Love Me Not - Alina A.E. Maurer - E-Book
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Love Me Not E-Book

Alina A. E. Maurer

5,0

Beschreibung

Mit ihr fühlt er sich wie ein bunt explodierender Stern: Völlig lebendig. In London einen Neustart beginnen und ihre erste Beziehung hinter sich lassen, das ist alles, was Rose sich wünscht. Am Imperial College soll für sie alles anders werden. Sie wurde für Medizinische Biochemie an ihrer Traumuni angenommen und wohnt endlich wieder in der Großstadt - ihr Plan geht genau auf. Bis sie gleich am ersten Tag auf ihren arroganten Mitbewohner Jez trifft. Er ist genau die Sorte von Mann, um die Rose einen großen Bogen machen will: gutaussehend, selbstbewusst, Frauenheld. Bis sie erkennt, dass auch er hinter seiner Fassade eine dunkle Vergangenheit verbirgt. Und auch die Funken zwischen ihnen kann sie nicht länger ignorieren

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ALINA A.E. MAURER

Love Me Not

INHALT

Die Autorin

Playlist

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Anmerkung

Danksagung

Inhaltswarnung

Forget Me Not (Band 1)

Save Me Not (Band 3)

DAS BUCH

In London einen Neustart beginnen und ihre erste Beziehung hinter sich lassen, das ist alles, was Rose sich wünscht. Am Imperial College soll für sie alles anders werden. Sie wurde für Medizinische Biochemie an ihrer Traumuni angenommen und wohnt endlich wieder in der Großstadt - ihr Plan geht genau auf. Bis sie gleich am ersten Tag auf ihren arroganten Mitbewohner Jez trifft. Er ist genau die Sorte von Mann, um die Rose einen großen Bogen machen will: gutaussehend, selbstbewusst, Frauenheld. Bis sie erkennt, dass auch er hinter seiner Fassade eine dunkle Vergangenheit verbirgt. Und auch die Funken zwischen ihnen kann sie nicht länger ignorieren ...

DIE AUTORIN

Alina A.E. Maurer wurde 1999 geboren und lebt und atmet Bücher seit ihrer Kindheit. Wenn sie nicht schreibt, ist sie mit ihrem Hund draußen in der Natur. Ihre Leidenschaft für England hat sie für ein Semester nach Birmingham gebracht, wo sie Kreatives Schreiben studiert hat. Sie lebt mit all ihren Büchern im schönen Mainz am Rhein. Auf Instagram tauscht sie sich unter @alina.a.e.maurer mit anderen Bücherliebhaber:innen aus.

Mehr Informationen auf www.alinaaemaurer.de

© / Copyright: 2022 Alina Anneliese Elisabeth Maurer

Originalausgabe 2022

Umschlaggestaltung, Illustration: Alina Maurer

Buchsatz: Alina Maurer

Herstellung und Verlag: Bookmundo, Mijnbestseller Rotterdam

Autorinnenfoto: Nadja Jobst

Alina Maurer

c/o autorenglück.de, Franz-Mehring-Str. 15, 01237 Dresden

[email protected]

ISBN Taschenbuch: 978-9-403-67757-6

Dieses Buch ist auch als Kindle eBook verfügbar

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Liebe Leser:innen,

In Love Me Not verarbeite ich sensible Themen, die potenziell triggern können. Darunter auch:

toxische Beziehungen und versuchter sexueller Missbrauch.

Eine vollständige Inhaltswarnung findet ihr am Ende des Buches. Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Ich wünsche mir für euch nur das bestmögliche Leseerlebnis. Passt auf euch auf und sorgt für euch!

Eure Alina

Für uns mit abgeknabberter Schokoglasur. Wir sind aus Toffee und können nicht kaputt gehen.

PLAYLIST

Someone To You – BANNERS

Moral of the Story (feat. Niall Horan) – Ashe, Niall Horan

I Lived – OneRepublic

Sweater Weather – Kurt Hugo Schneider, Alyson Stoner

If I Lose Myself – OneRepublic

My Universe – Coldplay, BTS

Ghost of You – 5 Seconds of Summer

Unsteady – X Ambassadors

It’s Not Living (If It’s Not With You) – The 1975

Us – James Bay

Till Forever Falls Apart – Ashe, FINNEAS

Electric Love – BØRNS

Ghost – Justin Bieber

Someone You Loved – Lewis Capaldi

Imagination – Shawn Mendes

Home – Phillip Phillips

If I Could Fly – One Direction

She Looks So Perfect – 5 Seconds of Summer

Wildfire – Seafret

Hold Me While You Wait – Lewis Capaldi

Lose Somebody – Kygo, OneRepublic

Good Life – OneRepublic

Everything Has Changes (feat. Ed Sheeran) – Taylor Swift, Ed Sheeran

Merry-Go-Round of Life (From Howl’s Moving Castle) – Nuvo Orchestra 누보오케스트라

»Es liegt in der menschlichen Natur, herausfinden zu wollen, wie wir sehen und hören, warum sich manches gut anfühlt, während anderes Schmerzen bereitet, wie wir uns bewegen, wie wir nachdenken, uns erinnern und vergessen, was Zorn und geistige Verwirrung ausmachen. Man beginnt jetzt damit, diese Mysterien durch die Grundlagenforschung in der Neurowissenschaft zu enträtseln. (…) Um zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert, sind viele verschiedene Kenntnisse erforderlich (…): Medizin, Biologie, Psychologie, Physik, Chemie, Mathematik.«

Bear, Mark F. et al. Neurowissenschaften. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Andreas K. Engel. Springer Spektrum, 2009, 4. Auflage 2018, S.4

1. KAPITEL

Jez

Seine Schwester hat immer gesagt, Anfänge wären wie frischer Wind in den Segeln. Befreiend, aufregend und irgendwie berauschend. Aber sie hat auch immer in allem das Abenteuer gesehen. Er erinnert sich noch genau daran, wie sie mit gepackten Taschen an die Uni loszog. Ihre dunklen Augen funkelten und sie hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Als der Zug einfuhr, umarmte sie ihn fest. »Denk immer daran, eine Schildkröte kommt nur voran, wenn sie ihren Hals ausstreckt, Seo-jun«, flüsterte sie an sein Ohr. Sie hat ihn schon immer mit seinem zweiten Namen angesprochen. »Wir sind zuerst Koreaner und dann Briten«, pflegte sie zu sagen. Mit Vierzehn war ihm ihre überschwängliche Verabschiedung unangenehm und er sah sich betreten um, wer gesehen haben könnte, wie seine Schwester ihm einen Kuss auf den Scheitel drückte. Aber insgeheim vermisste er sie schon in dem Moment.

Jez wirft die Trainingstasche über die Schulter und sieht sich in seinem Kinderzimmer um. Ein Jahr lang hat er diesen Tag herbeigesehnt und nun fühlt es sich doch befremdlich an, sein Leben in Cardiff zurückzulassen. Er versucht, an die Worte seiner Schwester zu glauben. Dieser Neuanfang würde ihm guttun. Ein lautes Hupen unterbricht seine Gedanken und er sieht aus dem offenen Fenster auf die Straße.

Ein blonder Haarschopf lehnt sich aus einem schwarzen Ford. »Hamilton, beeil dich mal!«, ruft Henry so laut, dass ihn vermutlich die ganze Nachbarschaft gehört hat. Jez verdreht die Augen, schnappt sich aber seinen Koffer und wuchtet ihn die Treppen hinunter. Seine Mutter wartet bereits an der geöffneten Haustür und fragt Henry gerade, ob er hineinkommen möchte.

»Nein, danke, Mrs Hamilton. Wir wollten schon vor einer halben Stunde los.«

»Und wessen Schuld ist das?«, fragt Jez seinen Schulfreund und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er legt die Hand auf die Schulter seiner Mutter und schiebt sich an ihr vorbei nach draußen.

Henry steigt aus seinem Wagen und öffnet den Kofferraum. »Immer wird nur gemeckert. Ich kann auch alleine nach London fahren.« Dennoch nimmt er Jez den Koffer ab und schiebt ihn neben seine eigenen gepackten Taschen in den Laderaum des Ford Fiestas.

»Ich habe Essen gemacht. Für die Fahrt«, sagt seine Mutter. Jez hebt den Kopf und sieht in ihre besorgt geweiteten Augen. Seit Wochen liegt sie ihm damit in den Ohren, was er alles brauche und einpacken müsse. Vor einigen Jahren noch hätte ihn ihre Fürsorge genervt. Doch er weiß, wie schwer es seiner Mutter fällt, ihn gehen zu lassen.

Henry lehnt sich zu ihm herüber und quetscht die Trainingstasche in die letzte freie Ecke zwischen ihren Koffern. »Frag sie, ob sie auch Kimchi einpacken kann«, flüstert er, damit Jez’ Mutter sie nicht hört.

»Kimchi?« Jez zieht ungläubig die Augenbrauen hoch.

»Deine Mum macht das beste Kimchi.«

»Und wie willst du das während der Fahrt essen?«

»Du kannst mich füttern.« Henry schlägt den Kofferraum zu und klopft sich, wie nach getaner Arbeit, die Hände an der Jeans ab.

»Träum weiter.« Jez lacht laut auf und läuft zurück zu seiner Mutter. Min ist eine kleine Frau, die ihre Kochkünste als Pölsterchen um die Hüften trägt. Sanft dirigiert er Min in die Küche. Sonst würde sie noch Stunden im Flur stehen und ihn die Packliste durchgehen lassen.

