Macht Judo Kinder stark? - Sebastian Liebl - E-Book

Macht Judo Kinder stark? E-Book

Sebastian Liebl

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Beschreibung

Die Studie "Macht Judo Kinder stark??" untersuchte über ein Schuljahr hinweg Wirkungen von Judo im Schulsport auf physische und psychosoziale Ressourcen. Hierbei wurden durch die systematische Verknüpfung einer quantitativen Längsschnittstudie und einer qualitativen Querschnittstudie sowohl objektiv messbare als auch subjektiv empfundene Wirkungen berücksichtigt. Die quantitativen und qualitativen Ergebnisse zeigen, dass Kinder mit Judo v. a. ihre Kraftfähigkeit verbessern können. Die qualitativen Resultate weisen zudem auf gute Rahmenbedingungen für die (positive) Beeinflussung von psycho-sozialen Ressourcen hin. Die quantitativen Ergebnisse zur Selbstwirksamkeit zeigen jedoch nur deskriptiv Zuwächse und keine signifikanten Veränderungen. Und die widersprüchlichen Resultate im Bereich der Empathie verdeutlichen den weiteren Forschungsbedarf.

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SportforumBand 29

Macht Judo Kinder stark?Wirkungen von Kämpfen im Schulsportauf physische und psychosoziale Ressourcen

SportforumDissertations- und HabilitationsschriftenreiheBand 29

Sebastian Liebl

Macht Judo Kinder stark?

Wirkungen von Kämpfen im Schulsport auf physische und psychosoziale Ressourcen

Dissertation zur Erlangungdes akademischen GradesDoktor der Philosophie (Dr. phil.)im Fach Sportwissenschaft

Eingereicht an der Kulturwissenschaftlichen Fakultätder Universität Bayreuth

Erstgutachter: Prof. Dr. Peter Kuhn (Universität Bayreuth)Zweitgutachter: Prof. Dr. Ralf Sygusch (Friedrich-Alexander-UniversitätErlangen-Nürnberg)

Meyer & Meyer Verlag

Herausgeber der Schriftenreihe Sportforum:Prof. Dr. Hans-Peter Brandl-BredenbeckProf. Dr. Wolf-Dietrich BrettschneiderProf. Dr. Christoph BreuerProf. Dr. Ulrike BurrmannProf. Dr. Dieter HackfortProf. Dr. Erich MüllerProf. Dr. Ralf SyguschProf. Dr. Walter Tokarski

Betreuer dieses Bandes:Prof. Dr. Ralf Sygusch

Macht Judo Kinder stark?Wirkungen von Kämpfen im Schulsport aufphysische und psychosoziale Ressourcen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2013 by Meyer & Meyer Verlag, AachenAuckland, Beirut, Budapest, Cairo, Cape Town, Dubai, Hägendorf,Indianapolis, Maidenhead, Singapore, Sydney, Tehran, WienMember of the World Sport Publishers’ Association (WSPA)Druck: Beltz Druckpartner GmbH & Co. KGISBN 9783898997805eISBN 9783840334696E-Mail: mailto:verlag@m-m-sports.comwww.wissenschaftundsport.dewww.dersportverlag.de

MACHT JUDO KINDER STARK?

Wirkungen von Kämpfen im Schulsport auf physische und psychosoziale Ressourcen

Sebastian Liebl

Inhalt

Zusammenfassung

Einleitung

1 Sozialisationsbedeutung des Sports

1.1 Theoretischer und empirischer Hintergrund zu Sozialisation und Sport

1.1.1 Sozialisation als dynamischer Interaktionsprozess

1.1.2 Modell der sportbezogenen Sozialisation

1.1.3 Einblicke in den Forschungsstand

1.2 Zusammenfassung

2 Sozialisationsbedeutung der Kampfsportart Judo

2.1 Theoretischer Hintergrund zum Thema Zweikampf

2.1.1 Kämpfen als Sport vs. Kämpfen als Kunst

2.1.2 Kämpfen im Kontakt vs. Kämpfen aus der Distanz

2.1.3 Miteinander im Gegeneinander

2.1.4 Bezug zur Lebenswelt von Kindern

2.2 Theoretischer Hintergrund zum Judo

2.2.1 Die Entwicklung von Bujutsu zu Budo

Exkurs: Der Begriff Budo und seine Bedeutungen

2.2.2 Das Kodokan-Judo und seine Grundsätze

2.2.3 Kanos optimistische Erziehungsansprüche

2.3 Potenzielle Sozialisationswirkungen von Judo

2.3.1 Potenzielle Wirkungen auf die physische Entwicklung

2.3.1.1 Förderung koordinativer Fähigkeiten

2.3.1.2 Förderung konditioneller Fähigkeiten

2.3.2 Potenzielle Wirkungen auf die psychosoziale Entwicklung

2.3.2.1 Förderung von Empathie

2.3.2.2 Förderung von Selbstwirksamkeit

2.3.3 Zusammenfassung

2.4 Forschungsstand zur Sozialisation im Kampfsport

2.4.1 Studienüberblick

2.4.2 Zusammenfassung

2.5 Fazit: Ein Modell der judobezogenen Sozialisation

3 Entwicklung der Fragestellungen

3.1 Theoretische Präzisierungen

3.1.1 Die physischen Untersuchungsmerkmale

3.1.2 Die psychosozialen Untersuchungsmerkmale

3.1.3 Forschung mit Kindern

3.2 Die Fragestellungen der Studie

4 Empirische Untersuchung

4.1 Vorüberlegungen zur Konzeption der Studie

4.2 Erhebungs- und Auswertungsmethoden

4.2.1 Motorische Tests (quantitative Untersuchung)

4.2.1.1 Auswahl der Motoriktest-Items und Durchführung der Erhebung …

4.2.1.2 Auswertung der motorischen Tests

4.2.1.3 Gütekriterien der motorischen Tests

4.2.2 Schriftliche Befragung (quantitative Untersuchung)

4.2.2.1 Auswahl der Fragebogen-Items und Durchführung der Erhebung …

4.2.2.2 Auswertung der schriftlichen Befragung

4.2.2.3 Gütekriterien der schriftlichen Befragung

4.2.3 Mündliche Befragung (qualitative Untersuchung)

4.2.3.1 Konzeption und Durchführung der mündlichen Befragung

4.2.3.2 Auswertung der mündlichen Befragung

4.2.3.3 Gütekriterien der mündlichen Befragung

4.3 Setting und Stichprobe

4.3.1 Beschreibung des Settings und der Stichprobe

4.3.2 Stichprobe der quantitativen Untersuchung

4.3.3 Stichprobe der qualitativen Untersuchung

4.4 Beschreibung des Unterrichtskonzepts

4.5 Design der Studie

5 Darstellung der Ergebnisse

5.1 Ergebnisse der quantitativen Untersuchung

5.1.1 Überprüfung der Voraussetzungen

5.1.2 Darstellung quantitativer Ergebnisse

5.1.2.1 Bedeutsame Ergebnisse: Physische Entwicklung

5.1.2.2 Bedeutsame Ergebnisse: Psychosoziale Entwicklung

5.1.3 Vergleich zwischen Untersuchungsgruppe 1 und 2

5.1.4 Zusammenfassung

5.2 Ergebnisse der qualitativen Untersuchung

5.2.1 Kurzbeschreibung der Interviewpartner

5.2.2 Darstellung qualitativer Ergebnisse

5.2.2.1 Kinderperspektive auf die physische Entwicklung

5.2.2.2 Kinderperspektive auf die psychosoziale Entwicklung

Exkurs: Kinderperspektive auf Mit- und Gegeneinander-Kämpfen

5.2.3 Zusammenfassung

5.3 Beantwortung der Fragestellungen

5.3.1 Antworten im Bereich der physischen Entwicklung

5.3.2 Antworten im Bereich der psychosozialen Entwicklung

6 Diskussion

6.1 Interpretation der Ergebnisse

6.2 Einordnung der Ergebnisse

6.2.1 Vergleich der Ergebnisse mit Resultaten anderer Studien

6.2.2 Einordnung der Ergebnisse in den theoretischen Rahmen

6.3 Methodenkritik und Ableitungen

6.3.1 Kritische Bewertung der empirischen Untersuchung

6.3.2 Ableitungen für die Praxis

6.3.3 Ableitungen für zukünftige Forschungsarbeiten

Schluss

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Zusammenfassung

Stark machende Wirkungen werden dem Judo seit seiner Entstehung zugeschrieben, wobei nicht nur ein Zuwachs körperlicher, sondern insbesondere auch psychosozialer Ressourcen postuliert wird. So resümierte bereits Jigoro Kano (1860-1938), der Begründer des Judo, dass Judo eine „Übung von Geist und Körper [sei], die für die Führung des Lebens und aller Angelegenheiten“ (Kano, 1976, S. 147) gelte. Auch das moderne Judo erfährt entsprechende Zuschreibungen. Der Deutsche Judo-Bund wirbt bspw. auf seiner Homepage, dass „die Sportart Judo (…) wie kaum eine andere zur ganzheitlichen Entwicklung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen“ beitrage und „die parallele Entwicklung von Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit und Geschicklichkeit (…) Kinder stark [mache]“ (DJB, 2011a).

