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Sophie Parker

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Beschreibung

Kann man jemanden lieben, den man weder sieht noch fühlt oder riecht? Wie viel Projektion steckt in dieser Art von Liebe? Oder ist es letztlich vielleicht sogar möglich, besser zu lieben, wenn verwirrende andere Sinneseindrücke ausgeschaltet sind und man sich ganz auf das Wesen des anderen konzentrieren kann? Diese Fragen stellt sich Martha, die mit dem Motorrad in Südfrankreich unterwegs ist. Sie hofft, Mathieu wieder zu treffen, in den sie sich als Schülerin einige Jahre zuvor verliebt hatte, doch der lebt im Moment für ein paar Monate auf Mauritius. Sie mailen sich, sie verlieben sich, immer intensiver wird ihr Kontakt. Und Marthas Aufregung steigt mit jedem Tag, mit dem Mathieus Rückkehr näher rückt. Wird er von ihr enttäuscht sein, wenn er sie wiedersieht? Oder – schlimmer noch – sie von ihm? Eine zauberhafte Liebesgeschichte in Mails, Blogs und Chats!

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Seitenzahl: 182

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Sophie Parker

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Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

12. Juni19. Juni26. Juni3. Juli11. Juli17. Juli24. Juli1. August8. August
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12. Juni, 18:42 h

Ich nehme den Kopf in beide Hände und versuche ihn genau in das kleine Loch zu platzieren, das Edouard in der Halswirbelsäule angebracht hat. Jetzt muss ich nur noch drehen. Es sieht ein bisschen aus wie in diesem Horrorfilm «Der Exorzist», wo das vom Teufel besessene Mädchen ihren Kopf um 360 Grad dreht und dabei wie Herr Hohlmann spricht. Herr Hohlmann war der Hausmeister an unserer Schule und musste, bedingt durch eine Krebserkrankung, einen elektronischen Stimmverstärker benutzen, um uns anzubrüllen, was mir in der Unterstufe eine Heidenangst eingejagt hat. Ach ja, lustige Schulzeit. Im Gegensatz dazu ist das, was ich hier tue, tödlicher Ernst. Ich, Martha Odenfeld, arbeite seit heute für Salut Squelette. Was nach einem treffenden Namen für eine Modelagentur klingt, ist ein Herstellungsbetrieb für anatomische Modelle. Ich muss Gelenke ineinander verschrauben, Köpfe auf Halswirbelsäulen montieren und Knochen fräsen und nummerieren. Die Knochen sind natürlich nicht aus echtem Gebein, sondern aus so einer Art PVC, also dem Zeugs, das meine Mutter früher auf dem Küchenfußboden liegen hatte und das angeblich so praktisch zu putzen ist.

Edouard nickt anerkennend, als ich den Kopf endlich richtig aufgeschraubt habe. Darauf kann ich mir jetzt ein bisschen was einbilden. Mein Vorarbeiter macht den Job nämlich schon seit fast 20 Jahren, und wenn einer die richtige Kopfaufschraubung würdigen kann, dann ja wohl er. Ich wische mir die Haare aus der Stirn. Draußen herrschen gefühlte 60 Grad Celsius, und hier drinnen, in der Montagehalle, ist auch nicht gerade Sibirien.

«Na, weiter!» Oder so etwas in der Art sagt Edouard. Und dass wir hier keine Kunst machen würden, sondern Wissenschaft. Ich habe mitunter etwas Mühe, ihn zu verstehen. Edouard spricht den regionalen Dialekt, und der ist hier, in der Provence, nicht ganz leicht zu verstehen. Da, wo Restfrankreich die Vokale sehr hübsch und sehr nasal in der Luft schweben lässt, lebt der gemeine Südfranzose eher auf dem harten Ausspracheboden. Peng! ist hier nicht etwa die lautmalerische Umschreibung eines Pistolenschusses, sondern bedeutet «Brot». Edouard sagt auch ständig Sachen wie: «O là, l’Alle-mann-de! Donne-moi un coup de meng!» Also, einen Handschlag, einen coup de main, soll ihm die Deutsche geben. Aber ich werde mich schon daran gewöhnen. Außerdem bin ich hier ja ohnehin nur für drei Wochen, dann geht es weiter. Bis dahin werde ich mich finanziell hoffentlich so eingepegelt haben, dass ich nach Spanien und Portugal weiterdüsen kann. Die Sommerhitze kann mich dabei nicht schrecken, auf dem Motorrad ist es ja immer hübsch frisch.

