut und rührend kleidete. Es verjüngte sie merkwürdiger Weise, veränderte ihr Gesicht ins Lieblich-Jungmädchenhafte: man glaubte auf einmal zu erkennen, wie es mit zwanzig Jahren ausgesehen hatte; die zart blickenden blauen Augen unter den ebenmäßig gewölbten Brauen, das fein gebogene Näschen, der angenehme kleine Mund gewannen in dem Licht, der rosigen Tönung dieses Errötens für einige Sekunden den reizenden Sinn zurück, den sie einst besessen; des Amtmanns wackeres Töchterchen, die Mutter seiner Kleinen, die Ballfee von Volpertshausen trat unter diesem Alt-Damen-Erröten überraschend noch einmal hervor.

Da Madame Kestner ihren schwarzen Umhang abgelegt hatte, stand sie in einem Kleide da, ebenso weiß wie das freilich gesellschaftlichere, das man ihr vorzeigte. Sie trug bei wärmerer Jahreszeit (und die Witterung war noch sommerlich) aus eigentümlicher Liebhaberei stets weiße Kleider. Dasjenige aber in der Hand der Tochter wies blaßrote Schleifen auf.

Unwillkürlich hatten beide sich abgewandt, die Aeltere, wie es schien, von dem Kleide, die Junge von dem Erröten der Mutter, das ihr um seiner Holdheit und seiner verjüngenden Wirkung willen peinlich war.

»Nicht doch«, antwortete die Hofrätin auf den Vorschlag Charlottens. »Machen wir keine Umstände! Diese Art Crêpe hängt sich im Schranke rasch wieder zurecht, und wer weiß denn auch, ob ich überhaupt dazu komme, das Fähnchen zu tragen.«

»Warum solltest du nicht?« sagte die Tochter. »Und wozu sonst hättest du es mitgebracht? Aber eben weil du es gewiß bei einer und der anderen Gelegenheit anlegen wirst, laß mich, liebe Mama, auf meine bescheidene Frage zurückkommen, ob du dich nicht doch noch entschließen solltest, die ein wenig lichten Brust- und Ärmelschleifen durch etwas dunklere, sagen wir: solche in schönem Lila zu ersetzen. Es wäre so rasch getan …«

»Ach, höre doch auf, Lottchen!« versetzte die Hofrätin mit einiger Ungeduld. »Du verstehst, mein Kind, auch gar keinen Spaß. Ich möchte wissen, warum du mir durchaus den kleinen sinnigen Scherz, die zarte Anspielung und Aufmerksamkeit verwehren willst, die ich mir ausgedacht habe. Laß dir sagen, daß ich tatsächlich wenig Menschen kenne, die des Sinns für Humor so sehr entbehren wie du.«

»Man sollte bei niemandem«, erwiderte die Tochter, »den man nicht kennt oder nicht mehr kennt, diesen Sinn ohne Weiteres voraussetzen.«

Charlotte, die Aeltere, wollte noch etwas zurückgeben, aber ihr Gespräch wurde durch die Rückkunft Klärchens unterbrochen, die heißes Wasser brachte und munter berichtete, die Jungfer der Frau Gräfin Larisch droben sei gar kein uneben Ding, mit der sie sich wohl stellen wolle, und außerdem habe der komische Herr Mager ihr fest versprochen, daß sie den Bibliothekar Vulpius, welcher den herrlichen »Rinaldo« verfaßt habe und der übrigens ein Schwager des Herrn von Goethe sei, unbedingt zu sehen bekommen solle: Wenn er zu Amte gehe, wolle er ihn ihr zeigen, und sogar sein Söhnchen, das nach dem Helden des berühmten Romans Rinaldo heiße, werde sie auf dem Schulwege beobachten können.

»Alles gut«, sagte die Hofrätin, »aber es ist hoch an der Zeit, daß ihr beide euch nun, du, Lottchen, in Klärchens Begleitung, nach der Esplanade zu Tante Amalie aufmacht, ihr unsere Ankunft zu melden. Sie ist sich ihrer wohl noch garnicht vermutend und erwartet sie erst für den Nachmittag oder Abend, weil sie annimmt, wir hätten uns in Gotha bei Liebenau's verweilt, da wir den Aufenthalt für diesmal doch übersprangen. Geh, Kind, laß Klärchen den Weg erfragen, küß mir im Voraus die liebe Tante und freunde dich unterdessen schon mit den Cousinen an. Ich alte Frau muß mich nun unbedingt erst einmal eine Stunde oder zweie aufs Bett legen und folge euch, sobald ich mich etwas erquickt.«