Die Studie überprüft physische und psychosoziale Sozialisationswirkungen des Judo am Beispiel von schulischen Sport-Arbeitsgemeinschaften (Sport-AGs). Für die empirische Untersuchung wurden an fünf Grundschulen Judo-AGs eingerichtet. Das Training basierte auf der Grundlagenausbildung des Deutschen Judo-Bundes. Als Vergleichsgruppen dienten einerseits Sport-AGs, die keinen Kampfsport zum Inhalt hatten, und andererseits Kinder, die keinen organisierten Sport ausübten. Bei der Untersuchung kamen sowohl quantitative (motorische Tests, schriftliche Befragung) als auch qualitative (mündliche Befragung) Methoden zum Einsatz. Erstere wurden längsschnittlich erhoben. Die Interviews fanden am Ende des Untersuchungszeitraums statt.

Die Studie zeigt, dass Judo Kraftausdauer- und koordinative Fähigkeiten und insbesondere Kraftausdauer im Rumpfbereich signifikant verbessern kann. Darüber hinaus scheint Judo gute Rahmenbedingungen für die Förderung von Selbstwirksamkeit zu besitzen, eine grundlegende Wirkung konnte jedoch nicht belegt werden. Möglicherweise kommt diese erst in Verbindung mit einem spezifischen Konzept zur Förderung psychosozialer Ressourcen (vgl. Sygusch, 2007) zum Tragen. Die z. T. widersprüchlichen Ergebnisse bezüglich des Einflusses auf die Empathie deuten darauf hin, dass weiterer Forschungsbedarf besteht. Nach den Aussagen der Kinder kann Judo zur Selbstbehauptung und Reduktion der Angst vor Übergriffen beitragen. Sie sind auch der Meinung, Judo fördere Rücksichtnahme und Regelbewusstsein.

Einleitung

Kämpfen ist laut Fink (1979) eines der fünf Grundphänomene des menschlichen Daseins: „Der Mensch ist ebenso wesenhaft Sterblicher und Liebender, wie er Arbeiter, Kämpfer und Spieler ist“ (ebd., S. 424). Er meint dabei v. a. das Kämpfen um Herrschaft und betont deren Zweideutigkeit: Herrschaft „gilt als Segen, sofern sie die zügellose Gewalt eindämmt, das Menschenleben einrichtet und ordnet – und sie gilt als Fluch, sofern sie Überordnung und Unterordnung, [und damit] ein Machtgefälle verfestigt“ (ebd., S. 314). Kämpfen könne aber auch Inhalt eines Spiels sein, denn „das Spiel des Menschen hat keine andere Äußerungsdimension als eben die Lebensfelder unserer Existenz [gemeint sind die o. g. fünf Grundphänomene menschlichen Daseins; Anm. d. V.]“ (ebd., S. 401): „Wir spielen den Ernst, spielen die Echtheit, spielen Wirklichkeit, wir spielen Arbeit und Kampf, spielen Liebe und Tod“ (Fink, 2010, S. 19). Das Spiel ist für Fink eine symbolische Handlung und vergegenwärtige dadurch den Sinn von Welt, Leben und eben auch von Kämpfen (ebd., S. 28).

Die Gelegenheiten für spielerisch-freundschaftliche oder ernsthaft-aber-faire körperliche Auseinandersetzungen sind in unserer modernen Gesellschaft rar. Im privaten Bereich besteht eine Tendenz zur Ein-Kind-Familie (Hanke, 2002, S. 14) und je weniger Geschwister ein Kind besitzt, desto weniger potenzielle „Rauf- bzw. Kampfpartner“ stehen ihm zur Verfügung. Im öffentlichen Bereich werden körperliche Auseinandersetzungen missbilligt und meist unterbunden. Studien zur sogenannten „veränderten Kindheit“ (Fölling-Albers, 1995) zeigen, dass für eine Mehrheit der Kinder spontanes und unbeobachtetes Spiel immer seltener wird. Spielsituationen sind stattdessen zumeist arrangiert, pädagogisiert und beaufsichtigt. Nach Pilz (2003) ist das Verhalten von Pädagogen1 in diesem Kontext oftmals kontraproduktiv:

„Aufgrund der zunehmenden gesellschaftlichen Tabuisierung von körperlicher Gewalt, der erhöhten Sensibilität gegenüber körperlicher Gewalt werden in Kindergarten und Schule viel zu oft spielerische Balgereien und Raufereien von Aufsichtspersonen unterbunden, den Kindern und Jugendlichen somit die Erfahrungen im Umgang mit körperlicher Gewalt genommen“ (ebd., S. 11).

Beudels und Anders (2008, S. 15) sehen im Kämpfen nach schützenden Regeln primär den Sinn, einen strukturierten Rahmen bzw. ein legales Ventil für das Ausleben kindlicher Bewegungslust und archaischer Bedürfnisse zu bieten. Kindern wird so die Möglichkeit gegeben, natürliche Verhaltensweisen wie das spielerische Balgen auszuleben und gleichzeitig über ritualisierte Aggressionsformen destruktives Verhalten zu kanalisieren (Pilz, 2003, S. 11). „Kämpferische und aggressive Leidenschaften werden in der Form ‚zivilisierter’ Wettkämpfe ausgedrückt und nicht als ungezügelte barbarische Gewalt“ (Krüger, 1995, S. 368).

Mit der Möglichkeit, durch zivilisiertes bzw. kultiviertes Kämpfen kindliche Bewegungslust und archaische Bedürfnisse kontrolliert auszuleben, ist die Annahme verknüpft, dass Kämpfen unter bestimmten Voraussetzungen bedeutsam für die kindliche Entwicklung sein kann. Diese These wird seit den 1980er-Jahren von der Sportpädagogik zunehmend thematisiert. Den entscheidenden Impuls hierfür gab im deutschsprachigen Raum Funke (1988) mit seinem Artikel Ringen und Raufen, in dem er folgende Fragen aufwirft:

„Was bedeutet körperlich-handgreifliche Auseinandersetzung, was geht da vor, wenn sich Haut an Haut reibt, wenn einer flüchtet oder standhält, wenn die Muskeln in der Anstrengung schwellen, wenn einer obenauf ist und der andere buchstäblich unter ihm, was entwickelt sich ggf. falsch oder gar nicht, wenn der Biographie solche Erfahrungen fehlen?“ (ebd., S. 13).

Mittlerweile ist die normative Aufarbeitung des sportlichspielerischen Kämpfens weit fortgeschritten. Stellvertretend seien hier die Arbeiten von Beudels (Beudels, 2007; 2008a; 2008b; Beudels & Anders, 2008), Funke bzw. Funke-Wieneke (Funke, 1988; 1990; Funke-Wieneke, 1994; 1999; 2009), Happ (1983; 1998), Janalik (Janalik, 1992; 1997; 2000; Janalik & Knörzer, 1986), Kuhn (2008) sowie Lange und Sinning (2003; 2007) genannt. Sie stellen derzeit eine Entscheidungsgrundlage für die Integration bzw. Ausweitung des Kämpfens in den aktuellen Sportlehrplänen dar. Einen ersten Eindruck, was mit Kämpfen im Schulsport gemeint ist, gibt folgender Auszug aus dem aktuellen Sportlehrplan für Grundschulen in Nordrhein-Westfalen:

„Beim Ringen und Kämpfen im Sportunterricht steht der spielerische, regelgeleitete Aspekt der körperlichen Auseinandersetzung im Vordergrund. Oberstes Prinzip ist das verantwortungs-bewusste Handeln gegenüber der Partnerin/dem Partner bzw. der Gegnerin/dem Gegner, d. h., die Beherrschung von Emotionen und die Sorge um die körperliche Unversehrtheit der Partnerin bzw. des Partners müssen das Kräftemessen steuern. Hier ergeben sich nutzbringende Chancen, über die bewussten Erfahrungen unmittelbarer Körperkontakte ein rücksichtsvolles Miteinander in der Begegnung von Schwächeren und Stärkeren anzubahnen“ (NRW, 2008, S. 118).

