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Seitenzahl: 455
GRAZER STUDIEN
ZUR
DEUTSCHEN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN
VON
ANTON E. SCHÖNBACH UND BERNHARD SEUFFERT.
GRAZ.
K. K. UNIVERSITÄTS-BUCHDRUCKEREI UND VERLAGS-BUCHHANDLUNG ‚STYRIA‘.
1899.
K. K. UNIVERSITÄTS-BUCHDRUCKEREI ‚STYRIA‘ IN GRAZ.
ALS
ROMANTISCHE DICHTUNG
BETRACHTET
VON
DR. JOHANN RANFTL.
Der Romantiker Ludwig Tieck ist eine bedeutende, einflussreiche und interessante Persönlichkeit. Zu den allerersten, bahnbrechenden und führenden Geistern unserer Literatur gehört er jedoch nicht. Es mag daher keineswegs für jedermann selbstverständlich sein, dass man über eine einzelne Dichtung dieses Mannes ein kleines Buch schreibt. Auch mir schien es nicht selbstverständlich, bevor ich mich eingehender mit der Entstehung wie mit dem geistigen und künstlerischen Charakter der „Genoveva“ befasste. Bei näherer Betrachtung fällt sogleich auf, dass Tieck selbst gerade diesem romantischen Drama eine besonders wichtige Stelle in seinem geistigen Entwickelungsgange anweist, es mit Nachdruck als „Epoche“ in seinem Leben bezeichnet. In seinen späteren Jahren, als ihm der altdeutsch-religiöse Enthusiasmus der „Genoveva“ längst fremd geworden war, kommt er mit einer gewissen Liebe und Zärtlichkeit gerade auf dieses Gedicht immer wieder zurück, das nach seiner Versicherung ganz aus seinem Gemüthe gekommen, das „gar nicht gemacht, sondern geworden sei“.
Auch im großen Leben unserer Literatur gieng Tiecks „Genoveva“ nicht spurlos und unbemerkt vorüber. Goethe und Schiller und viele Kleinere, die Theilnahme für geistige Erscheinungen empfanden, nahmen Stellung zu dem Werke. Es machte den ästhetischen Gesinnungsverwandten Tiecks jenen erfreulichen Eindruck, den der Dichter gewünscht hatte, es war den echten Aufklärern ein Stein des Anstoßes, da sie es als Symptom einer mächtig anwachsenden, ihnen feindlichen, geistigen und literarischen Strömung ansehen mussten, und als Sammelpunkt des romantischen Geistes erweckt es heute das lebhafte Interesse des Literarhistorikers und erwirbt sich das Anrecht auf eine monographische Betrachtung. Vielleicht ist Tiecks „Octavianus“ ein noch vollständigerer „orbis pictus“ der Romantik als die „Genoveva“, dafür setzt aber dieses Werk mit weniger Klügelei, unmittelbarer und frischer der ersten Begeisterung entströmend dasjenige in dichterische Gestalt um, was um 1800 die Gemüther der älteren Romantiker erfüllte. Was hier wie von selbst dem Dichter aus der Seele quoll, wird im „Octavianus“ nur bewusst erweitert und gesteigert. Darum blieb ich lieber bei der „Genoveva“, um an diesem typischen Beispiele zu zeigen, wie damals ein romantisches Kunstwerk entstand, mit welchen künstlerischen Mitteln der Romantiker seine Theorie dichterisch verwirklichte, und welche Stellung ein solches Werk in unserer Literatur-Entwickelung einnimmt.
Mehrere Forscher, vor allem Haym, haben mit Sorgfalt und Scharfsinn die schwere Aufgabe übernommen, aus dem Chaos von vieldeutigen, schillernden Sentenzen und Aphorismen, wie aus den ziemlich unklaren Manifesten der jugendlichen romantischen Stimmführer die leitenden ästhetischen Gedanken herauszulesen und übersichtlich darzustellen. In meiner Schrift soll eine Art Gegenprobe versucht und die Art beleuchtet werden, wie damals jene nebelhaften Theorien in einer einzelnen Dichtung Gestalt annahmen. Ich glaube, dass eine solche Einzelbetrachtung zu noch anschaulicherer, genauerer und feinerer Erkenntnis der romantischen Bestrebungen führen kann. Dass ein gewisses Bedürfnis nach solchen Untersuchungen besteht, bezeugt die Thatsache, dass fast gleichzeitig noch drei andere Schriftsteller auf den nämlichen Gedanken verfielen. Poppenberg untersuchte Mystik und Romantik in Z. Werners „Söhnen des Thals“, Kerr vertiefte sich in Brentanos „Godwi“ und Busse in „Novalis’ Lyrik“.
Eine Durchprüfung des gedruckten Materiales über Tiecks „Genoveva“ gewährte auch genauere Aufschlüsse über die oft unbestimmt andeutenden „Vorberichte“, über das Verhältnis des Dichters zu Jakob Böhme, wie über die romantische Religion von 1800. Gerade über den letzteren Punkt ist noch manches zu sagen, um Missverständnisse, die in den Literaturgeschichten gerne wiederholt werden, zu beseitigen. In dieser rein literar-historischen Untersuchung war natürlich kein Raum, auf den theologischen Wert oder Unwert der romantischen Religionsanschauungen, die zunächst meist nur der dichterischen Stimmung dienten, näher einzugehen. Den mühsamen Versuch H. v. Friesens, Tiecks „Genoveva“ für den Protestantismus zu „retten“, mit einem leichteren Gegenversuch zu Gunsten des Katholicismus zu erwidern, scheint mir unnöthig, da mit solchen Bemühungen nach meinem Dafürhalten dem Katholicismus sowenig wie der Literaturgeschichte gedient ist.
Wofern nicht ungedruckte Materialien über Tiecks Persönlichkeit und Schaffen noch wesentliche neue Aufschlüsse für die in dieser Schrift behandelte Periode bringen, hoffe ich, mit meiner Arbeit auch einen brauchbaren Baustein für eine künftige Tieckbiographie geliefert zu haben.
Während mein Manuscript bereits für die Druckerei fertig lag, erschien Bruno Golz’ „Pfalzgräfin Genoveva in der deutschen Dichtung“ (Leipzig 1897). Über Tiecks Verhältnis zum Volksbuch wie zu Maler Müllers Drama kommt Golz zu Ergebnissen, die sich mit dem Resultate meiner Untersuchungen mehrfach decken. Der nothwendigen Abrundung meiner Arbeit zuliebe, konnte ich aber die betreffenden Abschnitte, die bereits im Jahre 1896, als ich diese Untersuchung an der Grazer Universität als Dissertation vorlegte, ihre jetzige Gestalt hatten, nicht mehr abkürzen, wenngleich sie jetzt nicht durchwegs Neues bringen.
Zu besonderem Danke für die bereitwilligste Förderung dieser Arbeit bin ich meinem hochverehrten Lehrer Herrn Prof. Dr. Bernhard Seuffert verpflichtet, von dessen Anregungen im deutschen Seminar diese Untersuchungen ihren Ausgang nahmen. Gerne spreche ich hier auch den Herren Beamten der Grazer Bibliotheken für ihre Zuvorkommenheit meinen Dank aus.
Graz, Pfingsten 1899.
Johann Ranftl.
Tiecks „Genoveva“ bildet einen Markstein in der Entwickelung der deutschen Romantik. Zwei geistige Richtungen sind es vor allem, aus deren Kreuzung jene eigenthümliche Gefühls- und Gedankenwelt erwächst, welche zuerst in der „Genoveva“ eine üppig reiche poetische Gestalt gewinnt: die Liebe zur altdeutschen Vergangenheit und die poetische Neigung zu katholisierender Religiosität. Diese Neigung und jene Liebe kennzeichnen den echten Romantiker an der Scheide des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Liebe zur alten Zeit reicht bis in die Jahre des Goethe’schen „Götz“ und seines Gefolges ritterlicher Dramen zurück, die in Tiecks Jugendzeit die deutsche Bühne noch vielfach beherrschten.[1] Die religiöse Kunstbegeisterung Tiecks leitet ihren Ursprung aus den schönen Tagen der Jugendfreundschaft mit Wackenroder her. Diese Freundschaft war für Tieck von den bedeutsamsten Folgen. Denn aus dem Ideenaustausche mit Wackenroder erblüht dem Rationalisten erst die rechte innige poetische Stimmung und mit ihm zusammen lernt er, was Frömmigkeit ist, fühlen und er sucht sie aus der Kunst der alten Zeiten wieder heraufzuholen. So verbinden sich bald religiöse Stimmung und Sinn für deutsches Alterthum im Gemüthe der Freunde.
