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Als der zwanzigjährige Art in einem Laden auf ein Foto stößt, das die Hinrichtung von Ludwig XVI. zeigt, gerät sein Leben aus den Fugen. Erst recht, als er erfährt, dass fünf weitere dieser Bilder existieren, die vergangene Ereignisse lange vor der Erfindung der Fotografie zeigen. Einst wurden die Meister der sechs magischen Familien, die den großen Königshäusern dienten, mit einem Zauber in diese sechs Fotografien verbannt. Als kurz darauf der Laden von finsteren Inquisitoren überfallen wird, die das Foto stehlen wollen, wird Art vollends in eine unglaubliche Verschwörung verstrickt: Offenbar will jemand die gefangenen Magier befreien. Und Art ist der Einzige, der die Bilder öffnen kann ...
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Seitenzahl: 520
Cover
Über das Buch
Über den Autor
Titel
Impressum
Einleitung
Stimmen aus dem Nichts
Nicéphore
Fuchsring
Der Ägypter
La Première
Hoffnungsschimmer
Houdin
Der Kopf des Königs
Der Henker
Ein neuer Plan
Monet
Awal
Die Spur
Ein Schuss im Dunkeln
Die Schlacht bei den Pyramiden
Die Farbe der Magie
Ungebetene Gäste
Im Angesicht der Herrscher
Berauscht
Kinder
Blind
Dreizehn
Ein vergiftetes Angebot
Über das Buch
Als der zwanzigjährige Art in einem Laden auf ein Foto stößt, das die Hinrichtung von Ludwig XVI. zeigt, gerät sein Leben aus den Fugen. Erst recht, als er erfährt, dass fünf weitere dieser Bilder existieren, die vergangene Ereignisse lange vor der Erfindung der Fotografie zeigen. Einst wurden die Meister der sechs magischen Familien, die den großen Königshäusern dienten, mit einem Zauber in diese sechs Fotografien verbannt. Als kurz darauf der Laden von finsteren Inquisitoren überfallen wird, die das Foto stehlen wollen, wird Art vollends in eine unglaubliche Verschwörung verstrickt: Offenbar will jemand die gefangenen Magier befreien. Und Art ist der Einzige, der die Bilder öffnen kann …
Über den Autor
Akram El-Bahay hat seine Leidenschaft, das Schreiben, zum Beruf gemacht: Er arbeitet als Journalist und Autor. Für seinen Debütroman „Flammenwüste“ wurde er mit dem Seraph Literaturpreis und dem RPC Award ausgezeichnet. Als Kind eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter ist er mit Einflüssen aus zwei Kulturkreisen aufgewachsen, deren Mythenwelt ihn gleichermaßen inspirieren. Er ist Mitglied des Phantastik-Autoren-Netzwerkes PAN. Der Autor lebt mit seiner Familie in Nordrheinwestfalen und tauscht sich gern auf Facebook und Instagram mit seinen Lesern aus.
Weitere Titel des Autors:
Die Flammenwüste-Trilogie
Die Vorgeschichte: Flammenwüste – Das Geheimnis der goldenen Stadt
Band 1: Flammenwüste
Band 2: Flammenwüste – Der Gefährte des Drachen
Band 3: Flammenwüste – Der feuerlose Drache
Die Bibliotheks-Trilogie
Band 1: Die Bibliothek der flüsternden Schatten – Bücherstadt
Band 2: Die Bibliothek der flüsternden Schatten – Bücherkönig
Band 3: Die Bibliothek der flüsternden Schatten – Bücherkrieg
Die Ministry-of-Souls-Dilogie
Band 1: Ministry of Souls – Das Schattentor
Band 2: Ministry of Souls – Die Schattenarmee
Die Magische-Bilder-Dilogie
Band 1: Magische Bilder – Die verschollenen Meister
Band 2: Magische Bilder – Der Meister der siebten Familie
Akram El-Bahay
MAGISCHE BILDER
Die verschollenen Meister
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Copyright ©2023 by Akram El-Bahay Diese Ausgabe 2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Textredaktion: Katja Hildebrandt, Blankenfelde Covergestaltung: Massimo Peter-Bille Covermotiv: © shutterstock: bogadeva1983 | Frame Art | Krakenimages.com | krusto | pixelparticle Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, PößneckISBN978-3-7517-4794-3
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Aus der Bibliothek der ungeschriebenen Bücher
»Das ist Magie, Artur.« Monsieur Rufus sah nicht einmal auf, als Art den kleinen Laden für Fotografie betrat, der versteckt in einer der Seitenstraßen nahe des Place de Clichy lag. Wieso weiß Monsieur Rufus eigentlich immer, dass ich es bin?, fragte sich Art. Der Engländer, der seine Kunden stets in einem eleganten Dreiteiler bediente, konnte ihn doch nicht nur daran erkennen, wie er die alte, knarrende Tür öffnete. Monsieur Rufus sah selten auf, wenn jemand hineinkam. Fast immer war er vertieft in seine Arbeit oder blätterte durch den Katalog einer Galerie. Als könnte er nicht genug von Fotos bekommen, egal wie viele er schon gesehen hatte. Als wäre er immer auf der Suche nach einem besonderen Bild.
Art verstand das allerdings sehr gut, denn er teilte die Begeisterung seines Chefs für die Kunst der Fotografie. »Entschuldigen Sie die Verspätung. Meine Vorlesung hat länger gedauert«, murmelte er und warf seinen Rucksack hinter den Tresen.
»Vorlesung.« Monsieur Rufus hatte eine amüsierte Miene aufgesetzt, als er nun doch den Kopf hob. »Fotografieren lernt man nicht in der Universität, sondern da draußen.« Er deutete aus dem großen Schaufenster, über das sich spiegelverkehrt die Buchstaben zogen, die den Namen des Ladens bildeten. Art de la photographie war von außen zu lesen. Art freute sich jedes Mal, wenn er den Schriftzug las. Welcher Laden konnte besser zu ihm passen als dieser, der seinen Namen in sich trug? Es regnete, und die Menschen liefen so hastig durch Paris, als fürchteten sie, im nächsten Moment fortgespült zu werden. »Zumindest, wenn es trocken ist«, fügte Monsieur Rufus hinzu und strich sich über seinen kurzgeschnittenen Vollbart, der denselben kastanienbraunen Ton hatte wie seine noch vollen Haare.
»Eine neue Ausstellung?«, fragte Art und deutete auf den Katalog in den Händen seines Chefs. Monsieur Rufus galt, das hatte Art schnell festgestellt, in der Kunstszene als absoluter Kenner für die Geschichte der Fotografie. Manchmal wunderte es Art, dass sein Chef nicht an der Universität lehrte, die er besuchte. Monsieur Rufus entwickelte nicht nur die Fotografien seiner Kunden, sondern unterstützte sie auch dabei, seltene Bilder zu finden. Es gab einen Markt für besondere Fotos in der Kunstszene. Und Arts Chef stand in dem Ruf, hervorragende Kontakte zu besitzen.
»Ja, aber eine schreckliche. Mit dem Wunder der Fotografie darf man so nicht umgehen. Sie haben das erste Foto der Welt verfremdet und zeigen es in zahllosen Variationen. Sie wollen so seine Seele herausstellen. Ich habe selbst eine Kopie dieses besonderen Bildes und weiß, dass es niemandem seine Seele offenbart, wenn man es in Neongelb einfärbt. So ein Unsinn, oder Artur? Nur in seiner unverfälschten Form ist es Magie.«
Wie immer, wenn jemand seinen vollen Namen nannte, zuckte Art kurz zusammen. »Sie meinen Joseph Nicéphore Niépces Ansicht von Le Gras?« Er beugte sich vor, um einen Blick auf den Katalog zu werfen. »Das erste Bild in der Geschichte der Menschheit. Aufgenommen vom Erfinder der Fotografie.«
»Ja«, murmelte Monsieur Rufus ein wenig gedankenverloren. »Nicéphore. Es war ein Wunder, als die Menschen damals lernten zu fotografieren. Eine äußerst seltsame Zeit. Beinahe magisch.«
»Sie klingen, als seien Sie dabei gewesen«, versuchte sich Art an einem Scherz.
Monsieur Rufus blickte zu Art auf und sah ihn mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht an. »So ein Unsinn«, erwiderte er nach einer kurzen Pause und lachte ein wenig zu laut. Dann widmete er sich wieder dem Katalog und deutete auf eine unverfremdete Abbildung des ersten Fotos der Geschichte. Wie immer, wenn er in Gedanken war, spielte Monsieur Rufus mit seinem Ring. Er war das einzig Auffällige, das er trug. Das silbergraue Schmuckstück hatte die Form eines Fuchses, der sich um den vierten Finger seiner rechten Hand wand. »Du weißt doch, was ich sage. Fotografieren …«
»… ist Magie«, beendete Art den Satz. Monsieur Rufus sagte dies in der Tat mindestens einmal am Tag. »Eine Magie, die Menschen nun schon seit achtzehnhundertsechsundzwanzig beherrschen.«
Monsieur Rufus wirkte beeindruckt. »Es scheint, dass du an deiner Universität wenigstens etwas lernst.« Er klappte den Katalog zu und stellte ihn in ein Regal hinter dem Tresen. Dann erhob er sich und deutete auf einen Arbeitstisch in der Ecke des kleinen Ladens, der voller Fotomappen lag. »Die dort müssen in den kommenden Tagen alle entwickelt werden. Ein paar auf Film. Einige …«, er stockte, als würde ihm das nächste Wort wie eine Fischgräte im Hals stecken, »… auf USB-Sticks.«
»Kommen Sie, Chef. Nicéphore würde sich sicher freuen, dass die Menschen noch heute Fotos schießen.« Art hatte erneut einen Scherz machen wollen, doch Monsieur Rufus hob nur tadelnd eine Augenbraue.