Sie küßte die Tochter wie zur Versöhnung, bedankte mit einem Winken den Abschiedsknix des Zöfchens und sah sich allein. Auf dem Spiegeltisch gab es Tinte und Federn. Sie setzte sich, nahm ein Blättchen, tauchte ein und schrieb mit eilender Hand und leicht zitterndem Kopfe die vorbereiteten Worte:

»Verehrter Freund! Zu Besuch meiner Schwester mit meiner Tochter Charlotte auf einige Tage in Ihrer Stadt, ist es mein Wunsch, Ihnen mein Kind zuzuführen, wie es mich denn auch freuen würde, wieder in ein Antlitz zu blicken, das, während wir beide, ein jeder nach seinem Maße, das Leben bestanden, der Welt so bedeutend geworden ist. – Weimar, Hôtel zum Elefanten, den 22. September 16. Charlotte Kestner geb. Buff.«

Sie gab Streusand, ließ ablaufen, faltete das Blatt, indem sie geschickt die gefalzten Enden in einander schob, und schrieb die Adresse. Dann zog sie die Klingel.

Zweites Kapitel

Charlotte fand lange die Ruhe nicht, die sie wohl nicht einmal aufrichtig suchte. Zwar verhüllte sie, nachdem sie die oberen Kleider abgelegt und sich, mit einem Plaid bedeckt, auf einem der Betten unter dem kleinen Mullhimmel ausgestreckt hatte, ihre Augen gegen die Helligkeit der Fenster, die ohne dunklere Vorhänge waren, mit einem Schnupftuch und hielt darunter die Lider geschlossen. Dabei aber trachtete sie nach ihren Gedanken, die ihr das Herz klopfen machten, mehr, als nach dem vernünftiger Weise wünschenswerten Schlummer, und dies umso entschiedener, als sie diese Unweisheit als jugendlich, als Beweis und Merkmal innerster Unverwüstlichkeit, Unveränderlichkeit durch die Jahre empfand und sich mit heimlichem Lächeln darin gefiel. Was jemand ihr einst geschrieben, auf einem Abschiedszettel: »Und ich, liebe Lotte, bin glücklich in Ihren Augen zu lesen, Sie glauben, ich werde mich nie verändern –«, ist der Glaube unserer Jugend, von dem wir im Grunde niemals lassen, und daß er Stich gehalten habe, daß wir immer dieselben geblieben seien, daß Alt werden ein Körperlich-Aeußerliches sei und nichts vermöge über die Beständigkeit unseres Innersten, dieses närrischen, durch die Jahrzehnte hindurchgeführten Ich, ist eine Beobachtung, die anzustellen unseren höheren Tagen nicht mißfällt, – sie ist das heiter-verschämte Geheimnis unserer Alterswürde. Man war eine sogenannte alte Frau, nannte sich spöttisch auch selber so und reiste mit einer neunundzwanzigjährigen Tochter, die noch dazu das neunte Kind war, das man dem Gatten geboren. Aber man lag hier und hatte Herzklopfen genau wie als Schulmädel vor einem tollen Streich. Charlotte stellte sich Betrachter vor, die das reizend gefunden hätten.

Wer lieber nicht vorzustellen war als Beobachter dieser Herzensbewegung, war Lottchen, die Jüngere. Trotz dem Versöhnungskuß hörte die Mutter nicht auf, ihr zu zürnen der »humorlosen« Kritik wegen, die sie an dem Kleide, den Schleifen geübt, und die im Grunde dieser ganzen, so würdig-natürlich zu begründenden und dennoch von ihr als »extravagant« beurteilten Reise galt. Es ist unangenehm, jemanden auf Reisen zu führen, der zu scharfblickend ist, um zu glauben, daß man seinetwegen reist, sondern sich als vorgeschoben erachtet. Denn ein unangenehmer, ein kränkender Scharfblick ist das, ein Scheelblick vielmehr, der von den verschlungenen Motiven einer Handlung nur die zart verschwiegenen sieht und nur diese wahr haben will, die präsentablen und sagbaren aber, so ehrenwert wie sie seien, als Vorwände verspottet. Charlotte empfand mit Groll das Beleidigende solcher, ja vielleicht aller Seelenkunde und hatte nichts andres im Sinn gehabt, als sie der Tochter Mangel an Leutseligkeit vorgehalten.