Nicht die productive eigene Thätigkeit des früh geschiedenen Jünglings Wackenroder (1798 starb der fünfundzwanzigjährige) sichert diesem einen Platz in der deutschen Literatur- und Kunstgeschichte, sondern seine richtunggebende Einwirkung auf andere empfängliche Gemüther, in erster Linie auf Ludwig Tieck. Die beiden waren Freunde vom Gedicke’schen Gymnasium her. 1792 gieng Tieck von Berlin fort auf die Hallische Universität. Wackenroder musste nach dem Willen seines Vaters, der ihn noch nicht für das akademische Studium reif hielt, in Berlin zurückbleiben. Ein schwärmerischer Briefwechsel entschädigte die Freunde für den persönlichen Verkehr. Tieck ist Wackenroders Freund aus ganzer Seele. Er ist der reifere, erfahrenere, geistig ältere und gewandtere, besonders in allen literarischen Dingen. Der schwermüthige Dichter des „Abdallah“ durchlebt in Halle düstere Stunden, in denen die Leiden und Zweifel des „William Lovell“ sein Inneres durchstürmen. Seine Phantasie und sein Gefühl gehen jetzt noch mehr auf das Erhabene als auf die „kleinen Empfindungen“. Neben Goethe und Shakespeare begeistert ihn besonders der junge Schiller. Die wilde Kraft der „Räuber“ ist es, die sein Inneres „zerreißt und vernichtet“. Je unbefriedigter er in sich selbst ist, je düsterer sich sein Gemüth umschattet, desto mehr Bedürfnis und Sehnsucht hat er nach Freundschaft; je heftiger er nach Idealen ringt, die er selbst nicht besitzt, desto nöthiger ist ihm ein idealischer Freund wie Wackenroder. Wackenroder, der kindliche, schüchterne, noch unbeholfene, eine Natur voll stiller Heiterkeit, Sinnigkeit und von anschmiegsamem Wesen, eine Seele voll einfacher, schlichter Frömmigkeit, kennt in seiner schwärmerischen Hingebung an Tieck keine Grenze. Er ist ganz Herzlichkeit und Innigkeit und mädchenhafte Zärtlichkeit; er ist berauscht und entzückt im Gefühle des Glückes, Tiecks Freund sein zu dürfen, selig und zufrieden, wenn er nur ein Glied in der Kette ist, die den trübsinnigen, mit Todesgedanken spielenden Genossen noch an diese Erde fesselt.
So erstehen die beiden Freunde vor dem Geiste des Betrachters, der ihren Briefwechsel aus den Jahren 1792 und 1793 durchblättert.[2] Den Sommer 1793 verlebten sie in glücklicher Gemeinschaft in der Universitätsstadt Erlangen, den Winter 1793/94 in Göttingen. In Erlangen tritt das süddeutsche Leben in ihren Gesichtskreis und wirkt mächtig auf diese jungen empfänglichen Gemüther. Eine neue Welt thut sich ihnen auf. In Bamberg, dem „deutschen Rom“,[3] ergötzt sich ihre Phantasie an der Pracht des katholischen Gottesdienstes. In Nürnberg steigt die gemüthsinnige, schlichte und tiefe altdeutsche Kunst und altes Künstlerleben vor ihrem entzückten Geiste auf.[4] Im Fichtelgebirge spricht die stille Waldeinsamkeit märchenhaft und wundersam die jungen Gemüther an.[5]
Bisher war in Tieck „die Mischung des Berlinischen Verstandes mit dem erwachten Phantasie- und Gefühlsleben, dieser Zusammenstoß von Reflexion und Enthusiasmus productiv geworden“.[6] Bis jetzt hatte Tieck auch meist im Dienste anderer gedichtet, was ihm aufgetragen worden war, ohne besonderen warmen Herzensantheil und ohne tieferen Glauben an das, was er mit virtuoser, spielender Leichtigkeit darstellte. Es war ein jugendlich leichtsinniges poetisches Schaffen. Dies wird an Wackenroders Seite allgemach anders. Dieser Freund, dem kaum ein leidlicher Vers gelingen wollte, war dafür von einem echten, seelentiefen Enthusiasmus, von wahrer, herzlicher Andacht für Kunst und Poesie erfüllt. Er glühte für das Nämliche, dem Tieck bisher nur mit halber Seele gedient hatte. „Idealische Kunstschönheit ist der Lieblingsgegenstand meines Geistes“ sagt Wackenroder von sich.[7] Bald schreibt ihm auch Tieck: „Genau genommen solltest Du Dich ganz allein mit der Musik, und ich mit der Dichtkunst beschäftigen; denn die Welt ist wirklich nicht für uns, sowie wir nicht für die Welt...“[8] An der Seite dieses Freundes erst lernt Tieck, der unstäte und haltlose, der bis dahin in trüber und nüchterner Resignation hinter dem Großen und Erhabenen Schein und Trug, hinter dem Wahren und Guten überall die Engherzigkeit lauern sah, den Wert hingebungsvoller Verehrung, positiven Empfindens, den wahren seelenerfüllenden Enthusiasmus so recht kennen und schätzen. Wackenroders innerer Reichthum theilte sich der unruhigen, abgehetzten Seele mit. Freundschaft und hingebende Kunstbegeisterung beschwören die düsteren Geister, denen Tiecks Seele seit langem verfallen war. Freundschaft und Kunstandacht verfeinern und veredeln seine Gefühle und geben ihm neuen Lebensmuth.[9] Der ernstere Kunstgenuss wird ihm eine Erlösung. „Das arme dürstende Herz wird durch nichts in dieser Welt so gesättigt, als mit dem Genuss der Kunst, der feinsten Art, sich selber zu fühlen und zu verstehen.“[10]
Empfindung und Begeisterung für Kunst und Poesie waren das einigende Band, welches diese Freundesherzen fest und dauernd aneinander fesselte. In der „milden Temperatur eines künstlerischen Sinnes“ athmeten ihre Seelen. In schöner Eintracht nahen die beiden, innig verehrend, der Kunst in jeder Gestalt. Was ihre Seele dabei erfüllte, findet in den „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ (1797), in „Franz Sternbalds Wanderungen“ (1798) und in den „Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst“ (1799) seinen literarischen Ausdruck. Jedes Kunstwerk — erfahren wir hier — das die Menschenbrust mit seinem Zauber anrührt, hat seine Berechtigung. Es ist ja „das Kunstgefühl nur ein und derselbe himmlische Lichtstrahl, welcher aber, durch das mannigfach geschliffene Glas der Sinnlichkeit unter verschiedenen Zonen sich in tausenderlei verschiedene Farben bricht“, und dem großen Schöpfer „ist der gothische Tempel so wohlgefällig als der Tempel der Griechen.“[11] Jede künstlerische Eigenart muss geachtet werden: Raphael, Michelangelo, Dürer, Watteau. Es ist Herders Geist, der hier Wackenroders schlichte, fromme Sprache redet und in schüchterner Ahnung für die Betrachtung der bildenden Künste ähnliche Gedankenperspectiven eröffnet wie für die Dichtung die Schlegel’sche Doctrin von der einen alles umfassenden romantischen Universalpoesie.
Herders Anschauungsweise spricht auch aus der Art der Wackenroder-Tieck’schen Kunstbetrachtung. Diese wird zur „Herzensergießung“, niemals zum vernünftelnden Kritisieren oder zum rationalistisch nüchternen Theoretisieren.[12] Es handelt sich beim Anschauen der Kunstwerke darum, „dass man mit entgegenkommendem Herzen in sie hineingehe, und in ihnen lebe und athme“[13] und „von der echten Kunst sollte nie ohne Enthusiasmus gesprochen werden“.[14] Das Gemüth ist hier das ästhetische Organ. Die wunderbaren Regungen „im inneren Gemüthe“, das Betrachten „mit Ernst und Innigkeit“, das „innige Verstehen“, das „innigliche Verehren“... das sind Lieblingsausdrücke, die Wackenroders und Tiecks seelisch innerliche Richtung und gemüthvolle Hingabe an die Kunst auch schon in ihrer Sprache kennzeichnen.