Sie öffnet den Kühlschrank und holt mehrere Plastikdosen Essen hervor. »Bibi Gusku, Japchae, Kimchi …«

»Eomma«, unterbricht er sie und nimmt ihr die Dosen ab. »Die Fahrt dauert nicht mal drei Stunden.«

»Damit du in London nicht verhungerst«, antwortet sie ihm ebenfalls in ihrer Muttersprache. Wie automatisch war er ins Koreanische gewechselt.

»Danke. Henry freut sich schon auf das Kimchi. Er sagt, du machst das Beste.«

Min lächelt. »Natürlich mache ich das Beste. Der Junge muss mehr essen. Zu dünn. So wie du auch.« Sie stupst seinen flachen Bauch an. Er grinst. So sieht er seine Mutter am liebsten. Selbstbewusst und scherzhaft. Diese Seite an ihr kommt nur noch viel zu selten hervor.

Jez dreht sich bereits um, um die Dosen zum Auto zu tragen, als seine Mutter plötzlich sagt: »Dein Vater und ich haben ein Geschenk für dich.«

Überrascht wendet er sich Min zu. Sie hält einen Reiskocher in ihren Armen. »Damit du in London nicht verhungerst«, wiederholt sie ihre Worte. Ihre braunen Augen schimmern und auch er kann plötzlich die Tränen nur schwer zurückhalten. Es geht um mehr als nur den Reiskocher. Seine Schwester hat bei ihrem Auszug auch einen bekommen. Dass er auch einen erhält, ist wie die Erlaubnis seiner Eltern, in die Welt hinauszuziehen. Vor allem, nachdem seine Mutter vehement dagegen war, dass er fürs Studium auszieht. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er Biomedizin an der Cardiff University studieren sollen. Zwar wurde er dort auch angenommen, aber es war der Traum seiner Schwester gewesen, so wie ihr Vater in der Hauptstadt zu studieren. Sie hatte es nicht nach London geschafft, aber er würde es für sie tun. Egal wie oft sein Vater sagt, dass ihr Studium in Edinburgh der Anfang vom Ende gewesen sei. Er würde in die Fußstapfen seiner Schwester treten und ausziehen.

»Eomma, das wäre doch nicht nötig gewesen.« Er stellt den Reiskocher auf die Küchentheke und umarmt seine Mutter fest. Sie reicht ihm gerade mal bis zum Schlüsselbein. Seine Größe ist das Einzige, was von den britischen Genen seines Vaters auf ihn übergegangen ist. Ein fester Kloß sitzt in seinem Hals bei dem Gedanken, sie mit seinem Vater hier zurückzulassen.

Behutsam tätschelt Min seinen Rücken. »Daedanni kamsahamnida«, bedankt er sich bei ihr. Die Nuancen, die verschiedene Wörter ausdrücken können, um ein und dasselbe zu sagen, sind eine der vielen Dinge, die er in der englischen Sprache vermisst. Ein englisches ›Dankeschön‹ hätte seine tiefe Verbundenheit und Aufrichtigkeit niemals so zum Ausdruck bringen können. Draußen hupt Henry nochmal.

»Auf, auf, du musst los«, wechselt Min wieder ins Englische und löst sich aus der Umarmung. Schnell wischt sie sich über die Augen. Er balanciert die Plastikdosen auf dem Reiskocher und läuft nach draußen.

Henrys graue Augen funkeln amüsiert und er versucht, ein Lachen zu unterdrücken. »Ein Reiskocher?«

»Ein dummer Kommentar zum Asiaten mit dem Reiskocher in der Wohnheimküche und ich esse das Kimchi allein.« Jez stellt den Karton mit dem Küchengerät auf den Rücksitz und wirft Henry einen vernichtenden Blick zu. Dieser schließt sich mit einem imaginären Schlüssel seinen Mund ab und zuckt mit den Schultern.

Zum Abschied umarmt Jez seine Mutter doch nochmal, dann bringt er sich dazu ins Auto zu steigen und die Tür hinter sich zuzuziehen.

»Dein Dad kommt nicht noch vorbei?«, fragt Henry und verharrt mit der Hand am Zündschlüssel.

»Er ist in der Praxis.« Der Sicherheitsgurt schnappt zu, wie ein Startschuss für ihre Reise. Sein Vater ist immer in der Arztpraxis. »Ich suche die Musik aus. Du hast den Musikgeschmack eines zwölfjährigen Mädchens.« Jez greift nach dem Handy in der Mittelkonsole.

»Immer der Kritiker.« Aber Henry widerspricht nicht, als Joy Divison über das AUX-Kabel aus den Lautsprechern klingt.

»Sorry, aber drei Stunden Boybands halte ich wirklich nicht aus.«

»Meine weiblichen Fahrgäste haben sich bisher noch nie beschwert. Greta zum Beispiel …«

»Und deshalb ist Greta noch mit dir zusammen? Wegen deines unglaublichen Musikgeschmacks?«

Henry wirft ihm einen bösen Blick zu und fädelt sich auf die Hauptstraße in Richtung der M4 ein. »Greta ist immer noch ein wunder Punkt, Mann.«

Abwehrend hält Jez die Hände hoch. »Ich dachte nach über einem halben Jahr wärst du darüber hinweg.«

»Und wie lange ist das mit Suzie jetzt her?«

Jez beißt die Zähne zusammen, bis sein Kiefer schmerzt. Aber Henry spricht nicht weiter. Einige Minuten fahren sie in Schweigen. Unterbewusst dreht Jez das geknüpfte Band an seinem Handgelenk, ein rhythmisches Kratzen an seiner gebräunten Haut.

»Aber Imperial, das ist echt krass, dass du das noch geschafft hast«, wechselt Henry schließlich das Thema. Sie haben sich beide einen Schlag unter die Gürtellinie verpasst, das weiß er. Henrys Themenwechsel ist wie eine Entschuldigung. Ein Anerkennen, dass sie beide zu weit gegangen sind.

Jez lacht leise auf, um die Spannung in seinen Muskeln zu lösen. »Frag mal meinen Dad. Der wollte es mir gar nicht glauben.«

»Aber ich bin froh, Hamilton,« Henry klopft ihm spielerisch gegen die Schulter, »nach sechs Jahren kann ich dir wieder jeden Tag auf den Sack gehen.«

»Ich bin nicht derjenige, der weggezogen ist.«

»Sag das meiner Mum und ihrer Scheidung. Meine Idee war das auch nicht.« Sie lachen beide.

Seit der Zusage fürs Imperial College freut sich Jez schon, mit seinem besten Freund an die Uni zu gehen. Nachdem Henry aus Cardiff weggezogen war, haben sie sich nur die Sommer gesehen, die er bei seinem Dad in der walisischen Stadt verbracht hatte. Manchmal fragt Jez sich, ob alles anders gekommen wäre, wenn Henry damals da gewesen wäre.

»Ohne dich hätte ich mich nicht fürs Imperial ins Zeug gelegt«, sagt er ehrlich. Wenn Henry ihm nicht seit einem Jahr von seiner Zeit an der Universität in London vorgeschwärmt hätte, hätte sich Jez beim Nachholen seiner Prüfungen nicht so angestrengt. Allein die Vorstellung, mit seinem besten Freund an diesem renommierten Campus studieren zu können, hat ihn durch manche nächtliche Lernschicht gebracht.

»Du schmeichelst mir zu sehr.« Henry wischt sich eine imaginäre Träne aus dem Augenwinkel.

»Nimm das Kompliment doch einfach an.«

»Ich bin ein Mann, ich brauche keine Komplimente.«

Jez schnaubt. »Was ein Quatsch.«

»Sagt derjenige, der meinen Musikgeschmack auf den eines pubertierenden Mädchens reduziert.«

»Willst du Kimchi?« Jez übergeht die Bemerkung seines Freundes geflissentlich und greift nach den Plastikdosen auf seinem Schoß.

»Da musst du fragen?« Gierig betrachtet Henry den eingelegten Chinakohl, den Jez aus einer Plastikdose hervorholt. Jez nimmt Stäbchen aus einer Seitentasche seines Rucksacks. Mit ruhigen Händen reicht er Henry den Kimchi mit den Stäbchen. Henry schließt seine Augen und kaut genüsslich. »Deine Mum ist echt die beste Köchin.«

Auf der Hälfte des Weges fahren sie zum Tanken ab, was Jez nur mit einem Augenrollen quittiert. Er vermutet, dass Henry nur anhalten will, um die gebratenen Glasnudeln besser essen zu können.

»Beit Hall, mh?«, fragt Henry zwischen zwei Bissen. Er hat sich gegen sein Auto gelehnt und schaufelt sich die Glasnudeln in den Mund.

Jez zuckt mit den Schultern. »Ja. War nicht meine erste Wahl fürs Wohnheim, aber es ist direkt am Campus.«

Henry nickt. »Beit Hall ist cool. Partywohnheim, ich weiß nicht auf wie vielen WG-Partys ich dort schon war.« Er lacht, als er an sein erstes Jahr zurückdenkt. »Ein paar Teamkollegen haben da gewohnt. Die würden es auch noch mal machen.« Jez nickt langsam und versucht sich sein Leben in dem Wohnheim vorzustellen. »Aber alles steht und fällt mit den Mitbewohnern.«

»Dann hoffe ich einfach aufs Beste.«

Henry isst den letzten Rest Japchae und schließt die Plastikdose. »Hoffe einfach nur, dass du mit keinem heißen Mädel zusammenwohnst.«

Jez setzt sich zurück auf den Beifahrersitz. »Oberflächlicher geht’s wohl kaum, oder?«

»Mann, letztes Jahr hat so eine Granate im Zimmer direkt neben mir gewohnt. Aber ich konnte ja nichts mit meiner Mitbewohnerin starten. Aber wenn die in kurzen Shorts in der Küche gekocht hat …« Henry pfeift nur, als würde das alles aussagen.

