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Als Gero Klueger das Haus seines Schriftstellerkollegen Wulf Loeve erbt, fährt er mit einer düsteren Vorahnung nach Stolzenstein. Loeves Geist scheint dort allgegenwärtig. Der frühere Freund hat ihm eine Reihe von Rätseln hinterlassen, die Klueger bald an die Grenzen seines Verstandes führen.Die Printausgabe umfasst 138 Buchseiten.
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Seitenzahl: 136
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Jörg Kleudgen & Uwe VöhlStolzenstein
In dieser Reihe bisher erschienen:
2101 Das Amulett von William Meikle
2102 Götter des Grauens von Roman Sander (Hrsg.)
2103 Das Mysterium dunkler Träume von Andreas Ackermann
2104 Stolzenstein von Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl
Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl
Stolzenstein
Die Geschichte einer Freundschaft
Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2018 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mark FreierFoto: Jörg KleudgenUmschlaggestaltung: Mark FreierInnenillustration: Jörg KleudgenVignette: Jörg NeidhardtSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-424-4Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!
Die Wege des menschlichen Schicksals sind unergründlich. Mit geradezu perverser Lust an der Selbstzerstörung lenken wir unser Leben aus sicheren Fahrwassern in eine raue See, um letztlich im Sturm zu kentern, den wir lange im Voraus haben herannahen sehen. Anstatt das Ruder herumzureißen, halten wir Kurs und setzen auch noch das letzte Segel. Was treibt uns dazu? Ist es die Neugierde? Wollen wir eine höhere Macht herausfordern? Es bleibt gleich, denn das Ziel ist stets der Untergang.
Hieß es nicht, dass einem der erste Traum in einem neuen Haus die Zukunft weist?
Klueger konnte sich kaum an Zusammenhänge erinnern, eher waren es verworrene Bilder und Fetzen, die ihn in Atem gehalten hatten. So erinnerte er sich, plötzlich vor einer verschlossenen Eisentür gestanden zu haben. Im Traum war er nackt und fühlte sich von allen Seiten von unsichtbaren Blicken durchbohrt. Dann wurde es schlagartig dunkel, und im nächsten Moment begann die Eisentür aufzuglühen. Er konnte durch sie hindurch in den dahinterliegenden Raum blicken. Doch was er dort sah, ließ ihn aufschreien.
Mehrmals in der Nacht hatte ihn dieser Albtraum laut aufschreiend erwachen lassen. Und jedes Mal hatte er vergessen, was ihn so erschreckt hatte.
Gero Klueger wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als sich am Straßenrand ein Taubenschwarm erhob und über ihn hinwegzog. Zum ersten Mal nahm er die Schönheit der Landschaft wahr, durch die er sich bewegte; die rätselhaften Muster, die die heftigen Regenfälle der letzten Nacht im wogenden Rotgold der überreifen Weizenfelder hinterlassen hatten, die saftig grünen Hecken, welche die Monotonie des Hügellandes durchbrachen, und die vereinzelten Scheunengebäude aus silbrig verwittertem Holz. Am wolkenbedeckten Himmel jagten Sperber und Krähen einander in scheinbar schwerelosem Flug.
Klueger war noch vor Sonnenaufgang aufgebrochen, um sich in Stolzenstein nicht abhetzen zu müssen. Er war noch nie dort gewesen, obwohl der Ort nur ungefähr eine Autostunde von Frankfurt entfernt lag, und er sicher war, schon einmal in einer Zeitung darüber gelesen zu haben.
Die Straße fiel plötzlich steil ab, und Klueger sah sein Ziel in der Ferne. Schon von Weitem ließ sich erahnen, wie alt die Stadt war.
Er hatte sich vor Antritt seiner Reise über die Geschichte informiert, vor allem über das Grafengeschlecht, das längst nicht mehr die düstere Burg bewohnte, eine Ruine nur mehr, auf einer Felsklippe gelegen. Die mehr als zweitausendjährige Geschichte des Ortes, der bereits um Christi Geburt römische Stadtrechte erlangt hatte und an der Kreuzung zweier wichtiger Fernstraßen gelegen gewesen war, hatte als Militärposten begonnen. Die Wälder, die damals das Landschaftsbild beherrschten, mussten finster und voller Gefahren gewesen sein.