Das Kunstgefühl, hieß es, ist ein „himmlischer Strahl“ und Gott ist es, der mit Wohlgefallen auf den gothischen und griechischen Tempel herniederschaut. Ernste religiöse Anschauung, ein tief frommes Fühlen beherrscht die reine Seele Wackenroders ganz und gar. Natur und Kunst sind ihm zwei wunderbare Sprachen von geheimnisvoller Kraft, mit denen Gott zum Menschen redet.[15] Sein frommes Denken geht von Gott aus und kehrt zu Gott zurück „wie der Geist der Kunst — wie aller Geist von Ihm ausgeht, und durch die Atmosphäre der Erde, Ihm zum Opfer wieder entgegendringt“.[16] Den edlen Kunstgenuss vergleicht er mit dem Gebete. Beides muss der Mensch „zum Wohle seiner Seele gebrauchen“, zu beiden darf er nur in stiller Sammlung hintreten, in seligen Stunden, da die Gunst des Himmels das Herz mit hoher Offenbarung erleuchtet. Bildersäle sollten nicht Jahrmärkte, sondern Tempel sein.[17] Die geistliche Musik ist das Höchste und Edelste, die religiöse Malerei und Poesie das Ehrwürdigste. Die Kunst ist dem Klosterbruder in der That eine religiöse Liebe oder eine geliebte Religion.
Ob auch viele Gedanken Wackenroders und Tiecks jeder positivgläubige Katholik und Protestant unterschreiben kann, so wäre es trotzdem irrthümlich und voreilig, an eine tiefere eigentlich religiöse Beziehung der beiden zu irgend einer kirchlichen Confession zu denken. In der Hauptsache ist und bleibt die Religion der beiden Freunde eine Kunst- und Herzensreligion, die weiter um Bibel und kirchliche Dogmatik vorläufig nicht fragt. Auf ein allgemeines, unbestimmtes religiöses Bedürfnis, auf „eine Sehnsucht zum Religiösen“ deuten allerdings manche spätern Äußerungen Tiecks.[18] Zunächst ist es ein subjectives frommes Gefühl, das, durch das Medium der Begeisterung an katholischen Kunstwerken hindurchgehend, allerdings mehr oder weniger katholische Färbung annimmt.[19]
Die Herzensergüsse Tiecks und Wackenroders über die alte Kunst und die alten Zeiten bezeichnen auch ein neues Stadium in der Auffassung des Mittelalters. Dem Aufklärer war dasselbe eine Zeit der Barbarei, der Nacht und Finsternis auf allen geistigen und materiellen Lebensgebieten. Noch das Buch des Professors Meiners, „Historische Vergleichung der Sitten und Verfassungen, der Gesetze und Gewerbe, des Handels und der Religion, der Wissenschaften und Lehranstalten des Mittelalters mit denen unseres Jahrhunderts in Rücksicht auf die Vortheile und Nachtheile der Aufklärung“, das 1793 und 1794 erschien, enthält den Inbegriff alles dessen, was ein richtiger Aufklärer dem Mittelalter Übles nachsagen konnte.[20] Allein schon zwei Jahrzehnte zuvor hatte kein Geringerer als Herder in seiner kleinen Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (1774) es gewagt, der aufgeklärten Gegenwart ein langes Sündenregister vorzuhalten und im verachteten Mittelalter eine Reihe von Vorzügen zu entdecken. „Erklären“ wollte er das Mittelalter, wenn auch nicht loben und preisen. Neben den Schattenseiten wollte er auch das Große, Erhabene und Herrliche dieser verkannten Epoche nicht übersehen. Für ihn ist das Mittelalter eine nothwendige Durchgangsstufe auf dem Entwickelungswege der Menschheit. Wenn wir schon bei Herder den boshaften Seufzer: „In unserem Jahrhundert ist leider! so viel Licht!“ hören, so blicken wir unwillkürlich auf die kommende Romantik voraus. Wenn der nämliche Herder auch in späteren Werken wieder geringer vom Mittelalter denkt, in jenen früheren Ansichten, die dem Sturm- und Dranggeiste entstammen, kann er als wahres Zwischenglied zwischen Aufklärung und Romantik gelten. Verdammung und Verachtung des Mittelalters beim Aufklärer, Erklärung des historisch Gewordenen und Gewachsenen bei Herder, Bewunderung, Verehrung und Anbetung bei den Romantikern Tieck und Wackenroder.
Je tiefer die Freunde von ihrer poetisch-künstlerischen Frömmigkeit ergriffen werden, desto herber empfinden sie, dass die aufgeklärte Gegenwart, in der sich eine „Epidemie prosaischer Nüchternheit“ über die ganze Bildung erstreckte, von den beseligenden wunderbaren Geheimnissen des Gemüthes so gut wie nichts wisse.[21]
Wie anders sei es in den herrlichen alten Zeiten Albrecht Dürers gewesen. Da war die Religion den Menschen „das schöne Erklärungsbuch“, wodurch sie das Leben erst recht verstehen lernten.[22] „Fromm und einfach“ war Dürers Wandel; „wie er selbst, sind alle seine Bilder“.[23] Auch Giovanni da Fiesole betet, bevor er an die Staffelei tritt und er weint in frommer Rührung, wenn er Christi Leiden am Kreuze malt.[24] Das waren die wahren und echten Künstler, die nur darstellten, was voll und warm und innig ihr ganzes Gemüth belebte und darum wieder so herzbewegend in ihren Werken sich aussprach und den Beschauer mit heiliger Macht überwältigte. Ein fester und fruchtbarer Zusammenhang zwischen der religiösen Lebensanschauung der alten Künstler und der lebendigwirkenden Kraft ihrer Schöpfungen fällt unseren Freunden allerwegen in die Augen. Eine hehre Weihe umschwebt für sie daher noch heute das Alte, das dieser begnadeten Zeit entstammt und „alt“ wird schon in den „Herzensergießungen“, im „Sternbald“ wie in den „Phantasien“ ein schmückendes ehrendes Beiwort (die „alten“ Maler, der „alte“ Vasari etc.).[25]
Endlich dürfen wir nicht unbemerkt lassen, dass Wackenroder und sein Freund mit einer eigenthümlichen Vorliebe beim Wunderbaren und Geheimnisvollen verweilen, das dem künstlerischen Schaffen innewohnt, das sie an übernatürliche Gnadenwirkungen und Eingebungen erinnert. Es wird das Seltsame und Phantastische an Künstlerpersönlichkeiten wie Piero di Cosimo in behaglicher Breite geschildert und ebenso die außerordentliche herrliche Vielseitigkeit eines Geistes wie Lionardo bewundernd verehrt. „Alle fühlen einen Hang nach dem Wunderbaren in ihrem Busen“, behauptet Tieck in den „Phantasien“. Ganz besonders aber die Romantiker, dürfen wir beisetzen. Die Gestalten von Dichtern und Künstlern werden bald beliebt in romantischen Dichtungen.