»Chef? Du bist vielleicht erst ein paar Monate lang meine Aushilfe, aber du solltest wissen, dass ich es bevorzuge, mit meinem Namen angesprochen zu werden. Und der lautet nicht Chef. Was überdies Monsieur Nicéphore freuen würde und was nicht, das lassen wir mal lieber seine Sorge sein.« Er seufzte. »Ich fürchte, du musst dir nicht die Mühe machen, deine Jacke auszuziehen. Ich bin angerufen worden. Man erwartet mich im Bal. Für die Eröffnung ihrer nächsten Ausstellung wollen sie einen Vortrag von mir.« Er seufzte erneut. »Ich hoffe, ich kann das der Direktorin ausreden. Trotzdem muss ich den Laden heute etwas früher zumachen. Aber es wartet auch morgen noch mehr als genug Arbeit auf dich.«
»Wieso zumachen?« Art hatte sich seine Jacke bereits aufgeknöpft und sah seinen Chef fragend an. »Ich kann auch auf den Laden aufpassen. Ich meine«, fuhr er schnell fort, als er sah, dass Monsieur Rufus Anstalten machte, etwas zu erwidern, »ich weiß, wie die Kasse funktioniert. Und mit den Kunden komme ich auch klar. Bei dem Wetter wird sowieso kaum einer den Laden betreten.« Art wusste bereits, dass Monsieur Rufus Unzuverlässigkeit ebenso sehr hasste, wie einen Auftritt in der Öffentlichkeit. Manchmal hatte er das Gefühl, der Engländer wäre am liebsten unsichtbar. Noch schlimmer für ihn wäre es nur, ohne Not die eigenen Öffnungszeiten zu missachten. Art konnte Monsieur Rufus ansehen, wie dieser mit sich rang. »Es gibt nichts, worüber Sie sich sorgen müssten, Chef.«
Der Engländer hob noch einmal die Augenbraue, doch diesmal sparte er sich die Belehrung darüber, wie er genannt werden wollte. Er schien fast ein wenig erleichtert, dass er nicht vor Ladenschluss die Tür zu seinem Geschäft abschließen musste. »Na gut, dann sieh zu, dass du mit den Abzügen anfängst. Die auf Film stammen von Studenten wie dir. Sind bestimmt ein paar hübsche Arbeiten darunter. Die anderen haben Touristen vorbeigebracht. Ich wette, sie zeigen den Eiffelturm. Die Seine. Das Übliche eben.« Er zog sich einen Mantel über den gestreiften Anzug und griff nach seinem Regenschirm, der in einem Ständer neben der Tür steckte. »Fang mit den Aufnahmen der Touristen an.«
»Warum gerade mit denen?«, fragte Art, als Monsieur Rufus schon halb zur Tür heraus war. »Sind sie besonders eilig?«
»Nein«, erwiderte sein Chef und öffnete den Regenschirm. »Aber dann muss ich sie mir nicht ansehen.«
Das Prasseln des Regens war das einzige Geräusch im Laden. Art sah nur kurz aus dem Schaufenster in den ungemütlichen Abend, als er sich alles für die Arbeit zurechtlegte. Er war noch nie an einem Ort gewesen, an dem er sich wohler fühlte. Warum er gerade inmitten all der Fotos diese unerklärliche Ruhe fand, konnte er selbst nicht sagen. Nicht einmal zu Hause, in dem Vorort von Marseille, den er vor einem Jahr verlassen hatte, um in Paris Fotografie zu studieren, fühlte er sich so. Vielleicht lag es daran, dass Monsieur Rufus nicht einen Moment lang gezögert hatte, ihn einzustellen, als sich Art bei ihm beworben hatte. Nicht auf die schwarze Haut gesehen hatte, deren Anblick allen anderen, denen Art normalerweise begegnete, wenigstens eine Sekunde lang die Worte im Hals stecken bleiben ließ. Dieser kleine Moment, in dem sich die Menschen innerlich zu sagen schienen, dass sie sich dem Schwarzen gegenüber, dem sie ins Gesicht sahen, betont normal verhalten mussten. Dabei war Art nicht einmal völlig dunkel. Seine Grundschullehrerin hatte ihn als den Kakaojungen bezeichnet. Aber ganz gleich, wie freundlich sie das gesagt hatte, es hatte immer auch eines bedeutet: Du bist anders. Monsieur Rufus dagegen hatte nie darauf hingewiesen, dass Arts Haut eine andere Farbe als seine besaß. Nur darauf, dass er sich Mühe geben und bitte sehr pünktlich sein solle. Noch heute schien es Art in besonders verrückten Momenten, als wäre es ihm bestimmt gewesen, diesen Ort zu finden. Als wäre das Fotogeschäft der Grund dafür, dass Art in diese Stadt gekommen war.
Vielleicht vermittelten die vielen Fotos Art das unerklärliche Gefühl der Geborgenheit. Sie waren überall in dem altmodischen Laden zu finden, an den Wänden, zusammengerollt oder in Papiertaschen verstaut in den Regalen. Die Welt hatte tausendundein Gesicht. Und sie alle schienen in die Fotos gebannt, die Art hier umgaben. Der Laden mochte unscheinbar sein. Aber für ihn war er wie die Spitze eines gewaltigen Turms, von der aus er die ganze Welt betrachten konnte. Er …
Eine Stimme schnitt seinen Gedanken ab wie einen Faden. Verwirrt drehte sich Art um. Es war doch niemand hereingekommen oder hatte die Tür geöffnet. Draußen regnete es noch immer, als wollte der Himmel die Erde fortspülen. Und kein Mensch, der bei Verstand war, würde freiwillig auf die Straße gehen. Vielleicht hatte Art ein wenig geträumt? Manchmal gingen seine Gedanken wie von selbst auf die Reise, wenn er Fotos betrachtete. Als könnte er die Welt, die sie stumm und starr zeigten, fühlen. Er malte sich dann aus, wie es links und rechts der Ränder aussah. Schon als Kind hatte er das gemacht. Doch seit er hier im Laden arbeitete, musste er sich manchmal zusammenreißen, um nicht am helllichten Tag zu träumen. Er …
Wieder die Stimme. Diesmal war sich Art sicher. Sie kam von irgendwo hinter ihm. Es gab hier neben dem Raum für die Entwicklung der Bilder ein noch kleineres Zimmer. Monsieur Rufus verschwand gelegentlich darin, wenn er die Buchhaltung machen musste. Er hatte Art den Zutritt nie richtig verboten, aber es war klar, dass er da nichts zu suchen hatte. Doch genau von dort war die Stimme gekommen. Vorsichtig drückte Art die Tür auf und schaltete das Licht ein. Der Raum war so klein, dass kaum etwas in ihn hineinpasste. An der Wand hing die Ansicht von Le Gras in einem Rahmen. Sicher die Kopie, von der Monsieur Rufus gesprochen hatte. Außerdem gab es einige Regale voller Aktenordner und einen Tisch mit einem Stuhl, auf dem neben einem Stapel mit Papieren eine antiquierte Rechenmaschine stand. Unwillkürlich schüttelte Art den Kopf. Monsieur Rufus war aus Überzeugung altmodisch. Aber einen Computer hätte er sich doch wirklich einmal zulegen können. Das Ding dort war sicher fünfzig Jahre alt. Woher nur war die Stimme gekommen? Die einzige Möglichkeit, sich hier zu verbergen, bestand darin, unter den Tisch zu kriechen. Doch als Art nachsah, war dort niemand. Er wollte sich schon abwenden, als er die Stimme erneut hörte. Ganz deutlich.
Und diesmal mischten sich weitere hinein. Als wäre eine ganze Menge hier in dem winzigen Raum, in den nur wenige Leute zur selben Zeit hineinpassten. »Vive la Nation! Vive la République!«
Ein Radio. Art schlug sich gegen die Stirn, als er es zwischen den Ordnern in einem der Regale erkannte. Natürlich. Es war ein handgroßes, betagtes Modell. Kein Wunder, angesichts der Liebe seines Besitzers zu allem Vergangenen und aus der Mode Gekommenen. Doch als Art es in die Hand nahm, stellte er fest, dass es ausgeschaltet war. Erneut hörte er die Stimmen. Es schien, als würden sie hinter der gerahmten Kopie des ersten Fotos der Geschichte erklingen.