Vermutlich hatte die Stadt nie mehr so viele Einwohner gehabt wie in jener Zeit. Nach dem Untergang des Römischen Reiches hatte die trutzige Stadtmauer wie ein zu weit gewordener Mantel um die wenigen Steinhäuser gelegen, die den Sturm der Jahrhunderte bis heute überdauert hatten.
Klueger musste sich auf die Straße konzentrieren, die nun wieder steil bergauf führte. Die ersten Häuser Stolzensteins glitten vorbei, eine Tankstelle, die den Betrieb wohl schon vor einiger Zeit eingestellt hatte, einige leer stehende Wohngebäude. Klueger fuhr eine Linkskurve, dann bog er in eine schmale, mit Kopfsteinpflaster versehene Gasse ab und folgte der Beschilderung Kirche/Marktplatz. Am Markt befand sich seines Wissens die Kanzlei des Notars, der ihn angeschrieben hatte.
Klueger parkte den Wagen auf einer der wenigen Stellflächen am großzügig angelegten Marktplatz. Zwei Stunden konnte er hier gebührenfrei stehen bleiben. Das sollte genügen.
Da er eine Viertelstunde zu früh war, schaltete Klueger das Radio ein. In den Nachrichten wurde über die Ausschreitungen der vorangegangenen Nacht berichtet, die viele Städte des Landes betroffen hatten. Klueger selber hatte nichts davon mitbekommen, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass sich diese Dinge häuften.
Er stieg aus dem Wagen aus und reckte sich. Obwohl es noch früh am Tag war, gab die spätsommerliche Sonne bereits eine angenehme Wärme ab.
Es wird heiß werden, dachte Klueger, doch zwischen den alten Häusern ist genügend Schatten.
Der Marktplatz war menschenleer. Klueger fand die Kanzlei auf Anhieb. Sie lag direkt neben dem Rathaus. Es handelte sich um einen schmucken Fachwerkbau aus dem Jahre 1588. Er war eines der aufwendig restaurierten Gebäude, die aus der Masse der verfallenen Wohnhäuser herausragten.
Auf einem messingglänzenden Schild las Klueger:
Raj Muna - Notar
Die Kanzlei war altmodisch eingerichtet. Muna hatte sie sicherlich in diesem Zustand vom Vorbesitzer übernommen und es nicht für nötig erachtet, Veränderungen daran vorzunehmen. Das dunkle Holz, die getönten Scheiben, eine mit Rattan bespannte Trennwand zwischen Eingangsbereich und Büro.
Der Arbeitsplatz hinter der wuchtigen Empfangstheke war verwaist. Hatte er sich etwa in Datum oder Uhrzeit geirrt?
„Hallo? Ist da jemand?“, rief Klueger zögerlich in die Stille hinein. Dann hörte er, wie ein Buch zugeschlagen und ein Stuhl gerückt wurde.
„Ich bin hier! Treten Sie doch bitte ein!“, ertönte eine Stimme jenseits der Rattanwand. Wenn sie dem Notar mit dem indisch klingenden Namen gehörte, sprach er erstaunlich akzentfrei. „Ich kann mir leider keine Angestellten leisten. Das bisschen Schriftverkehr bewältige ich selbst.“
Als Klueger in das Büro trat, stand Raj Muna von seinem Platz auf, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und streckte ihm die Rechte entgegen. Er sah aus wie einer dieser Bollywood-Helden, eine Art dunkelhäutiger George Clooney. Obwohl er nach außen hin eine sehr freundliche Ausstrahlung hatte, war er Klueger auf Anhieb unsympathisch. Vielleicht lag es an seiner grobporigen Haut und den schweren Augenlidern, die seinen dunklen Augen einen seltsam starren Ausdruck verliehen, vielleicht auch an dem Geruch, der von ihm ausging. Es war eine Mischung aus zu viel Rasierwasser, Räucherwerk und gegartem Reis.
Klueger redete sich ein, dass er ihm unrecht tat, wenn er ihn allein nach solchen Äußerlichkeiten beurteilte. Er ergriff die angebotene Hand. „Mein Name ist Klueger, Sie haben mich angeschrieben ...“
„Ah, Sie sind der Erbe von Herrn Loeve!“, fiel ihm Muna ins Wort. „Schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Bitte nehmen Sie doch Platz!“ Er ging zu einem Aktenschrank mit Hängeregistern hinüber.