Ziemlich die gleichen Anschauungen und Empfindungen beherrschen die „Herzensergießungen“, die „Phantasien“ und den ersten Theil des „Sternbald“. Tieck versucht es mit aller Liebe, in den frommen, herzlichen Ton seines Freundes einzustimmen. Er arbeitet ein wenig mit an den „Herzensergießungen“, reichlich an den „Phantasien“ und dichtet aus der nämlichen Stimmung heraus allein den „Sternbald“, freilich, ohne im frommen Tone auszuharren bis ans Ende. Tieck bemüht sich sichtbar, ein zweiter „Klosterbruder“ zu werden. Nur will die Wackenroder’sche Kunstfrömmigkeit nicht so recht ernstlich von seiner Seele Besitz ergreifen. Er gefällt sich immer ein wenig in der frommen Rolle. Er bleibt auch immer ein eleganter Klosterbruder, ein Mönchlein, das nicht so ganz aus innerem Beruf und Herzensdrang den Berliner Salon mit der stillen Klosterzelle vertauschte. Ja Tieck geht, wie manches allzurasch bekehrte Weltkind mit seltsam hastigem Eifer bei seiner Frömmigkeit zuwerke und schießt dann über das Ziel hinaus. Er will sich recht energisch fromm anstellen und tritt (alles nur in der Phantasie selbstverständlich) gleich in Rom zum Katholicismus über — seiner Geliebten und seiner Kunst zuliebe. „Die Kunst hat mich allmächtig hinübergezogen... ich folgte bloß meinem innerlichen Geiste, meinem Blute, von dem mir jetzt jeder Tropfen geläuterter vorkömmt.“[26] Das leichtentzündliche Künstlerblut hat also das meiste zu dieser poetischen Bekehrung gethan und der „innerliche Geist“ ist auch nicht viel mehr als eine „prédilection d’artiste“. Der Enthusiasmus für die Kunst ist immer das Alpha und das Omega. Nur die Liebe zur Kunst befreundet das Herz dieses Enthusiasten auch mit dem dargestellten Gegenstande dieser Kunst.[27] Im „Sternbald“ peitscht Tieck seine Begeisterung für das Katholische so gewaltsam in die Höhe, dass es immer wie Absicht aussieht, die verstimmt. Tieck stellt paradox und geistreich den Gedanken Wackenroders, die Kunst müsse religiös sein, auf den Kopf und sagt: die Andacht ist der höchste und reinste Kunstgenuss, dessen die menschliche Seele nur in den schönsten und erhabensten Stunden fähig ist.[28] Im „Sternbald“ finden sich mancherlei enthusiastische religiöse Herzensergüsse[29] und Tieck lässt hier bereits Ludovico eine Standrede gegen Luther halten,[30] gegen den Mann, dem erst noch kurz zuvor der „Klosterbruder“ seine warme Verehrung bezeugt hatte.[31] Von den Nachfolgern Luthers befürchtet Sternbalds Freund Ludovico, dass sich „statt der Fülle einer göttlichen Religion eine dürre, vernünftige Leerheit, die alle Herzen schmachtend zurücklässt, erzeugt“. Eine poetische Hinneigung zur katholischen Religion wird wiederholt mit nachdrücklichster Deutlichkeit hervorgekehrt. Der Katholicismus ist eine Religion, „die wie ein wunderbares Gedicht vor uns da liegt“. Dies ist aber auch alles.
Tieck vermag viel im Anempfinden, ja im künstlerischen Einfühlen in eine Rolle. Er besaß die nachschaffende Kraft des Schauspielers im hohen Maße und galt im Freundeskreise als großes schauspielerisches Talent. Aber in das harmonisch gestimmte Empfinden Wackenroders sich einzuleben, wie er gerne möchte, gelingt ihm doch nicht ganz. Das eine ist deutlich: Tieck ist in den Aufsätzen, die er zu den „Phantasien“ beisteuerte und im „Sternbald“ ein ganz anderer geworden, als er in den vorhergehenden Schauergeschichten und in den übermüthig verneinenden satirischen Komödien war, wenn er auch die letzteren noch in die neue Periode seines Dichtens mit hinübernimmt. Er fühlte auch selbst freudig die beruhigende und segensreiche Wirkung des Wackenroder’schen Geistes. Er ist beglückt, dass er endlich mit dem neuen Enthusiasmus einen Mittelpunkt für sein Dasein gefunden zu haben glaubt.[32] Auch A.W. Schlegel hat diese geistige Wandlung Tiecks in dessen Dichtungen gespürt. „Seine Einbildungskraft, die sich im ‚William Lovell‘ zum Theil in trüben Phantomen herumtrieb und ihre Flüge verschwendete, ist seitdem auffallend zu größerer Heiterkeit und Klarheit hindurchgedrungen. Das Trauerspiel ‚Karl von Berneck‘ und sonst hie und da Spuren von Gewölk gehören noch dem ersten Morgennebel an...“[33] Die Liebe zum Alten, zum Religiösen und Gemüthsinnigen, ein positives Empfinden nach so viel Negation und Trübsinn, war der wertvolle Gewinn, den Tieck seinem geliebten Freunde zu danken hatte, und dass er sich dessen bewusst war, zeigen der „Traum“[34] und die vier Sonette, die er trauernd zum Kranze auf das Grab seines Freundes flicht.[35]
Diese Eindrücke wirken fort in Tiecks Gemüth, bis sie verstärkt durch andere Einflüsse, in der „Genoveva“ neue poetische Gestalt annehmen. Ja, manche Einzelheiten in der „Genoveva“ weisen noch deutlich auf den „Klosterbruder“ zurück und lassen die Verbindungsfäden sehen, die von Wackenroder in die Hochblüte der Romantik hinüberführen.[36]
Tieck war immer leicht empfänglich für Anregungen und Eindrücke von außen; er hielt sie aber, wenn sie nicht seiner Natur homogen waren, selten lange und energisch fest. Es drohte auch die hohe romantisch-religiöse Klosterbruderstimmung ihm unter den Händen zu entweichen. Gegen Ende des unvollendeten „Sternbald“ scheint es, als ob das fromme, helle Feuer erlöschen und der keusche Genius, sein Antlitz verhüllend, hinwegfliehen wollte. In den ziemlich leichtfertigen Badescenen und den florentinischen Künstlergelagen muss Wackenroders Vorbild dem des sinnlichen Heinse weichen. In welchem Geiste etwa der Roman zu Ende geführt worden wäre, lässt sich aus der kleinen Planskizze nicht entnehmen. Das eine Gefühl aber wird der Leser nicht los, dass hier die Ideen und der glorreiche Enthusiasmus der „Herzensergießungen“ gegen Ende zu schon stark verblassen und dass damit der Weg, der zur „Genoveva“ hinführt, sich verliert. Vielleicht hätte Tieck diesen Weg zur religiös hochgespannten Dichtung auch nicht wieder gefunden, wenn ihn nicht eine neue starke Strömung ergriffen hätte, die das vollendete, was Wackenroders Freundschaft begonnen hatte, die Einflüsse nämlich, die von Schleiermacher und Novalis, von Calderon und Jakob Böhme ausgiengen.
Der persönliche Verkehr mit Schleiermacher scheint nicht von großer Bedeutung für Tieck gewesen zu sein.[37] Der wortkarge Theologe, der hartkantige Mann, die einsame „Beichtvaternatur“ war nicht dazu geschaffen, Tieck gesellig zu fesseln. Was Schleiermachers Persönlichkeit nicht vermochte, that sein erstes größeres Werk, das den Verfasser mit einem Schlage berühmt machte, die „Reden über die Religion“ (1799).[38]
So wenig als Wackenroders Frömmigkeit und religiöse Kunstverehrung, trägt Schleiermachers Religion in den „Reden“ eine Spur von Dogmatik und Systematik an sich. Auch ihm ist im Grunde „Aberglaube lieber als Systemglaube“. Seine religiösen Anschauungen sind durchaus romantische.[39] Die Religion ist ihm etwas ganz und gar Individuelles und Subjectives, sie ist Anschauung und Gefühl des Universums, innerlich und unmittelbar. Diese religiöse Anschauung ergreift immer das Ganze, wie die wahre und richtige ästhetische Betrachtung das Gesammtkunstwerk. Nicht auf Erkenntnis des Universums, wie die Metaphysik, nicht auf Leitung des menschlichen Handelns, wie die Moral, zielt die Religion ab. Im Gemüthe und nur im Gemüthe und vor dem inneren Sinne ist das Göttliche gegenwärtig. Als eine wundervolle Erleuchtung kommt dieses Anschauen des Universums über die Seele des Menschen.[40] Schleiermachers religiöses Gefühl ist ästhetischer Natur oder wenigstens ästhetischen Stimmungen nahe verwandt.[41]
Der Vortrag in Redeform ist von einem kraftvollen, mächtig eindringlichen Pathos durchlodert. Denn, sagt Schleiermacher, Religion verlangt die höchste Kunst und Kraft des Ausdrucks.[42] Es ist ein Stil, der, wie Fr. Schlegel behauptet, als oratorische Leistung, „eines Alten nicht unwürdig wäre“.[43]
Dieser Recensent betrachtet die Reden „durchaus als Incitament für die Religionsfähigen“.[44] Dass der Dichter der „Genoveva“, in dem die Wackenroder’schen Anregungen noch leise nachtönten, der inzwischen auch schon Böhmes „Morgenröthe“, Calderon und das schlichtfromme Volksbüchlein von der heiligen Genoveva zur Hand genommen hatte, der nach seinem eigenen Worte einen angeborenen „Instinct“ zur Religion besaß,[45] zu den „Religionsfähigen“ gehörte, kann nicht bezweifelt werden. Exactes, systematisches Denken in Religion und Philosophie war freilich seine Sache nicht, und ein strenges Verfolgen aller Gedankenwege der trotz aller Systemscheu durch und durch philosophischen „Reden“ ist bei Tieck nicht vorauszusetzen. Sicher musste aber die hinreißende oratorische Sprache, die sich öfters zu einem dithyrambischen Feuer erhebt, in Tiecks Seele zünden und über sie eine ernste, religiöse Weihestimmung ausgießen. Die feurige Sprache musste seine Seele ergreifen; denn die „Reden“ Schleiermachers stehen wie alle Redekunst hart an der Grenze dichterischen Schaffens.