»Du bist echt widerlich.«

Henry startet den Motor und sie rollen zurück auf die Straße. »Wir reden nochmal, wenn du deine Mitbewohner gesehen hast.«

»Ich glaube, deinem Hirn tut es nicht gut, dass du in deiner Freizeit nur mit Sportlern abhängst.«

»Hey, das hab ich allein von meinem Dad und seinen zig Affären.« Henry fädelt sich zurück in den Verkehr auf der M4 ein. »Kommst du zum Probetraining?«

So sehr ihn Jez mit seinem Fußballteam aufzieht, in nur einer Woche würde er hoffentlich ein Teil davon sein. »Klar. In der ersten Vorlesungswoche, oder?«

»Genau. Ich schick dir nochmal die Daten.«

Henry erzählt ihm von seinen Mannschaftskollegen, ihre Vorlieben und Macken, und beteuert immer wieder, dass Jez sie alle lieben würde. Dabei hat er das Gefühl, Henrys Freunde schon längst aus Erzählungen zu kennen. Jez schmunzelt nur und beobachtet die Landschaft, die an ihnen vorbeizieht. Die Baustellen häufen sich, je näher sie an London herankommen. Für Ende September ist es überraschend sonnig und warm, als würde die Welt ihm ein Zeichen geben wollen, dass dieser Neuanfang unter einem guten Stern steht. Seine Schwester hat immer geglaubt, dass alles aus einem Grund passiert. Er schnaubt leise.

»Ja, ich weiß, das vergeigte Spiel haben wir uns selbst zuzuschreiben. Aber der Abend vorher im Pub war es echt wert«, erwidert Henry auf sein Schnauben, im Glauben, dass es sich auf seine Erzählung über ein Fußballspiel letztes Semester bezieht.

»Verkatert spielen ist natürlich immer eine gute Idee«, steigt Jez wieder in das Gespräch ein und drängt den Gedanken an seine Schwester von sich.

»Hey, jetzt werde hier nicht verurteilend. Ich wurde nicht aus meiner Mannschaft gekickt, weil ich besoffen auf den Platz gekommen bin.«

Wenn Blicke töten könnten, wäre Henry am Steuer leblos zusammengesackt. »Das bin ich nicht mehr. Und das weißt du auch.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagt Henry beschwichtigend. »Das hier wird unser Jahr, okay?«

»Unser Jahr?« Jez lacht auf. »Und das bedeutet?«

»Fette Partys, hübsche Mädels, gute Noten und nur gewonnene Spiele.«

»Sehr realistisch.«

»Lass mich träumen, Hamilton.«

Jez grinst. Partys, Mädchen, Noten und Sport unter einen Hut zu bekommen, ist eine Sache der Unmöglichkeit. Wenn das jemand weiß, dann er. »Mir würde es einfach schon reichen, an der Uni nicht völlig unterzugehen.«

»Nachdem du letztes Jahr nur gebüffelt und gearbeitet hast?« Henry wirft ihm einen ungläubigen Blick zu. »Nee, nee, du kommst Ende der Woche mit zu einer Party.« Jez stöhnt auf, doch bevor er widersprechen kann, fährt Henry fort: »Wenn du nicht kommst, berechne ich dir Spritgeld.«

Jez verdreht die Augen, widerspricht seinem Freund aber nicht. Natürlich würde er mit Henry auf die Party gehen. Er muss seinem Schulfreund nur noch klar machen, dass er keinen Alkohol trinkt. Seit einem Jahr hat er der Flüssigkeit abgeschworen. Nie wieder will er so abstürzen, wie er es damals regelmäßig gemacht hat.

»Wenn du eine heiße Mitbewohnerin hast, kannst du die gerne mitbringen.«

»Wo genau ziehst du eigentlich hin?«, wechselt Jez abrupt das Thema. Er würde Henry, der seit der Trennung von seiner Langzeitfreundin Greta jede mit ins Bett nimmt, die ihm unter die Finger kommt, garantiert kein Mädchen zum Fraß vorwerfen. Sie rollen bereits im stockenden Londoner Stadtverkehr und Jez lehnt sich nach vorne, um aus der Windschutzscheibe die Stadt zu betrachten.

Henry reckt stolz die Brust heraus. »Wir hatten mega Glück und haben ein Haus in Fulham gefunden. So nah an der Uni ist das echt selten. Und es ist sogar einigermaßen bezahlbar.«

»Mhm«, erwidert Jez nur. Sie fahren gerade in die Straße vor dem Wohnheim ein und das große Backsteingebäude lenkt ihn ab.

»Scheiße, ich kriege keinen Parkplatz.« Henry sieht sich auf der überfüllten Straße um, an deren Rand sich bereits unzählige Autos tummeln. Neue Studierende machen sich mit ihren Koffern auf den Weg in das Gebäude, während ihre Eltern weitere Taschen aus den Autos holen.

Schnell überprüft Jez die Uhrzeit auf seinem Handy. Das Fenster, das ihm von der Uni für die Ankunft gegeben wurde, ist in ein paar Minuten vorbei. »Lass mich einfach raus. Ich schaffe das.«

»Sicher?« Nach Jez’ genervten Blick nickt Henry nur und parkt den Ford in zweiter Reihe. »Ich komme heute Abend vorbei. Mit zwei Pizzen.«

»Wehe du bringst mir eine mit Salami mit.« Jez steigt aus dem Auto aus und holt seine Taschen aus dem Kofferraum.

»Würde ich doch nie tun,« ruft Henry durch das Auto zu ihm nach hinten.

Jez bleibt mit seinem Koffer kurz an der Fahrerseite stehen. Mit dem Rucksack, der Trainingstasche und dem Reiskocher unter dem Arm hätte er Henry vielleicht doch fragen soll, etwas mit hochzutragen. »Mit ganz viel Pilzen, okay? Sonst lasse ich dich draußen stehen.«

»Ja, ja.«. Henry grinst breit. Der Bastard würde die Pizza garantiert aus Prinzip mit nur einem einzigen Pilz belegen lassen. Bei dem Gedanken daran muss Jez auch grinsen.

»Bis heute Abend, Mann. Und danke für die Fahrt.« Jez winkt seinem Schulfreund noch zum Abschied, dann hört er bereits laut One Direction aus dem Ford dröhnen und Henry verschwindet um die Ecke.

Zusammen mit den anderen Studierenden bahnt sich Jez seinen Weg in das Gebäude. Der große, grüne Innenhof ist gefüllt mit Menschen. Er lässt den Blick über die vielen weißen Sprossenfenster gleiten und fragt sich, hinter welchen wohl seine Wohnung sein würde.

Durch eine gewölbte Doppeltür gelangt er in einen großen Gemeinschaftsraum. In einer Ecke, hinter zwei Computern, stehen zwei Studierende in knallig blauen T-Shirts, die die Schlüssel verteilen. Jez stellt sich in die Schlange und kramt seinen ausgedruckten Informationszettel aus dem Rucksack. Seine Mutter hat ihn zwei Mal ausgedruckt. Falls er den ersten verliert. Wie er ihn in seinem Rucksack verlieren solle, hat er sie nicht gefragt.

»Hey, willkommen in Beit Hall. Ich hoffe, du hattest eine gute Anreise«, begrüßt ihn eine junge Frau. Ihre Augen leuchten freundlich hinter ihrer breiten Brille.

Nach den üblichen Floskeln reicht er ihr den Ausdruck und sie sucht in ihrem Computer seinen Namen. »Jeremy Hamilton, hier hab ich dich.« Sie überspringt seinen zweiten Namen, vermutlich um ihn nicht falsch auszusprechen. Das ist ihm deutlich lieber als Lehrer an seiner alten Schule, die über den Namen stolpern und dann fragen, woher er denn sei.

Sie schiebt ihm eine weiße Plastikkarte mit einem Foto von ihm zu und erklärt ihm, wie er damit in das Gebäude kommt. Das Foto darauf sieht schrecklich aus, aber seine Mutter hat darauf bestanden, der Universität ein biometrisches Foto von ihm zu schicken. Darauf trägt er ein Hemd und die dunklen Haare sind ordentlich zurückgegelt. »Damit siehst du professionell aus«, hat sie gesagt. Dass er nicht lacht. Am liebsten würde er der Studentin ihm gegenüber die Karte entreißen und sie schnell in seiner Tasche verstecken. Mit seiner Kappe und dem lockeren T-Shirt fühlt er sich meilenweit von dem Jungen auf dem Foto entfernt.

Die Studentin zieht einen Schlüssel aus einer Schublade. Dabei hält sie kurz inne, runzelt die Augenbrauen, besinnt sich dann aber wieder und reicht ihm den Schlüsselbund. »Okay, hier hast du vier Schlüssel: Deinen Zimmerschlüssel, den Schlüssel für die Küche und deinen Schrank da, einer für deinen Briefkasten und zuletzt der für eine Schublade in deinem Zimmer.« Jez folgt ihrer Erklärung aufmerksam. Die Studentin, deren Namensschild an ihrer Brust sie als Ava ausweist, fährt sich über die Stirn. Für einen kurzen Moment bricht ihre freundliche Fassade und Jez sieht, wie erschöpft sie wirklich ist.