12. Juni, 19:58 h

An: [email protected]

Betreff: deine neuen Freunde

Ho, Martha, ich muss schon sagen, ein 40 Jahre alter Vorarbeiter mit einem penchant für das Mundartliche und ein demontierter Hein Klapperbein! Deine Freundgewinnungsversuche sind nicht eben von Erfolg gekrönt! Man kann dich aber auch nirgendwo alleine hinlassen. Wenn ich deinen ersten Blog-Eintrag richtig deute, bist du jetzt also in Südfrankreich angekommen. Das zumindest ist schön. Weißt du eigentlich, wie oft deine Mutter mich in den letzten zwei Tagen angerufen hat, um zu hören, ob ich von dir schon etwas gehört hätte?! Hat dein Handy unterwegs eigentlich das Zeitliche gesegnet? Oder hast du dich einfach nur tot gestellt?

Sehnsüchtige Umarmung

Deine Lotta

12. Juni, 22:58 h

An: [email protected]

Betreff: Re: deine neuen Freunde

Ja sorry, Lotta, Mama ist von sorgenvoller Natur, ich weiß auch nicht, warum sie glaubt, dass eine Europareise per Motorrad Gefahren bergen kann … Wo ich doch so eine harte Bikerin bin … Na gut, erst seit drei Monaten. Ja, ich weiß, es ist für alle noch etwas gewöhnungsbedürftig, dass ich mich so kurz nach Abi und Motorradführerschein verabschiedet habe, kann es selbst noch nicht richtig glauben, und ehrlich gesagt, bin ich auf meiner Strecke hier runter fast gestorben vor Angst. Vor allem deutsche Autobahnen sind die Hölle und deutsche Autofahrer des Satans. Lichthupen, dichtes Auffahren, Drohgebärden: kein Wunder, dass mich Salut Squelette, der Name meines französischen Arbeitgebers, wie magisch angezogen hat. Als ich nach meiner Ankunft hier die Stellenangebote durchgegangen bin, konnte ich einfach nicht widerstehen. Und da man nicht besonders gut Französisch parlieren muss, um dem Tod ins Gesicht zu sehen, haben die mich zu meiner großen Freude auch gleich akzeptiert.

So, jetzt aber das Beste: Ich arbeite hier ganz in der Nähe des Ortes, in dem wir als Siebtklässlerinnen zum Schüleraustausch waren! Und ich muss natürlich überall an dich denken! Also auch, wenn du nicht körperlich anwesend bist: Irgendwie bist du es doch!

12. Juni, 23:12 h

An: [email protected]

Betreff: Re: Re: deine neuen Freunde

Du bist in Apt?! Und hast du auch meinen alten Austauschschüler wiedergesehen, Mathieu? Es war mir ja damals nicht vergönnt gewesen, Französisch mit ihm zu sprechen, erstens, weil er perfekt Deutsch konnte, und zweitens, weil du immer diejenige warst, die mit ihm losgezogen ist. Ha, ich weiß aus eigenen Beobachtungen und gut informierten Kreisen, dass dieser Deutschfranzose das Thema deiner Tagebuchaufzeichnungen von Klasse 7 bis 10 war!

12. Juni, 23:21 h

An: [email protected]

Betreff: Re: Re: Re: deine neuen Freunde

Liebe Lotta, wenn du mit gut informierten Kreisen meine Mutter meinst, die ich in Klasse zehn als Tagebuchspionin enttarnt habe – diese Quelle ist nicht glaubwürdig. Wie alle Literaturwissenschaftler hat sie es mit der Textinterpretation ein bisschen übertrieben. Ja, ich habe Mathieu ein paar Mal in meinem Tagebuch erwähnt. Mehr war aber auch nicht dabei. Im Übrigen ist das nun schon so viele Zeitalter her, diese Schriften müssen noch in Hieroglyphen sein! Um auf deine Frage zu antworten: Nein, ich habe Mathieu nicht gesehen, und ich habe auch kein Treffen mit ihm geplant. Aber ich bin zufällig an der Place Carnot vorbeigekommen, wo er damals gewohnt hat. Auf dem Türschild steht immer noch Maréchal, also wohnen zumindest seine Eltern noch dort. So, und jetzt werde ich schlafen gehen. Morgen soll ich in einer Sonderschicht Modelle von Grippeviren zusammenstecken, da heißt es Abwehrkräfte mobilisieren. Gute Nacht, meine Süße! Träum schön von deiner Karriere als Werberin!