Noch ist das kultivierte Kämpfen nicht in allen Bundesländern in den Lehrplänen verankert. So ist es beispielsweise im Sportlehrplan für Grundschulen in Bayern nicht als eigenständiges Bewegungsfeld berücksichtigt (KM Bayern, 2000). Ob jedoch im Lehrplan bereits erwähnt oder nicht, den spezifischen Erfahrungsmöglichkeiten, die sich durch ein verantwortungsvolles Miteinander im gegeneinander gerichteten Zweikampf erleben lassen, wird ein hoher pädagogischer Wert beigemessen. Diese reichen laut Lange und Sinning (2007) von der Aggressionsbewältigung und der Selbstbehauptung bis hin zur motorischen Geschicklichkeit und Kraftfähigkeit. Die beiden Autoren weisen jedoch darauf hin, dass die Thematisierung des Kämpfens und die damit verbundenen „Erwartungen und Wirkungshoffnungen“ (ebd., S. 9) auch als Reaktion auf zahlreiche, gesellschaftlich bedingte Problemlagen interpretiert werden können. Lange und Sinning setzen daher der Vielfalt unreflektierter Wirkungshoffnungen „eine differenzierte sportpädagogische Auseinandersetzung und Diskussion mit den vermeintlichen Wirkungen“ (ebd., S. 9) entgegen.

Eine solche normative Betrachtungsweise kann Aufschluss über die pädagogischen Möglichkeiten des Kämpfens im Schulsport verschaffen, allerdings ist dieser Zugang allein nicht ausreichend. Auf diese Problematik verweisen auch Beudels und Anders (2008, S. 25). Ihnen zufolge gibt es zwar im Bereich des kultivierten Kämpfens „auch ohne Vorliegen wissenschaftlich anerkannter Untersuchungen (…) pädagogisch-therapeutisch nutzbare Erkenntnisse, die (… ) in langfristigen, subjektiven Beobachtungen und Erfahrungen“ gewonnen wurden (ebd.). Dennoch weisen beide Autoren darauf hin, dass Anspruch und Wirklichkeit nicht immer identisch sein können und müssen. Schmoll (2010) fordert daher die Sportwissenschaft auf,

„die tatsächlichen positiven Möglichkeiten von Zweikampfsport in der Schule empirisch zu belegen. Feststellungen (…), dass Lehrkräfte bei der Durchführung von Unterrichtsvorhaben zum Zweikampfsport von zahlreichen positiven Wirkungen (z. B. Reduzierung von Nervosität) berichten und Schüler weniger unerwünschte Verhaltensweisen (z. B. Reduzierung von Beschimpfungen) zeigen, sind ohne empirische Belege wertlos“ (ebd., S. 4).

Die Studie Macht Judo Kinder stark? möchte diese Lücke schließen und einen Beitrag zur empirischen Aufarbeitung von Kämpfen im Schulsport leisten, indem am Beispiel des Schulsports Judo die Sozialisationswirkungen des kultivierten Miteinander-Kämpfens überprüft werden. Für die Auswahl von Judo sprechen mehrere Gründe:

• Der Lehrplan in Bayern umfasst derzeit 28 Sportarten. Judo ist neben Ringen und Selbstverteidigung eine der wenigen Kampfsportarten, die im Rahmen des differenzierten Sportunterrichts in Bayern angeboten werden dürfen (KM Bayern, 2011).

• Von neun derzeit in Bayern angebotenen Kampfsportarten stellt Judo die meisten Sport-Arbeitsgemeinschaften im Rahmen von „Sport nach 1“ (Kooperationsmodell für außerunterrichtlichen Schulsport; Laspo, 2011a, 2011b).

• Judo ist derzeit in Bayern die Kampfsportart mit der höchsten Beteiligung bei schulischen Teamwettbewerben (Laspo, 2011c).

• Judo ist momentan die einzige Kampfsportart, die im Rahmen von „JUGEND TRAINIERT FÜR OLYMPIA“ (Bundeswettbewerb für Schulen) angeboten wird (Laspo, 2011d).

• Judo ist nach der Bestandsaufnahme 2009 des Deutschen Olympischen Sportbundes mit 180.599 Mitgliedern der größte Verband der olympischen Kampfsportarten in Deutschland, gefolgt von Ringen (68.438), Boxen (63.656) und Taekwondo (60.754 Mitglieder; DOSB, 2011).

Außerdem werden dem Judo seit seiner Begründung „stark machende Wirkungen“ zugeschrieben. So resümierte bereits Jigoro Kano2 (1860-1938), dass Judo eine „Übung von Geist und Körper [sei], die für die Führung des Lebens und aller Angelegenheiten“ gelte (Kano, 1976, S. 147). Auch das moderne Judo erfährt entsprechende Zuschreibungen. Der Deutsche Judo-Bund wirbt etwa auf seiner Homepage, dass:

„die Sportart Judo (…) wie kaum eine andere zur ganzheitlichen Entwicklung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen“ beitrage; „die parallele Entwicklung von Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit und Geschicklichkeit (…) Kinder stark [mache]; der Kerngedanke der Kampfsportart Judo, einen Partner körperlich zu besiegen, ohne ihn zu verletzen, (…) in hohem Maße gewaltpräventiv [wirke] und (…) Verantwortungsgefühl“ vermittle; und „der kontinuierliche Fortschritt im Judo (… ) enorm zur Entwicklung von Selbstwertgefühl und Selbstbehauptung“ beitrage (DJB, 2011a).

Wie unterschiedlich und vielfältig die Wirkungsannahmen von Judo hinsichtlich der Entwicklung von Kindern sind, zeigt ein Blick in die aktuellen Unterrichtskonzepte3 für Judoanfänger und in Beiträge4, die sich mit den Chancen und Möglichkeiten des Schulsports Judo befassen. Die dort genannten Erwartungen lassen sich gliedern in:

• konditionelle Aspekte, z. B. Förderung der Leistungsfähigkeit von Arm-, Schulter- und Rumpfmuskulatur (Mosebach, 2012; Süssenguth, 1997; Clemens et al., 1989);

• koordinative Aspekte, z. B. Steigerung der koordinativen Leistungsfähigkeit (Pöhler et al., 2006; Süssenguth, 1997);

• fertigkeitsorientierte Aspekte, z. B. Förderung der Grundfertigkeiten Laufen, Springen und Rollen (Pöhler et al., 2006);

• gesundheitsorientierte Aspekte, z. B. Prävention von Sturzunfällen (Mosebach, 2012);

• soziale Aspekte, z. B. Gewaltprävention, Förderung von Rücksichtnahme und Empathie (Mosebach, 2012; Pöhler et al., 2006);

• motivationale Aspekte, z. B. Erwerb einer positiven Einstellung zu Judo (BJV, 2011a; 2011b; Lippmann, 2009);

• persönlichkeitsbezogene Aspekte, z. B. Förderung von Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit durch die Erfahrung der eigenen körperlichen Leistungsfähigkeit (Pöhler et al., 2006);

• kognitive Aspekte, z. B. Vermittlung von sportbiologischem und biomechanischem Grundwissen (Süssenguth, 1997) und

• übergreifende Aspekte, z. B. Erziehung durch judospezifische Rituale und Werte (Süssenguth, 1997).

Vor dem Hintergrund der in unserer Gesellschaft typischen Alltagsanforderungen und Entwicklungsaufgaben, mit denen Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren konfrontiert werden5, sind primär diejenigen Aspekte bedeutsam, die eine Stärkung der physischen und psychosozialen Ressourcen6 verheißen, denn diese können „ihrerseits einen Beitrag zur Bewältigung von Alltagsanforderungen und Entwicklungsaufgaben leisten“ (Sygusch, 2007, S. 11). Ob Judo wirklich physische und psychosoziale Ressourcen fördern und dadurch Kinder für die Bewältigung von Alltagsanforderungen und Entwicklungsaufgaben stärken kann, soll im Rahmen dieser Studie empirisch überprüft werden. Die entsprechenden Fragestellungen lauten:

Fördert der Schulsport Judo

1) die physische Entwicklung von Kindern?