Haben denn sie, die Scharfblickenden, dachte sie, nichts zu fürchten? Wie, wenn man den Spieß umkehrte und die Motive ihres Spürsinns zu Tage zöge, die sich vielleicht nicht ganz in Wahrheitsliebe erschöpfen? Lottchens ablehnende Kälte, – nun, auch sie mochte ein boshafter Scharfblick durchschauen, auch sie bot zu Einblicken Anlaß und nicht zu sonderlich gewinnenden. Erlebnisse, wie sie ihr, der Mutter, zuteil geworden, waren diesem hochachtenswerten Kinde nun einmal nicht beschieden gewesen, noch würden sie ihm seiner Natur nach je beschieden sein: ein Erlebnis wie das berühmte zu dritt, welches so fröhlich, so friedlich begonnen hatte, dann aber dank der Tollheit des einen Teiles ins Quälend-Verwirrende ausgeartet und zu einer großen, redlich überwundenen Versuchung für ein wohlschaffen Herz geworden war, – um eines Tages, o stolzes Entsetzen, aller Welt kundzuwerden, ins Überwirkliche aufzusteigen, ein höheres Leben zu gewinnen und so die Menschen aufzuwühlen und zu verwirren wie einst ein Mädchenherz, ja, eine Welt in ein oft gefährlich gescholtenes Entzücken zu versetzen.

Kinder sind hart und unduldsam, dachte Charlotte, gegen das Eigenleben der Mutter: aus einer egoistisch verbietenden Pietät, die fähig ist, aus Liebe Lieblosigkeit zu machen, und die nicht löblicher wird, wenn einfach weiblicher Neid sich darein mischte, – Neid auf ein mütterliches Herzensabenteuer, der sich als spöttischer Widerwille gegen die weitläufigen Ruhmesfolgen des Abenteuers verkleidete. Nein, das gestrenge Lottchen hatte so furchtbar Schönes und schuldhaft Todsüßes nie erfahren wie ihre Mutter an dem Abend, als der Mann in Geschäften verritten gewesen und Jener gekommen war, obgleich er vor Weihnachtsabend nicht mehr hatte kommen sollen; als sie vergeblich zu Freundinnen geschickt und allein mit ihm hatte bleiben müssen, der ihr aus dem Ossian vorgelesen hatte und beim Schmerze der Helden überwältigt worden war von seinem eigenen allerdüstersten Jammer; als der liebe Verzweifelte zu ihren Füßen hingesunken war und ihre Hände an seine Augen, seine arme Stirn gedrückt hatte, da denn sie sich von innigstem Mitleid hatte bewegen lassen, auch seine Hände zu drücken, unversehens ihre glühenden Wangen sich berührt hatten und die Welt ihnen hatte vergehen wollen unter den wütenden Küssen, mit denen sein Mund auf einmal ihre stammelnd widerstrebenden Lippen verbrannt hatte …

Da fiel ihr ein, daß sie es auch nicht erfahren hatte. Es war die große Wirklichkeit, und unterm Tüchlein brachte sie sie mit der kleinen durcheinander, in der es so stürmisch nicht zugegangen war. Der tolle Junge hatte ihr eben nur einen Kuß geraubt – oder, wenn dieser Ausdruck zu ihrer beider Stimmung von damals nicht passen wollte: er hatte sie von Herzen geküßt, halb Wirbelwind, halb Melancholicus, beim Himbeersammeln, in der Sonne, – sie geküßt rasch und innig, begeistert und zärtlich begierig, und sie hatt' es geschehen lassen. Dann aber hatte sie sich hienieden geradeso vortrefflich benommen wie droben im Schönen, – ja, eben darum durfte sie dort für immer eine so schmerzlich edle Figur machen, weil sie sich hier zu verhalten gewußt hatte wie auch die pietätvollste Tochter es nur verlangen konnte. Denn es war in aller Herzlichkeit ein wirrer und sinnloser, ein unerlaubter, unzuverlässiger und wie aus einer anderen Welt kommender Kuß gewesen, ein Prinzen- und Vagabundenkuß, für den sie zu schlecht und zu gut war; und hatte der arme Prinz aus Vagabundenland auch Thränen danach in den Augen gehabt und sie ebenfalls, so hatte sie doch in ehrlich untadligem Unwillen zu ihm gesagt: »Pfui, schäm' er sich! Daß er sich so etwas nicht noch einmal beikommen läßt, sonst sind wir geschiedene Leute! Dies bleibt nicht zwischen uns, daß er's weiß. Noch heute sag' ich es Kestnern.« Und wie er auch gebeten hatte, es nicht anzusagen, so hatte sie es doch an dem Tage noch ihrem Guten redlich gemeldet, weil er's wissen mußte: nicht sowohl, daß jener es getan, als daß sie es hatte geschehen lassen; worauf sich denn Albert doch recht peinlich berührt gezeigt hatte und sie im Lauf des Gesprächs, auf Grund ihrer vernünftig-unverbrüchlichen Zusammengehörigkeit zu dem Beschlusse gelangt waren, den lieben Dritten nun denn doch etwas kürzer zu halten und ihm die wahre Sachlage entschieden bemerklich zu machen.