War da ein Lautsprecher, den er nicht sehen konnte? Arts Finger zitterten ein wenig, als er das Bild berührte. Nichts. Vorsichtig nahm er es von der Wand. Er wollte sich nicht ausmalen, was passieren würde, wenn er es beschädigte. Dass Monsieur Rufus penibel auf seinen Besitz achtete, hatte Art sehr schnell gelernt. Vielleicht musste man so sein, wenn man in der Vergangenheit lebte.
Hinter dem Bild entdeckte Art zu seiner Verwunderung einen Safe. Fast kam er sich wie ein Dieb vor, der nach einem wertvollen Schriftstück oder einem Edelstein suchte. Der Safe war so passgenau in die Wand eingelassen, als wäre er ein Teil von ihr. In dem grau-silbernen Metall waren weder Schlüsselloch noch Griff oder Zahlenrad zu erkennen. Es gab scheinbar keine Vorrichtung, um ihn zu öffnen. »Was verbergen Sie, Monsieur Rufus?« Arts Stimme klang heiser vor Aufregung. Spätestens jetzt hätte er das Bild wieder aufhängen und den Raum verlassen müssen. Das hier ging ihn nichts an. Doch die Stimmen erklangen aufs Neue, als wollten sie ihn zu sich rufen. »Sesam öffne dich«, murmelte Art, legte den Kopf schief, und strich mit den Fingern prüfend über das Metall. Erschrocken zog er sie sofort wieder zurück. Für einen Moment hatte er eine Stimme im Kopf gehört. Sie klang anders als die, die er zuvor vernommen hatte. Tiefer. Älter.
Geh weg, Art, dachte er. Doch er blieb und presste die Finger erneut gegen das Metall. Es war nicht kalt, sondern überraschend warm. Und wieder hörte er die Stimme in seinem Kopf.
Secretum meum vestra, Magus.
»Secret… was?« Art hatte keine Ahnung, in welcher Sprache er da gerade Worte gehört hatte. Latein?
Die Stimme erklang nicht noch einmal. Dafür aber drückte sich ein Griff aus dem Metall. Er wuchs wie eine Pflanze, und Art stand nur da und verstand nicht, was hier gerade passierte. Vorsichtig, als könnte er sich an dem Griff verbrennen, berührte er ihn. Nichts geschah. Mit ein wenig mehr Kraft drehte er ihn, bis er ein Klacken hörte.
Langsam schwang die Tür des Safes auf. Argwöhnisch lugte Art hinein und fand nur ein einzelnes Foto darin. Was sonst hätte ein Bildernarr auch schon in einen Safe stecken können?
So achtsam, als hielte er ein lebendes Geschöpf in Händen, hob Art es heraus. Er blickte auf ein Bild, das er in ähnlicher Form einmal gezeichnet gesehen hatte. In einem Schulbuch. Ein Platz, auf dem sich zahllose Schaulustige eng aneinanderdrängten. Menschen, die so altmodisch gekleidet waren, als wäre das Foto vor zweihundert Jahren aufgenommen worden. Und eine Guillotine auf einer hölzernen Empore in der Mitte der Aufnahme. Vier Männer befanden sich auf ihr. Allerdings trugen nur drei ihren Kopf zwischen den Schultern. Der Vierte lag bäuchlings unter dem Fallbeil. Sein blutiges Haupt hielt einer der anderen wie eine Trophäe der Menge entgegen.
Art wusste sofort, was er da sah. Sicher kannte jedes Schulkind in Frankreich das Bild. Die Hinrichtung von Louis XVI. Allerdings war dies hier kein Gemälde, sondern ein Foto. Von echten Leuten. Ein Film? Nein. Die Aufnahme sah so alt aus, dass Art fürchtet, sie könnte Schaden nehmen, wenn er sie zu lange festhielt. Er war nie ein sonderlich guter Schüler gewesen, doch selbst er wusste sofort, dass dieses Foto noch früher aufgenommen worden sein musste als Nicéphores berühmtes Panoramabild. Das Papier war brüchig und fleckig. Art roch daran, als könnte er den Duft der Jahrhunderte an ihm wahrnehmen. Ein so altes Foto konnte es nicht geben. Das war völlig unmöglich. Doch die Aufnahme fühlte sich nicht alt an. Er runzelte die Stirn. Fast schien es ihm, als hielte er biegsames Glas in der Hand.
»Vive la Nation! Vive la République!«
Beinahe hätte Art das seltsame Foto fallen gelassen. Für einen Moment glaubte er, dass er nur träumte – ja, dass er sich diesmal völlig in dem Bild, das er betrachtete, verloren hatte. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl gehabt, dort zu sein. Auf dem Platz. Er hatte nicht mehr den staubigen Duft des Papiers, sondern den von eisiger Luft in der Nase gehabt. Schweiß. Essen. Ein kalter Wintertag. Und er hatte die Menschen jubeln gehört. »Vive la Nation! Vive la République!« Der Ruf war von Mund zu Mund gesprungen. Zu viele Eindrücke in nur einer Sekunde. Art atmete schwer. Er …
»Was bei allen Enklaven dieser Welt machst du da?«
Noch immer nach Luft schnappend wirbelte Art herum. Und blickte Monsieur Rufus in das vor Fassungslosigkeit erstarrte Gesicht. Regen tropfte aus seinem Bart und er trug noch seinen nassen Mantel.
»Ich … ich …« Es lag nicht nur an seiner Kurzatmigkeit, dass Art ihm nicht antworten konnte. Er verstand einfach nicht, was da gerade geschehen war. Da er nicht die richtigen Worte in seinem von Aufregung erfüllten Kopf fand, hielt er stumm das Foto in die Höhe, als würde es alle Fragen beantworten.
Monsieur Rufus starrte es an und sah aus, als würde ihn im nächsten Moment der Schlag treffen. Er hob eine Hand, und Art meinte, die Augen des Fuchsrings aufblitzen zu sehen. Dann ließ er sie wieder sinken und deutete nach draußen. »Raus. Sofort!« Er zog Art das Foto aus den Fingern und drängte sich in dem engen Raum an ihm vorbei. Hastig legte er das Foto zurück in den Safe und drückte die Tür zu. Der Griff versank in dem Metall, als hätte es ihn nie gegeben.
Is clausum secretum meum, Magus. Wieder eine Stimme, die kein Mund ausgesprochen hatte.
»Magus? Was heißt das?«, fragte Art. Er war rückwärts aus dem Raum gestolpert und stand in dem verlassenen Laden, den Rücken zur offenen Tür gewandt, die hinaus auf die Straße führte.
Doch Monsieur Rufus antwortete nicht. Er hantierte an dem Safe herum. Dann hob er eine Hand, und Art hatte das Gefühl, dass ihn unsichtbare Finger auf die Eingangstür zudrückten. Kaum war er hinausgestolpert, fiel sie ins Schloss. Schwer atmend stand Art im Regen. Dann riss er sich los. Er wusste nicht, wer oder was ihn lenkte, doch er lief, als müsste er vor dem flüchten, was er gerade gesehen hatte und nicht verstand. Niemand war mehr unterwegs, als er die Straße entlangrannte. Und während er versuchte, alles zu begreifen, war da noch immer der Duft eines kalten Wintertags vor über zweihundert Jahren in seiner Nase.
Art wischte sich über das Gesicht, als könnte er die Erinnerung an das, was er gerade erlebt hatte, fortwischen wie den Regen. Die Stimmen. Der Safe. Das Foto. Vielleicht war er ein wenig übergeschnappt? Die vergangenen Wochen waren anstrengend gewesen. Er hatte einige Klausuren geschrieben. Und im Laden von Monsieur Rufus hatte es mehr als genug zu tun gegeben. So viel, dass er mehrere Nächte hindurch hatte lernen müssen. Doch bei dem Gedanken an seinen Chef kam ihm dessen verärgertes Gesicht wieder in den Sinn. Der seltsame Ring.
Er schüttelte den Kopf, was die ältere Dame, die neben ihm in der Metro saß, von ihm abrücken ließ. Art war es gewohnt, dass er ablehnend gemustert wurde. Er hatte einmal gelesen, dass es in Frankreich zwei Millionen Schwarze gab. Und dennoch taten viele der übrigen Franzosen so, als gehörten Menschen wie Art nicht hierher. In diesem Fall war er allerdings nicht sicher, ob die Frau seine Haut oder sein seltsames Verhalten abschreckend fand.
Von der Station Maubert-Mutualité im Cartier Latin, an der er ausstieg, waren es nur ein paar Minuten bis zu seinem Zimmer in einer der Seitenstraßen abseits der Cafés. Dennoch war Art endgültig nass bis auf die Haut, als er die Eingangstür in das Haus aufdrückte, in dem er wohnte. Die Fassade machte nicht viel her, aber innen war es immerhin sauber. Art war so in Gedanken verloren, dass er beinahe den Hausmeister umrannte, der ihm auf der engen Treppe entgegenkam. Mit einer gemurmelten Entschuldigung auf den Lippen schloss er seine Wohnungstür auf. Er warf seine Jacke in die Ecke des kleinen Flurs und ging mit schnellen Schritten in den Raum, der gleichzeitig Schlafzimmer, Arbeitszimmer und Wohnzimmer war.