Erst jetzt fiel Klueger die Tonfigur auf, die darauf stand – neben einer verdorrten Orchidee, von der nur noch der Stiel übrig geblieben war. Die Statuette wirkte in dieser Umgebung seltsam fehl am Platze und zeigte einen Menschen mit einer seltsamen Kopfbedeckung, die ihn an übergroße Ohren erinnerte. Das Besondere an der Figur aber waren die Augen. Der Künstler schien sich große Mühe gegeben zu haben, sie möglichst lebensecht zu gestalten. Ihr stechender Blick schien Klueger zu durchbohren.
Raj Muna entnahm dem Schrank unterdessen eine dünne Mappe. Dann setzte er sich. „Sind Sie mit Herrn Loeve verwandt?“
„Nein ...“ Klueger zögerte, das Wort auszusprechen. „Befreundet.“
„Gut! Er hat nie von Ihnen gesprochen, deshalb habe ich mich gewundert.“
„Soweit ich weiß, hat Herr Loeve keine Verwandten mehr“, stellte Klueger fest. „Er schien keinerlei familiäre Kontakte zu pflegen.“
Wieder konnte Klueger nicht umhin, die Statuette zu betrachten. Noch immer fühlte er sich von ihr beobachtet.
Raj Muna folgte seinem Blick. „Interessieren Sie sich für die Kultur der Kelten?“
„N-nein, also nicht direkt.“
„Wenn Sie Zeit haben, sollten Sie einmal den Glauberg besuchen. Man hat dort in der Vergangenheit bedeutete Funde gemacht. Vor zwanzig Jahren haben die Archäologen dort eine Figur entdeckt, die einen Keltenfürsten aus dem Jahr 500 vor Christus darstellen soll. Unfassbar, oder? Stellen Sie sich die Zeitspanne vor, die diese Statue dort in der Erde ausgeharrt hat ...“ Seine Augen bekamen einen eigenartigen Glanz. Er deutete auf die Figur. „Das ist natürlich nur eine verkleinerte billige Replik des Keltenfürsten vom Glauberg.“
Klueger räusperte sich, und Raj Muna kehrte wieder zum eigentlichen Thema zurück.
„Wie auch immer, Herr Loeve hat Sie zu seinem Erben eingesetzt. Sie möchten es doch antreten, oder?“ Da war er wieder, dieser lauernde Blick der starren Augen, die, so fand Klueger, denen der Statue nicht unähnlich waren. Vielleicht war das ein besonderer Spaß, den sich Raj Muna zusammen mit einem befreundeten Künstler erlaubt hatte.
„Nun, sonst wäre ich sicher nicht hierhergekommen.“ Er hatte nicht so heftig klingen wollen. Klueger war selbst über seine Ungeduld erschrocken.
„Da haben Sie recht“, entgegnete Muna gänzlich ungerührt. Für ihn war die Situation etwas fast Alltägliches. „Nun, ich hatte es Ihnen ja bereits in meinem Brief mitgeteilt. Herr Loeve hinterlässt keinerlei finanzielle Werte. Er hat Ihnen allerdings sein Haus hier in Stolzenstein vermacht. Es ist ... das interessiert Sie sicher ... hypothekenfrei! Kennen Sie es?“
„Nein, ich ...“ Wieder zögerte Klueger. „Ich hatte in den letzten Jahren wenig Kontakt zu Herrn Loeve.“ Das war gelogen. In Wahrheit hatte er nichts mehr von Loeve gehört, nachdem er ihm einen sehr offen formulierten Brief geschickt hatte. Aber es fehlte ihm gerade noch, dass er das diesem unsympathischen Kerl hätte erklären müssen. Er wollte lieber alle Formalitäten zügig hinter sich bringen.
„Gut, dann möchten Sie es sicher sehen. Es ist fußläufig in wenigen Minuten erreichbar.“ Muna holte tief Luft. „Also, ich habe alle Papiere vorbereitet. Die Eintragung ins Grundbuch werde ich dann für Sie vornehmen lassen.“
Er schob einen zweifachen Schriftsatz über den Tisch. Die zu unterzeichnenden Stellen waren durch ein X markiert.
Klueger überflog den Text. Die Erbschaft war auf den ersten Blick mit keinen Bedingungen verknüpft. Rasch setzte er sein Kürzel darunter.