Über Tieck konnte Fr. Schlegel bald an Schleiermacher berichten: „Was ich geweissagt, ist geschehen, dass nämlich Tieck von Deiner Religion grausam begeistert ist.“[46] Diese „grausame Begeisterung“ ist für Tiecks Seelenverfassung unmittelbar vor Abfassung seiner „Genoveva“ entschieden wesentlich und bemerkenswert. Dass die bereits geweckten allgemein religiösen Stimmungen, die poetische Neigung zu religiösen Stoffen und zu religiöser Auffassung derselben durch die „Reden“ Schleiermachers eine Steigerung erfahren mussten, ist recht wohl begreiflich. Wenn Tieck an ernstliche Vertiefung in das Problem der „Reden“ auch kaum dachte, so scheinen doch ein paar allgemeine Anschauungen Schleiermachers einen tieferen Eindruck auf ihn gemacht zu haben, so dass man die Nachwirkung in der „Genoveva“ noch einigermaßen verfolgen kann. Daneben war auch manche Anschauung, die im Keime oder in kindlicher Unreife schon in den „Herzensergießungen“ und „Phantasien“ schüchtern auftauchte, hier zu männlicher Vollkraft und Reife entwickelt. Ein persönlicher Zusammenhang zwischen Wackenroder und Schleiermacher lässt sich zwar nicht erweisen,[47] und Wackenroder war durch die Betrachtung religiöser Kunstwerke, Schleiermacher aber durch die Betrachtung religiöser Menschen zu seinen Anschauungen gekommen. Trotzdem ist Verwandtschaft da und kann nicht sonderlich auffallen: denn sie liegt im gemeinsamen romantischen Geiste, woraus sich auch erklärt, dass der Kreis der Berliner und Jenenser Genossen beim Erscheinen der „Reden“ in freudige Erregung gerieth.
Überdies hat auch Schleiermacher wie Wackenroder das Verhältnis von Kunst und Religion besprochen, und was Poesie und Kunst berührte, zündete unfehlbar in den Herzen der jungen Generation. Den schönen Bund der Kunst mit der Religion, den Wackenroder in den alten Kunstzeiten bewunderte, den August Wilh. Schlegel bereits in einem großen Gedichte gefeiert hatte, sieht unser Redner eben im alten Griechenland verwirklicht. „Da näherte sich“, sagt er, „der Kunstsinn der Religion, um sie mit neuer Schönheit und Heiligkeit zu überschütten und ihre ursprüngliche Beschränktheit zu mildern.“ Auch Schleiermacher findet wie Wackenroder, dass es in der Gegenwart leider nicht so gut steht. „Religion und Kunst stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen, deren innere Verwandtschaft, ob sie sie gleich ahnen, ihnen doch noch unbekannt ist. Freundliche Worte und Ergießungen des Herzens schweben ihnen immer auf den Lippen und kehren immer wieder zurück, weil sie die rechte Art und den letzten Grund ihres Sinnens und Sehnens noch nicht finden können. Sie harren einer näheren Offenbarung, und unter gleichem Druck leidend und seufzend sehen sie einander dulden, mit inniger Zuneigung und tiefem Gefühl vielleicht, aber doch ohne Liebe.“ Würden beide in ein Bett zusammengeleitet, so könnte das die Religion zur Vollendung bringen. An die kunstübenden Genossen und Freunde richtet daher der Redner die Worte: „Sehet da, das Ziel Eurer gegenwärtigen höchsten Anstrengungen ist zugleich die Auferstehung der Religion!“ Schon sieht der Prophet „einige bedeutende Gestalten, eingeweiht in diese Geheimnisse (seiner Religion) aus dem Heiligthum zurückkehren, die sich nur noch reinigen und schmücken, um im priesterlichen Gewande hervorzugehen.“[48] Schleiermacher denkt an die romantischen Genossen. Es war dies ein Aufruf und eine Prophezeiung, die sich besonders Novalis und Tieck zuherzen nahmen und sie wollten sie gemeinsam verwirklichen in geistlichen Liedern und Predigten.
Und Schleiermacher arbeitet ihnen dazu noch mehr vor. Er findet das, was er für das echt Religiöse erkennt, nicht nur in sich und in den religiös veranlagten Zeitgenossen, er sucht und findet es auch in allen historischen Erscheinungsformen der Religion, in den positiven Religionen, indem er allerdings die Begriffe und Anschauungen der alten Religion nach seinen festgestellten Religionsbegriffen ausdeutet und so ganz neue Werte in alte Worte kleidet. Er wendet sich dabei mit scharfer Polemik gegen die „natürliche Religion“ der Aufklärer, die alles Außerordentliche und Unbegreifliche scheut. Er eifert gegen das unbestimmte, verwaschene, kraftlose Gebilde, das jener Masse gleicht, die zwischen den Weltsystemen dünn und zerstreut schweben soll und ihre Existenz erst erwartet.[49] „Wenn eine Religion nicht eine bestimmte sein soll, so ist sie gar keine, sondern nur loser, unzusammenhängender Stoff.“[50]
Ein dünnes, unbestimmtes, abstractes Etwas ist aber für den Dichter immer ein höchst undankbarer Vorwurf. Die positive Religion dagegen war einst eine fruchtbare Grundlage für Kunst und Poesie. Die Gegenwart bot nirgends, was die Vergangenheit besaß. Wenn nun die positive Religion zu Ehren kommt, wie in den „Reden“, dann muss sich auch ein Dichter aus dem aufgeklärten Berlin umsomehr ermuthigt fühlen, die gestaltenreiche katholische Legende, an der sich schon das Poetenauge heimlich ergötzte, in ihrer mittelalterlichen Auffassung wieder aufzunehmen und dichterisch zu gestalten. Noch mehr. Sogar die bei den nüchternen Großmeistern der Aufklärung genugsam verfehmten Begriffe: Wunder, Weissagung, Offenbarung, Eingebung, Gnadenwirkung sollten sich einer unverhofften Ehrenrettung erfreuen, wenn auch wiederum umgewertet nach dem Maßstabe Schleiermacher’scher Auffassung. Jeder wahrhaft religiöse Mensch sieht nach den „Reden“ Wunder, erlebt Offenbarungen, Eingebungen, Gnadenwirkungen, und glaubt an Weissagungen. Mochte bei solchen Gedanken die ehrsamen Nicolaiten und alle Schildbürger und Philister im Reiche des aufgeklärten Verstandes ein heimliches Bangen beschleichen, so fand Tieck dieselben bei seiner Liebe zur Poesie und zum Sonderbaren[51] nur umso verständlicher und anheimelnder. Schleiermachers Anerkennung des Wunderbaren konnte den Dichter, dessen Phantasie sich bereits mit den Wundern, Offenbarungen und Gnadenwirkungen, von denen das Volksbüchlein berichtet, beschäftigte, nur ermuntern, die alte, schlichte Legende mit neuer poetischer Schönheit zu überschütten. Ob Schleiermacher auch nicht die Legendenwunder nach der alten Auffassung vertheidigte: eine solche warme Vertheidigung des religiös Wunderbaren an sich nahm allein schon viel vom Fluche des Lächerlichen von den missliebigen Begriffen hinweg, vom Fluche, der auch für Tieck bisher gegolten hatte und, wenn auch abgeschwächt, noch galt. Tiecks rationalistische Jugendeindrücke, seine düstere Skepsis waren trotz Wackenroder noch lange nicht mit der letzten Wurzel aus seiner Seele gerissen. Für ihn, der inzwischen auch Nicolais Schildknappe gewesen war, bedurfte es eines solchen Zuspruches für die Stärkung seines religiösen Stimmungslebens, um es poetisch fruchtbar zu machen.