Die Hinrichtung von Louis XVI. Wann genau hatte sie stattgefunden? Vielleicht irrte er sich, und sie hatte sich nach achtzehnhundertsechsundzwanzig und damit nicht vor dem ersten Foto ereignet. Geschichte war nicht unbedingt sein Lieblingsfach gewesen, und irgendwie gehörte die Vergangenheit Frankreichs für ihn nur den anderen, die allzu oft auf ihn herabblickten. Es war nicht seine Vergangenheit. Wenn er sich irrte, war alles gut. Dann konnte es das Foto geben.
Und wenn er sich nicht irrte?
Er schaltete seinen Computer an und tippte seine Anfrage in die Suchmaske. Als er die Jahreszahl fand, schwand die Hoffnung, dass er sich die Existenz des Fotos würde erklären können. Über dreißig Jahre lagen zwischen beiden Ereignissen. Das Foto konnte es nicht geben.
Wieder wischte sich Art über das Gesicht. Er bemerkte erst jetzt, dass er sich in seinen nassen Sachen an den Computer gesetzt hatte. Schnell ging er ins Bad, trocknete sich ab und zog sich um. Dann saß er wieder vor dem Bildschirm. Gut, die Hinrichtung hatte also vorher stattgefunden. Welche andere Erklärung gab es für diese Aufnahme? Existierten Bilder, die älter als das vermeintlich erste der Welt waren, und die keiner kannte? Nein, sicher hatte niemand vor Nicéphore ein Foto gemacht. Und selbst wenn, läge es bestimmt nicht in einem sprechenden Safe im Hinterzimmer des Ladens von Monsieur Rufus. Und wenn doch? Die Vorstellung war verrückt. Aber diese ganze Sache war noch verrückter.
Art begann, im Internet zu suchen. Schnell fand er ein paar Seiten, die sich über die Geschichte der Fotografie ausließen, doch keine bescherte ihm den erhofften Hinweis. Zunehmend frustriert durchforstete er mehrere spezialisierte Foren. Er wollte schon abbrechen, als ihn sein nächster Klick auf eine Seite führte, die eher in den Bereich der Spinner und Verschwörungstheoretiker gehörte. Hier wurde vor allem die Ansicht vertreten, dass Menschen einen Teil ihrer Seele verlieren würden, wenn sie sich fotografieren ließen. Die Einträge waren ziemlich konfus, doch Art fand in einigen von ihnen die Behauptungen, dass Fotos schon viel länger gemacht würden, als allgemein bekannt war. Gut, auch diese Absätze lasen sich, als würden ihre Verfasser zu viel Zeit in dunklen Räumen alleine vor ihren Bildschirmen verbringen. Doch irgendwann traf Art auf eine kleine Liste von Fotos, die allesamt noch älter als das von Nicéphore sein sollten. Eines sollte … die Hinrichtung von Louis XVI. zeigen.
Für einen Moment war Art so verwirrt, dass er den ganzen Eintrag erneut lesen musste. Und zur Sicherheit noch ein drittes Mal. Doch die Worte blieben dieselben, und Arts Herz schlug so schnell in seiner Brust, als wollte es aus ihr entkommen. Der Verfasser, der auf der Suche nach Hinweisen auf die seltsamen Fotos war, trug den Namen Nicéphore. Sehr passend. Um in Kontakt zu ihm zu treten, musste sich Art in dem Forum anmelden. Er war einen Moment unschlüssig. Wer konnte schon sagen, was für Irre sich da herumtrieben? Doch die Neugierde darauf, ob das Foto, das er gesehen hatte, wirklich echt war, überwog. Bei den Daten zur Anmeldung log er dennoch. Sicher war sicher. Als er das neueste Mitglied des Forums für freies Denken und freie Fotografen war, öffnete er das Profil von Nicéphore. Der Mann hatte sich nicht nur den Namen, sondern auch das Bild des echten Erfinders der Fotografie gegeben. Der grüne Punkt neben dem Konterfei zeigte den anderen Nutzern, dass derjenige, der das Bild der royalen Enthauptung scheinbar ebenfalls kannte, online war.
Hallo, schrieb Art und wartete. Es kam keine Antwort. Also gut, vermutlich musste er sich erst einmal vorstellen. Sicher waren die Mitglieder eines Forums von Verschwörungstheoretikern Fremden gegenüber nicht unbedingt aufgeschlossen. Andererseits hatte Art keine Zeit. Er wollte wissen, was er da vorhin zu Gesicht bekommen hatte. Er überlegte und tippte weiter.
Ich habe eine der Aufnahmen gesehen. Eine von denen, die älter als das erste Bild sind. Er wartete atemlos. Dann erschien eine Antwort.
Welche?
Offenbar verschwendete Monsieur Nicéphore ebenfalls keine Zeit damit, sich vorzustellen. Aber immerhin antwortete er.
Die Hinrichtung.
Es dauerte einen Moment, ehe Monsieur Nicéphore erneut schrieb. Nach diesem Foto wird von sehr vielen Leuten seit einer äußerst langen Zeit gesucht, Le blanc.
Le blanc. Art hatte sich den kleinen Scherz nicht verkneifen können, sich der Weiße zu nennen. Es war ein Zufall. Und was für einer.
Wieder dauerte es eine Zeit, ehe Monsieur Nicéphore die Unterhaltung fortführte. Ich würde es gerne einmal sehen.
Das glaube ich, dachte Art, schrieb aber: Was wissen Sie darüber? Die Fragen, warum es in einem Safe verborgen war, den es nicht geben konnte, und weshalb sein Chef mit einem ziemlich schrägen Ring herumlief, verkniff er sich an dieser Stelle. Von körperlosen Stimmen einmal ganz zu schweigen. Das Internet mochte voller Irrer sein. Doch bislang schien Monsieur Nicéphore nicht zu dieser Sorte zu gehören, auch wenn die meisten in diesem Forum sicher nicht ganz bei Trost waren. Besser, er hielt Art ebenfalls nicht für einen Verrückten.
Vieles. Aber derlei Dinge sollten in einem direkteren Rahmen diskutiert werden. Ich darf davon ausgehen, dass Sie sich in Frankreich aufhalten, Le blanc?
Nun war es Art, der zögerte. Er hatte eigentlich nicht daran gedacht, jemanden zu treffen, um mit ihm über das Foto zu sprechen. Oder über seinen Chef. Nicht, dass Monsieur Rufus am Ende noch in Schwierigkeiten geriet. Andererseits brauchte er Antworten. Ja, in Paris, schrieb er. Also ist das Foto echt?
Die Hinrichtung Louis XVI. gehört zu den ältesten Aufnahmen der Geschichte. Aber die Entstehung dieses Fotos ist mit einigen heiklen Umständen verknüpft, die dafür gesorgt haben, dass es bis heute nie einer breiten Öffentlichkeit gezeigt wurde. Nur wenige Augen haben es je erblickt. Wo haben Sie es entdeckt?
In dem Laden, in dem ich aushelfe. Art zögerte. Schreib ihm nicht zu viel, sagte er sich. Er soll dir etwas erzählen, nicht umgekehrt.
Wenn Sie, Le blanc, dabei helfen können, es der Menschheit zugänglich zu machen, wären Sie ohne Übertreibung ein Held der Kunst. Und dieses heldenhafte Engagement soll belohnt werden. Ich darf behaupten, dass ich ein durchaus wohlhabender Sammler bin. Es wäre mir eine Freude, Sie für Ihre Mühe zu entschädigen.
Einen Augenblick lang fühlte sich Art tatsächlich geschmeichelt. Es kam selten genug vor, dass andere ihm mit Wohlwollen oder gar Respekt begegneten. Noch ungewöhnlicher war es, wenn ihm dieser Respekt von einem Fremden entgegengebracht wurde. Doch dann dachte er an Monsieur Rufus, der sich ihm gegenüber, abgesehen von seinem heutigen Ausbruch, auch immer sehr freundlich verhalten hatte. Und war Art nicht selbst schuld an der Wut seines Chefs? Immerhin hatte Art den Safe geöffnet. Der Name des Ladenbesitzers hallte noch in seinem Kopf nach, als er die nächsten Zeilen schrieb. Vielleicht tauchte er deshalb in ihnen auf. Ich muss erst mit Monsieur Rufus sprechen. Dann melde ich mich wieder bei Ihnen.
Art starrte auf seinen letzten Eintrag. Verdammt. Er hätte den Namen nicht schreiben sollen. Selbst der größte Idiot unter den verrückten Verschwörungstheoretikern konnte aus dem Namen und dem Hinweis auf den Laden die Spur zu ihm aufnehmen. Er loggte sich so hastig aus, als könnte er die Spur auf diese Weise verwischen. Verdammt. Vielleicht würde demnächst irgendein Wahnsinniger bei Monsieur Rufus durch die Tür treten. Art seufzte und traf eine Entscheidung. Er würde zurück in den Laden gehen. Er musste sowieso noch einmal dorthin, um seinen Rucksack zu holen, den er bei seinem überhasteten Aufbruch vergessen hatte. Und bei der Gelegenheit würde er mit Monsieur Rufus sprechen. Er wusste nun, dass die Aufnahme echt sein konnte. Und er fand, dass er ein Recht darauf hatte zu erfahren, wie das und alles andere, was er erlebt hatte, möglich war.