2) die psychosoziale Entwicklung von Kindern?

Bei der Präzisierung dieser Fragestellungen darf nicht der Eigenwert von Judo außer Acht gelassen werden. Diese Gefahr besteht, denn der Eigenwert liegt eben gerade nicht in den möglichen Wirkungen begründet: Ziel und Sinn von Judo liegen stattdessen – in Anlehnung an Grupe (1975, S. 122) – im subjektiven Vergnügen, in der Freude und im Auskosten der Spannungsmomente des Miteinander-Kämpfens. Die physische und psychosoziale Entwicklungsförderung bleibt daher als Ziel immer sekundär und Judo wird letztlich „nicht um ihretwillen betrieben“ (ebd.). Da Judo jedoch ohne bestimmte physische und psychosoziale Merkmale nicht möglich wäre, sind bestimmte Sozialisati-onswirkungen nicht nur Ergebnis, sondern zugleich auch Voraussetzung (z. B. der Erwerb von Körperspannung durch Judo, die ihrerseits Bedingung für bestimmte Wurftechniken ist; oder das Erlernen, Einhalten und Verinnerlichen von Regeln und Ritualen, die Kanos Judo auszeichnen). Solche judoimmanenten Sozialisationswirkungen sollten in Anlehnung an Grupe (1975, S. 122) „in der pädagogischen Betrachtung nicht außer Acht gelassen werden“, sofern sie „absichtslos und nebenbei“ entstehen:

„Unter diesen Gesichtspunkten erscheint es durchaus als pädagogisch legitim, die Möglichkeiten des Sports für Sozialisation und Entwicklung, Bildung von Einstellungen und Haltungen zu betonen; solange diese gleichsam von selbst ihre Wirkung entfalten, als sport-immanente Gehalte und Normen erfahren und gegebenenfalls auch angenommen werden, wird das Wesen des Sports jedenfalls nicht verfälscht“ (ebd., S. 122).

In dieser Studie werden daher zunächst die Sozialisationsbedeutungen des Sports im Allgemeinen (1. Kapitel) und des Judo im Besonderen (2. Kapitel) beleuchtet. Vor diesem Hintergrund werden die zwei o. g. Fragestellungen präzisiert (3. Kapitel). Diese werden anschließend mithilfe einer quantitativen Längsschnittstudie und einer qualitativen Querschnittstudie beantwortet (4. Kapitel). Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt im fünften Kapitel. Wie die Ergebnisse zu bewerten sind und in die aktuelle Diskussion eingebracht werden können, zeigt das sechste Kapitel auf.

 

1 Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet.

2 Begründer des Judo (siehe Abschnitt 2.2).

3Judo-Grundlagenausbildung des Deutschen Judo-Bundes für unter 11-Jährige (Lippmann, 2009); Judo spielend lernen – Unterrichtsprogramm des Deutschen Judo-Bundes für Vor- und Grundschulkinder zwischen fünf und sieben Jahren (Pöhler, Dax-Romswinkel, Ehnes, Kleegräfe, Lippmann, Saam & Schäfer, 2006); Jugendgesamtkonzept und Rahmentrainingsplan des Bayerischen Judo-Verbands für unter 11-Jährige (BJV, 2011a; 2011b).

4Kämpfen und der Kampfsport (Mosebach, 2012); Judo im Schulsport – Chancen und Möglichkeiten (Süssenguth, 1997); Judo als Schulsport (Clemens, Metzmann & Simon, 1989).

5 Nach Brettschneider und Gerlach (2004) sind dies:

• körperliche Geschicklichkeit, die für Spiele notwendig ist, erwerben;

• positive Einstellung zu sich als wachsendem Organismus gewinnen;

• lernen, mit Altersgenossen auszukommen;

• geschlechtertypisches Rollenverhalten einüben;

• Gewissen, Moral und Wertprioritäten aufbauen;

• Einstellungen gegenüber sozialen Gruppen und Institutionen entwickeln;

• kognitive Konzepte und Denkschemata für den Alltag entwickeln und

• grundlegende Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen entwickeln.

6Ressourcen sind Unterstützungsquellen, die zur Bewältigung alltäglicher und besonderer Anforderungen beitragen (BZgA, 2001, S. 17; vgl. Sygusch, 2007, S. 11); physische Ressourcen sind körperliche Potenziale einer Person (z. B. physiologische Parameter oder motorische Fähigkeiten), die zur Bewältigung alltäglicher und besonderer Aufgaben beitragen (vgl. Sygusch, 2007, S. 11); psychosoziale Ressourcen sind personale (z. B. Selbstkonzept oder Selbstwirksamkeit) und soziale Potenziale (z. B. soziale Kompetenzen oder sozialer Rückhalt) einer Person, die zur Bewältigung alltäglicher und besonderer Aufgaben beitragen (Sygusch, 2007, S. 11, 50).

1 Sozialisationsbedeutung des Sports

Im ersten Kapitel wird dargestellt, dass dem Sport eine grundlegende Bedeutung für die Sozialisation von Kindern zukommen kann. Hierfür werden im Abschnitt 1.1 die Zusammenhänge von Sozialisation und Sport aufgezeigt und im Abschnitt 1.1.3 der Forschungsstand zusammengefasst.

Die Literaturauswahl orientiert sich an Autoren aus den Fachbereichen der pädagogischen Psychologie (u. a. Helmke, 1992; Hurrelmann, 1983, 2002, 2006; Magnusson, 1990; Moschner & Dickhäuser, 2006; Sonstroem, 1997) und der empirischen Sportpädagogik bzw. Sportpsychologie (u. a. Bräutigam, 2008; Brettschneider & Gerlach, 2004; Burrmann, 2008a; Burrmann, 2008b; Conzelmann, 2008; Gabler, Nitsch & Singer, 2000; Gerlach, 2008; Gerlach & Brettschneider, 2008; Sygusch, 2007; 2008). Diese Autoren haben wesentlich dazu beigetragen, das Phänomen der Sozialisation zu beschreiben und den Zusammenhang zwischen Sozialisation und Sport aufzuarbeiten.

1.1 Theoretischer und empirischer Hintergrund zu Sozialisation und Sport

1.1.1 Sozialisation als dynamischer Interaktionsprozess

Zum besseren Verständnis der kindlichen Sozialisation durch sportliche Aktivität werden zunächst die prototypischen Betrachtungsweisen Sozialisations- und Selektionsperspektive unterschieden. Anschließend wird der eigentliche Sozialisationsprozess näher beschrieben und auf Kinder im Grundschulalter bezogen (Sozialisation als dynamischer Entwicklungsprozess). Am Ende des Abschnitts werden erste forschungsrelevante Ableitungen für die Untersuchung von Sozialisationswirkungen im Sport wiedergegeben (der dynamische Interaktionismus als Rahmenkonzeption).

Sozialisations- und Selektionsperspektive

Im Rahmen der Wirkungsforschung geht es immer auch um die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Diese ist oftmals nicht unmittelbar transparent. In Bezug auf Judo lässt sich beispielsweise rückblickend nicht mehr nachvollziehen, ob jemand durch intensives und langes Üben ein guter Judoka7 wurde, oder ob diese Person von Beginn an bestimmte physische und psychosoziale Eigenschaften besaß, die es ihm ermöglichten, Judo langfristig auf hohem Niveau zu betreiben. Hinter diesem Problem steckt die allgemeine Frage, ob die Sportbeteiligung die Entwicklung von physischen und/oder psychosozialen Merkmalen beeinflusst oder ob umgekehrt physische und/oder psychosoziale Merkmale die Grundlage für das Sporttreiben darstellen. Diese Frage enthält letztlich zwei prototypische, auf den ersten Blick gegeneinander gerichtete Wirkungen bzw. Ansätze (Gerlach, 2008; Sonstroem, 1997):

• Die Selektionshypothese bzw. der Self-Enhancement-Ansatz geht davon aus, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale für die Aufnahme einer sportlichen Aktivität verantwortlich sind.

• Die Sozialisationshypothese bzw. der Skill-Development-Ansatz geht davon aus, dass sportliches Engagement Einfluss auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale nimmt.