12. Juni, 23:25 h

An: [email protected]

Betreff: Re: Re: Re: Re: deine neuen Freunde

Karriere, sehr witzig! Schätze, dass ich in diesen zwei Praktikumsmonaten ohnehin nur den Kaffee kochen darf. Aber egal: Am Ende steht Barcelona! Freue mich schon so unendlich, dich dann zu sehen! Ach ja, und wenn du das nächste Mal über die Place Carnot gehst, dann klingel doch mal und grüß die Maréchals schön von mir. Ich habe eigentlich eine ganz gute Erinnerung an die Zeit bei denen. Der Vater war den ganzen Tag in seinem Atelier, und die Mutter hat gearbeitet, sodass ich schon mit dreizehn einen Vorgeschmack auf so etwas wie Freiheit bekommen habe. Ein bisschen nervig bloß, dass man bei denen immer durch so eine Nebelwand gehen musste, der Vater hat ja den ganzen Tag Gauloises geraucht. Meine Mutter war so kurz davor, die beiden zu verklagen, als ich zurückkam und mein Kofferinhalt wie ein Aschenbecher gestunken hat, erinnerst du dich?

12. Juni, 23:28 h

An: [email protected]

Betreff: Liberté toujours

Ja, und wie, erst nahm sie es mit Humor und meinte, sie könnte sich nicht daran erinnern, dich auf einen isländischen Vulkan geschickt zu haben, und in der nächsten Minute mussten wir alle zu so einer Beratungsstelle und uns über die Gefahren des Rauchens aufklären lassen. Also, Lottachen, wir werden die zwei Wochen in Barcelona durchfeiern, oder? Umarme dich. Gute Nacht!

13. Juni, 02:24 h

An: [email protected]

Betreff: lost & found

Salut Mathieu!

Bist du zufällig jener Mathieu Maréchal, der in Apt zur Schule gegangen ist? Der eine deutsche Mutter hat und ein schwarz lackiertes Rennrad? Ich weiß nicht, ob du dich noch an mich erinnerst. Ich war vor sechs Jahren mit meiner Klasse an deiner Schule – die Rothaarige, die beim Fahrradausflug damals in eine Grube gestürzt ist, weil sie mit dreizehn immer noch nicht richtig radfahren konnte … Und du warst wenig später mit deiner Klasse in Hamburg. Deine Gastfamilie war die meiner Mitschülerin Lotta. Ich bin durch Zufall auf deinen Fotoblog gestoßen und finde die Bilder superschön. Wohnst du noch auf der Place Carnot?

Viele Grüße

Martha

 

13. Juni, 20:02 h

Zweiter Arbeitstag in der Fabrik für anatomische Modelle. Heute musste ich bei den Kollegen aushelfen, die sich um die Krankheiten kümmern. Beziehungsweise um die tausendfach vergrößerte Darstellung von Bakterien und Viren. Viele Unis haben in den vergangenen Monaten ihr gesteigertes Interesse an Schweinevirus-Modellen entdeckt. Richtig hip ist das Teil offenbar in den Farben Blau, Rosé und Violett. Und in der Tat kann so ein Grippevirus ganz dekorativ aussehen. Erinnert ihr euch noch daran, wie wir früher Streichhölzer in Kastanien gesteckt haben und wie das dann so niedliche Tiere ergab? So in der Art sehen diese Grippeviren aus.

Natürlich ist mir klar, dass man damit nicht herumspaßt. Vor nicht allzu langer Zeit haben die meisten von uns ja gedacht, dass sie bei einer Infektion mit Schweinegrippeviren sterben müssten. Ich weiß noch, wie ich während der ersten Epidemie dieses Kratzen im Hals hatte und gedacht habe: Oh mein Gott, ich hoffe, dass es bloß Typhus ist!