„Und das war schon alles?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Nun ja, für Sie schon. Für die Dinge, die im Hintergrund ablaufen, bin ich zuständig. Dafür werde ich schließlich bezahlt. Sie haben damit nichts weiter zu tun.“ Muna blickte auf die Uhr. „Also, ich hätte jetzt etwas Zeit. Wenn Sie möchten, führe ich Sie zum Haus von Herrn Loeve.“
Ganz wohl war Klueger nicht bei dem Gedanken. Er konnte sich seine Abneigung gegen den Notar nicht erklären, aber ihm wäre es lieber gewesen, er wäre ihn rasch losgeworden. Andererseits wollte er auch nicht so unhöflich sein, das freundliche Angebot auszuschlagen. „Würde es Ihnen nichts ausmachen? Ich meine, Sie müssten Ihr Büro für diesen Zeitraum schließen.“
„Kein Problem. Ich habe erst am Nachmittag den nächsten Termin.“ Muna zeigte ein breites Lächeln und makellos weiße Zähne. Er streifte einen leichten Blazer über und bat Klueger, ihm zu folgen.
Offenbar machte es ihm Spaß, sich als Fremdenführer zu betätigen, denn auf dem Weg zum Haus erläuterte er Klueger, wo sie sich befanden. „Stolzenstein liegt auf vulkanischem Gebiet. Direkt unter uns befand sich einst ein Vulkan, und wir bewegen uns gerade auf einer mächtigen Schicht aus Tuffstein, aus der man die Keller der Burg herausgearbeitet hat. Die sollten Sie sich bei Gelegenheit unbedingt anschauen. Also, die Keller, meine ich, denn von der Burg ist so gut wie nichts mehr übrig. Die Stadtmauer, die den Ort umgibt, wurde um 1500 nach Christus errichtet, aber im Kern besteht sie seit der Römerzeit. Die Besatzer hatten hier, mitten in feindlichem Gebiet, eine stark befestigte Enklave errichtet.“ Muna bog nach rechts ab. Sie kamen an einem dreistöckigen Fachwerkhaus mit Wilden Männern und kunstvollen Malereien vorbei, das durch ein Schild als Heimatmuseum ausgewiesen wurde.
„Herr Loeve war mit dem Kurator eng befreundet“, erklärte Muna mit einem Kopfnicken in Richtung des prächtigen Baus. „Herr Praetorius ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Ich kann mir vorstellen, dass diese Freundschaft beide Seiten inspiriert hat.“
Sie bogen in eine schmale Gasse ein, die weiterhin bergan stieg. Zwischen den Fachwerkhäusern konnte Klueger von Zeit zu Zeit den Kirchturm ausmachen. Und dann standen sie plötzlich vor der Kirche.
„Unsere Pfarrkirche Sankt Zyprianus“, sagte Muna. „Die Bevölkerung Stolzensteins ist überwiegend katholisch. Die Kirche wurde um etwa 1470 errichtet und war wohl als Wehrkirche angelegt.“
Das konnte sich Klueger gut vorstellen. In dem Straßenrund, das einmal um die ganze Kirche herum führte, standen die Häuser, giebelseitig angeordnet, gleichsam aneinander wie auch an die Kirche geduckt. Sie alle wirkten auf eine schwer zu definierende Weise unbewohnt. Vielleicht lag es daran, dass die Vorgärten so steril und lustlos gestaltet waren.
Muna trat auf ein Haus zu, das sich durch nichts von seinen Nachbarn unterschied. Dieselbe mit Holzschindeln verkleidete Fassade, die Bleiglasfenster und das Dach mit der für die Region typischen Biberschwanzdeckung. Als der Notar wortlos die Haustür aufschloss und ihm Klueger durch einen kurzen Flur in die altmodisch eingerichtete Wohnküche folgte, hatte er das Gefühl, dass der Bewohner dieses Hauses nur kurz fortgegangen sei. Oder als habe er seinem Nachfolger sagen wollen: Bring bloß nichts durcheinander!
„So hat Wulf Loeve also in den letzten Jahren gelebt“, sagte Klueger und ließ den Blick umherschweifen. Er hatte nicht gewusst, dass Loeve in den letzten Jahren eine Sammelleidenschaft für antike Uhren entdeckt hatte. In allen Größen und Ausführungen hingen sie an den Wänden und tickten vor sich hin. Wenn sie gleichzeitig schlugen, würden sie sicherlich einen Höllenlärm verursachen. Nur um sie regelmäßig aufzuziehen und darauf zu achten, dass die angezeigte Zeit übereinstimmte, musste eine tagesfüllende Beschäftigung sein.