»Alles klar, danke.« Er nimmt den Schlüsselbund entgegen und lächelt ihr aufmunternd zu. »Ihr macht einen super Job.« Sie blinzelt dankbar, dann kümmert sie sich auch schon um den Neuankömmling hinter ihm.

Jez schiebt seinen Koffer durch die Menschen in der Halle und geht die Wegbeschreibung, die Ava ihm gegeben hat, in seinem Kopf durch. Er findet den Eingang in das Gebäude auf Anhieb. Dort folgt er den Wegweisern zu seiner Wohnungsnummer im vierten Stock. Das geschäftige Treiben der Erstsemester um ihn herum beruhigt ihn.

Als er mit der Karte die Wohnungstür öffnet, hört er bereits Stimmengewirr. Bevor er den schmalen Flur betritt, streift er sich die Schuhe ab. Alte Angewohnheiten sind nur schwer abzuschütteln.

Ein kurviges Mädchen steckt den Kopf aus der Küche. »Hey, ich bin Amy«, stellt sie sich vor und streckt ihm die Hand hin. »Maschinenbau.«

»Jez.« Er schüttelt ihre Hand. »Biomedizin.«

»Cool.« Sie nickt anerkennend und ihr langer, brauner Pferdeschwanz wippt.

In dem Moment kommt ein unscheinbarer Junge mit einer großen Tüte aus seinem Zimmer. Pfannen und Töpfe lugen aus ihr hervor. Er stellt sich als Jake, Geologie-Student vor, bevor er hinter Amy in der Küche verschwindet.

Amy verabschiedet sich fürs Erste und widmet sich selbst wieder ihrem Auspacken. Die beiden wirken nett und er beschließt, dass die anderen zwei Mitbewohner auch eine Katastrophe sein können. Dann würde er sich wenigstens mit der Hälfte verstehen. Er sucht bei den drei geschlossenen Zimmertüren nach der mit seiner Nummer darauf und will sie aufschließen. Der Schlüssel lässt sich aber nicht drehen.

Verwirrt stellt der den Reiskocher auf dem Koffer ab und probiert es nochmal mit zwei Händen. Aber der Schlüssel bewegt sich keinen Millimeter. Frustriert zieht er ihn heraus. Obwohl er sich sicher ist, dass er den Schlüssel probiert hat, den Ava ihn als den für das Zimmer gezeigt hat, probiert er die anderen durch. Die lassen sich jedoch noch nicht einmal ganz einstecken. Frustriert setzt er seine Kappe ab, fährt sich einmal durch die Haare und zieht sie dann verkehrtherum wieder auf. Beim Gedanken daran, die ganzen Stufen wieder nach unten zu laufen, durch den Innenhof in den Empfangsbereich zu gehen, sich bei Ava anzustellen und ihr die Situation zu erklären, seufzt er entnervt.

Stattdessen dreht er sich zu dem Zimmer gegenüber seinem um und probiert seinen Schlüssel dort. Die Tür schwingt auf. »Jackpot«, murmelt er leise und schiebt seinen Koffer in das andere Zimmer. Durch ein großes Fenster fällt warmes Sonnenlicht in das kleine Zimmer, das den dunkelgrünen Teppich nicht ganz so geschmacklos wirken lässt. In einer Ecke steht ein schmales Bett an der Wand, dahinter ein Schreibtisch mit einem blauen Schreibtischstuhl. Sogar ein kleiner Sessel steht in der Ecke. Nicht wirklich hübsch, aber das hat Jez von dem Wohnheim auch nicht erwartet. Mit einem kleinen Holzkeil lässt er die Tür offenstehen, so wie Amy und Jake es mit ihren Zimmern auch gemacht haben. Dann würde er den zwei übrigen WG-Bewohnern direkt Hallo sagen können.

Er stellt den Reiskocher fürs Erste auf den Schreibtisch und hievt seinen schweren Koffer auf das Bett. Nach und nach räumt er die Klamotten in den Kleiderschrank, holt das Bettzeug aus den vakuumverschlossenen Tüten und pinnt die ersten Fotos an die Filzwand hinter dem Schreibtisch. Er betrachtet für einen Moment zu lange ein Foto von seiner Schwester und ihm. Mit breiten Zahnlücken lächeln sie in die Kamera, seine Schwester einen Kopf größer als er, ihre seidig schwarzen Haare sind in zwei Zöpfen zurückgebunden. Im Hintergrund ist der Hafen von Cardiff zu sehen. Fast schon spürt er wieder die Arme von ihr um seine Schultern, wie sie ihn auf dem Foto umarmt hält, als er in seiner Erinnerung gestört wird.

»Hallo? Das ist mein Zimmer.« Er dreht sich zu der eindeutig empörten Stimme um, um die Situation zu erklären. Doch als er die junge Frau im Türrahmen sieht, bleiben ihm die Worte im Hals stecken. Ihre feuerroten Haare hängen in einem unordentlichen Knoten in ihrem Nacken, aus dem sich einige Strähnen gelöst haben. Sie umspielen ihr sommersprossiges Gesicht. Die Hände hat sie in ihre schmale Taille gestemmt, die durch eine enge, helle Jeans perfekt in Szene gesetzt wird. Sie scheint ihren riesigen Koffer, der hinter ihr im Flur steht, selbst getragen zu haben. Das fliederfarbene Jäckchen, das sie trägt, ist ihr über die Schulter gerutscht und entblößt den Spaghettiträger ihres weißen Tops.

Sein Hals wird trocken. »Da mein Schlüssel hier passt, ist das technisch gesehen mein Zimmer«, bringt er schließlich hervor. Wow, das sind super erste Worte, Hamilton, gratuliert er sich selbst und würde sich am liebsten für seine Worte ohrfeigen.

Ihre braunen Augen blitzen wütend und sie setzt zu einer fassungslosen Erwiderung an. Er sieht es an der Art, wie ihre Augenbrauen eine kleine Falte bilden. Fast schon atemlos wartet er auf ihre Antwort, als wäre sie das Spannendste, das er erleben kann. Als wäre sie frischer Wind in den Segeln.

»Informationen aus allen sensorischen Systemen [erreichen] die Amygdala*. (…) Obwohl [sie] nicht als wesentlicher Ort für die Gedächtnisspeicherung gilt, ist sie offenbar an der Entstehung von Erinnerungen an emotionale Ereignisse beteiligt. Verschiedene Experimente haben gezeigt, dass die Neuronen der Amygdala lernen können, auf Reize zu reagieren, die mit Schmerz assoziiert werden. Nach einem solchen Lernen, lösen diese Reize angstvolle Reaktionen aus.«

Bear, Mark F. et al. Neurowissenschaften. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Andreas K. Engel. Springer Spektrum, 2009, 4. Auflage 2018, S. 679-682.

* »Zentrale Emotionsinstanz bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von emotionalen Reizen sowie bei der Auslösung emotionaler Reaktionen im Gehirn ist eine bilateral angelegte, beim Menschen mandelkerngroße limbische Struktur, die sogenannte Amygdala.«

Herbert, Cornelia. »Zum Zusammenhang von Sprache, Emotion und Körperlichkeit.« Emotionen. Herausgegeben von Hermann Kappelhoff et al. J. B. Metzler, 2019, S.273.

2. KAPITEL

Rose

Sie fragt sich, ob sie im stockenden Londoner Stadtverkehr das Fenster runterkurbeln und sich daraus übergeben kann. Zumindest würde sie das am liebsten, wenn sie ihre Schwester mit ihrem Freund turteln sieht.

»Sind es Konzerttickets?«, fragt Tim und wirft Blaze auf dem Beifahrersitz einen Seitenblick zu.

»Nein«, grinst diese.

»Eine neue Schallplatte?«

»Auch nicht. Es ist etwas, was ich dir noch nie geschenkt habe.«

»Was du mir noch nie geschenkt hast? Das ist gemein, ich weiß das meiste doch gar nicht mehr.«

So geht dieses Spiel zwischen den beiden schon seit einer Weile. Ihre Schwester hat angekündigt, dass sie bereits das Geburtstagsgeschenk für Tim gekauft hätte und seitdem rät er, was es wohl sein könnte. Absolut ätzend, wenn man Rose fragen würde.

Sie lehnt sich auf dem Rücksitz zurück und sieht aus dem Fenster. Seit ihrem Umzug nach Cornwall sehnt sie sich danach, wieder in der Hauptstadt zu wohnen. Sie ist hier groß geworden und sie hat den Trubel der Großstadt vermisst. Noch immer kann sie nicht ganz glauben, dass sie wirklich für das Imperial College in London zugelassen wurde. Ihre Mum hat versucht, sie zu überzeugen, in der Nähe zu studieren. Aber für Rose steht seit ihrem ersten Tag auf dem Land fest, dass sie in die Stadt gehört. Ihrer ältere Schwester Blaze mag es an der kleinen Uni in Plymouth gefallen, aber das bedeutet nicht, dass sie dort auch glücklich wäre. Irgendwann hat Mum sich geschlagen gegeben.

»Du sollst ja auch nicht jetzt schon erraten, was es ist«, sagt Blaze gerade.