Da ich zu dem Zeitpunkt, als wir im Bio-Unterricht Grippeviren durchgenommen haben, mehr mit meiner eigenen Anatomie beschäftigt war, hat mein Südfrankreich-Aufenthalt einen echten Lerneffekt. Seit gestern habe ich so viele Halswirbel und Grippeviren gesehen, dass ich ihren Anblick vermutlich mein Leben lang nicht mehr vergessen werde. Und jetzt werde ich meinen Blick nach vorn richten. Ausnehmend gut sieht das hier nämlich aus.

Ich wohne bei einer Frau namens Yvonne. Sie ist irgendwas in den Sechzigern und von oben bis unten mit Muschelketten, Silberschmuck und Halbedelsteinen geschmückt. Ihre hennagefärbten Haare trägt sie offen bis zur Taille, und sie ist stark, wenn auch eigentlich ganz hübsch geschminkt – kurzum eine Hippiefrau, wie sie im Buche steht! Als ich vor drei Tagen hier ankam, um nach dem Zimmer zu fragen, das mir die Office de Tourisme genannt hat, stand sie Gitarre spielend neben einem großen schwarzen Pferd in ihrem Garten. Später hat sie mir erklärt, dass Hugo (so heißt ihr Pferd) sich von Gitarrenklängen immer so gut beruhigen lässt. Im Wohnzimmer hängt eine gerahmte Fotografie von ihr, die aus den siebziger Jahren oder so stammt. Die zeigt eine junge Yvonne auf ihrem schwarzen Rappen, schon damals mit tausend Ketten und Ohrringen behängt, mit kajalumrandeten Augen, rotem Lippenstift und taillenlangen roten Haaren, aber jetzt kommt es: Sie sitzt mit freiem Oberkörper auf ihrem Pferd! Es sieht toll aus, und irgendwie bewundere ich sie dafür. Ich würde mir jedenfalls nicht ein Bild von mir mit nacktem Oberkörper auf meinem Motorrad ins Zimmer hängen, was vermutlich mit der Tatsache zusammenhängt, dass man mich niemals mit nacktem Oberkörper auf meinem Motorrad erwischen wird.

Buoux, das Dorf, in dem Yvonne wohnt (und somit zumindest für ein paar Wochen auch ich), liegt ziemlich weit oben im Lubéron. Von der Terrasse aus blicke ich auf Berge, die orangefarben im Abendlicht leuchten. Die Luft ist klar und sauber hier, und die Berge sind gestreift. Graue, ockerfarbene und orangefarbene Gesteinsschichten lagern übereinander, es sieht ein bisschen wie ein Baumkuchen mit verschiedenen Schokoladensorten aus. Von Yvonnes Terrasse aus blicke ich auf einen Felsen in der Ferne, den Yvonne den «Indianerkopf» nennt. Er ist rötlich und stellt ein Gesicht dar, mit einer herausragenden Nase und Federschmuck um die Stirn. Ein anderer Felsen, den ich von hier erkennen kann, ist ebenfalls baumkuchengestreift und ragt steil und glatt in die Höhe. Yvonne meint, es sei «Europas größter Kletterfelsen». Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber auf jeden Fall hängen hier ziemlich viele Leute in schwindelerregender Höhe in ihrem Klettergeschirr und rufen in verschiedenen Sprachen die Sicherungskommandos nach unten, zu denen, die die Seile festhalten.

Und dann ist da noch ein Restaurant, das sich sehr hübsch und grobsteinig an einen anderen Felsen anlehnt, die Auberge des Vaudois.

So weit erst mal für heute. Ich fahre gleich ins Tal hinunter. Mein Kollege von der Dickdarmabteilung spielt heute in einem Theaterstück im Festsaal von Apt.