Beide Annahmen erscheinen plausibel, wenn davon ausgegangen wird,

„(a) dass am Zustandekommen jeder komplexen Leistung immer die ganze Person beteiligt ist, also auch bei der sportlichen Leistung Persönlichkeitsmerkmale eine mehr oder weniger mitentscheidende Rolle spielen und (b) dass ein längeres intensives Sporttreiben und die mit ihm verbundene Konfrontation mit bestimmten sportmotorischen Anforderungen, mit Erfolgs- und Misserfolgserlebnissen, mit sportspezifischen Rollen, Normen und Werten, die Einbindung in eine bestimmte soziale Gruppe und bestimmte soziale Interaktionen usw. nicht ohne Rückwirkung auf die betreffende Person bleiben werden“ (Gabler, Nitsch & Singer, 2000, S. 296).

Heute wird angenommen, dass sich beide Kausalbeziehungen gegenseitig beeinflussen (Moschner & Dickhäuser, 2006). Dies bedeutet aber nicht, dass sich Selektions- und Sozialisationsprozesse stets die Waage halten. So dominieren beispielsweise beim Selbstkonzept – dem mentalen Modell einer Person über ihre Fähigkeiten und Eigenschaften (ebd.) – in Übergangsphasen Selektionseffekte, während in Konsolidierungsphasen Sozialisationseffekte im Vordergrund stehen (Helmke, 1992).

Sozialisation als dynamischer Entwicklungsprozess

Judo stellt – für Kinder, die Judo betreiben – einen Lebensbereich neben vielen anderen dar. Um überprüfen zu können, ob dieser Bereich für ihre Entwicklung förderlich sein kann, muss der Prozess der Sozialisation differenziert betrachtet werden. Denn nicht alle Aspekte der Persönlichkeit können gleichermaßen durch die Umwelt beeinflusst werden. Beeinflussbar sind laut Conzelmann und Hänsel (2008) sowie Gerlach und Brettschneider (2008):

• Handlungs-/Bewertungsdispositionen wie das Selbstkonzept, aber auch der Selbstwert oder die Selbstwirksamkeit;

• Aspekte der persönlichen Leistung, wie z. B. Intelligenz im kognitiven Bereich, technische Fertigkeiten und konditionelle bzw. koordinative Fähigkeiten im motorischen Bereich sowie soziale Kompetenzen.

Die genetische Ausstattung bzw. stabile Persönlichkeitsmerkmale, wie die sogenannten Big Five (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit), sind hingegen nicht bzw. kaum beeinflussbar (Gerlach und Brettschneider, 2008). Dennoch spielen letztlich alle Persönlichkeitsbereiche und -aspekte eine Rolle, da am Zustandekommen einer komplexen Leistung immer die ganze Person beteiligt ist:

„Sozialisation bezeichnet den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Auseinandersetzung mit der sozialen und materiellen Umwelt (‚äußere Realität’) und den natürlichen Anlagen der körperlichen und psychischen Konstitution (‚innere Realität’)“ (Hurrelmann, 2006, S. 730).

Das Verständnis von Sozialisation als Prozess der ständigen Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Realität basiert auf der Grundannahme, dass der Mensch durch die soziale, kulturelle, ökonomische und physikalische Umwelt geprägt wird und sich gleichzeitig auf eine jeweils individuelle Weise mit dieser Umwelt auseinandersetzt und, soweit wie möglich, durch aktives Handeln auf sie einwirkt (Hurrelmann, 2006). Der Mensch ist dabei als ein produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt anzusehen (Bräutigam, 2008; Hurrelmann, 1983). Demnach ist nach Bräutigam (2008)

„einerseits unterstellt, dass das Individuum sein Handeln auf der Grundlage der aktiven Verarbeitung je vorfindlicher Realitäten selbst konstituiert und dabei in der Lage ist, sein Verhalten bewusst und zielgerichtet anzulegen und zu organisieren“ (ebd., S. 30).

Andererseits bedeutet dies, dass Individuen ihr eigenes Handeln reflektieren und als subjektive Erfahrungen verarbeiten. „Im Zuge dieser Verarbeitungsprozesse verändern und entwickeln sich die handelnden Personen weiter und bilden im Zeitverlauf ihre je individuelle Handlungs- und Erfahrungsgeschichte aus“ (ebd.). Das Bild des Menschen als produktiv realitätsverarbeitendes Subjekt (Hurrelmann, 1983) bezieht sich nicht nur auf Erwachsene. Auch Kinder sind aktiv Handelnde und (Mit-)Gestaltende ihrer Wirklichkeit (Mey, 2006).

Abb.1 verdeutlicht das Verständnis von Sozialisation als Auseinandersetzung zwischen innerer und äußerer Realität: Während aufseiten der inneren Realität nicht alle Bereiche der Persönlichkeit gleichermaßen durch die Umwelt beeinflusst werden können, sind aufseiten der äußeren Realität nicht alle Aspekte zur gleichen Zeit von Bedeutung.

Abb. 1: Sozialisation als Prozess (Hurrelmann, 2006)

Für die Zielgruppe Kinder im Grundschulalter sind insbesondere Organisationen bzw. Institutionen der unmittelbaren sozialen und räumlichen Umgebung sozialisationsrelevant (Hurrelmann, 2006, S. 735):

• soziale Netzwerke, z. B. Familien, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Gleichaltrigengruppe, Freundeskreis;

• organisierte Sozialisationsinstanzen, z. B. Grundschule, Hort, Heim;

• soziale Organisationen, z. B. Vereine;

• Massenmedien.

In den letzten 50 Jahren hat sich nach Hurrelmann (2006) eine Kombination aus familiärer und außerfamiliärer Kinderbetreuung durchgesetzt. „Für die meisten Kinder bedeutet die[se] Mischung verschiedener Betreuungsverhältnisse, dass sie sich im Laufe eines normalen Tages an mehreren Orten aufhalten“ (ebd., S. 735f.). Eine Kombination aus verschiedenen Sozialisationsinstanzen findet sich auch im Bereich des Sporttreibens wieder: Kinder sind a) innerhalb sozialer Netzwerke (z. B. Fußball spielen mit den Nachbarskindern auf dem Bolzplatz), b) innerhalb organisierter Sozialisationsinstanzen (z. B. Schwimmen lernen im Rahmen des Schulsports) und c) innerhalb sozialer Organisationen (z. B. Turntraining im Sportverein) sportlich aktiv.

Die Realität des Sports konfrontiert sie dabei insbesondere mit folgenden Entwicklungsaufgaben (vgl. Brettschneider & Gerlach, 2004; vgl. Einleitung):

• Erlernen körperlicher Geschicklichkeit;

• Aufbau einer positiven Einstellung zu sich als wachsender Organismus;

• lernen, mit Altersgenossen auszukommen;

• Einüben geschlechtertypischer Rollen;

• Aufbau von Gewissen, Moral und Wertprioritäten;

• Entwickeln von Einstellungen gegenüber sozialen Gruppen/Institutionen.

Der dynamische Interaktionismus als Rahmenkonzeption

Als Rahmenkonzeption für den Prozess der reziproken Beeinflussung von Person/Persönlichkeit und Situation/Umwelt bietet sich nach Conzelmann (2008) der dynamische Interaktionismus an, „weil mit der simultanen Betrachtung der auf das aktuelle Verhalten bezogenen Funktionsweise und der Veränderung dieser Funktionsweise in der Ontogenese eine Verbindung zwischen Persönlichkeit und Entwicklung hergestellt wird“ (ebd., S. 50). Die Grundannahmen der dynamisch-interaktionistischen Perspektive fasst Magnusson (1990) wie folgt zusammen:

„(1) An individual develops and functions as a total, integrated organism; current functioning and development do not take place in single aspects per se, in isolation from totality. (2) An individual develops and functions in a dynamic, continuous and reciprocal process of interaction with his or her environment. (3) The characteristic way in which an individual develops and functions, in interaction with the environment, depends on and influences the continuous reciprocal process of interaction among subsystems of mental and biological facts“ (ebd., S. 196).

Verhalten und Entwicklung werden in diesem Ansatz bewusst verknüpft. Beides wird als kontinuierlicher und reziproker Prozess verstanden, der bereits auf organischer Ebene stattfindet und bis zur Person-Umwelt-Interaktion reicht (vgl. Conzelmann, 2008, S. 52f; Magnusson, 1990, S. 197-210):

• Intraorganismische Interaktion: Genetische, physiologische und neurale Faktoren beeinflussen in einem reziproken Interaktionsprozess die Funktionsweise eines Individuums und damit individuelles Verhalten. Umgekehrt wird die Organisation der intraindividuellen Teilsysteme vom Verhalten und den dabei gemachten Erfahrungen beeinflusst.