Tim legt seine Hand auf ihren Oberschenkel und lehnt sich verschwörerisch zu ihr hinüber. »Und wieso erzählst du mir dann von dem Geschenk, wenn ich es nicht erraten soll?«

Die Ampel, an der sie stehen, wird grün und er widmet sich wieder dem Fahren. Rose sieht selbst vom Rücksitz, wie die Röte in die Wangen ihrer Schwester steigt.

»Um dich zu ärgern«, sagt Blaze, leicht außer Atem.

Aber anstatt verärgert auszusehen, schmachtet Tim seine Freundin nur verliebt an. Schnell wendet Rose den Blick ab. Tim sieht ihre Schwester an, als sei sie die Sonne, um die sich seine Welt dreht. Wie der hellste und schönste Stern am Himmel. Rose ignoriert den kleinen Stich, den sie dabei verspürt. Natürlich freut sie sich für ihre Schwester. Nach Tims Unfall haben sie ihn drei Jahre lang nicht gesehen und das war auch für Rose eine der schlimmsten Zeiten ihres Lebens. Blaze ging es sehr schlecht und Mum ist zu einer kontrollierenden Furie mutiert. Alles drehte sich nur noch um ihre Schwester und was Rose dachte oder fühlte, war egal. Aber als Tim letztes Jahr plötzlich bei ihnen vor der Tür stand, veränderte sich alles. Seit einigen Monaten sind die beiden offiziell ein Paar und Rose ist sich nicht sicher, ihre ältere Schwester schon einmal so glücklich erlebt zu haben. Sie gönnt ihr ihr Glück, keine Frage. Aber wenn sie sieht, wie Tim ihre Schwester vergöttert, kommt immer der hässliche Gedanke in ihr hoch, dass noch nie jemand sie so angesehen hat.

»Ren hat auch schon etwas angedeutet. Ihr seid fies«, sagt Tim.

»Der kleine Verräter.« Blaze verschränkt die Arme vor der Brust.

Rose öffnet ihren Mund, um etwas zu sagen, als Tim ihr zuvorkommt. »Er meinte, dass du mit ihm geredet hättest. Du musstest mein Geschenk also mit ihm absprechen?«

Rose will wieder etwas sagen, aber ihre Schwester antwortet ihm bereits: »Vielleicht. Lass dich doch einfach überraschen, dein Geburtstag ist doch schon bald.«

Blaze hat für sie beide ein Wochenende in Liverpool gebucht und bereits mit Tims Mitbewohnern besprochen, dass er das Wochenende nicht da sein würde, um mit ihnen als Band aufzutreten. Nachdem Tims Band Dear Elk im Frühjahr ihre erste EP veröffentlicht haben, sind sie den gesamten Sommer auf kleinen Festivals unterwegs gewesen. Zwar ist Blaze auf einige gegangen, um ihn zu unterstützen, aber neben dem Auftritt und Vernetzen mit anderen Bands hatte Tim kaum Zeit für sie gehabt. Blaze hat es nicht gesagt, aber Rose hat ihrer Schwester angesehen, dass sie Tim in der Zeit vermisst hat. Sie vermutet, dass ihre Schwester deshalb einen gemeinsamen Trip verschenkt: Um ihn wieder ganz für sich allein zu haben.

»Okay«, gibt Tim sich geschlagen. Sie kommen an einer Kreuzung zum Stehen und er lehnt sich zu Blaze hinüber, um sie zu küssen. Wenn Augen beim Rollen feststecken könnten, hätte Rose jetzt ein Problem.

»Wenn ihr dann irgendwann mal fertig wärt«, fällt sie ihnen dazwischen, »dann hätten wir da hinten links gemusst.«

Tim löst sich von seiner Freundin, den Blick noch etwas verklärt, und murmelt nur ein leises »Oh«. Als es grün wird, wendet er.

»Bist du schon aufgeregt?«, fragt Blaze und dreht sich zu ihr nach hinten um.

»Meine Antwort ist die gleiche wie die ersten hundert Mal, die du mich gefragt hast: Nein.« Rose fährt mit ihrer Hand über ihr Schlüsselbein und der Blick ihrer Schwester wird weicher. Wieso hat Rose auch diesen nervösen Tick, wenn sie lügt? Sie klemmt sich ihre Hände unter die Oberschenkel. Nervosität prickelt unangenehm durch ihre Adern. Sie hat alles genau durchgeplant, seit Wochen eine Packliste geführt, kann den Zeitplan der Einführungswoche auswendig und hat bereits alle Utensilien gekauft, die sie brauchen wird, sogar schon die ersten Lebensmittel. Es war eine Herausforderung, alle Taschen in dem Mini unterzubekommen, den Mum den Schwestern vor einigen Monaten geschenkt hat. Rose hat frisch ihren Führerschein gemacht und seitdem sich Blaze wieder hinter das Steuer traut, hat Mum beschlossen, dass die beiden ein eigenes Auto haben können. Sie teilen es sich und da Blaze es nur an manchen Wochenenden benutzt, sind sie sich noch nicht in die Quere gekommen. Es ist ein Segen, endlich ohne Mum aus dem Haus zu kommen und sich mit Freunden treffen zu können. Zumindest mit Lucas, den einzigen, den sie nach dem Schulwechsel hat.

Es juckt ihr in den Fingern, ihm eine Nachricht zu schreiben. Aber sie hält sich zurück. So war ihre Freundschaft zu Lucas nicht. Er wurde in Oxford für Informatik angenommen und sie kann sich seinen hellen Lockenschopf perfekt zwischen den anderen Nerds dort vorstellen. Sie mag ihn, keine Frage, sie schätzt seine ruhige und zurückhaltende Art, aber wenn sie auf das letzte Jahr zurücksieht, muss sie sich fragen, ob es nicht einfach nur eine Zweckfreundschaft für sie war. Er war der Einzige in ihrer neuen Klasse gewesen, der sie nicht neugierig und unverhohlen gemustert, nicht hinter vorgehaltener Hand getuschelt hatte. Und so hat sie ihn auserkoren, ihr Freund zu werden. Dann war es einfacher an der neuen Schule geworden. Aber an der Uni würde es anders werden. Hier kennt niemand ihre Vergangenheit, keiner hat Gerüchte gehört, es wird nicht mehr geflüstert, wenn sie im Gang vorbeigeht. In London würde alles anders werden.

»Hier jetzt rechts«, sagt Rose, obwohl Tim es selbst auf dem Navi sieht.

Blaze hat ihren Themenwechsel verstanden und dreht sich wieder um. Sie presst ihre Nase gegen das Autofenster. »Das hier ist es?«

Sie klingt beeindruckt. Rose hat sich das Gebäude des Wohnheims schon so oft online angesehen, dass es ihr in Echt vergleichsweise klein vorkommt. Der rote Backstein leuchtet im Sonnenlicht. Es ist überraschend warm für Ende September und sie sieht das Wetter als gutes Omen.

Tim findet eine Lücke am Straßenrand. »Okay, wir laden schnell aus. Blaze wartet mit den Taschen, während du, Tim, einen richtigen Parkplatz findest«, weist sie an und steigt aus dem Auto aus.

»Ich glaube, wir kennen den Plan, Rosie«, stichelt ihre große Schwester. Sie hilft ihr, den großen Koffer als ersten aus dem Mini zu holen. »Du hast ihn uns nur so fünfzig Mal erzählt.«

Rose wischt sich die schwitzigen Hände an der hellblauen Jeans ab. »Ich weiß.«

Es soll alles perfekt laufen. Das hier ist ihre Chance für einen Neuanfang. Keine Blicke von Mum, von denen sie ausgeht, Rose würde sie nicht bemerken. Nicht mehr die unterschwellige Angst in den Knochen, ihm irgendwo zu begegnen. Es hilft, dass sie mit Blaze darüber reden kann, was ihr passiert ist. Oder eben nicht passiert ist. Aber London ist ihre Möglichkeit, das alles hinter sich zu lassen.

Zu dritt schaffen sie es, alle ihre Taschen mit einem Mal Laufen in den Innenhof zu befördern. Andere Erstsemester tummeln sich bereits mit ihren Familien auf dem grünen Platz. Neugierig sieht Rose sich um. Wer von ihnen würde wohl mit ihr Biomedizin studieren? Ist einer der jungen Leute, deren Augen mit der gleichen Mischung aus Unsicherheit und Vorfreude leuchten, vielleicht einer ihrer Mitbewohner? Sie kann alles planen außer den Menschen, mit denen sie das nächste Studienjahr zusammenwohnen würde.

Tim gibt seiner Freundin einen flüchtigen Kuss, bevor er zum Auto zurückjoggt, um einen Parkplatz in der Nähe zu finden. »Willst du, dass ich mit reinkomme?«, fragt Blaze, typisch große Schwester.

Rose schüttelt den Kopf. »Pass du auf die Taschen auf.« Bevor ihre Schwester ihr widersprechen kann, läuft sie schon auf die Doppeltür zu, um sich in Beit Hall anzumelden.

Innen herrscht ein reger Trubel aus neuen Studierenden, die in kleinen Grüppchen zusammenstehen. Studierende aus höheren Semestern tragen knallig blaue T-Shirts mit Namensschildern und geben Auskunft. Rose reiht sich in eine Schlange ein, um sich bei einem der Zwei am Empfangstresen ihre Schlüssel abzuholen.