Wie seltsam es sich anfühlte, als Art eine halbe Stunde später vor der verschlossenen Tür von Monsieur Rufus’ Laden stand. Seit dem unerklärlichen Vorfall mit dem Foto waren kaum drei Stunden vergangen. Und doch schien es ihm, als käme er nach einer Ewigkeit wieder an einen einst vertrauten Ort, der nun fremd und abweisend war. Der Regen hatte aufgehört, aber inzwischen war es so spät, dass auch ohne die Sintflut niemand mehr auf der Straße war. Das Licht hinter dem Schaufenster war gelöscht, und selbst der Stein der Mauern schien Art zuzurufen, dass er fortgehen sollte. Monsieur Rufus musste bereits weg sein.
Enttäuscht wollte sich Art schon abwenden, dann aber bemerkte er den blassen Lichtschein. Er sickerte unter der Tür zum Hinterraum hindurch. Monsieur Rufus ist also doch noch da, dachte Art mit klopfendem Herzen. Unter anderen Umständen wäre er wieder gegangen und hätte auf den nächsten Tag gewartet. Doch er musste jetzt sofort wissen, was vorhin geschehen war. Das Unbegreifliche begreifen. Und Monsieur Rufus erklären, dass er nicht herumgeschnüffelt hatte. Er wollte nicht, dass sein Chef ihn für einen kleinen Kriminellen hielt. Diesen Verdacht las er schon oft genug in den Augen der anderen, die glaubten, alleine die Herkunft eines Menschen würde seine ganze Geschichte erzählen. Er hatte sich an diesen Blick längst gewöhnt. Doch auf diese Weise von Monsieur Rufus angesehen zu werden, würde ihm wehtun.
Art griff in seine Hosentasche und zog den Schlüssel hervor, den sein Chef ihm nach einer Woche in seinen Diensten ausgehändigt hatte. Tief atmete Art durch. Es konnte sein, dass Monsieur Rufus noch wütender wurde, wenn Art einfach den abgeschlossenen Laden betrat. Aber für diesen Fall konnte er behaupten, dass er seinen Rucksack holen und sich entschuldigen wollte. Er schloss auf, trat in den dunklen Laden und drückte die Tür wieder zu. Er wollte gerade rufen, als er Worte hörte. Monsieur Rufus schien mit jemandem zu sprechen. Eine andere Stimme als seine war nicht zu hören, also musste er telefonieren. Wunderbar, dachte Art. Es würde sicher seltsam aussehen, wenn er hier im Dunkeln darauf wartete, bis sein Chef fertig war. Am Ende würde Monsieur Rufus noch glauben, Art hätte ihn belauscht. Gerade wollte er sich abwenden und hinausgehen, als er seinen Namen hörte. Undeutlich nur, doch er war ganz sicher, dass Monsieur Rufus von ihm sprach. Unschlüssig stand Art weiter in dem verlassenen Laden und versuchte, so leise zu atmen, wie er konnte, um das Gesagte besser verstehen zu können. Dann hörte er seinen Namen erneut. Mit wem sprach Monsieur Rufus über ihn? Die Polizei, schoss es ihm durch den Kopf. Verdammt. Er konnte sich vorstellen, wie die Sache ablief. Der Afropéen hatte versucht, sich an den Einnahmen zu bedienen. Vielleicht würde gleich eine Streife losfahren, um bei Art zu klingeln und ihn mit aufs Revier zu nehmen. Es sah sicher ganz schlecht aus, wenn man ihn nicht dort, sondern am vermeintlichen Tatort fand. Das hier war womöglich Arts letzte Chance, alles wieder in Ordnung zu bringen. Er fasste sich ein Herz und trat an die Tür ins Hinterzimmer. Er hatte schon die Hand auf der Klinke, als er Monsieur Rufus’ Stimme erneut hörte, dumpf klang sie durch die Tür. Doch diesmal verstand er die Worte deutlich.
»Ich habe keine Ahnung, wie das sein kann.« Nun schien der andere etwas zu sagen, denn Monsieur Rufus schwieg eine Weile. »Ja, er hat den Safe geöffnet.« Eine kurze Pause. »Nein, er war wirklich zu.«
Vermutlich schilderte Monsieur Rufus gerade einem Polizisten den vermeintlichen Diebstahl. Zeit, dem ein Ende zu machen. Art drückte die Klinke hinunter.
»Himmel, du begriffsstutziger Ägypter. Der Safe hat sich freiwillig für den Jungen geöffnet. Er ist einer von uns. So wie ich es vermutet habe. Ein Magus.«
Ohne die Tür zu öffnen, hielt Art die Klinke weiter gedrückt. Einer von uns? Was meinte Monsieur Rufus? Sicher nicht die Hautfarbe. Er hatte schon viele wenig freundliche Namen verpasst bekommen. Nègre. Bimbo. Doch Magus war er noch nie genannt worden. Klang wie Magier. Und hatte Monsieur Rufus den Polizisten gerade als begriffsstutzigen Ägypter bezeichnet? Art verstand gar nichts mehr.
»Ich weiß nicht, zu welcher der Familien er gehört.« Pause. »Ja, mir ist klar, dass das eigentlich unmöglich ist. Vielleicht ein vergessener Zweig im Stammbaum der Franzosen. Ich habe Wu kontaktiert. Niemand kennt sich besser aus in der Geschichte der Familien als Wu. Denn bei allen Enklaven der Magie, er gehört zu uns.«
Magie? Echt jetzt? Art musste sich verhört haben. Das war alles zu viel für seinen Kopf. Er brauchte Antworten. Sofort. Mit einem Ruck öffnete er die Tür.
Monsieur Rufus saß hinter dem Tisch und starrte Art an, als wäre er ein Geist. »Woher kommst du denn?«, fragte er verwirrt.
»Von draußen.« Etwas Besseres fiel Art nicht ein. Um weitere Fragen nach seinem Eindringen vorzubeugen, zog er den Schlüssel aus der Hosentasche. »Monsieur Rufus«, begann er hastig, ehe sein Chef dazu kam, etwas zu erwidern, »es tut mir leid. Aber da waren Stimmen. Und Ihr Safe hat mich wie Sie Magus genannt.« Während er sprach, war ihm eingefallen, dass auch der Safe diesen seltsamen Begriff verwendet hatte. Himmel, das klang völlig irre. »Und ich verstehe nicht, wie es dieses Foto geben kann. Nicéphore meinte, dass es echt ist.«
»Warte kurz«, sagte Monsieur Rufus in den Hörer. Dann wandte er sich Art zu und sah ihn blinzelnd an, als wäre er nicht sicher, ob der Junge vor ihm wirklich echt war. »Ganz ruhig. Wieso Nicéphore? Hast du etwa mit jemandem darüber gesprochen?«, fragte er so ernst, als hinge das Schicksal der Welt von der Antwort ab.
»Ja«, sagte Art vorsichtig und hoffte, dass er damit keinen Fehler machte.
»Verdammt«, zischte Monsieur Rufus. Noch nie hatte Art seinen Chef fluchen hören. Das Wort klang seltsam falsch aus dem Mund des sonst immer so korrekten Engländers.
Hastig drückte Monsieur Rufus wieder den Hörer an sein Ohr. »Ich habe ein Problem. Kannst du kommen? Ja, sofort. Ja, es ist ernst. Ja, es geht um eines der Bilder. Keine … keine Zeit für Erklärungen. Wenn wir Glück haben, sind sie mir nicht auf die Schliche …« Er brach den Satz so abrupt ab, als hätte er seine Zunge verschluckt. Das Knarren der Ladentür hatte auch Art gehört. »Hast du abgeschlossen?«, wisperte Monsieur Rufus. Vor Aufregung klang er so heiser, als hätte er seine Stimme für mehrere Wochen nicht benutzt.
»Nein«, murmelte Art und runzelte die Stirn. Sicher hatte sich nur noch ein später Kunde in den Laden verirrt. »Ich kümmere mich darum.«
Art sah aus dem Augenwinkel, dass sich Monsieur Rufus hastig aus dem Stuhl erhob, als er die Tür des Hinterzimmers ganz öffnete. Alles erschien so seltsam still. Als duldete dieser Moment keine Geräusche oder Worte. Nicht nur ein Kunde hatte den Weg in das dunkle Geschäft gefunden. Im Licht der Straßenlaternen, das durch das Schaufenster in den Laden schien, erkannte Art wenigstens ein halbes Dutzend Männer. Er wunderte sich noch darüber, dass sie alle den gleichen grauen Anzug trugen.
Und dann brach das Chaos aus.