Unter ihren Lidern sah sie noch heute, nach soviel Jahren, mit erstaunlicher Deutlichkeit die Miene vor sich, die er bei dem überaus trockenen Empfang gemacht, den ihm die Brautleute am Tage nach dem Kuß und namentlich am übernächsten Tage bereitet, als er abends um zehne, da sie mit einander vorm Hause saßen, mit Blumen gekommen war, die so unachtsam waren aufgenommen worden, daß er sie weggeworfen und sonderbaren Unsinn peroriert, in Tropen geredet hatte. Er konnte ein merkwürdig langes Gesicht haben damals unter seinem gepuderten über den Ohren gerollten Haar: mit großer, betrübter Nase, dem schmalen Schatten des Schnurrbärtchens über einem Frauenmündchen und schwachem Kinn, auch traurig bittenden braunen Augen dazu, klein wirkend gegen die Nase, aber mit auffallend hübschen seidig-schwarzen Brauen darüber.

So hatte er dreingeschaut den dritten Tag nach dem Kuß, als sie, dem Ratschluß gemäß, ihm in dürren Worten erklärt hatte, damit er sich danach richte: daß er nie etwas andres werde zu hoffen haben von ihr als gute Freundschaft. Hatte er denn das nicht gewußt, – da ihm bei dem klaren Entscheid geradezu die Wangen eingefallen waren und er so blaß geworden war, daß Augen und Seidenbrauen sich in sehr dunklem Kontrast aus dieser Blässe hervorgetan hatten? Die Reisende verbiß ein gerührtes Lächeln unter ihrem Tuch indem sie sich dieser unvernünftig enttäuschten Kummermiene erinnerte, von welcher sie Kestnern nachher eine Beschreibung gemacht, die nicht wenig zu dem Entschlusse beigetragen hatte, dem lieben, närrischen Menschen zum Doppelgeburtstag, seinem und Kestners, dem verewigten 28. August, zusammen mit dem Taschen-Homer die Schleife zu senden, eine Schleife vom Kleide, damit er auch etwas habe …

Charlotte errötete unter dem Tüchlein, und der Schlag ihres dreiundsechzigjährigen Schulmädelherzens verstärkte, beschleunigte sich wieder. Dies wußte Lottchen, die Jüngere, noch nicht, daß ihre Mutter in der Sinnigkeit so weit gegangen war, an der Brust des vorbereiteten Kleides, der Nachahmung des Lottekleides, die fehlende Schleife auszusparen. Sie fehlte, ihr Platz war leer, denn Jener besaß sie, der Entbehrende, dem sie sie im Einvernehmen mit ihrem Verlobten zum Trost hatte zukommen lassen, und der das gutmütig gespendete Andenken mit tausend ekstatischen Küssen bedeckt hatte … Die Pflegerin Bruder Karls mochte nur kritisch die Mundwinkel senken, wenn sie diese Einzelheit der mütterlichen Erfindung entdeckte! Zu ihres Vaters Ehren war sie erdacht worden, des Guten, Getreuen, der einst das Geschenk nicht nur gebilligt, sondern es selber angeregt und trotz allem, was auch er um des ungebärdigen Prinzen willen gelitten, mit seinem Lottchen geweint hatte, als Er auf und davon war, der ihm beinahe sein Liebstes geraubt.

»Er ist fort«, hatten sie zu einander gesagt, als sie die Zettel gelesen, gekritzelt nachts und am Morgen, – »Ich lasse Euch glücklich und gehe nicht aus Euren Herzen … Adieu, tausendmal adieu!« – »Er ist fort«, sagten sie abwechselnd, und alle Kinder im Haus gingen wie suchend umher und wiederholten betrübt: »Er ist fort!« Die Tränen waren Lotten gekommen beim Lesen der Zettel, und sie hatte ruhig weinen dürfen und nichts zu verbergen brauchen vor ihrem Guten; denn auch ihm waren die Augen feucht gewesen, und nur von dem Freunde hatte er sprechen mögen den ganzen Tag: was für ein merkwürdiger Mensch er sei, barock wohl zuweilen von Wesen, in manchen Stücken nicht angenehm, aber so voller Genie und eigentümlich ergreifender Besonderheit, welche zum Mitleid bewege, zur Sorge und herzlich geneigten Verwunderung.