Nervös tritt sie von einem Fuß auf den anderen. Egal wie oft sie sich einredet, dass alles gut werden würde, wird sie das flaue Gefühl im Magen nicht los. Was ist, wenn ihre Mitbewohner schrecklich sind? Und ihre Kommilitonen alle unsympathisch? Was ist, wenn sie keinen Anschluss findet und jeden Abend einsam und verlassen in ihrem Wohnheimzimmer sitzt? Dabei hat sie eigentlich genug Erfahrung dabei, sich in neuen Situationen zurechtzufinden. Immerhin musste sie sich nach ihrem Umzug an Cornwall gewöhnen und hat dann im letzten Schuljahr die Schule gewechselt und musste sich einen neuen Freundeskreis aufbauen. Doch es war anders letztes Jahr. Sie war skeptisch und vorsichtig und traute niemandem mehr so schnell über den Weg. Sie hasst ihn dafür, dass er sie so schreckhaft gemacht hat. Aber am meisten hasst sie sich selbst, dass sie ihm diese Macht über sich gibt.

Sie wird aus ihren Gedanken gerissen, als der junge Student am Computer vor ihr sie begrüßt. Auf seinem Namensschild steht in großen Druckbuchstaben ›Nick‹. »Hey, willkommen in Beit Hall. Hast du gut hierher gefunden?«

»Nur einmal verfahren«, lacht Rose, um den Knoten in ihrem Magen zu lösen und reicht dem Jungen vor ihr ihre Papiere. Daraufhin bekommt sie ihren Ausweis und Nick erklärt ihr, wozu sie mit dieser Karte alles Zugang bekommt. »Dein Zimmer ist im Ostflügel des Gebäudes.« Nick deutet zu seiner Linken. »Die Wohnung ist im vierten Stock. Das hier sind deine Schlüssel.« Er öffnet eine Schublade und stockt. Irritiert legt er den Kopf schräg, als er einen Schlüsselbund hervorzieht.

Flüsternd wendet er sich an seine Kollegin neben sich. Die Brünette mit der Brille zieht die Nase kraus, schüttelt aber den Kopf. Aufgrund des hohen Geräuschpegels im Gemeinschaftsraum kann Rose ihrem Gespräch nicht folgen. Schließlich zuckt Nick mit den Schultern und reicht ihr den Schlüsselbund. »Sorry, wir hatten ein paar Probleme mit den Schlüsseln heute Morgen. Das müsste aber alles so passen.« Er lächelt ihr aufmunternd zu und erklärt ihr, wofür jeder der vier Schlüssel benutzt wird.

Ihr Herz flattert unruhig und in ihrem Kopf geht sie bereits alle schrecklichen Szenarien durch, die mit ihrem Schlüssel zu tun haben könnten. Aber sie versucht Nicks Lächeln zu erwidern. »Wird schon alles. Vielen Dank.« Nick wünscht ihr noch eine gute Ankunft und weist sie darauf hin, dass es heute Abend eine Willkommensfeier im Gemeinschaftsraum gäbe, dann wendet er sich bereits den nächsten zu.

»Und, hat alles geklappt?«, fragt Blaze, als Rose zu ihr zurückkehrt. Stolz zückt Rose ihren Studierendenausweis und ihre große Schwester grinst. »Meine kleine Schwester an der Uni. Wann bist du so erwachsen geworden?«

»Während du dich zwei Jahre lang in deinem Zimmer versteckt hast?«

Blaze boxt sie spielerisch in die Seite und wechselt das Thema: »Wo ist deine Wohnung?«

»Vierter Stock im Ostflügel«, erklärt Rose und zählt die Sprossenfenster in der roten Backsteinfassade, um zu ihrem Stockwerk hochzusehen. »Ich bringe meinen Koffer schonmal hoch. Warte du, bis Tim wieder da ist.«

Blaze nickt und setzt sich zu den restlichen Taschen auf den Boden. Im zweiten Stock bereut Rose es, das schwerste Gepäckstück genommen zu haben. Es hätte auch nicht geschadet, ihren vollgestopften Koffer von Tim tragen zu lassen. Völlig verschwitzt kommt sie vor ihrer Wohnung schließlich an. Vor der Tür steht ein Paar großer Sneaker, vermutlich von einem ihrer Mitbewohner. Sie schließt die Tür auf und schiebt sich in den schmalen Flur. Drei der Zimmertüren stehen bereits offen und aus der Küche, die einzige Tür mit einem durchsichtigen Streifen Glas, kommt Stimmengewirr.

Unsicher schiebt sie sich eine rote Haarsträhne, die sich aus dem Knoten in ihrem Nacken gelöst hat, hinter das Ohr. Sie überprüft die Zimmernummer auf ihrem Ausdruck und vergleicht sie mit den Schildern an den Holztüren. Sie findet sie an einer offenstehenden Tür wieder. Verwirrt sieht sie in das Zimmer hinein.

Der Schrank steht offen und auf dem Bett liegt ein geöffneter Koffer. Das Bett ist bereits bezogen. Fast hätte sie den jungen Mann übersehen, der reglos am Schreibtisch steht und etwas in seinen Händen betrachtet. Er scheint sie nicht zu bemerken. Mit gerunzelter Stirn überprüft sie nochmal die Zimmernummer. Aber sie hat richtig gelesen.

»Hallo? Das ist mein Zimmer«, platzt es empört aus ihr hervor. Der Mann dreht sich zu ihr um, den Mund bereits zu einer Erklärung geöffnet. Dann hält er abrupt inne und sieht sie für einige Sekunden lang an, als wäre er überrascht, sie zu sehen.

Die dunklen Haare sind unter einer Kappe versteckt, die er verkehrtherum trägt. Den Sinn dahinter hat sie noch nie verstanden. Wieso trägt man eine Kappe, wenn man sie nicht zum Schutz vor der Sonne nutzt? Wieso trägt man allgemein eine Kappe drinnen?, fragt eine gehässige Stimme in ihrem Kopf. Seine Haut ist sonnengeküsst, als wäre er gerade aus einem besonders langen Sommerurlaub zurückgekehrt, wie sie neidisch feststellt. Mit ihrer hellen Haut wird sie im schlimmsten Fall rot, im besten treten ihre Sommersprossen hervor bis sie aussieht wie ein Dalmatiner. Seine dunklen Augen bohren sich so intensiv in ihre, als würde sie nackt vor ihm stehen. Er sieht gut aus. Verdammt gut, mit dem gemeißelten Kiefer und den hohen Wangenknochen. Sofort weist sie sich selbst zurecht. Es ist total egal, dass der Typ in seinem gestreiften T-Shirt viel zu gut aussieht. Er hat ihr Zimmer geklaut.

»Da mein Schlüssel hier passt, ist das technisch gesehen mein Zimmer«, sagt er schließlich. Seine dunklen Augen mustern sie und sie fühlt sich seltsam entblößt vor ihm. Als könnte er alles von ihr sehen. Sie will sich gar nicht vorstellen, wie sie rot angelaufen vom Hochtragen des Koffers aussehen muss. Wärme kriecht in ihre Wangen. Sie würde ganz ruhig bleiben.

»Das hier ist mein Zimmer.« Sie hält ihm ihren Ausdruck unter die Nase, damit er die darauf gedruckte Zimmernummer lesen kann. Sehr souverän, Rosie. Und so schlagfertig. Sie beißt sich auf die Unterlippe. Er beugt sich vor und studiert das Blatt.

»Du kannst gerne den Schlüssel probieren. Er wird nicht passen.«

»Entschuldigung?«

»Dein Schlüssel.« Er deutet auf den Schlüsselbund in ihrer Hand als wäre sie schwer von Begriff. »Er wird nicht ins Schloss passen. Weil mein Schlüssel ins Schloss passt.« Sie öffnet den Mund, schließt ihn aber wieder. Entgeistert sieht sie ihn an. »Oder wie denkst du bin ich in dein Zimmer gekommen?« Er verschränkt die Arme vor der Brust.

Dagegen hat sie kein gutes Argument. Sie imitiert seine Körperhaltung. »Und wieso hast du dann nicht unten Bescheid gesagt?«

Er verdreht die Augen. »Die haben doch unten genug zu tun. Hör zu«, er liest ihren Namen von dem Ausdruck in ihren Händen ab, »Rosalie Camilla Campbell.« Er bricht ab und runzelt die Stirn. »Camilla Campbell? Deine Eltern waren wohl nicht sehr kreativ.«

»Das ist der Name meiner Großmutter. Und meine Mum hat ihn ausgesucht.« Seine Brauen schießen in die Höhe. »Aber das tut doch überhaupt nichts zur Sache!«

»Okay, Rosalie …«

»Rose«, unterbricht sie ihn. Seine Mundwinkel zucken, als wäre das alles ein riesiger Spaß für ihn. Heiße Wut kocht in ihren Adern und sie würde ihn am liebsten aus ihrem Zimmer schieben und ihm die Tür vor der Nase zuknallen.

»Ich habe meine Sachen schon fast ausgepackt und das alles jetzt umzuräumen wäre viel zu umständlich und zeitaufwändig.«

»Für dich.«

»Also wieso machen wir das nicht so«, übergeht er ihre Bemerkung, »du probierst deinen Schlüssel bei meinem eigentlichen Zimmer. Wenn er passt, ist doch alles super. Wenn nicht, gehe ich höchstpersönlich mit dir runter und wir klären das mit den Schlüsseln. Deal?«

»Dann ist nicht alles super. Rechtlich gesehen ist das hier mein Zimmer. Was ist, wenn du was kaputt machst und ich es bezahlen muss?«

»Und wenn du etwas in ›meinem‹ Zimmer kaputt machst?« Er malt um das Pronomen Anführungszeichen in die Luft.