Sehr wesentlich war für Tiecks Dichtung noch folgende Gedanken-Entwickelung der „Reden“. Eine damals neue Entdeckung Schleiermachers liegt in seinem Begriffe der Religion als Anschauung und Gefühl des Universums, einem Gedanken, der sich auf das engste mit der romantischen Hochschätzung und Überschätzung von Phantasie und Gemüth berührt. Das intuitive Anschauen und das Gefühl des Universums kommen nach seiner Darlegung für die Religion allein in Betracht. Die Stärke der religiösen Anschauungen und Gefühle bedingt den Grad der Religiosität eines Menschen. Verkehrt wäre die Forderung, das religiöse Fühlen sollte etwa das menschliche Handeln bestimmen. Das sittliche Handeln ist Sache der moralischen Kraft im Menschen und hat mit der Religion nichts zu schaffen. „Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Thun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion thun, nichts aus Religion.“ Die religiösen Gefühle lähmen geradezu die Thatkraft des Menschen und laden ihn ein zum stillen, hingegebenen Genuss. Daher verließen die religiösesten Menschen, die nichts waren als religiös, so oft die Welt und ergaben sich der müßigen Beschauung.[52] Die Thatsache, dass Tiecks „Genoveva“ dieser Auffassung vom ausschließlich religiösen Menschen, dem contemplativen Ideale so auffallend entspricht, kann nicht übersehen werden. Während die Heilige des Volksbuches, das Tieck als Vorlage dient, in ihrem Auftreten gegen Golo eine anerkennenswerte sittliche Energie zeigt, scheint Tiecks Heldin von Anfang bis zum Ende an ihrer Willenskraft wie gelähmt und ihr Dasein löst sich fast beständig in einen frommen Gefühlsgenuss und in religiöse Stimmungsschwelgerei auf. Wenn auch das Volksbuch ziemlich viel von Genovevas beschaulichem Leben berichtet, so ist das süße Schwärmeln und Schwelgen in Gefühlen und weichen Stimmungen bei Tieck noch um manchen Grad gesteigert. Andere Dichter scheiden solchen lyrischen Überfluss eher aus oder verkürzen ihn, wenn sie dramatisch gestalten wollen. Tieck ist aber von Hause aus durch und durch ein Stimmungsdichter, der immer am liebsten den ätherischen Duft und Geist der Erscheinungen in Worte und Verse fassen möchte. Das zeigt seine Poesie ja schon vor der „Genoveva“. Man denke an seine „Magelone“. Seine eigene Begabung und Neigung führte ihn daher schon dazu, die Situationen der Legende möglichst nach ihrem Stimmungswerte auszunützen. Die Gefühlsweichheit in der „Genoveva“ darf darum nicht ausschließlich wie ein dichterisches Correlat zur theoretischen Aufstellung der Schleiermacher’schen „Reden“ angesehen werden. Aber es bleibt ein merkwürdiges Zusammentreffen, dass Tiecks dichterische Neigung durch Schleiermachers Forderung einer durchaus passiven Religiosität noch geradezu eine theologische Sanction erhielt, die seine poetische Neigung zu befestigen und vor ihm selbst zu rechtfertigen geeignet war. An die Mahnung Schleiermachers, eine „heilige Musik“ religiöser Gefühle solle das ganze Leben ohne Aufhören begleiten, wird der Leser der „Genoveva“ unwillkürlich erinnert, wenn er bei Tieck im Kriegslager und auf dem Schlosse, in der Wüste so gut wie in der Kapelle fast bei allem Thun und Denken wenigstens irgend einen religiösen Klang tönen hört.[53]
Wie die romantische Ästhetik das eine Urpoetische in den dichterischen Äußerungen der verschiedenen Zeiten und Völker sucht, in der höchsten Kunstpoesie sowie im unscheinbarsten Volksliede, so sucht der romantische Theologe das eine Urreligiöse in allen Gestalten und Verkleidungen, unter denen es je im Laufe der Zeiten unter den Menschen erschienen ist. Alle Religionen erscheinen als ein großer Organismus, dessen Glieder alle ihre gute Berechtigung haben. Der stets künstlerischen romantischen Anschauung schließt sich immer das Mannigfaltige zu einem Kosmos höherer Ordnung zusammen. Der wahrhaft religiöse Mensch Schleiermachers ist darum tolerant. Es gibt ja für ihn keinen Wesensunterschied etwa zwischen Pantheismus und Personalismus im Gottesbegriffe.[54] Es sollen sich gerade unzählige Religionen entwickeln, jeder Mensch kann sich seine eigene gründen.[55] Es webt und wirkt ja doch in allen der nämliche Geist der einen, unendlichen Religion.[56] Mag die einzelne Gestalt, die diese annimmt, wie immer aussehen; wenn es nur Religion ist, so gibt sich damit der Fromme zufrieden. Man muss wohl oder übel an eine freie Weiterbildung dieser Ansicht Schleiermachers in Tiecks Dichtung glauben, will man eine Erklärung für das Zusammenwürfeln so fremdartiger religiöser Vorstellungen finden, wie es uns in der „Genoveva“ begegnet. Von der Idee des romantischen Urreligiösen aus wird es sogar einigermaßen erklärlich, wie in einer und derselben Persönlichkeit sich der katholische Gottesbegriff mit dem Pantheismus, wie christliche Gedanken und fatalistische Vorstellungen sich friedlich miteinander verbinden und vertragen können. Zum weitaus größten Theile sind in der „Genoveva“ allerdings die christlichen Vorstellungen festgehalten. Die verschiedenen religiösen Elemente aber, die sich fremd dazwischen drängen, fallen für Tieck und seine Freunde unter die höhere Kategorie des allgemein Religiösen. Alle wirklichen Dissonanzen sind daher für ihn nur scheinbar und lösen sich in dem höheren Einklang auf und wirken zur allgemein religiösen Gesammtstimmung, auf welche Tiecks Dichtung abzielt, ohne Störung mit.
Wenn Genoveva ihre christlichen Vorstellungen vom Jenseits mit der pantheistischen vom Aufgehen im Weltall verknüpft, so entspricht das noch besonders Schleiermachers Ansichten; denn das Verlangen nach persönlicher Fortdauer nach dem Tode findet er ganz irreligiös; der Mensch soll geräuschlos im Unendlichen verschwinden; falls er es nicht bewusst in seinem Denken und Sein vermag, soll er wenigstens den Tod als willkommene Gelegenheit dazu ergreifen. Daher muss auch Genovevas Seele „in dem Lebensmeer als Welle klingen“.
Wahre Religion, führt Schleiermacher ferner aus, ist tolerant gegen das Religiöse in jeder Gestalt, aber polemisch gegen alles Irreligiöse in und außer sich. Es widerspricht darum nicht dem Wesen des Christenthums und der Toleranz, zu kämpfen gegen alles, was ihm als Irreligion erscheint. Tieck brauchte deshalb kein Bedenken zu tragen, den Saracenenfeldzug als Kreuzzug in seine Dichtung einzuschalten. Einen heiligen Krieg hat das Christenthum auch gegen alles Unheilige in sich selbst beständig zu führen, damit alles Unreine ausgeschieden werde. Einzelne Elemente und ganze Massen werden ausgestoßen. Dieser immerwährende Kampf ist die in seinem Wesen begründete Geschichte des Christenthums. „Ich bin nicht gekommen, Friede zu bringen, sondern das Schwert“, sagt der Stifter desselben, freilich nicht um blutige Bewegungen und elenden Wortstreit zu entfachen; nur die heiligen Kriege, die aus dem Wesen seiner Lehre nothwendig entstehen, hat er vorausgesehen und anbefohlen.[57] Die Rede Dragos[58] über den beständigen Kampf im Leben der christlichen Kirche und des einzelnen Christen, die auch mit dem gleichen evangelischen Citate beginnt, ist hier im Keime gegeben.