• Extraorganismische Interaktion: Die Umwelt lässt sich in mehr oder weniger komplexe Teilsysteme differenzieren (z. B. Zuhause, Nachbarschaft, Schule, Verein usw.), die wiederum in einem kontinuierlichen, reziproken Wechselspiel zueinander stehen.

• Person-Umwelt-Interaktion: Verhalten und Entwicklung eines Individuums wird von seiner Umwelt (bzw. seinen Umweltteilsystemen) beeinflusst. Umgekehrt beeinflusst ein Individuum durch sein Verhalten seine Umwelt (bzw. seine Umweltteilsysteme). Die Handlungen dienen zudem der Vermittlung zwischen intra- und extraorganismischer Organisationsebene.

Die Sichtweise des dynamischen Interaktionismus hat laut Conzelmann (2008, S. 53f.) folgende Konsequenzen für die Untersuchung von Sozialisationswirkungen im Sport:

• Unidirektionale Wirkungen sportlicher Aktivität auf die Persönlichkeitsentwicklung sind aufgrund der kontinuierlichen Wech selwirkung nicht zu erwarten. Selektions- und Sozialisationseffekte wechseln einander permanent ab und beeinflussen sich gegenseitig.

• Mit der Annahme, dass die Handlungen eines Individuums zwischen seinen biologischen Potenzialen und den Umweltgegebenheiten vermitteln, wird das Individuum als eigenaktiver Gestalter seiner Entwicklung aufgefasst. Gleichzeitig beeinflusst aber auch die Umwelt menschliches Verhalten und Entwicklung. „Eine Analyse ihres Einflusses kann aber nicht ohne Betrachtung des im Laufe der Ontogenese verändernden und interindividuell variierenden Persönlichkeitssystems erfolgen“ (ebd., S. 53).

• Die menschliche Entwicklung besitzt zwar einerseits eine Tendenz zur Stabilisierung. Da sie aber andererseits über nichtlineare Eigenschaften verfügt, spricht einiges dafür, nicht nach kausalen Zusammenhängen zwischen der Variable Sport und der Variable Persönlichkeitsentwicklung zu suchen; „insbesondere dann nicht, wenn die ganze Persönlichkeit in ihrem Entwicklungsverlauf betrachtet wird“ (ebd., S. 54). „Weder sportliche Aktivität noch die Persönlichkeitsentwicklung sind auf bestimmte Abschnitte des menschlichen Lebenslaufes beschränkt. Eine umfassende Bearbeitung der Sozialisationshypothese erfordert daher eine Lebensspannenperspektive“ (ebd., S. 54).

Der dynamische Interaktionismus stellt einen geeigneten theoretischen Rahmen dar, um die Komplexität der Beziehung zwischen Umwelteinflüssen und Persönlichkeitsentwicklung zu beschreiben. Um ihn auch für die empirische Überprüfung von Sozialisationswirkungen im Judo nutzen zu können, lassen sich in Anlehnung an Conzelmann (2008) folgende forschungsrelevante Konsequenzen ableiten:

• Einerseits muss die Rahmenkonzeption des dynamischen Interaktionismus durch kompatible, wenig komplexe, gegenstandsbezogene theoretische Konstrukte konkretisiert werden.

• Um dennoch nicht nur Teilaspekte der Persönlichkeit zu betrachten, muss andererseits ein solcher variablenzentrierter Zugang durch personenzentrierte Strategien ergänzt werden.

• Von der Umwelt beeinflussbare Aspekte der Persönlichkeit werden nicht nur von sportlicher Aktivität geprägt, sondern auch von anderen Indikatoren, wie z. B. Geschlecht oder kultureller Herkunft. Deshalb muss auch deren Einfluss untersucht werden.

• Das sportliche Setting steht in Wechselwirkung mit anderen Teilsystemen der Umwelt, z. B. Familie. Auch deren Einfluss gilt es zu untersuchen.

• Für die Untersuchung von durch die Umwelt beeinflussbaren Aspekten der Persönlichkeit sind multidisziplinäre und multimethodische Ansätze zu favorisieren.

• Sozialisationswirkungen sind nur in Längsschnittstudien adäquat zu untersuchen.

Die hier aufgezählten forschungsrelevanten Ableitungen aus der theoretischen Rahmenkonzeption des dynamischen Interaktionismus werden bei der Entwicklung der Fragestellungen berücksichtigt (siehe Abschnitt 3.2) und fließen in die Konzeption der empirischen Untersuchung ein (siehe Abschnitt 4.1).

1.1.2 Modell der sportbezogenen Sozialisation

Die oben dargestellte Vorstellung von Sozialisation als Prozess der ständigen Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Realität findet in der Sozialisationsforschung eine breite Zustimmung. Auch die sozialisationstheoretische Kinder- und Jugendsportforschung schließt mehrheitlich an interaktionale Konzeptionen an (Burrmann, 2008a; Conzelmann, 2008).

Im Zusammenhang von Sozialisation und Sport wird zwischen den Perspektiven Sozialisation zum, im und durch Sport unterschieden werden (Gerlach & Brettschneider, 2008; Sygusch, 2007; 2008):

• Mit der Perspektive Sozialisation zum Sport ist im engeren Sinne die Förderung von motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten gemeint, die zur Teilhabe an der Sportkultur befähigen (Gerlach & Brettschneider, 2008). In einem breiteren Verständnis schließt diese Perspektive aber auch alle weiteren Sozialisationswirkungen ein, die zur Aufnahme von bzw. Bindung an sportlicher Aktivität beitragen (Sygusch, 2007). Sozialisation zum Sport kann daher als Voraussetzung für die Perspektiven Sozialisation im und durch Sport angesehen werden.

• Im Mittelpunkt der Perspektive Sozialisation im Sport stehen sowohl Kompetenzen und Eigenschaften, die im Sport besonders gut erworben werden können, als auch Entwicklungsprozesse, die im Sport „implizit und nebenher“ ablaufen (Gerlach & Brettschneider, 2008, S. 193). „Sozialisation im Sport zielt auf den Gegenstand ‚Sport’“ (Sygusch, 2007, S. 21), der Transfer auf andere Lebensbereiche findet unter dieser Perspektive keine Berücksichtigung.

• Sozialisationswirkungen des Sports, die einen Transfer auf andere Lebensbereiche beinhalten, werden unter der Perspektive Sozialisation durch Sport betrachtet: „Sozialisation durch Sport zielt auf übersportliche Sozialisationsleistungen des Sports“ (Sygusch, 2007, S. 21).

Die Transferannahme folgt dem Gedanken, dass im Sport gestärkte Kompetenzen und Eigenschaften zur Bewältigung außersportlicher Alltagsanforderungen und zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen können. Nach Sygusch (2007) ist Sozialisation im Sport daher eine Voraussetzung für Sozialisation durch Sport:

„Wenn Sport systematisch zur Förderung allgemeiner psychosozialer Ressourcen beitragen soll (Sozialisation durch Sport), dann muss zunächst die Förderung solcher Ressourcen gewährleistet sein, die zur Bewältigung sportspezifischer Anforderungen von zentraler Bedeutung sind (Sozialisation im Sport). Erst wenn die Förderung sportartspezifischer psychosozialer Ressourcen, gelingt, können positive Transfereffekte auf allgemeine psychosoziale Ressourcen erwartet werden, die zur Bewältigung von Alltagsanforderungen beitragen“ (ebd., S. 22).

Für die Erfassung potenzieller Sozialisationswirkungen von Judo ist daher zuallererst die Perspektive Sozialisation im Sport relevant. Eine differenzierte Betrachtung dieser Sichtweise stellt die Grundlage für eine Untersuchung von Transferwirkungen dar. Denn erst wenn hier Wirkungen nachgewiesen werden können, kann gezielt nach Übertragungseffekten geforscht werden.

Inwiefern Sport einen Beitrag zur physischen und psychosozialen Entwicklung leisten kann, zeigt das heuristische, sportbezogene Sozialisationsmodell von Burrmann (2008a). Hier wird Sport als ein potenziell sozialisationsrelevantes Element der Lebensführung beschrieben (neben vielen anderen, wie z. B. Schule, Familie, Peers usw.), in dem Kinder und Jugendliche mit spezifischen Entwicklungsaufgaben konfrontiert werden (Abb.2). Sportengagements könnten daher laut Burrmann „(positive) Konsequenzen für die Bewältigung bestimmter Entwicklungsaufgaben haben“ (ebd., S. 25), z. B. für den o. g. Aufbau einer positiven Einstellung zu sich als wachsender Organismus.