Die Stimme, die die angespannte Stille zerschnitt, stammte von dem Safe. Art war sich ganz sicher, dass sie aus der nun wieder völlig glatten Metallfläche kam. Terror! Inquisitors! Einer der in Grau gekleideten Männer warf sich gegen Art und drückte ihn gewaltsam zurück in das kleine Hinterzimmer. Art stieß gegen eines der Regale und sah, während er sich am Holzrahmen festhielt, wie Monsieur Rufus mit beiden Händen ausholte, als wollte er einen unsichtbaren Ball fortwerfen. In seinen Händen war ganz sicher nichts, doch der Eindringling wurde zurückgestoßen und fiel aus dem Raum hinaus, als hätte ihn etwas getroffen. »Das Foto«, rief Monsieur Rufus. »Her damit.«
Art starrte erst auf die übrigen Männer in Grau, die unbeeindruckt von der Attacke auf die Tür ins Hinterzimmer zuliefen und dann auf Monsieur Rufus. »Ich habe es nicht.«
»Ich meine nicht dich«, zischte sein Chef angespannt. Er hielt seine Hand dem Safe entgegen, dessen Tür wie von Geisterhand bewegt aufsprang. Das Foto, das es nicht geben durfte, flog in die Hand des Engländers wie ein dressierter Vogel. Dann sprang Monsieur Rufus in Richtung Zimmertür und zog sie gerade noch rechtzeitig zu, ehe der erste der Männer den Fuß über die Schwelle setzen konnte.
»Was ist hier los?« Art wähnte sich in einem Traum.
»Keine Zeit«, erwiderte Monsieur Rufus kurz angebunden, während von draußen jemand gegen die Tür schlug. »Du hast die Inquisitoren auf meine Spur gebracht. Nun, irgendwann mussten sie mir ja auf die Schliche kommen.« Auf einen Wink seiner Hand klackte es im Schloss der Tür.
»Was sind Sie?«, fragte Art entgeistert.
»Dein … Chef, wie du es nennst«, erwiderte der Engländer. Er nahm den Hörer wieder zur Hand. »Inquisitoren«, sagte er. Offenbar war der Gesprächspartner noch in der Leitung. »Ein wenig Beeilung wäre schön. Bitte nicht die übliche arabische Unpünktlichkeit. Vielen Dank.« Er steckte das Foto in die Innentasche seines Jacketts. »Wenigstens muss ich nun nicht diesen furchtbaren Vortrag halten«, sagte er zu Art und winkte ihn zu sich. Der Lärm der Schläge wurde lauter, die Tür bebte unter ihnen und würde sicher nicht mehr lange standhalten. »Was glauben die wohl?«, meinte Monsieur Rufus und straffte sich. »Dass wir sie reinlassen, wenn sie nur genug Lärm machen?« Er schüttelte den Kopf, griff Arts Arm und presste die Hand mit dem Fuchsring gegen die Tür. Die Augen des nachgebildeten Tieres begannen zu leuchten.
Im nächsten Moment hatte Art das Gefühl, er würde in einem Karussell sitzen, das sich mit atemberaubender Geschwindigkeit drehte. Das Licht im Hinterzimmer wurde zu Schlieren, dann war es auf einmal so dunkel, dass er fast nichts mehr erkennen konnte. Alles bewegte sich, und er taumelte zur Seite, als sein Chef ihn losließ. Hart stieß er gegen den Tresen des Ladens. Der Verkaufsraum? »Was …«, murmelte er. »Wie kommen wir hierher?« Die Männer in Grau waren fort. Und für einen Moment hatten auch die Schläge gegen die Tür aufgehört. Dann aber erklangen sie wieder. Und zwar auf der anderen Seite der Tür.
»Ganz einfacher Zauber. Nennt sich Fallare. Unterste Stufe. Sehr hilfreich, wenn man seinen Schlüssel vergessen hat.«
»Zauber?« Art weigerte sich zu glauben, dass sein Chef ein Zauberer war. Andererseits … Monsieur Rufus sah ihn mitleidig an.
»Du hast Fragen. Vermutlich ziemlich viele. Ist leider gerade kein guter Moment für die Antworten. Wir müssen los. Der Ägypter ist auf dem Weg. Er kann uns ein Portal herbeizaubern. Familienzauber. Ist auch sehr hilfreich, besonders wenn einem ein halbes Dutzend Inquisitoren auf den Fersen ist.«
Gerade als Art fragen wollte, was nun wieder ein Inquisitor war, wurde die Tür in das Hinterzimmer aufgebrochen und prallte so hart gegen die Wand, dass ein kleines Regal mit Bildern umfiel.
»Also jetzt wird es sehr unhöflich.« Monsieur Rufus machte erneut Anstalten, ihren Angreifern etwas Unsichtbares entgegenzuwerfen. Doch als er seine Hände nach vorne stieß, hatte einer der Männer seine Arme erhoben und schien das, was der Engländer ihm entgegenwarf, aus der Luft aufzufangen. Erst jetzt bemerkte Art, dass jeder der Männer einen Handschuh trug.
»Oh, bitte nicht diese Dinger«, murmelte Monsieur Rufus. »Vorsicht, Art«, rief er im nächsten Moment und stieß ihn beiseite. Der Handschuh des Grauen, der Monsieur Rufus gegenüberstand, färbte sich mit einem Mal so rot, als wäre ein Feuer in ihm entzündet worden. Dann stieß sich der Inquisitor, wie Arts Chef ihn nannte, nach vorne, und die Luft flimmerte. Über Art, der zu Boden gefallen war, schoss etwas hinweg und traf Monsieur Rufus gegen die Brust. Mit einem erstickten Keuchen wurde der Engländer nach hinten geworfen und krachte durch das Glas seines Schaufensters, das in Scherben brach.
Art drückte sich auf die Beine, riss die Ladentür auf und lief auf den Engländer zu. Monsieur Rufus hatte es immerhin schon wieder auf die Knie geschafft, doch er schien für einen Moment benommen. Während er sich mit Arts Hilfe erhob, langte er in die Innentasche seines Jacketts und zog das Foto hervor. »Hier.« Er klang, als habe er in seiner Lunge kaum genug Luft für das eine Wort. »Für den Notfall. Sie werden es nicht bei dir suchen.«
Zahllose Fragen lagen Art auf der Zunge, als er das Foto in seine Jacke steckte, doch er schluckte sie alle hinunter. Nicht jetzt. Nicht hier. Die Grauen kamen schon aus dem Laden gelaufen. Im Licht der Straßenlaterne erkannte Art, dass der Handschuh von einem der Männer rot schimmerte. Doch der Ton verblasste schon wieder und wurde silbergrau. So wie der Ring an Monsieur Rufus’ Finger.
Unwillkürlich ballte Art die Hände zu Fäusten. Fast sieben Jahre hatte er im Verein geboxt. Doch er war nicht sicher, ob er hier mit dem, was er dort gelernt hatte, weiterkommen würde. Besonders stark sahen die sechs Männer nicht aus. Aber das mussten sie offenbar auch nicht sein, um zu gewinnen. Erst jetzt schaffte es Art, einen genaueren Blick auf sie zu werfen. Sie waren alle hellhäutig und sahen seltsam alterslos aus. Art konnte nicht sagen, ob sie zwanzig oder achtzig Jahre waren. Ihre Haare waren so hellblond, als hätte die Sonne sie ausgeblichen. Kaum war der Erste bei ihnen, sprang Monsieur Rufus vor und packte ihn am Arm. Es war kein besonders bedrohlicher Angriff, doch der Mann sah Arts Chef an, als richtete dieser eine Waffe auf ihn. Die Augen des Fuchsrings leuchteten für einen Moment auf. Und dann war der Engländer fort. An seiner Stelle stand plötzlich ein weiterer grau gekleideter Mann. Er hätte ein Zwilling des Angreifers sein können, den Monsieur Rufus gepackt hatte. Art bemerkte einen seltsamen Duft, der … eine Farbe zu haben schien. Das muss eine Folge der Aufregung sein, dachte er.
»Vorsicht!«, rief einer der Grauen, während sich die beiden voneinander lösten. Dieser wie aus dem Nichts aufgetauchte Mann war anders als die übrigen. Als einziger trug er sein Haar etwas länger und er überragte die Inquisitoren um gut einen Kopf. Was ihn aber am meisten Unterschied, war der Ausdruck auf seinem Gesicht. Die Härte in seinen fein geschnittenen Zügen erschreckte Art. Es gab für ihn keinen Zweifel, dass er dem Anführer der Grauen gegenüberstand.
»Ein Speculorum-Zauber.«
Verdammt, ein was? Art stand mit wild klopfendem Herzen da und verstand nichts. Nur eines sickerte immer stärker in sein Bewusstsein. Zauberei. Magie. Was er hier gerade sah, konnte er nur damit erklären. Oder?
Unter den Grauen wurden hektische Rufe gewechselt. Dort, wo eben Monsieur Rufus und sein Gegner gestanden hatten, war nur noch einer der Männer, und die übrigen streckten allesamt die Arme aus, als wollten sie sich die anderen vom Leib halten. Sie ähnelten einander auch so schon wie Zwillinge, und in dem Licht der Straßenlaternen waren Unterschiede zwischen ihnen noch schwerer zu erkennen.
»Wie lange dauert der Spiegel-Zauber?«, fragte einer von ihnen. Sie schienen Art in diesem Moment ganz vergessen zu haben.