Schon beim flüchtigen Lesen fällt es auf, dass uns in der katholisierenden „Genoveva“ eine ganz eigenthümliche Auffassung des Priesterthums begegnet, die sich der katholischen hierarchischen Ordnung gar nicht anbequemt. In Siegfrieds Burgkapelle hält ein „Capellan“ eine religiöse Ansprache, aber auch der Diener Wendelin. Der nämliche Capellan hält auch noch eine erbauliche Rede für Genoveva, verschwindet dann aus der Dichtung und im weiteren nimmt der Küchenmeister Drago die Stelle eines geistlichen Seelenleiters ein. Also neben dem Bischof, der am Schlusse auftritt, und dem Capellan predigen Diener und Küchenmeister. Die hier ziemlich deutlich durchschimmernde Ansicht vom freien Priesterthum ist wieder ein Gedanke aus Schleiermachers „Reden“. Schleiermacher will kein zunftmäßiges Priesterthum. Ein Privatgeschäft sei die Mission des Priesters. Ein jedes Privatzimmer mag ein Tempel sein.[59] Wen der religiöse Geist ergreift, der übt auch das Priesteramt. Es gibt zwischen Geistlichen und Laien keinen Unterschied der Personen, sondern nur einen Unterschied „des Zustandes und der Verrichtung“.[60] In diesem Sinne wird thatsächlich das Predigtamt in der „Genoveva“ geübt.
Doch genug. Es darf für erwiesen gelten, dass ähnliche Ideenrichtungen sich in den „Reden“ des romantischen Theologen und im Drama des romantischen Dichters finden. Es ist freilich nicht vieles Einzelne, was sich sicher greifen ließe. Wie sollte auch der Dichter aus dem Buche, das sich vom Anfange bis zum Ende in lauter Abstractionen bewegt, mehr entnehmen können als die eine oder andere grundsätzliche Ideenrichtung? Hauptsache bleibt, dass Tiecks künstlerische Begeisterung für Religion in den „Reden“ ein kräftiges „Incitament“ gefunden hatte.
Tieck ließ sich willig durch Schleiermacher begeistern, aber ein echter und eigentlicher Schüler des Berliner Theologen war er darum noch nicht. Ein solcher war Tiecks Freund Novalis-Hardenberg. Schleiermacher und Novalis waren es allein, die unter den älteren Romantikern auf eine Erweckung des eigentlich religiösen Sinnes abzielten, während die übrigen nur an eine Erneuerung und Belebung von Kunst und Poesie durch die Religion dachten. Schleiermacher selbst gedenkt in der zweiten Auflage seiner „Reden“ schmerzergriffen des lieben Todten, des „zu früh entschlafenen göttlichen Jünglings, dem alles Kunst ward, was sein Geist berührte, seine ganze Weltbetrachtung unmittelbar zu Einem großen Gedicht, den Ihr, wiewohl er kaum mehr als die ersten Laute wirklich ausgesprochen hat, den reichsten Dichtern beigesellen müsst, den seltenen, die ebenso tiefsinnig sind als klar und lebendig“. Dieser Jüngling mit seiner Christusliebe erscheint Schleiermacher als das edelste Vorbild des frommen Künstlers.[61] Novalis war wirklich seiner Denkrichtung nach mit Schleiermacher nahe verwandt. Beide Geister wurzeln ja auch im Herrnhuterthum. Beide bringen dieselbe tiefreligiöse Veranlagung mit. Novalis ist daher von den „Reden“ am meisten ergriffen unter den Jenenser Freunden.[62] Wie mächtig sie sein ganzes Inneres erregten und verwandte Ideen und Stimmungen in drängender Fülle auslösten, lässt sich auf Schritt und Tritt verfolgen. Fast alle wesentlichen Gedanken Schleiermachers über die Religion finden sich modificiert, subjectiv angewendet, besonders gerne in Aphorismen voll kräftiger Poesie eingekleidet, bei dem jungen Dichter wieder. Da heißt es: „Alle absolute Empfindung ist religiös.“[63] „Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgend ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.“[64] „Alle unsere Neigungen scheinen nichts als angewandte Religion zu sein; das Herz scheint gleichsam das religiöse Organ.“[65] Auch Novalis wendet sich gegen die Aufklärer, die alles Wunderbare und Geheimnisvolle von der Religion abwaschen möchten.[66] Aufklärung und Religionsverachtung ist ihm ungefähr das nämliche und ebenso innigstes, höchstes Fühlen und Religion. Sein Idealbild religiösen Lebens projiciert Novalis in das Mittelalter, ähnlich wie Wackenroder, aber auch zugleich hoffnungsfreudig in eine bessere Zukunft. Mit tiefer Sehnsucht schaut er im Aufsatze „Die Christenheit oder Europa“ (1799)[67] in die alte Zeit zurück, in der die Religion als die Centralsonne des Lebens galt. Und nach dem Alten hatte er sich schon in den „Hymnen an die Nacht“ gesehnt.
So wenig wie Wackenroder oder Schleiermacher, schließt sich Novalis einer kirchlichen Lehre an, wenn er auch gerne seine Gedanken mit kirchlichen Worten stilisiert und das katholische Mittelalter preist und sogar innige Marienlieder dichtet.[69] Und wenn er auch mit verschiedenen Gedanken katholischen Ideen recht nahe kommt: er meint zunächst doch immer das phantastische Idealbild einer Religion, wie es seine Dichterseele träumt. Pantheismus und Christenthum stehen auch bei ihm hart nebeneinander. Wie Schleiermacher denkt auch Novalis über das Wunder.[70] Wie für Schleiermacher Religion und Kunst, sind für ihn Poesie und Mysticismus nahe Verwandte.[71] Auch für Novalis gibt es kein abgeschlossenes System.[72] Novalis’ Seele ist voll Schleiermacher’scher Frömmigkeit. Wohin wir blicken, die Saat des Berliner Redners sprosst und treibt mit üppiger Kraft in den geheimnisvollen Tiefen dieses merkwürdigen Gemüthes. Es ist von den „Reden“ in der That „ganz eingenommen, durchdrungen, begeistert und entzündet“.[73]
Novalis verehrte schon Tieck als den Dichter der „Volksmärchen“, bevor er ihm persönlich begegnete. In Jena nun treffen sich beide im Sommer 1799. Erstes Begegnen, entgegenkommendes Verstehen, schwärmerisches Freundschaftschließen: all das war das Werk eines Tages.[74] Tieck glaubte seinen Wackenroder in verklärter Gestalt wiederzubesitzen. Leider musste er auch diesem Freunde gar bald Trauersonette als Todtenopfer weihen.[75] Diese neue Freundschaft ist wieder so enthusiastisch wie jene mit Wackenroder. Ist doch Novalis ebenso herzlich und fromm und liebenswürdig und dabei mit einem weitreichenden geistigen Blicke begabt, ein jugendfroh und gewaltig aufstrebender Dichter und Denker, der bei aller Frömmigkeit auch alle Bildung des Zeitalters, insbesondere die naturphilosophische, durstig in seine Seele saugen und dichterisch in einer großen Romanserie verklären möchte. Das war gewiss ein richtiger Umgang für Tieck, als er schon an seiner „Genoveva“ arbeitete. In dieser Freundschaft konnte auch seine religiöse Stimmung neues kräftiges Leben schöpfen und einzelne Spuren des freundschaftlichen Gedankenaustausches sind wiederum in Tiecks Dichtung erkennbar. Wie Novalis im Aufsatze: „Die Christenheit oder Europa“ den Leser aus der nüchternen, unfrommen Gegenwart in die schönen glänzenden Zeiten des katholischen Mittelalters führt, so weist der heilige Bonifacius Tiecks als Prologsprecher in die gläubige, altdeutsche Zeit zurück, die so ganz das Gegentheil der glaubenslosen Jetztzeit war. Wenn Novalis auf den geheimnisvollen Weg nach innen zeigt und nach Schleiermachers Beispiel eine Herzensreligion, eine Frömmigkeit des innerlichsten Lebens fordert, so meint der Leser der „Genoveva“ im Sonette des Capellans[76] einen Schüler Hardenbergs zu vernehmen. Novalis war auch der erste im romantischen Kreise, der direct die katholische Religion als solche im ganzen Umfange, wenn auch subjectiv ausdeutend, mit Entzücken pries. Gemeinsam wollten ferner die Freunde geistliche Lieder und Predigten herausgeben und sie Schleiermacher widmen.