Abb. 2: Sportbezogene Sozialisation (Burrmann, 2008a)8

Die Eckpunkte des Modells zur sportbezogenen Sozialisation skizziert Burrmann (2008a, S. 24f.) wie folgt:

• Grundannahme: Sozialisation als Prozess der ständigen Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Realität (s. o.; vgl. Hurrelmann, 2006). Die „innere Realität“ im Sport bilden insbesondere körperliche, (sport-)motorische Voraussetzungen und Erfahrungen sowie Einstellungen und Motive zum Sport. Die „äußere Realität“ setzt sich zusammen aus gesellschaftlichen Verhältnissen, sozialen Kontexten im Allgemeinen und sozialen sportbezogenen Kontexten im Besonderen.

• Lebenslagen „stecken den gesellschaftlich definierten ‚Rahmen‘ ab, in dem Kinder und Jugendliche ihre Lebensführung entwickeln und die darin eingebundenen Sportengagements verfolgen können“ (ebd., S. 24).

• Entwicklungsaufgaben: Jede Lebensphase konfrontiert Kinder und Jugendliche mit gesellschaftstypischen Alltagsanforderungen und Entwicklungsaufgaben. Es wird angenommen, dass zu deren Bewältigung physische und psychosoziale Ressourcen beitragen können.

• Lebensführung: Kinder und Jugendliche begegnen diesen Entwicklungsaufgaben in ihrer Lebensführung. Diese setzt sich aus mehreren Elementen (z. B. Sport- und Musikengagement) zusammen, die in Bezug auf den Lebenslauf entweder synchron (z. B. wöchentliches Sport- und Musikengagement in der Kindheit) oder diachron (z. B. Sportengagement in der Kindheit, Musikengagement in der Jugend) stattfinden können.

• Veränderungen über die Zeit: Die Auseinandersetzung mit Alltags- und Entwicklungsaufgaben innerhalb spezifischer Elemente der Lebensführung führt – so die Annahme – zu Anpassungen physischer und psychosozialer Dispositionen. Diese Anpassungen bedeuten eine Veränderung der inneren Realität und damit gemäß dem interaktionistischen Ansatz auch eine Veränderung der äußeren Realität.

Das dargestellte Modell der sportbezogenen Sozialisation stellt einen umfangreichen heuristischen Rahmen dar, welcher bei der empirischen Umsetzung reduziert werden muss (Burrmann, 2008a, S. 26). Hierfür werden die im vorherigen Abschnitt beschriebenen, forschungsrelevanten Konsequenzen (Conzelmann, 2008, S. 54f., 57) genutzt.

Im Modell wird deutlich, dass Sport nur ein Element der Lebensführung – neben vielen anderen, wie z. B. Musikengagement – darstellt. Diese Tatsache muss auch bei der Frage nach Effekten von Sport auf die Sozialisationsentwicklung von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt werden. Diese Frage steht im Mittelpunkt des folgenden Abschnitts.

1.1.3 Einblicke in den Forschungsstand

Wie oben gezeigt wurde, ist die Erforschung von Sozialisation im und durch Sport nur in Längsschnittstudien möglich, diese sind jedoch in der Sportwissenschaft immer noch Mangelware (Gerlach & Brettschneider, 2008).

Die wenigen repräsentativen Untersuchungen mit längsschnittlichem Design (Paderborner Längsschnittstudie zur Jugendarbeit im Sportverein von Brettschneider & Kleine, 2002; SET-Studie [Sportengagement und Entwicklung von Heranwachsenden. Eine Evaluation des Paderborner Talentmodells] von Brettschneider & Gerlach 2004; Gerlach 2008; Brandenburger Längsschnittstudie von Burrmann, 2004, 2008b; CAB-Study [Michigan Childhood and Beyond-Study] von Jacobs, Lanza, Osgood, Eccles & Wigfield, 2002; Jacobs, Vernon & Eccles, 2005; LOGIK-Studie [Longitudinalstudie zur Genese individueller Kompetenzen] von Weinert & Schneider, 1999; Schneider, 2008) belegen allenfalls kleine bzw. moderate Effekte von Sportengagement auf sportnahe Aspekte der Persönlichkeit (z. B. physisches Selbstkonzept). Positive Auswirkungen sportlicher Aktivität auf die allgemeine Persönlichkeitsentwicklung (Sozialisation durch Sport) weist lediglich die Studie von Burrmann (2004; 2008b) nach. Die Studie zeigt auf der einen Seite, dass sportliches Engagement im Verein bei Jugendlichen die Entwicklung eines positiven Körperbildes fördern und dadurch die allgemeine Selbsteinschätzung positiv beeinflussen kann. Auf der anderen Seite verdeutlicht sie, dass sportliche Kontexte aufgesucht werden, um das Selbstwertgefühl zu bestätigen (ebd., S. 101; Selektionshypothese).

Insgesamt lässt sich damit die Frage, ob Sport für Kinder und Jugendliche einen Motor der Persönlichkeitsentwicklung darstellt, nach Gerlach und Brettschneider (2009, S. 205) mit „dezentem Optimismus“ beantworten. Die Mitautoren des Zweiten Deutschen Kinder- und Jugendsportberichts sehen zwar die Tendenz einer Sozialisation im Sport bestätigt – ein Automatismus hinsichtlich der Beeinflussung durch Sport existiert jedoch nicht. Der Forschungsstand im deutschsprachigen Raum stimmt mit demjenigen im angloamerikanischen Raum überein. Fox (2002) analysierte 36 Studien, in denen die Wirkung sportlichen Engagements auf das Selbstkonzept von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen untersucht wurden. Während über drei Viertel der Studien (28) positive Veränderungen auf das physische Selbstkonzept zeigen, ist auch hier die Befundlage zu Auswirkungen sportlicher Aktivität auf das allgemeine Selbstkonzept inkonsistent.

Diese Befundlage führte im letzten Jahrzehnt auf der einen Seite zu einer gewissen Ernüchterung, was das Sozialisationspotenzial von Sport betrifft. Auf der anderen Seite entstand die Forderung nach einer systematischen Qualitätsentwicklung des organisierten Kinder- und Jugendsports9 und einer differenzierteren Kinder- und Jugendsportforschung:

„Von einer genaueren Erfassung des sportlichen Engagements mit Blick auf die relevanten Bedingungen und deren soziale Rahmung, Anforderungen und Qualität dürfte daher zukünftig ein erheblicher Erkenntnisfortschritt zu erwarten sein“ (Gerlach & Brettschneider, 2008, S. 205f.).

In diesem Zusammenhang werden auch Anforderungen und soziale Rahmungen einzelner Sportarten diskutiert (ebd.). Welche Sozialisationsbedeutung der Sportart Judo zukommt, wird in Kapitel 2 erörtert und im Rahmen der Studie empirisch überprüft.

1.2 Zusammenfassung

Im ersten Kapitel wurde gezeigt, dass Sport ein für die Entwicklung von Kindern bedeutsamer Lebensbereich sein kann: Er ist in allen sozialisationsrelevanten Organisationen bzw. Institutionen der unmittelbaren sozialen und räumlichen Umgebung anzutreffen und konfrontiert Kinder mit ihren Entwicklungsaufgaben. Sport ist dabei sowohl mit Reizen verknüpft, die zur Stärkung physischer Ressourcen führen können, als auch „mit Erfahrungen verbunden, die zur Ausbildung allgemeiner psychosozialer Ressourcen beitragen können“ (Sygusch, 2007, S. 11). Daher kann er möglicherweise einen Beitrag zur Bewältigung physischer und psychosozialer Alltagsanforderungen von Kindern leisten (z. B. Erlernen körperlicher Geschicklichkeit; Aufbau einer positiven Einstellung zu sich als wachsender Organismus; Lernen, mit Altersgenossen auszukommen).