So der Gute. Und wie dankbar hatte sie sich zu ihm gezogen gefühlt, fester als je an seine Seite, weil er so sprach und es völlig natürlich fand, daß sie weinte um den, der fort war! Wie sie da lag mit geschützten Augen, erneuerte sich in dem unruhigen Herzen der Reisenden diese Dankbarkeit in voller Wärme; ihr Körper bewegte sich als schmiege sie sich an eine verläßliche Brust, und ihre Lippen wiederholten die Worte, die sie damals gesprochen: Es sei ihr lieb, murmelte sie, daß er fort sei, der von außen gekommene Dritte, da sie ihm, was er von ihr gewünscht, doch nicht hätte geben können. Das hörte er gern, ihr Albert, der den Vorrang und höheren natürlichen Glanz des Entschwundenen so stark empfunden hatte wie sie, stark bis zum Irrewerden an ihrer beider vernünftig-zielklarem Glücke, und ihr eines Tages in einem Briefchen das gegebene Wort hatte zurückgeben wollen, daß sie frei wähle zwischen dem Glänzenderen und ihm. Und sie hatte gewählt – und ob sie gewählt hatte! – nämlich wieder nur ihn, den schlicht Ebenbürtigen, den ihr Bestimmten und Zukommenden, ihren Hans Christian: nicht nur, weil Liebe und Treue stärker gewesen waren, als die Versuchung, sondern auch kraft eines tiefgefühlten Schreckens vor dem Geheimnis im Wesen des Anderen, – vor etwas Unwirklichem und Lebensunzuverlässigem in seiner Natur, das sie nicht zu nennen gewußt und gewagt hätte und für das sie erst später ein klagend-selbstanklägerisches Wort gefunden hatte: »Der Unmensch ohne Zweck und Ruh'« … Wie sonderbar nur, daß ein Unmensch so lieb und bieder, ein so kreuzbraver Junge sein konnte, und daß die Kinder nach ihm suchten und sich betrübten: »Er ist fort!«

Eine Menge Sommerbilder jener Tage zogen an ihrem Geist vorüber unter dem Tüchlein, sprangen auf in sprechender, hell besonnter Lebendigkeit und verloschen wieder, – Szenen zu dritt, wenn Kestner einmal vom Amte frei gewesen war und mit ihnen hatte sein können: Spaziergänge am Bergesrücken, wo sie auf den durch Wiesen sich schlängelnden Fluß, das Tal mit seinen Hügeln, auf heitere Dörfer, Schloß und Warte, Kloster- und Burgruinen geschaut hatten und Jener, in offenbarem Entzücken mit traulichen Menschen die holde Fülle der Welt zu genießen, von hohen Dingen geredet und in einem damit tausend komödiantische Possen getrieben hatte, sodaß die Brautleute vor Lachen kaum weiter hatten gehen können; Stunden des Buches in der Wohnstube oder im Grase, wenn er ihnen aus seinem geliebten Homer oder dem Fingal-Liede vorgelesen und plötzlich, in einer Art von Begeisterungszorn, die Augen voll Thränen, das Buch hingeworfen und mit der Faust aufgeschlagen hatte, dann aber, da er ihre Betretenheit sah, in ein fröhlich gesundes Lachen ausgebrochen war … Szenen zu zweit, zwischen ihm und ihr, wenn er ihr in der Wirtschaft, im Krautfelde geholfen, mit ihr Bohnen geschnitten oder im Deutschordensgarten mit ihr Obst abgenommen hatte, – ganz guter Kerl und lieber Kamerad, mit einem Blick oder zügelnden Wort rasch wieder ins Rechte zu bringen, wenn er sich ins Schmerzliche hatte gehen lassen wollen. Sie sah und hörte das alles, sich, ihn, Gebärden und Mienenspiel, Zurufe, Anweisungen, Erzählungen, Scherze, »Lotte!« und »Bestes Lottchen!« und »Laß er die Fisimatenten! Steig' er lieber hinauf und werf' er mir in den Korb herunter!« Das Merkwürdige aber war, daß all diese Bilder und Erinnerungen ihre außerordentliche Deutlichkeit und Leuchtkraft, die genaue Fülle ihres Détails sozusagen nicht aus erster Hand hatten; daß das Gedächtnis ursprünglich keineswegs so sehr darauf ausgewesen war, sie so ins Einzelne zu bewahren, sondern sie erst später aus seiner Tiefe Teilchen für Teilchen, Wort für Wort hatte hergeben müssen. Sie waren erforscht, rekonstruiert, mit sämtlichem Drum und Dran genauestens wieder hervorgebracht, blank aufgefirnißt und gleichsam zwischen Leuchter gestellt, um der Bedeutung willen, die sie wider alles Vermuten nachträglich gewonnen hatten.

Unter dem Herzklopfen, das sie erzeugten, dieser begreiflichen Begleiterscheinung einer Reise ins Jugendland, verflossen sie in einander, wurden zu krausem Traumgefasel und gingen unter in einem Schlummer, der nach überfrühem Tagesbeginn und rumpelnder Reise die Sechzigjährige an die zwei Stunden umfangen hielt.