Sie würde diesem Typen an die Gurgel gehen. Mit seinem verschmitzten Lächeln und dem viel zu selbstbewussten Auftreten macht er sie ganz verrückt. »Wenn der Schlüssel nicht passt, räumst du mein Zimmer.«

»Einverstanden.« Feierlich hebt er seine Hand, wie um darauf zu schwören. Sie verengt ihre Augen zu Schlitzen. Sie wendet sich der offenen Zimmertür neben ihr zu und schiebt den Schlüssel ins Schloss. Ein kurzes Triumphgefühl überkommt sie, das aber genauso schnell wieder verschwindet, als sich der Schlüssel nicht drehen lässt. Sie versucht es mit mehr Kraft, aber der Schlüssel bewegt sich keinen Millimeter weiter. Der Typ lacht leise. Das Geräusch lässt eine Gänsehaut über ihre Haut kriechen. Schnell zieht sie den Schlüssel heraus und wischt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Welches ist dein Zimmer?«, fragt sie.

Er deutet auf das direkt gegenüber und gemeinsam überqueren sie den schmalen Flur. Erst jetzt fällt ihr auf, dass er keine Schuhe trägt und stattdessen mit dunkeln Socken über den Teppich läuft. Sie will sich gar nicht vorstellen, was alles Ekliges in dem Teppich klebt.

Lässig lehnt er sich an die Wand neben der Zimmertür und sieht sie erwartungsvoll an. Um den Schlüssel ins Schloss zu stecken, muss sie sich viel zu nahe neben ihn stellen. Sein Geruch umfängt sie. Er riecht irgendwie frisch, nach Minze und Salbei. Der Geruch erinnert sie an Hustenbonbons, aber die gute Sorte. Die, die einen beruhigen und das warme, angenehme Gefühl geben, dass alles wieder gut werden würde.

Mit einem Knarzen öffnet sich die Tür. Siegessicher grinst er und sie funkelt ihn an. Fest beißt sie die Zähne zusammen. Es wäre so viel befriedigender, wenn der Schlüssel nicht gepasst hätte. Zerknirscht schiebt sie ihren Koffer in das Zimmer.

»Wir klären das mit der Uni, dass wir Zimmer getauscht haben«, beharrt sie.

»Was auch immer dich glücklich macht, Rosalie.« Sein spöttischer Unterton ist nicht zu überhören. Fast verbessert sie ihn, dass er sie Rose nennen soll, doch sie hält die Worte rechtzeitig zurück. Die Genugtuung will sie ihm nicht geben.

»Viel Erfolg beim Auspacken«, sagt er noch, dann verschwindet er in dem Zimmer, was eigentlich ihres gewesen wäre. Sie schnaubt und sieht sich in dem kleinen Wohnheimzimmer um. Ein schmales Bett steht an der Wand, gegenüber ein Schreibtisch mit einem Stuhl. Der grüne Teppichboden ist schrecklich, aber der Blick aus dem großen Fenster macht die Einrichtung wieder wett: Sie kann direkt auf das runde Gebäude derRoyal Albert Hall blicken.

Sie schürzt die Lippen. So einen guten Ausblick hat der Typ gegenüber bestimmt nicht. Vielleicht ist es doch nicht so schlecht, dass sie die Zimmer getauscht haben. Wobei ihr die Auseinandersetzung alle Nerven gekostet hat. Sie vertraut auf ihre Pläne, sie geben ihr Sicherheit. Und Probleme mit Schlüsseln und arroganten Mitbewohner stehen garantiert nicht auf ihrem Plan. Sie schluckt den Kloß in ihrem Hals herunter und versucht, sich das beruhigende Gefühl von Kontrolle zurückzuholen.

Ihr Handy klingelt und sie zieht es aus der Hosentasche. Es ist Blaze, die ankündigt, dass Tim und sie gerade dabei seien, die restlichen Taschen hinaufzutragen. Rose schiebt einen Holzkeil unter die Tür, um sie offen stehen zu lassen. Sie kommt nicht umhin, einen kurzen Blick in das Zimmer des Typen zu werfen. In aller Seelenruhe verstaut er einige Notizblöcke in der Schublade seines Schreibtisches.

Als hätte er ihren Blick auf sich gespürt, hebt er den Kopf. Ihre Blicke treffen sich und sie sieht schnell weg. Sie öffnet die Wohnungstür und lässt ihre Schwester, die davor bereits wartet, herein.

»Tim bringt gerade noch die letzten Sachen hoch«, schnauft Blaze und sieht sich neugierig im Flur der Wohnung um. Rose nimmt ihr eine der Taschen ab, die über ihre Schulter hängen, und führt sie in das Zimmer.

»Hübsch«, kommentiert Blaze die Möbel und Rose sieht sie entgeistert an. Ihre Schwester verdreht die Augen. »Okay, vielleicht nicht hübsch. Aber es geht deutlich schlimmer, glaub mir. Wohnheimzimmer sind nicht unbedingt die Krönung der Innenarchitektur.« Blaze stellt sich an das große Fenster. »Aber der Ausblick ist der Hammer. Da hast du richtig Glück gehabt.«

Rose lacht auf, erwidert aber auf den fragenden Blick ihrer Schwester nichts. Der Typ gegenüber kann ihr Gespräch bestimmt hören und die Blöße würde sie sich nicht geben. Ihr fällt auf, dass sie seinen Namen nicht kennt. ›Arschloch‹ oder ›Zimmerdieb‹ würde reichen müssen. Sie verdrängt den Gedanken an ihn und beginnt, mit ihrer Schwester nach und nach ihren Koffer auszupacken. Sie hat sich nicht ein Jahr lang auf diesen Moment gefreut, um ihn sich von irgendeinem Typen kaputt machen zu lassen. Das mit den Zimmern ist nur ein kleiner Stolperstein. Alles andere würde genau so laufen, wie sie es geplant hat.

Vorsichtig verblendet sie mit dem Pinsel den Lidschatten. Amys geschlossene Lider flattern und Rose schnalzt leise mit der Zunge. »Du musst stillhalten. Spätestens beim Eyeliner gleich.«

Amy verzieht ihre Mundwinkel zu einem Lächeln. »Sorry. Ich habe so was noch nicht oft gemacht.«

Rose geht einen Schritt zurück und betrachtet ihr Kunstwerk. Ihre Mitbewohnerin sitzt auf ihrem schmalen Bett, die Beine übereinandergeschlagen, und lässt sich von ihr für die Willkommensfeier unten im Gemeinschaftsraum schminken. Im Gegensatz zu dem Typen gegenüber, bei dem sie mittlerweile herausgefunden hat, dass er Jez heißt, versteht sie sich mit Amy auf Anhieb.

»Sieht es gut aus?«, fragt Amy und öffnet zögerlich eines ihrer großen, braungrünen Augen. Vom Schreibtisch zieht Rose einen kleinen, goldenen Spiegel und hält ihn Amy vor. Ein überraschtes ›Oh‹ bildet sich auf ihren Lippen, als Amy ihr Spiegelbild betrachtet. Warme Brauntöne laufen ineinander über und verlaufen von dem schimmernden Gold direkt auf ihrem Lid in einen Schokoladenton in ihrer Lidfalte. Mit Bronzer hat Rose Amys runde Wangen in Szene gesetzt und sie hat wirklich die perfekte Augenform, damit der Lidschatten richtig zur Geltung kommt.

»Der Eyeliner fehlt noch.« Aus einer der durchsichtigen Schubladen ihres Make-up Schränkchens holt Rose einen Eyelinerstift hervor und beugt sich über Amy. Mit der Zunge im Mundwinkel zieht sie ihrer Mitbewohnerin vorsichtig einen Lidstrich.

»Du kannst das echt gut«, sagt Amy leise, um Roses Konzentration nicht zu stören.

»Danke. Ich finde es einfach therapeutisch, mich zu schminken.« Rose vergleicht die zwei schwarzen Striche miteinander und nickt zufrieden. »Soll ich dir auch noch eine Frisur machen?«

Amys braunes Haar ist in einem einfachen Pferdeschwanz hochgebunden. Mit großen Augen sieht sie Rose an. »Denkst du, du kannst mir die Haare so flechten wie bei dir?«

Rose grinst. »Klar.« Ihre eigene, obere Haarpartie hat sie in zwei dicken Zöpfen aus ihrem Gesicht geflochten und an ihrem Hinterkopf verknotet. Ihre langen, kupferroten Wellen kitzeln die nackte Haut ihres Bauches, an der ihr Pulli endet. Nachdem sie ihr Zimmer fertig eingeräumt hat, Tim und Blaze gegangen waren und sie bereits gekocht hat, entspannt es sie, sich für die Party gleich fertig zu machen. Es hat ihr geschmeichelt, dass Amy sich bei ihrem Anblick unbedingt von ihr schminken lassen wollte.

Sie bürstet Amys dunkle Strähnen und beginnt, eine Seite zu flechten. »Die Frisur ist eigentlich ziemlich leicht. Du nimmst einfach immer eine Strähne dazu, damit der Zopf direkt anliegt.«

Amy seufzt. »Ich bin so hoffnungslos, was Schminken und Haare und so was angeht.«

»Meine Schwester hat mir immer die Haare geflochten, bis ich es dann irgendwann selbst konnte.«

»Ich bin Einzelkind. Und meine Dads haben gar keine Ahnung davon«, lacht Amy.