Der Aufbau physischer Ressourcen entsteht im Wesentlichen durch die Anpassung an die körperlichen Anforderungen des Sports. Die Ausbildung psychosozialer Ressourcen entsteht, indem Kinder ihr eigenes Handeln im Sport reflektieren und als subjektive Erfahrungen verarbeiten. In beiden Fällen kann der Sozialisationsprozess aus drei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden: Sozialisation zum, im und durch Sport. Im Rahmen der Studie muss die Sozialisation zum Judo – im Sinne von Teilnahmefähigkeit und Teilnahmebereitschaft – zu einem gewissen Grad sichergestellt werden. Der Fokus der empirischen Untersuchung ist jedoch primär auf Sozialisation im Judo gerichtet, denn der Aufbau physischer und psychosozialer Ressourcen im Judo ist letztlich die Voraussetzung für eine mögliche Bewältigung außersportlicher Alltagsanforderungen durch Judo (vgl. Sygusch, 2007, S. 21f.).

Wie man sich den Prozess der Sozialisation im und durch Sport vorstellen kann, wurde im sportbezogenen Sozialisationsmodell von Burrmann (2008a) veranschaulicht. Hier wurde auch deutlich, dass Sport „nur“ ein Element der Lebensführung – neben vielen anderen wie z. B. Musikengagement – darstellt. Diese Tatsache ist m. a. W. eine Ursache für die allenfalls kleinen bzw. moderaten Effekte von Sportengagement auf Persönlichkeitsaspekte (z. B. physisches Selbstkonzept) (vgl. Abschnitt 1.1.3). Vor diesem Hintergrund ruft der zweite Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht zu einer differenzierteren Kinder- und Jugendsportforschung auf, in der u. a. die einzelnen Sportarten berücksichtigt werden (Gerlach & Brettschneider, 2008, S. 205f.).

Welche spezifischen Anforderungen und Erfahrungsmöglichkeiten die Sportart Judo beinhaltet und, damit verbunden, welche physischen und psychosozialen Ressourcen möglicherweise im Judo – ohne gezielte Intervention, sondern „absichtslos und nebenbei“ (Grupe, 1975, S. 122; vgl. Einleitung) – gefördert werden können, zeigt das folgende Kapitel auf.

 

7 Jap. „Person, die Judo ausübt“ (Hanelt, 2009, S. 48).

8 Die Abb. weist leichte Veränderungen zum Original auf. Stellenweise wurden andere Begriffe fett geschrieben und neue Begriffe ergänzt (z. B. „physische und psychosoziale Ressourcen“ statt „soziale und individuelle Ressourcen“).

9 Im Ersten Deutschen Kinder- und Jugendsportbericht ist zu lesen: „Um das pädagogische und soziale Potenzial, das im Sport steckt, (…) zu erschließen und zu nutzen, sind gezielte Interventionsprogramme nötig, die systematisch ausgewertet werden müssen. Statt immer neuer Aktionsprogramme sind Evaluationsprogramme vonnöten, mit denen eine systematische Qualitäts-entwicklung generiert wird“ (Schmidt, Hartmann-Tews & Brettschneider, 2003, S. 409).

2 Sozialisationsbedeutung der Kampfsportart Judo

Im zweiten Kapitel wird erörtert, welche Bedeutung Zweikampf im Allgemeinen (Abschnitt 2.1) und Judo im Besonderen (Abschnitt 2.2) für die Sozialisation haben kann. Welche potenziellen Sozialisationswirkungen sich letztlich aus den Anforderungen und Erfahrungsmöglichkeiten des Judo in Bezug auf die Stärkung physischer und psychosozialer Ressourcen ableiten lassen, wird in Abschnitt 2.3 gezeigt. Der Forschungsstand zur Sozialisation im Kampfsport wird in Abschnitt 2.4 zusammengefasst, bevor abschließend ein Modell der judobezogenen Sozialisation aufgestellt wird (Abschnitt 2.5).

Bei der Literaturauswahl wurden insbesondere Autoren berücksichtigt, die einen wesentlichen Beitrag zur theoretischen Aufarbeitung des Phänomens Kämpfen (u. a. Binhack, 1998; Pfeifer, 2001; Lind, 2001; Tiwald, 2008), der Kampfsportart Judo und/oder des Bewegungsbereichs Kämpfen im Schulsport geleistet haben (u. a. Anders 2001; Beudels, 2007; Beudels & Anders, 2008; Bonfranchi, 2002; Funke, 1988; Funke-Wieneke, 1997; Happ, 1983, 2009; Janalik, 1997; Kano, 1976; Kuhn, 2008; Niehaus, 2003; Pöhler, 1985; Prohl, 1997).

2.1 Theoretischer Hintergrund zum Thema Zweikampf

Kämpfen kann nach Binhack (1998) als eigenständiges anthropologisches Phänomen verstanden und definiert werden als

„aktiv-reziproke antagonistische und ambivalente Beziehungsstruktur (…), die ihre Träger dazu geneigt macht, tendenziell alle Energien zu mobilisieren und sie im Anstreben der jeweiligen eigenen Durchsetzung auf eine die Konfrontation beendende Entscheidung zu zentrieren“ (ebd., S. 186).

Heutzutage existiert eine unüberschaubare Vielfalt solcher antagonistischer und ambivalenter Beziehungsstrukturen, die hier allgemein als Kampfsysteme bzw. -stile bezeichnet werden. Merkmale, nach denen die diversen Kampfsysteme – unabhängig von ihrer Herkunft – strukturiert werden können, sind nach Pfeiffer (2001, S. 17) und Happ (2009, S. 245):

• Kämpfen mit Waffen (z. B. Fechten, Bogenschießen) vs. Kämpfen ohne Waffen (z. B. Capoeira, Karate);

• „äußere“ Stile (Einsatz von Muskelkraft, z. B. Boxen) vs. „innere“ Stile (Einsatz metaphysischer Kräfte, z. B. Taijiquan);

• „harte“ Stile (Techniken, die dem Angriff dienen und/oder die sich einem Angriff entgegenstellen) vs. „weiche“ Stile (Techniken, die einem Angriff nachgeben bzw. ihn übernehmen und/oder umlenken);

• Kämpfen im Kontakt (z. B. Ringen, Judo) vs. Kämpfen aus der Distanz (z. B. Karate, Taekwondo);

• Kämpfen als Sport (z. B. Taijiquan als Wettkampfsport) vs. Kämpfen als Kunst (z. B. Taijiquan als Bewegungsmeditation).

Diese Strukturmerkmale stellen keine absoluten Kriterien dar, sondern Kontinua, in denen zahlreiche Kampfsysteme und -stile verortet werden können. So besitzt beispielsweise das Judo in Bezug auf das Strukturmerkmal „harte vs. weiche Stile“ sowohl harte (z. B. Hüftblock gegen die Bewegungsrichtung eines Wurfangriffs) als auch weiche Techniken (z. B. Ausweichen und Kontern in die Bewegungsrichtung eines Wurfangriffs).

Die Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Stil ist prinzipiell auch für das Judo relevant, spielt jedoch bei Kindern im Grundschulalter keine wesentliche Rolle. Denn die Betonung innerer Kräfte kommt – wenn überhaupt – erst im fortgeschrittenen Stadium zum Tragen. Auch das Kämpfen mit Waffen wird im Judo allenfalls nach jahrelangem Training bedeutsam, z. B. im Rahmen der Kodokan-Goshin-jutsu- bzw. Ju-no-Kata10. Diese beiden Strukturmerkmale finden daher im Folgenden keine weitere Berücksichtigung.

Mit den Merkmalen „Kämpfen als Sport vs. Kämpfen als Kunst“ (Abschnitt 2.1.1) sowie „Kämpfen im Kontakt vs. Kämpfen aus der Distanz“ (Abschnitt 2.1.2) sind hingegen Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten verknüpft, die bereits für Anfänger bzw. Kinder eine bedeutsame Rolle spielen können. Es kann daher vorläufig angenommen werden, dass insbesondere diese beiden Merkmale Antworten auf die Frage nach der Sozialisationsbedeutung des Kämpfens liefern können. Weitere Antworten werden darüber hinaus im Paradoxon sowohl miteinander als auch gegeneinander zu kämpfen (Abschnitt 2.1.3) und im Bezug des Kämpfens zur Lebenswelt von Kindern (Abschnitt 2.1.4) erwartet.

2.1.1 Kämpfen als Sport vs. Kämpfen als Kunst

Eine für den (sport-)pädagogischen Kontext relevante Unterscheidung ist das Kämpfen als Sport (bzw. Kampfsport) und das Kämpfen als Kunst