[77] Novalis’ „Geistliche Lieder“ erwuchsen auch bald aus dieser hochgesteigerten religiösen Stimmung heraus und auch im „Ofterdingen“ sind Anklänge an die „Reden“ bemerkbar. Tieck wollten die geistlichen Lieder nicht gelingen[78] und von den Predigten ist bei ihm überhaupt nicht weiter die Rede. Wenn uns aber Tieck sagt, dass er verschiedene „Vorsätze und poetische Stimmungen“, die ihn damals beherrschten, in seine „Genoveva“ hineingearbeitet habe, so lassen unsere Betrachtungen ahnen, was einmal unter den „Stimmungen“ gemeint ist. Wohl nichts anderes, als die neue religiöse Begeisterung und die Schwärmerei für altdeutsches Wesen, die sich Tiecks wie der übrigen Genossen um diese Zeit bemächtigt hatte. Zu den „Stimmungen“ gehören vielleicht auch jene „leidenschaftlichen Zustände und unerwarteten Erfahrungen“ an sich selbst, über die sich nur eine dunkle Andeutung in einem späten Briefe an Solger findet.[79] Die „Vorsätze“ dann beziehen sich jedenfalls auf die geplanten geistlichen Lieder und Predigten.[80] Spuren der projectierten Predigten lassen sich in der „Genoveva“ fast noch erkennen. Novalis schrieb mehrere Einfälle über das Wesen der Predigt nieder, wie er es sich dachte. Darunter finden sich Gedanken, wie: „Die Predigt muss angewandte Religion enthalten.“[81] „Die katholische Religion ist gewissermaßen schon angewandte christliche Religion.“[82] „Predigten sollten eigentlich Legenden heißen, denn der eigentliche Stoff der Predigten ist der Legendenstoff.“[83] Von der wunderschönen Frau der Christenheit und von längst verstorbenen himmlischen Menschen, von Heiligen, predigten einst die Priester im schönen Mittelalter.[84] Jedermann kann Predigten halten und aus dem Schatze seiner Erfahrung göttliche Geschichte mittheilen.[85] (Freies Priesterthum wie bei Schleiermacher.) Nun sehen wir in Tiecks „Genoveva“ den Diener Wendelin in der Kapelle zu den Heiligenbildern hintreten und sie seinen Genossen, also einer kleinen Gemeinde, predigend erklären.[86] Wir sehen ein andermal Drago im Anschluss an die Lesung des Legendenbuches eine geistliche Anrede an Genoveva halten.[87] Hier spielt allem Anscheine nach das Predigtproject der beiden Freunde herein und das wäre vielleicht ein erkennbarer Rest jener „Vorsätze“, die in der Dichtung nachwirkten. —
Novalis und Tieck waren nicht die einzigen Bewunderer der „Reden“. Fast die ganze romantische Tafelrunde von Jena that wacker mit[88] und verschiedene religiöse Poesien erwuchsen aus den neuen Anregungen. Schon vor einem Jahre waren A.W. Schlegels Gemäldegespräche und geistliche Sonette über einige religiöse Bilder der Dresdner Gallerie sowie der bedeutsame Versuch romantischer Didaktik „Der Bund der Kirche mit den Künsten“ im Anschluss an Wackenroder-Tieck entstanden. Unter dem Einfluss der neuen religiösen Anregungen folgen die Neudichtungen alter Legenden und noch andere Gedichte mit religiösen Motiven. Das Christenthum ist in Jena bald „à l’ordre du jour“. Während es Hülsen zwar bei einer hellenisierenden, pantheistischen Naturreligion sich genügen lässt,[89] entfacht Steffens, ein junger Norweger und Tiecks Freund, seine Andacht an der sistinischen Madonna in Dresden.[90] Friedrich Schlegels „Ideen“ im „Athenäum“, die zwar manchmal von Schleiermacher abweichen, sogar manche Spitzen gegen die „Reden“ enthalten, sind nichtsdestoweniger nur ein Fortspinnen der in den „Reden“ ausgeführten und im persönlichen Verkehr mit Schleiermacher gewonnenen Anschauungen. Friedrich sinnt auf Mittel und Wege, die neugewonnenen Ideen für Poesie und Kunst fruchtbar zu machen. Das Ergebnis seines Nachdenkens ist im „Gespräch über die Poesie“ niedergelegt. Das Studium der Griechen hatte ihn belehrt, dass eine Mythologie, in der sich die tiefsten Welt- und Lebensanschauungen, die höchsten Ideale eines Volkes in unvergänglichen Typen zusammenkrystallisierten, in denen das, was sonst das Bewusstsein ewig flieht, sinnlich geistig zu schauen festgehalten ist, für die Poesie die allerwertvollste Basis sein kann. Diese richtige Beobachtung führt aber Schlegel, der vielleicht Schelling’schen Anregungen folgte, auf den bizarren Gedanken, die bewusste Schöpfung einer neuen Mythologie zu verlangen. Er selbst war schon eine Zeitlang mit keiner geringeren Absicht umgegangen, als der, eine neue Religion zu stiften.[91] Aber ein absichtliches Verkörpernwollen von Ideen in mythologischer Art bringt statt lebendiger Typen und Göttergestalten höchstens den Wechselbalg Allegorie zum Vorschein.[92] Schlegel selbst meint überdies, man könne auf verschiedenen Wegen dem neuen Ziele zustreben. Die älteren Mythologien seien wieder zu erwecken, um das Werden der neuen zu beschleunigen und das Studium der Naturphilosophie gewähre die heiligsten Offenbarungen. Daneben begegnet uns der Gedanke, die Deutschen müssten, um ihre Poesie zu erneuern, auf „die Quellen ihrer eigenen Sprache und Dichtung zurückgehen“ und die alte Kraft und den hohen Geist, der in den Urkunden der vaterländischen Vorzeit schlummert, wieder frei machen.[93] Über Religion und Poesie spricht Fr. Schlegel ähnlich wie Schleiermacher und Novalis.[94]
Was Fr. Schlegel wünschte, führte Tieck gleichzeitig schon zum Theile und in seiner Weise aus. Während Schlegel sich mit seiner Mythologie abmühte, geht Tieck mit kühner Leichtigkeit den Weg, den ihm seine lebendige religiöse Kunststimmung und die übrigen empfangenen Anregungen wiesen. Statt der antiken Mythologie, die ihm sein Leben lang fern blieb und statt der neuzuschaffenden, von der Schelling, Schlegel und Novalis träumten und die noch in recht nebeliger Ferne dämmerte, tritt bei Tieck die katholische Legende ein. Sie war für ihn ja längst nimmer todt. Alte Kunst und Dichtung, Calderon voran, bürgten ihm für die innere Lebenskraft derselben und er hatte auch mit eigenen Augen in Süddeutschland katholisches Leben und den Cultus der Heiligen in leibhafter Gegenwart mitangesehen. Er brauchte nur die Gestalten der vergessenen Legende mit der reichen religiösen Begeisterung, die ihm eben aus vielen Quellen zuströmte, zu durchwärmen und den Reichthum seiner Phantasie der Erneuerung des alten Büchleins dienstbar zu machen und es bedurfte für ihn keiner imaginären Mythologie mehr. Es war das der nächste und selbstverständlichste Weg, seinen dichterischen Wünschen Genüge zu thun.