»Glaub mir, zu viel gebündelte weibliche Präsenz ist auch nicht gut. Meine Mum, meine Schwester und ich sind unter der Woche allein und wir kriegen uns echt oft in die Haare.«

»Dein Dad ist auch viel unterwegs? Mein einer ist ständig auf Geschäftsreisen.« Amy verzieht traurig das Gesicht und sieht aus dem Fenster. Die letzten Strahlen der Abendsonne tanzen noch durch die Luft. Rose erkennt die Spur von Sehnsucht in Amys Augen. Heimweh. Ihr Magen zwickt, als sie an ihre eigene Familie denkt. Aber sie schiebt den Gedanken schnell von sich. Das hier ist das, was sie schon die ganze Zeit will.

Rose zieht etwas zu fest an einer Strähne. »Nein, meine Eltern sind getrennt. Der neue Mann meiner Mum arbeitet in London und ist nur am Wochenende bei uns.«

»Oh, wo kommst du her?«

»Cornwall.« Sie knotet die beiden geflochtenen Zöpfe zusammen.

»Da sind wir jeden Sommer bei meiner Oma. Es ist so schön da, du hast echt Glück, dort zu wohnen«, sagt Amy und erzählt von dem Haus ihrer Oma in Penzance.

Rose beißt sich auf die Zunge, um den zynischen Kommentar nicht herausrutschen zu lassen. Sie will es sich mit Amy nicht direkt verbauen. Freundlich und höflich bleiben. Sie muss ihrer Mitbewohnerin nicht auf die Nase binden, dass sie das Landleben absolut ätzend findet. Es ist still, zu still, und selbst für den nächsten Supermarkt müssen sie ihr Dorf verlassen. Sie hat sich die letzten Jahre dort eingesperrt gefühlt und ihr neues Auto hat es nur minimal besser gemacht.

»Ja, ich habe total Glück.«

Es klopft an der Zimmertür. »Seid ihr soweit?«

Der Typ von gegenüber steht im Türrahmen. Jez. Er trägt seine Kappe nicht mehr und die schwarzen Haare wellen sich von einem Mittelscheitel aus in seine Stirn. Nicht wie Tim, dessen wilde Locken ihm über die Ohren fallen, weil er sich weigert, zum Friseur zu gehen. Jez’ Haare sind an den Seiten kürzer und oben länger, als würde er sich normalerweise mit Gel eine Frisur machen, aber er hätte heute Abend einfach nicht die Lust dazu gehabt.

Hinter ihm steht Jake, ein anderer ihrer Mitbewohner, in einem gebügelten Hemd und Haaren, die definitiv zurückgegelt sind. Der blonde Haarschopf wirkt fast schon zementiert auf seinem Kopf und glänzt unter dem hellen Licht im Flur. Neben Jez, der aussieht, als wäre er gerade aus der Dusche gekommen, wirkt Jake viel zu elegant. In seinen Augen sieht sie Angst und Panik und er tritt unsicher von einem Fuß auf den anderen.

»Gleich.« Amy dreht sich zu den Jungs im Flur um. »Rose flechtet mir noch die Haare.« Sie sagt es mit einem gewissen Stolz in der Stimme.

Sie hat bereits mehrfach nach Roses offenen Kleiderschrank und die vielen Klamotten in Pastellfarben, Blumen und Rüschen geschmachtet, aber auch ohne, dass sie es laut ansprechen, wissen sie beide, dass Amy leider in keine ihrer Sachen passen würde. Dabei ist Rose fast schon neidisch auf die runden Kurven ihrer Mitbewohnerin, deren hohe Jeans ihre schmale Taille im Vergleich zu der breiten Hüfte perfekt in Szene setzt. Rose war schon immer dünn, egal wie viel sie isst, mit wenigen weiblichen Wölbungen und auch wenn sowohl ihre Schwester als auch sie das von ihrer Mum haben, nervt es oft, wenn sie in vielen Klamotten einfach aussieht wie ein Stock in der Landschaft.

»Was schwierig ist, wenn du so zappelst«, murmelt Rose. Sie greift nach einigen Haarklammern, um den Knoten an Amys Hinterkopf zu fixieren.

»Partnerlook. Süß«, sagt Jez. Sie reißt den Kopf zu ihm herum. Betont abfällig mustert sie ihn von den noch feuchten Haaren über das weiße T-Shirt und Jeans bis zu den Socken. Seine Mundwinkel zucken.

»Immerhin geben wir uns Mühe.« Darauf grinst er nur schief, als hätte sie ihn gerade nicht beleidigt. Sie steckt die letzte Haarnadel in Amys Haare. »Fertig.«

Amy springt vom Bett auf. »Wo ist eigentlich Thomas? Kommt er nicht mit?« Ihr letzter Mitbewohner hat sich heute Nachmittag nur kurz vorgestellt, bevor er zu seiner Freundin verschwunden ist.

Jez zuckt mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass er wieder zuhause ist.«

Enttäuscht verzieht Amy das Gesicht. Es war ihre Idee gewesen, als WG gemeinsam auf die Willkommensfeier zu gehen.

»Dann gehen wir eben zu viert«, sagt Rose und lächelt ihrer Mitbewohnerin aufmunternd zu. Amys Aufregung ist ansteckend und sie lässt sich von ihr aus der Wohnung ziehen.

Im Treppenhaus herrscht bereits ein reges Stimmengewirr der anderen Erstsemester, die sich auf den Weg in den Gemeinschaftsraum machen. Dort sind die meisten Sitzgruppen schon besetzt. Ein altes Stoffsofa ist noch zur Hälfte frei und Jake und Amy setzen sich auf die tiefen Polster.

Jez bleibt mit ihr neben dem Sofa stehen. Sein Atem streift ihren Nacken und ihre Härchen stellen sich auf. »Willst du das mit den Zimmern noch klären? Da hinten steht Ava.« Er berührt sie leicht an der Schulter und zeigt in die Mitte des Raumes. Die beiden Studierenden, die heute Mittag für die Anmeldung zuständig waren, tragen noch immer ihre blauen T-Shirts und unterhalten sich mit einigen Erstsemestern.

Rose setzt sich auf die Armlehne des Sofas, damit er seine Hand sinken lässt. »Nicht heute Abend. Die beiden haben bestimmt anderes zu tun.«

Übertrieben zieht er die Augenbrauen in die Höhe. »Ist es also doch nicht so wichtig?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber nicht wichtig genug, um mit wütendem Finger zu den Hall Wardens zu gehen.«

Sie schnaubt. »Wenn du einfach direkt deinen falschen Schlüssel gemeldet hättest, hätten wir das Problem jetzt nicht.«

»Ich sehe da immer noch kein Problem, es einfach so zu lassen.« Er verschränkt die Arme vor der Brust. Die Idee, sich hinzusetzen, ist vielleicht doch nicht so gut. Er ragt über sie und sie muss den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können.

»Bist du eigentlich immer so eingebildet?«

Er öffnet den Mund, schließt ihn dann aber wieder. Sein Blick wird ernst. »Ich bleibe dabei, was ich gesagt habe. Wir können gerne die Woche ins Büro und die Situation erklären.«

Überrascht blinzelt sie. Sie hätte mit einem spöttischen Kommentar gerechnet, aber nicht mit dieser ehrlich gemeinten Wiederholung seines Angebots. Sie mustert argwöhnisch sein Gesicht. »Okay.«

In dem Moment erhebt Nick, einer der Hall Wardens, seine Stimme und begrüßt die Anwesenden. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf ihn und versucht, Jez und seinen dunklen Blick, den sie immer noch auf sich spürt, zu ignorieren.

Als sich die Willkommensfeier immer mehr in eine Party verwandelt, beginnt ihr Plan eines Neuanfangs langsam zu zerfallen. Seit über einem Jahr war sie auf keiner Party mehr und sie hat sich nicht darauf eingestellt, dass sich die Erstsemester immer weiter in die Bar, die in ihrem Wohnheim liegt, zurückziehen. Sie kann nicht genau sagen, wann die Stimmung von einem entspannten Gelage in eine ausgelassene Partyfreude umgeschlagen ist. Aber sie findet sich nur zwei Stunden nach der Ankunft im Gemeinschaftsraum allein auf einem Hocker in der Union Bar wieder. Amy ist vor einer Weile gegangen, als sie jemandem aus ihrem Studiengang kennengelernt hat. Seitdem sitzt Rose an einem der großen Holztische in einer Gruppe aus anderen Erstsemestern und umklammert ihr Glas Wasser.

Sie hat die Namen der Studierenden neben sich schon wieder vergessen und hält Ausschau nach Amy. Doch mit jeder Minute, die verstreicht, sinkt ihre Hoffnung, dass ihre Mitbewohnerin an den Tisch zurückkehren würde. Die Jungs hat sie schon vor über einer Stunde aus den Augen verloren. Zwar sitzt sie in einer Menge aus Leuten, aber sie fühlt sich mutterseelenallein. Sie kann dem Gespräch der anderen neben ihr kaum folgen, während sich ihre Gedanken immer weiter darum drehen, wieso sie nicht glücklich ist. Das hier ist genau das, was sie wollte. Wieder draußen zu sein, wieder unter Leuten zu sein, wieder Spaß zu haben. Früher ist es ihr so leichtgefallen, sich auf Partys zu amüsieren.