13. Juni, 21:17 h

An: [email protected]

Betreff: Ich mach mir die Welt …

Liebe Martha, wenn du uns schon eine erfundene Geschichte auftischen willst, dann nimm dir doch wenigstens die Zeit und erzähl eine, die man auch glauben kann! Dass du in so einer Art Villa Kunterbunt bei einer sechzigjährigen Pippi Langstrumpf lebst, kannst du doch nicht einmal meinen kleinen Brüdern weismachen. Außerdem glaube ich nicht, dass du keinen Versuch unternommen hast, deinen Mathieu zu finden! Also lass Fakten rüberwachsen – schnell!

Hatte übrigens heute meinen ersten Praktikumstag. Jetzt muss ich unter Hochdruck Vokabeln lernen! Ausgerechnet ich! Deine Lotta

13. Juni, 23:47 h

An: [email protected]

Betreff: Re: Ich mach mir die Welt …

Okay, okay, dir kann man aber auch gar nichts vormachen. Ja, ich bin tatsächlich ein bisschen wegen Mathieu hierhergefahren. War einfach neugierig, wie er jetzt aussieht. Habe aber bislang nur ein Foto von ihm gesehen, weil ich seinen Fotoblog gefunden habe. Ich beschreibe jetzt mal völlig wertfrei: grüne Augen, braune Locken, hohe Wangenknochen, volle Lippen, ein hinreißendes Lächeln … Er fotografiert Landschaften im Lubéron, und ich habe mich durch alle 163 Aufnahmen geklickt, weil die Bilder einfach unglaublich sind. Und ja, natürlich habe ich ihm geschrieben. Er hat sich aber bislang nicht gemeldet. Kann natürlich nicht mit Sicherheit sagen, dass es sich um den richtigen Mathieu handelt. Der dreizehnjährige Mathieu war nett anzusehen, während der neunzehnjährige schlichtweg … nein, ich sage dazu nichts mehr, ich hänge dir das Bild einfach an. Es ist irgendwie nett, hier herumzulaufen und dabei zu denken, dass ich Mathieu jederzeit begegnen könnte. Ein Teil von mir freut sich darauf, ein anderer denkt aber auch: Was soll ich ihm dann eigentlich erzählen? Im Übrigen gibt es hier auch andere interessante Jungs. Mein Kollege Pablo zum Beispiel, aus der Abteilung Gedärme, den ich heute Abend auf der Bühne erlebt habe. War hinterher noch mit ihm und den anderen Schauspielern was trinken, und auch das war sehr nett!

Der Weg hinunter nach Apt ist übrigens phantastisch! Aber auch ein bisschen gefährlich. Die Straße schlängelt sich zwischen zerklüfteten Steilwänden ins Tal hinab. Yvonne hat mir aufgetragen, nach einem Felsblock Ausschau zu halten, der ein Stück weit die Straße belegt. Anscheinend liegt unter diesem Block der hiesige Briefträger begraben, weshalb er bei den Einheimischen kurz und klangvoll rocher du facteur heißt, Briefträgerfels. Es mag verdienstvoll anmuten, mit einem steinernen Denkmal namens Marthafels verewigt zu werden, aber ich ziehe es momentan vor, mich nicht von herabstürzenden Brocken begraben zu lassen. Meine Europareise hat schließlich gerade erst begonnen. Und ja, ich lebe WIRKLICH bei einer sechzigjährigen Pippi Langstrumpf. Großes Pfefferkuchenehrenwort!

Und jetzt erzähl mir, welche Sprache du bei deinem Job in einer Hamburger Werbeagentur lernen musst!

Deine Martha

14. Juni, 00:17 h

An: [email protected]

Betreff: Re: Re: Ich mach mir die Welt …

Ich muss Werbersprech lernen. Die Grammatik ist ziemlich einfach, aber dafür haben es die Vokabeln in sich. Stufe eins: Alles muss irgendwie mit dem Wort Power gekoppelt werden. Und der Rest wird mit englischen Begriffen aufgefüllt. Beispiel heute: «Bevor wir in das Topic einsteigen, habe ich noch ein paar Power Questions.» Und dann, kurz vor der Mittagspause (wir waren alle gerade im stand-up meeting): «Wir machen jetzt einen Power Walk zum Lunch.»