Während sie schlief, ihres Zustandes tief vergessen, des fremden Gasthofzimmers, wo sie lag, dieser nüchternen Poststation auf der Reise ins Jugendland, schlug es zehn und halb 11 von der Hofkirche St. Jakob, und sie schlief noch weiter. Ihr Erwachen geschah von selbst, ehe man sie weckte, aber doch wohl unter dem geheimen Einfluß der sich nähernden äußeren Störung und ihr zuvorkommend aus einer inneren Bereitschaft, die weniger gespannt und empfindlich gewesen wäre, wenn sich nicht das halb freudige, halb beklemmende Vorgefühl damit verbunden hätte, daß die Wachheitsforderung nicht von der Seite ihrer wartenden Schwester, sondern aus erregenderen Anspruchsbereichen komme.

Sie saß auf, sah nach der Zeit, erschrak ein wenig über die vorgeschrittene Stunde und dachte nicht anders, als daß sie sich nun schleunigst auf den Weg zu ihren Verwandten machen müsse. Eben hatte sie mit der Wiederherstellung ihrer Toilette begonnen, als es klopfte.

»Was gibt es?« fragte sie an der Thür, einige Gereiztheit und Klage in der Stimme. »Man kann nicht eintreten.«

»Ich bin es nur, Frau Hofrätin«, sprach es draußen, »es ist lediglich Mager. Um Vergebung, Frau Hofrätin, wenn man dérangiert, allein es wäre hier eine Dame, Miß Cuzzle, von Nummer 19, eine englische Dame, ein Gast des Hauses.«

»Nun, und weiter?«

»Ich würde«, redete Mager hinter der Türe, »nicht zu inkommodieren wagen, allein Miß Cuzzle hat von der Anwesenheit der Frau Hofrätin in hiesiger Stadt und bei uns erfahren und ersucht dringend, Visite, wenn auch nur eine ganz kurze, ablegen zu dürfen.«

»Sagen Sie der Dame«, erwiderte Charlotte am Spalt, »daß ich nicht angekleidet bin, mich auch entfernen muß, sobald ich es bin, und lebhaft bedauere.«

In einem gewissen Widerspruch zu diesen Worten legte sie dabei einen Frisiermantel um, durchaus gewillt, die Überrumpelung abzuweisen, aber in dem Wunsch, sich nicht einmal bei der Abweisung im Zustande völliger Unbereitschaft zu fühlen.

»Ich brauche es Miß Cuzzle nicht zu sagen«, antwortete Mager auf dem Gange. »Sie hört es selbst, denn sie steht hier neben mir. Die Sache wäre die, daß es Miß Cuzzle höchst dringlich wäre, der Frau Hofrätin, sei es auch nur in Minutenkürze, aufwarten zu dürfen.«

»Aber ich kenne die Dame nicht!« rief Charlotte mit leichter Entrüstung.

»Das ist es gerade, Frau Hofrätin«, versetzte der Kellner. »Miß Cuzzle legt eben das allergrößte Gewicht darauf, sofort Dero Bekanntschaft, in flüchtigster Form, wenn es sein muß, zu machen. She wants to have just a look at you, if you please«, sagte er kunstvoll verstellten Mundes, gleichsam sprachlich in die bittstellende Persönlichkeit eintretend, – was denn für diese das Zeichen zu sein schien, ihre Sache dem Mittelsmann aus den Händen zu nehmen und sie selber zu führen; denn sogleich klang draußen in bewegtem Dudeltudu ihre hohe Kinderstimme auf, die nicht wieder absetzen zu wollen schien, sondern unter laut hervorgehobenen »most interesting« und »highest importance« in unerschöpflichem Flusse weiterging, sodaß die Bedrängte im Zimmer sich langsam überzeugte, am ehesten noch sei dem Einhalt zu tun, indem man sich in das zähe Verlangen der Anstehenden ergebe und sich ihr zeige. Sie hatte garnicht die Absicht, der Zudringlichen den Raub an ihrer Zeit durch sprachliches Entgegenkommen zu erleichtern. Dennoch war sie deutsch genug, ihre Kapitulation mit einem halb scherzhaften »Well, come in, please« zu erklären und mußte dann lachen über Magers »Thank you so very much«, mit dem er sich, nach seiner Art, weit mit der Tür ins Zimmer hineinbeugte, um Miß Cuzzle an sich vorbeizulassen.