»Ungewiss«, antwortete ein anderer. Die beiden blickten sich misstrauisch an. »Eine Minute oder eine Stunde oder so lange es der Alunni möchte.«
Ein weiteres seltsames Wort. Alunni. Art nahm es nur am Rande wahr. Er hatte gerade andere Sorgen und sah die Straße entlang. Sie waren alleine. Was, wenn er laut um Hilfe schreiend davonlief? Vermutlich würde sich kaum einer für ihn interessieren. Aber vielleicht verständigte jemand die Polizei und vertrieb damit die seltsamen Angreifer. Art wollte gerade losrennen, als der Anführer der Grauen mit dem Finger auf einen der Männer deutete. Art erkannte den Ring an dessen Hand. »Wie nennst du dich jetzt? Rufus? Bitte, lass die Spielerei.« In aller Seelenruhe hob er die Hand mit dem silbergrauen Handschuh. Die Geste war nicht sonderlich Furcht einflößend. Doch dem Mann neben ihm malte sie einen Ausdruck des Grauens auf das Gesicht.
War das Monsieur Rufus? Art blieb stehen und starrte atemlos zu den beiden.
»Wer bist du?« Die Stimme des Ringträgers gehörte tatsächlich dem Engländer. Er schien in dem Gesicht des Grauen nach etwas Vertrautem zu suchen.
»Du erinnerst dich nicht?« Der Inquisitor lachte heiser. »Es kränkt mich nicht. Wir sind uns ja auch nie offiziell vorgestellt worden. Rufus. Ich habe dich immer unter deinem echten Namen gesucht. Alasdair.« Er richtete seine Hand genau auf das Gesicht des Grauen vor ihm. »Dabei warst du offenbar ganz in meiner Nähe.«
»Zeitverschwendung«, sagte Monsieur Rufus in der Gestalt eines Grauen. Er fiel auf die Knie und stieß seine Faust auf die Straße. Im nächsten Moment bebte die Erde. Die Männer stürzten. Alle, bis auf ihn selbst. »Art.« Hektisch winkte Monsieur Rufus ihn zu sich, während er sich auf die Füße drückte.
Die Grauen lagen wie betäubte Fliegen um ihn herum. Er sprang über sie hinweg auf Monsieur Rufus zu. »Wer sind die?« Art musste sich zwingen, die Worte über die Lippen zu bringen. Er fürchtete, verrückt zu werden. Oder womöglich war er es schon? Ein Speculorum-Zauber? Das war alles völlig irre.
»Gute Frage«, erwiderte Monsieur Rufus in der Gestalt des Grauen, während er links die Straße hinunterdeutete. »Aber schlechter Zeitpunkt. Komm, wir müssen zur Enklave. Wir …«
Die Explosion, die Monsieur Rufus den Atem für seine Worte nahm, schien in seinem Inneren zu erklingen. Art konnte keine Wunde im Leib seines Chefs erkennen. Er war unversehrt, und doch sank Monsieur Rufus getroffen auf die Knie. Er hatte kaum den Boden berührt, da wandelte sich sein Äußeres. Aus dem Grauen mit dem alterslosen Gesicht wurde wieder der Engländer mit dem gepflegten Vollbart. »Meine Hand.« Er bewegte ein paar Finger. Auf einem steckte der Ring. »Richte sie auf die Inquisitoren.«
Art begriff nicht.
Die Angreifer regten sich langsam, als erwachten sie aus einem Schlaf. Nur einer von ihnen stand schon auf den Beinen. Der Anführer, der die Finger in dem silbergrauen Handschuh auf Monsieur Rufus gerichtet hielt.
»Nein!«, schrie Art. Er wollte sich schützend vor seinen Chef stellen, doch der zerrte an ihm.
»Meine Hand.«
Art blickte ihn verwirrt an und nickte. Er packte die Hand seines Chefs und hielt sie so, dass die Spitzen der Finger auf die Grauen deuteten.
Dann holte Monsieur Rufus tief Luft.
Und die Inquisitoren vor ihnen erstarrten. Es war, als wären sie zu Steinfiguren geworden. In den Augen der Bewaffneten erkannte Art einen so tiefen Hass, dass er unwillkürlich zurückwich. »Kommen Sie, Monsieur Rufus. Ich bringe sie zu einem Arzt.«
Doch der Engländer schüttelte langsam den Kopf, als hätte er kaum genug Kraft dafür. »Der Tempus-Zauber wird nicht lange halten.« Selbst seine Stimme klang schwach. »Du musst verschwinden.« Er hustete Blut auf die regennasse Straße. Dann hob er die Hand mit dem Ring und schnippte. Der Fuchs bewegte sich daraufhin, als wäre er lebendig, und löste sich vom Finger des Engländers. Wie auf einen stummen Befehl hin sprang er auf Arts Hand, und ehe dieser sie wegziehen konnte, schlang sich der Fuchs nun um dessen Ringfinger. »Der Ägypter«, keuchte Rufus. »Finde den Ägypter. Er wird dich zur Enklave bringen. Gib den Fuchs meiner Schwester, wenn sie kommt.« Die Worte kamen ihm immer schneller über die Lippen, als fürchtete er, dass ihm nicht genug Zeit für sie blieb. »Und das Foto muss an den Zirkel gehen. Auch wenn sie fast alle Schwachköpfe sind.« Er schnappte hastig nach Luft. »Es tut mir leid, aber dein Leben wird nie mehr sein wie früher. Wenn du es schaffst, es zu behalten.« Für einen Moment schloss er die Augen. Dann zwang er sie wieder auf. »Willkommen im Club. Und jetzt lauf und finde den Ägypter.«
Art konnte seinen Chef nur anstarren. Er würde sicher nicht fortlaufen und ihn hier zurücklassen. Als hätte Monsieur Rufus seine Gedanken gelesen, sah dieser auf den Fuchsring. »Ihr müsst los, alter Freund.« Die Worte mischten sich ineinander, als gehorchte dem Engländer seine Zunge nicht mehr richtig.
Wie zur Antwort leuchteten die Augen des Fuchses auf. Zu Arts Verblüffung schien ein Fremder die Kontrolle über seinen Körper zu übernehmen. Obwohl er sich anstrengte, stehen zu bleiben, lief er rasch fort von dem Engländer und den Grauen. Er sah noch, wie sich die Angreifer wieder zu bewegen begannen, und Monsieur Rufus die Hände hob. Es gab einen Blitz. Doch Art hatte längst die nächste Ecke erreicht und konnte nicht mehr anhalten.
Wie lange war er gelaufen? Art konnte es nicht sagen. Er hatte nicht nur die Kontrolle über seine Beine verloren, sondern auch das Gefühl für die Zeit. Es war, als befände er sich in einem Traum. Erst, als er einige Treppenstufen hinabeilte, kam er wieder zu sich. Die Metro. Mit Mühe gelang es Art, sich am Geländer festzuhalten, um einen Sturz zu verhindern. Wie eine endlose Spirale wand sich die Treppe in die Tiefe, als wollte sie Art aus dieser Welt in eine andere entführen. Und an ihrem Fuß wurde er endlich aus dem unsichtbaren Griff dessen, was ihn hierhergebracht hatte, entlassen. Keuchend sank er auf die unterste Stufe.
Er brauchte einen Moment, bis er sicher war, dass er sich wieder ganz alleine gehörte. Niemand war in seiner Nähe, doch aus dem Gang, der auf die Treppe zuführte, hörte er die Stimmen von Menschen. Er lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Mit Mühe drängte er sie alle beiseite und hielt sich an dem einzigen fest, der wichtig war. Monsieur Rufus ist in Gefahr.
Unwillkürlich hielt er sich die rechte Hand vor das Gesicht und sah dem silbergrauen Fuchs in die Augen. Noch immer leuchteten sie, als würde da ein unerklärliches Leben in dem Fuchs stecken. Was hatte Monsieur Rufus gesagt? Art runzelte die Stirn, als er sich die Worte in Erinnerung rief. Gib ihn meiner Schwester, wenn sie kommt. Aber wo war diese verdammte Schwester? Monsieur Rufus hatte nie von seiner Familie erzählt. Im Grunde wusste Art nur, dass er aus England stammte und vor Jahren nach Frankreich gekommen war. Er schüttelte den Kopf. Nein, dachte er bei sich. Ich werde die Polizei verständigen und … und den Ring Monsieur Rufus zurückbringen. Die Sache mit dem vermeintlichen Diebstahl des Fotos war angesichts des Angriffs der Grauen sicher kein Thema mehr. Es … es würde sich schon alles aufklären. Er konnte seinen Chef unmöglich mit diesen Inquisitoren alleine lassen. Und anschließend würde Monsieur Rufus ihm vieles erklären müssen.
Art stemmte sich hoch und brauchte einen Moment, ehe er sicher auf den Füßen stand. Als er aber die Treppen wieder nach oben steigen wollte, schien es, als würde ihn jemand festhalten. Er wandte sich um, doch da war niemand. Er sah nur die Menschen, die er zuvor gehört hatte, durch den Gang auf sich zukommen. Sosehr er sich auch anstrengte, Art konnte keinen einzigen Schritt machen. Während er vergeblich versuchte, sich am Geländer die Treppe hinaufzuziehen, blickte er den Leuten nach, die eilig die Metrostation verließen. Die meisten beachteten ihn nicht, doch einige schauten kurz zu ihm hin und musterten ihn, als hätte er den Verstand verloren. Oder vielleicht vermuteten sie auch nur, dass er zu betrunken war, um noch gehen zu können. Sie um Hilfe zu bitten, hätte sicher keine Aussicht auf Erfolg.