Gut, dass du meinen alten Austauschschüler im gegenwärtigen Zustand so wertfrei und detailliert beschrieben hast. Ich würde sonst wirklich denken müssen, dass er sich seit der achten Klasse nicht mehr die Haare hat schneiden lassen und dass er ein Faible für Schmuck hat, der nur sehr dürftig seine zwei wirklich beeindruckenden Brüste bedeckt! Und er reitet also auch gerne? Ja, sind die da unten eigentlich alle pferdeverrückt?!

Bis morgen, meine Süße, muss jetzt mal einen ordentlichen Power Nap hinlegen, wenn ich morgen in der Agentur fit sein will. Träum was Hübsches von deinem Franzosen!

Ich umarme dich, stay tuned!

14. Juni, 00:22 h

An: [email protected]

Betreff: Re: Re: Re: Ich mach mir die Welt …

Ich lach mich tot! Hab dir das falsche Bild geschickt – aber jetzt kennst du meine Pippi Langstrumpf! Habe ich von dem Foto geschossen, das bei Yvonne im Wohnzimmer hängt … Schlaf schön, ich umarme dich auch!

 

15. Juni, 17:04 h

Die gemeine Trägerin von Sonnenschutzfaktor 60 ist in der Regel ein vorsichtiger Mensch. La vie en rose ist nicht so ihr Fall und noch weniger das Leben in Krebsrot. Alles, was zu vermehrter Sonneneinstrahlung führen könnte, ist ihr per se unheimlich. Insofern reagiere ich zunächst einmal skeptisch, als mir Yvonne an diesem Morgen vorschlägt, meine Motorradkluft einfach mal wieder auszuziehen, mich mit ihr auf den schwarzen Rappen zu schwingen und hinunterzureiten zum Markttag nach Apt.

Was für ein Erlebnis! Ich glaube, das Beste am Reiten ist, dass man sich fernab der Straßen bewegt. Yvonne kennt jeden Kiesweg, jede Schotterpiste, jeden pferdetauglichen Berg. Anders lässt es sich wohl nicht erklären, dass wir etwa zwei Stunden lang auf Hugo durch die totale Wüstenei traben, während die Sonne immer höher steigt. Wir befinden uns inmitten von duftenden Wildkräutern, ockerfarbenen Sandfeldern und ausgetrockneten Flussbetten, reiten eine Ebene hinauf, eine andere hinunter, bis wir uns dem Talkessel nähern. So plötzlich tauchen die Häuser auf, dass ich mich kurz wundere, überhaupt noch in besiedeltem Land zu sein. Kleine Gehöfte, deren Scheiben in der Sonne blinken, Wohnhäuser aus unbehauenen Steinen und dann ein umzäuntes Gebäude, vor dem zwei blau Uniformierte mit Pistolenhalftern in einen Wagen steigen – das Commissariat. Klippklapp machen die Hufe von Yvonnes schwarzem Rappen auf der asphaltierten Straße. Und dann ist die Luft erfüllt von Stimmengewirr und Musik. Im nächsten Augenblick sehe ich meinen Kollegen Pablo (aus der Gedärmeabteilung; eigentlich Schauspieler), der sich händefuchtelnd mit ein paar Leuten in unserem Alter unterhält. Er sieht Yvonne und mich die Straße heruntertraben – okay, Yvonnes Pferd natürlich –, und seine Augen weiten sich. Klar, wir müssen ein toller Anblick sein. Erstens sind Reiter auch in den Bergdörfern des Lubéron wohl ein eher seltener Anblick. Zweitens sehen wir vermutlich wie Großmutter und Enkelin mit unseren roten Haaren aus. Drittens habe ich einen multiplen Sonnenbrand erlitten. Ich bemerke es, während ich von Hugo herunterspringe. Die Straße, an der wir haltmachen, liegt im Schatten, und es weht ein munterer kleiner Wind. Trotzdem fühlen sich meine Wangen und Schultern an, als habe jemand ein Feuer auf ihnen entfacht.

«Ah mon Dieu!», entfährt es Yvonne, als sie meiner ansichtig wird. «Was ist denn mit dir passiert?»