„Männer brauchen halt ein Hobby!“, meinte Muna achselzuckend, der Kluegers Blick richtig gedeutet hatte. „Sie können sie ja von den Wänden nehmen. Vielleicht bekommen Sie ja sogar noch etwas dafür. Haben Sie denn eigentlich vor, selber hier zu wohnen?“
„Ich weiß noch nicht recht.“ Tatsächlich hatte sich Klueger in dieser Frage noch nicht festgelegt.
„Sie möchten sich jetzt sicher in Ruhe umsehen“, sagte Muna lauernd.
„Ja, ja, Sie können ruhig gehen.“ Klueger nickte. „Ich werde erst mal eine Bestandsaufnahme machen.“
Der Notar reichte ihm die Hand. „Sollten Sie Hilfe benötigen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.“
Als Muna gegangen war, suchte Klueger einen Raum nach dem anderen auf. Die Toilette im Erdgeschoss hätte der Renovierung bedurft. Die Spülung lief fortwährend. Das konnte eine schöne Wasserrechnung geben. Klueger drehte den Absperrhahn zu. Dann begab er sich ins Obergeschoss, wo es ein größeres Bad gab, außerdem das Schlaf- und ein Arbeitszimmer.
Auch hier wunderte Klueger sich über die herrschende Ordnung. Als ob Loeve jederzeit zurückkehren könne, um seine Arbeit wieder aufzunehmen, dachte er.
Seine Arbeit ... Einst hatte er eng mit Loeve zusammengearbeitet, und sie waren ein unschlagbares Team gewesen. Doch dann hatte sich Loeve verändert. Statt ambitionierte Projekte gemeinsam zu verfolgen, hatte er Aufträge aus verschiedenen Genres wie ein Fließbandarbeiter abgearbeitet. Loeve, der auf seinem Gebiet ein Genie gewesen war, ging dazu über, alles zu schreiben, was in irgendeiner Weise Geld brachte. Das hatte sich zwangsläufig negativ auf die Qualität der Texte ausgewirkt. Er hatte sich verschiedene, zum Teil leicht zu durchschauende Pseudonyme zugelegt. Sogar als Frau hatte er sich ausgegeben.
Einen rassigen italienisch klingenden Namen hatte er sich zugelegt. Gabriela Bellucci. Klueger hatte sich einmal vorgestellt, wie das Publikum einer der Lesungen, die Loeve von Zeit zu Zeit hielt, voller Spannung auf den Auftritt der Signora Bellucciwartete und anstelle der schwarzhaarigen Schönheit der tapsige Wulf Loeve in den Saal gepoltert kam.
Auf der anderen Seite war Loeve eindeutig der Erfolgreichere von ihnen beiden gewesen. Entzweit hatten sie sich letztlich, weil Loeve der Meinung gewesen war, Klueger vergeude sein Talent mit nutzlosen Projekten, die keinen Gewinn brachten und ihn zwangen, ein Dasein am Existenzminimum zu führen.
Ihr erbitterter Streit lag inzwischen Jahre zurück, und durch Loeves Tod war eine Aussprache nun nicht mehr möglich.
Klueger erschauderte bei dem Gedanken an die Endgültigkeit des Todes. War das vielleicht der Grund dafür, dass Loeve ausgerechnet ihn als seinen alleinigen Erben auserwählt hatte? Wollte Loeve, dass er, Klueger, sich seines literarischen Nachlasses annahm? Wer sonst hätte es tun sollen? Wer sonst hätte seine Werke dem drohenden Vergessen entreißen können, wenn nicht er?
Einem geschenkten Gaul ..., dachte Klueger. Vielleicht sollte er ein paar Tage in dem Haus Probe wohnen. Er würde heute nach Frankfurt fahren und aus seiner Wohnung einige Dinge holen, die er am dringendsten benötigte. Vorerst hatte er noch keine endgültige Entscheidung getroffen, aber er würde nicht beides zahlen können, die teure Miete seiner bisherigen Wohnung, und die Instandhaltungskosten des Hauses, das stand fest.