»Ich muss zu ihm.« Art presste die Worte so leise aus dem Mund, dass nur er sie hören könnte. Er und was auch immer ihn festhielt. Er sah auf den Ring an seinem Finger. Die Augen des Fuchses leuchteten heller als zuvor. Wie zur Antwort wurde die Kraft, die Art zurückhielt, stärker und begann ihn weg von der Treppe zu ziehen, hin zum Bahnsteig. Hinein in die Metrostation. Für einen Moment stieg Angst in Art auf. Was, wenn hier unten die Grauen auf ihn warteten? Oder etwas Schlimmeres. Das Gefühl verflog so schnell, wie es gekommen war. Der Ring gehörte Monsieur Rufus. Zumindest die Inquisitoren sollten also nichts mit ihm zu tun haben.
Art atmete tief durch. Inquisitoren. Ein leuchtender Ring. Zauberei. Art fühlte sich wie in einer Geschichte. »Nein.« Wieder sahen ihn ein paar Leute verwirrt an, doch es war ihm gleich. Er wollte zu seinem Chef. Stattdessen aber stolperte er an den Menschen vorbei auf den Bahnsteig zu. Art versuchte, seine Beine dazu zu bringen, sich nicht mehr zu bewegen. Doch sie gehorchten ihm nicht. Als wäre er eine Marionette, stakste er weiter. Die schmalen Glastüren, die den Weg nur für die freigaben, die ein Ticket besaßen, standen seltsamerweise offen. Art betrat unfreiwillig den Bahnsteig. Nur wenige Menschen warteten auf die Metro. Sie hielten erkennbar Abstand zu Art. Doch die Aufmerksamkeit der Leute wurde schon im nächsten Moment von ihm abgelenkt, als ein Zug aus dem Tunnel heranrauschte. Die Türen sprangen auf, und Art wurde gegen seinen Willen in den Wagen gelenkt. Dann schlossen sie sich, und die Metro brachte ihn fort. Weg von Monsieur Rufus und den Angreifern.
Art zählte die Stationen nicht, an denen der Zug vorbeifuhr. Er saß nur da und hatte das Gefühl, einen finsteren Traum mit offenen Augen zu erleben. Mittlerweile waren die wenigen Menschen, die mit ihm in dem Waggon gesessen hatten, nacheinander ausgestiegen. Und obwohl er nun alleine war, fühlte er sich so bedroht wie noch nie in seinem Leben. Als würden unsichtbare Augen jeden seiner Schritte beobachten. Zweimal hatte Art versucht, aufzustehen, um die Metro zu verlassen, doch er hatte es nicht mal vom Sitz hoch geschafft.
Das Licht im Waggon begann zu flackern. Im nächsten Augenblick erlosch es ganz. Für einen Moment hielt Art vor Überraschung die Luft an. Unwillkürlich wollte er aufspringen, doch noch immer hatte er keine Kontrolle über seine Beine. Und dann flammte das Licht wieder auf. Art keuchte überrascht auf. Neben ihm saß, als hätte die Dunkelheit ihn geboren, ein Mann. Wortlos starrte Art ihn an und wusste nicht, ob er sich über ihn wundern oder sich vor ihm fürchten sollte. Der Mann trug einen schneeweißen Mantel mit einem buschigen Fellkragen. Seine Hose und seine Schuhe waren ebenfalls so weiß, als hätten die Wolken sie gefärbt. Dafür saß ein hellroter Hut auf seinem Kopf. Dunkle Augen, die in einem Gesicht steckten, dessen Farbe nur wenig heller als das von Art war, musterten ihn interessiert. Nach einem stummen Augenblick verzog sich der Mund zu einem Lächeln. Der dünne Bart, den der Mann über den Lippen trug, bewegte sich dabei, als säße ihm eine Raupe unter der Nase. Er schien kaum zehn Jahre älter als Art zu sein. Und doch wirkte er, als hätte er schon alles gesehen. Und zwar mehrfach. »Du musst Artur sein«, sagte der Mann auf Französisch mit einem schweren Akzent und reichte ihm eine Hand. An jedem der Finger steckte ein Ring. Das Schmuckstück an seinem rechten Ringfinger hatte die Form einer Schlange, die ebenso silbergrau wie der Fuchs war.
»Nennen Sie mich Art«, erwiderte er heiser. Er sah sich um, doch der seltsame Mann war der Einzige, der mit ihm in dem Waggon saß. Wie um alles in der Welt war er hier hereingekommen?
»Ein Portal-Zauber«, sagte der Mann und sah Art an, als erwartete er ein paar anerkennende Worte dafür.
»Können … können Sie Gedanken lesen?« Noch während die Frage seinen Mund verließ, kam sich Art furchtbar töricht vor. Andererseits war vermutlich nichts wirklich verrückt. Nicht nach dem, was er gerade erlebt hatte.
Der Mann seufzte. »Moment. Mein Französisch ist nicht gut genug für längere Gespräche.« Kurz steckte er sich einen Finger in den Mund und schnippte dann. Die mit Spucke benetzte Kuppe leuchtete silbern auf. Er bohrte ihn sich ins Ohr. Und ehe Art reagieren konnte, tat der Fremde dies auch bei Art.
»Bah!« Entfuhr es ihm.
»Ist ein Babel-Zauber«, sagte der Mann entschuldigend. »Jetzt kannst du mich auch verstehen, wenn ich Arabisch spreche, und dein Französisch klingt für mich wie feinstes Hocharabisch.« Dann hob er tadelnd eine Augenbraue. »Also, was soll das mit dem Gedanken lesen? Sehe ich etwa aus wie eine Wahrsagerin mit Warzen und einer Glaskugel?« Der Fremde lachte und entblößte Zähne, die ebenso hell schimmerten wie der Stoff seines Mantels. Offenbar erwartete er, dass Art über den Scherz mitlachte. Doch da er den Mann nur weiter anstarrte, seufzte dieser. »Nein, ich kann natürlich keine Gedanken lesen. Das kann keine der Familien. Du kennst die Familien?«
Langsam schüttelte Art den Kopf.
»Ach ja, Rufus hat gesagt, dass du keine Ahnung hast. Kenne ihn fast nicht mehr unter einem anderen Namen, so lange wie er sich schon Rufus nennt. War übrigens gar nicht leicht, dich zu finden. Aber der Ring hat mir im Grunde gesagt, wo ihr seid. Allerdings müssen wir hier weg. Ich meine, normale Magie können die Inquisitoren unter der Erde zwar nicht fühlen«, er deutete durch das Fenster in den dunklen Tunnel, »aber wenn einer der Ringe benutzt wird, sieht die Sache natürlich anders aus.« Er sah Art an, als erwartete er, dass dieser ihm zustimmte.
»Sie kennen Monsieur Rufus?« Mehr brachte Art nicht heraus. Im ersten Augenblick übersprang sein Herz vor Freude einen Schlag. Doch dann kniff er misstrauisch die Augen zusammen. »Sind Sie einer von denen?«
»Von denen?« Der Mann runzelte die Stirn. »Du meinst die Inquisitoren, nicht?« Er seufzte erneut.
Art wusste nicht, ob er ihn um Hilfe bitten oder vor ihm davonlaufen sollte. Da ihm seine Beine noch immer nicht gehorchten, entfiel zumindest die zweite Möglichkeit.
»Kannst dich nicht rühren, was?«, bemerkte der Mann mit einem Blick auf den steif dasitzenden Art. »Ah, und da ist der Grund dafür.« Er packte Arts Hand, an der er den Ring trug. Die Augen leuchteten hellrot. »Sehr großzügig von Rufus, ihn dir zu leihen. Trennt sich sonst nie davon. Kein Wunder. Familienerbstück. Wann kommt der alte …« Die Worte erstarben ihm auf den Lippen, als die Augen des Rings plötzlich zu flackern begannen und dann erloschen. Die Miene des Mannes verhärtete sich.
»Ist er vielleicht beschädigt?« Unwillkürlich stieg in Art die Angst empor, er wäre schuld daran, dass der Ring nicht mehr leuchtete.
Zur Antwort schüttelte der Mann den Kopf. »Wie viele Inquisitoren?« Seine Stimme klang so rau, als striche sie über Fels.
»Sechs«, erwiderte Art. »Was bedeutet das?« Er hielt den Ring hoch und suchte im Gesicht des Mannes nach einem Hinweis auf dessen Gedanken.
»Sechs.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Wie bist du entkommen?« Er klang mit einem Mal ernst.
Unwillkürlich versuchte Art, von ihm wegzurutschen, doch sein Körper wollte ihm einfach nicht gehorchen. »Monsieur Rufus hat sie aufgehalten, und ich bin gelaufen«, sagte er leise. »Oder besser, meine Beine haben das übernommen. Sie haben mich hierhergetragen.« Es klang so sehr nach Zauberei, dass sich Art selbst fast für verrückt hielt.