Ja, das würde ich auch gern wissen. Habe ich mich doch extrem dick eingecremt, bevor wir gestartet sind. Aber dies sind die ersten starken Sonnenstrahlen des Jahres, die ich auf meine Haut lasse. Bei sämtlichen Wegen, die ich in den vergangenen Monaten zurückgelegt habe, hatte ich einen Motorradhelm auf. Und meine Arme und Schultern waren immer von dickem Leder bedeckt. Ja, ich bin empfindlich. Blondinenhaut sieht im Vergleich zu meiner wie Karamellbonbon aus. Ich deute auf meine Haare. Dass ich rothaarig sei und dass sie, Yvonne, das Problem doch wohl kennen müsse. Meine Wirtin gibt mir zu verstehen, dass ihr die Probleme von Frauen mit echten Haarfarben vergleichsweise fremd sind, aber dass sie mich heute Abend gern mit etwas eincremen kann, das sich wie huile de millepertuis anhört. Pablo, dessen medizinisches Verständnis in zahlreichen Tag- und Nachtschichten mit Nachbildungen menschlicher Innereien gewachsen ist, zerrt mich zur nächstgelegenen Apotheke und kauft mir Biofine, das französische Pendant zu After Sun. Die Frau hinter der Theke begutachtet mein knallrotes Gesicht und fragt, ob es vielleicht die Masern sein könnten. Ich verneine mit Inbrunst und schiebe noch ein «Zumindest hoffe ich das nicht» hinterher. Pablo erklärt mir, dass ganz schön viele Menschen hier derzeit die Masern haben und dass diese Krankheit echt kein Kinderspiel sei.

Aber dann wird es lustig. Ich verabschiede mich von Yvonne, die ihr Pferd bei Freunden im Ort unterbringen will, und schließe mich Pablo und seiner Truppe an.

Um zu erklären, wie dieser Ort beschaffen ist, muss ich etwas vorgreifen. Später, als die Marktstände abgebaut werden und wir alle in einem Café sitzen, finde ich Yvonne wieder. Sie sitzt am Nebentisch, ihre mit tiefschwarzem Kajal geschminkten Augen blicken in die Augen eines Herrn in ihrem Alter, mit dem ich dann auch ins Gespräch komme und der einmal Geschichtslehrer am hiesigen Gymnasium war. Er fragt mich, wie lange ich hier zu bleiben gedenke, und als ich ihm antworte, dass ich etwa drei Wochen eingeplant hätte und dass ich vorhätte, im Anschluss an meinen Job hier weiter nach Spanien zu fahren, lächelt er mich etwas rätselhaft an. Und dann beginnt er zu erzählen. Dass er die Geschichte dieses Ortes vom Mittelalter bis heute studiert hätte. Dass es eine wechselvolle Geschichte sei. Allerdings mit einer Konstante – quer durch die Jahrhunderte. Wer in Apt auf Durchreise sei, erklärt er, komme meistens nicht mehr von hier weg.

Die anderen am Tisch verstummen, während sie ihm zuhören. Pablo nickt sogar. Der Geschichtslehrer berichtet von Mönchen und Pilgern, die ursprünglich nach Rom wollten. Von Wissenschaftlern im 18. Jahrhundert auf ihrem Weg nach Paris. Fast alle, die in Apt ein paar Tage gerastet hätten, seien geblieben. Und das sei bis heute so.

«Regarde!» Der Geschichtslehrer zeigt auf Pablo, der eben seine Espressotasse zum Mund führt. «Pablo! Dein Vater wollte ursprünglich wohin noch mal, als er aus Andalusien kam?»

«Nach Lyon», grinst Pablo, und ich sehe, dass seine dunkelbraunen Augen im Sonnenlicht mit gelben Punkten gesprenkelt sind. «Aber dann hat er meine Mutter kennengelernt. Sie ist seinem wilden spanischen Charme sofort verfallen!» Er zwinkert mir zu. «Wie ist es mit dir, Martha? Magst du es auch, wenn Männer ein bisschen macho sind? Wenn sie dir sagen, wo es langgeht?»

Mir bleibt vor Verblüffung der Mund offen stehen.

«Und du, Richard?» Der Geschichtslehrer zeigt auf den Blonden, der neben Pablo sitzt und Französisch mit britischem Akzent spricht. «Wo kommst du noch mal her?»

«Aus London», antwortet Richard. «Meine Eltern hatten hier ein Wochenendhaus. Jetzt lebe ich schon seit über zehn Jahren hier.»