»Oh dear, oh dear!« sagte die kleine Person, die originell und erfreulich zu sehen war. »You've kept me waiting, Sie haben mich warten lassen, but that is as it should be. Es hat mich schon manchmal viel mehr Geduld gekostet, zum Ziel zu kommen. I am Rose Cuzzle. So glad to see you.« Diesen Augenblick, erklärte sie, habe sie vom Stubenmädchen erfahren, daß sich Mrs. Kestner seit heute Morgen in dieser Stadt, diesem Gasthaus, nur ein paar Zimmer von ihrem, befinde, und ohne Umstände habe sie sich zu ihr auf die Beine gemacht. Sie wisse wohl (»I realise«), welche wichtige Rolle Mrs. Kestner spiele in german literature and philosophy. »Sie sind eine berühmte Frau, a celebrity, and that is my hobby, you know, the reason I travel.« Ob dear Mrs. Kestner freundlich genug sein wolle, ihr zu erlauben, daß sie eben rasch ihr reizendes Gesicht in ihr Skizzenbuch aufnähme?

Sie trug dies Buch unterm Arm: Breitformat, Leinendeckel. Ihr Kopf stand voll roter Locken, und hochrot war auch ihr Gesicht mit der sommersprossigen Stumpfnase, den dick, aber sympathisch aufgeworfenen Lippen, zwischen denen weiße, gesunde Zähne schimmerten, den blau-grünen, auf eine ebenfalls sympathische Art zuweilen etwas schielenden Augen. Aus der antikisch hohen Gürtung ihres Kleides aus leichtem, geblümtem Stoff, von dem sie einen faltigen Überfluß, vom Bein hinweggerafft, überm Arm trug, schien ihr weit entblößter Busen, sommersprossig wie die Nase, lustig hervorkugeln zu wollen. Um die Schultern trug sie ein Schleiertuch. Charlotte schätzte sie auf fünfundzwanzig Jahre.

»Mein liebes Kind«, sagte sie, etwas verstört in ihrer Bürgerlichkeit durch die muntere Exzentrizität der Erscheinung, aber gern bereit, duldsamen Weltsinn walten zu lassen, – »mein liebes Kind, ich weiß das Interesse zu schätzen, das meine bescheidene Person Ihnen einflößt. Lassen Sie mich hinzufügen, daß Ihre Entschlossenheit mir sehr wohl gefällt. Aber Sie sehen, wie wenig ich gerüstet bin, Besuch zu empfangen, geschweige denn, zu einem Portrait zu sitzen. Ich bin im Begriffe, auszugehen, da liebe Verwandte mich dringend erwarten. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben – in all der Kürze, die Sie selber in Vorschlag brachten, und auf der ich zu meinem Bedauern bestehen muß. Wir haben einander gesehen, – ein Mehreres wäre wider die Abrede, und also erlauben Sie mir wohl, den Willkommsgruß sogleich mit dem Lebewohl zu verbinden.«

Es blieb ungewiß, ob Miß Rose ihre Worte auch nur verstanden hatte; keinesfalls machte sie Miene, ihnen Rechnung zu tragen. Indem sie fortfuhr, Charlotte mit »Dear« anzureden, schwatzte sie unaufhaltsam mit ihren drolligen Polsterlippen, in ihrer bequemen und humorig-weltsicheren Sprache auf sie ein, um ihr Sinn und Notwendigkeit ihres Besuches zu erläutern, sie mit ihrer unternehmenden, einer bestimmten Jagd- und Sammlerleidenschaft dienstbaren Existenz vertraut zu machen.

Eigentlich war sie Irin. Sie reiste zeichnend, wobei zwischen Zweck und Mittel zu unterscheiden nicht leicht war. Ihr Talent mochte nicht groß genug sein, um der Unterstützung durch die sensationelle Bedeutsamkeit des Gegenstandes entbehren zu können; ihre Lebendigkeit und praktische Regsamkeit zu groß, um sich in stiller Kunstübung genügen zu lassen. So sah man sie immerfort auf der Fahndung nach Sternen der Zeitgeschichte und historisch namhaften Oertlichkeiten, deren Erscheinung sie womöglich nebst der beglaubigenden Unterschrift des Modells und oft unter den unbequemsten Umständen, in ihre Skizzenbücher einfing. Charlotte hörte und sah mit Staunen, wo überall das Mädchen gewesen war. Sie hatte die Brücke von Arcole, die Akropolis von Athen und Kants Geburtshaus zu Königsberg in Kohle aufgenommen. In einer schaukelnden Jolle, für deren Miete sie fünfzig Pfund gezahlt, hatte sie auf der Reede von Plymouth den Kaiser Napoléon auf dem »Bellerophon« gezeichnet, als er, nach dem Diner an Deck gekommen, an der Reeling eine Prise genommen hatte. Es war kein gutes Bild, sie gestand es selbst: ein tolles Gedränge von Booten, voll von Hurra schreienden Männern, Frauen und Kindern, rings um sie her, der Wellengang, auch die Kürze des kaiserlichen Aufenthaltes an Deck waren ihrer Tätigkeit recht abträglich gewesen, und der Held, mit Querhut, Westenbauch und gespreizten Rockschößen, sah aus wie in einem Vexierspiegel, von oben nach unten platt zusammengedrückt und lächerlich in die Breite gezerrt. Trotzdem war es ihr gelungen, durch einen ihr bekannten Offizier des Schicksalsschiffes seine Unterschrift, oder das hastige Krickel-Krakel, das dafür gelten mochte, zu erlangen. Der Herzog von Wellington hatte nicht verfehlt, die seine zu spenden. Der Wiener Kongreß hatte glänzende Ausbeute gegeben. Die große Schnelligkeit, mit der Miß Rose arbeitete, erlaubte es dem beschäftigtsten Mann, ihr zwischenein zu willfahren. Fürst Metternich, Herr von Talleyrand, Lord Castlereagh, Herr von Hardenberg und mehrere andere europäische Unterhändler hatten es getan. Zar Alexander hatte sein backenbärtiges, mit einer stark skurrilen Nase geschmücktes Bildnis wahrscheinlich darum durch Unterschrift anerkannt, weil die Künstlerin es verstanden hatte, seinem um die Glatze stehenden Schläfenhaar das Ansehen eines offenen Lorbeerkranzes zu geben. Die Portraits der Frau Rahel v. Varnhagen, Professor Schellings und des Fürsten Blücher von Wahlstatt bekundeten, daß sie in Berlin ihre Zeit nicht verloren hatte.

Sie hatte sie überall wahrgenommen. Die Leinendeckel ihrer Mappe umschlossen noch manche andere Trophäe, die sie die verblüffte Charlotte unter lebhaften Kommentaren sehen ließ. Jetzt war sie nach Weimar gekommen, angelockt von dem Ruf dieser Stadt, »of this nice little place«, als des Mittelpunktes der weltberühmten deutschen Geisteskultur, – die für sie ein Wechselplatz jagdbarer Celebritäten war. Sie bedauerte, recht spät hierher gefunden zu haben. Old Wieland sowohl wie Herder, den sie einen great preacher nannte, wie auch the man who wrote the »Räuber«, waren ihr durch den Tod entschlüpft. Immerhin lebten ihren Notizen zufolge noch Schriftsteller am Ort, auf die zu pürschen sich lohnte, wie die Herren Falk und Schütze. Schillers Witwe hatte sie tatsächlich schon in der Mappe, ebenso Madame Schopenhauer und zwei oder drei namhaftere Actricen des Hoftheaters, die Demoiselles Engels und Lortzing. Bis zu Frau von Heygendorf, eigentlich Jagemann, war sie noch nicht vorgedrungen, verfolgte aber dies Ziel umso eifriger, als sie durch die schöne Favoritin den Hof zu erobern hoffte – und umso eher hoffen durfte, da sie Verbindungsfäden zur Großfürstin-Erbprinzessin schon angeknüpft hatte. Was Goethen betraf, dessen Namen sie, wie übrigens auch die meisten anderen, so fürchterlich aussprach, daß Charlotte lange nicht begriff, wen sie meinte, so war sie ihm auf der Spur, ohne ihn schon vor den Lauf bekommen zu haben. Die Nachricht, daß das notorische Modell zur Heldin seines berühmten Jugend-Romans sich seit heute Morgen in der Stadt, in ihrem Hotel und nahezu in Zimmernachbarschaft mit ihr befinde, hatte sie elektrisiert – nicht nur wegen des Gegenstandes selbst, sondern weil sie durch diese Bekanntschaft, wie sie ganz offen erklärte, zwei, ja drei Fliegen auf einmal zu klatschen gedachte: Werthers Lotte würde ihr zweifellos den Weg ebnen zum Autor des »Faust«; diesen aber würde es ein Wort kosten, ihr die Thür Frau Charlottens von Stein zu öffnen, über deren Beziehungen zur Gestalt der Iphigenie sich zur Gedächtnisstütze in ihrem Notizbüchlein, Abteilung German literature and philosophy, einiges vorfand, was sie der gegenwärtigen namensgleichen Schwester im Reiche der Urbilder mit größter Einfalt zum Besten gab.

Es ging nun so, daß Charlotte wie sie da war, in ihrem weißen Pudermantel, mit dieser Rose Cuzzle nicht, wie allenfalls vorgesehen, einige Minuten, sondern drei Viertelstunden verbrachte. Heiter eingenommen von dem naiven Reiz, der lustigen Tatkraft der kleinen Person, beeindruckt von all der Größe, deren sie habhaft zu werden gewußt hatte und deren Spur sie aufweisen konnte, ungewiß, ob sie den Einschlag von