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Kerstin Held

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Beschreibung

»Ich trage meine Kinder im Herzen!«

Kerstin Held schafft es wie keine Zweite, Kinder glücklich zu machen, die sonst keine Chance hätten. Die heute 44jährige gibt behinderten Pflegekindern ein familiäres Zuhause - oft gegen viele Widerstände. Kerstin Held ist 25 Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein behindertes Pflegekind aufnimmt, ein Schritt, für den es im Jahr 2000 noch gar keine gesetzliche Regelung gibt. Die Aufnahme von Pflegesohn Sascha wird zum Präzedenzfall in Deutschland und sorgt in der Gesetzgebung für die bis heute gültige Übergangsregelung. Dadurch wird Kerstin Held zur unermüdlichen Kämpferin in Sachen Inklusion und Gleichberechtigung für behinderte Pflegekinder.

Schließlich hat sie mit einer ausufernden Bürokratie, unklaren Rechtslage und vielen Vorurteilen zu kämpfen. Bis heute hat Kerstin Held als Pflegemutter zwölf Kinder aufgenommen, zehn davon schwerbehindert. In »Jedes Kind hat ein Recht auf Familie« erzählt sie nun von ihrem steinigen Weg zur »Mama Held« und heutigen Vorsitzenden des Bundesverbands behinderter Pflegekinder.

Kerstin Held setzt sich mit all ihrer Kraft dafür ein, dass behinderte Pflegekinder eine größere Lobby bekommen.

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Kerstin Held schafft es wie keine Zweite, Kinder glücklich zu machen, die sonst keine Chance hätten. Die heute 44-Jährige gibt behinderten Pflegekindern ein familiäres Zuhause – oft gegen viele Widerstände. Kerstin Held ist 25 Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein behindertes Pflegekind aufnimmt, ein Schritt, für den es im Jahr 2000 noch gar keine gesetzliche Regelung gibt. Die Aufnahme von Pflegesohn Sascha wird zum Präzedenzfall in Deutschland und sorgt in der Gesetzgebung für die bis heute gültige Übergangsregelung. Dadurch wird Kerstin Held zur unermüdlichen Kämpferin in Sachen Inklusion und Gleichberechtigung für behinderte Pflegekinder. Schließlich hat sie mit einer ausufernden Bürokratie, unklaren Rechtslage und vielen Vorurteilen zu kämpfen. Bis heute hat Kerstin Held als Pflegemutter zwölf Kinder aufgenommen, zehn davon schwerbehindert. In »Jedes Kind hat ein Recht auf Familie« erzählt sie nun von ihrem steinigen Weg zur »Mama Held« und heutigen Vorsitzenden des Bundesverbands behinderter Pflegekinder. Kerstin Held setzt sich mit all ihrer Kraft dafür ein, dass behinderte Pflegekinder eine größere Lobby bekommen.

Kerstin Held

Unter Mitarbeit von

Daniel Oliver Bachmann

Kösel

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Copyright © 2020 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Umschlagfoto: Jacobia Dahm

Satz: dtp im Verlag

E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-25835-1V001

www.koesel.de

Dieses Buch widme ich jedem Menschen, der einem Kind mit Behinderung ein Zuhause und eine Familie gibt. Besonders widme ich es den Pflege- und Adoptivfamilien, die mit allem Mut diesen Weg gehen und sich allen Herausforderungen stellen. Aber auch denen, die sich für Kinder mit Behinderung einsetzen, die nicht in der Herkunftsfamilie leben können.

Meine Widmung geht aus tiefem Herzen an all die Kinder, die nicht unbeschwert bei ihren Eltern leben können. Jene Kinder, die gesund zur Welt hätten kommen können, wenn Alkohol und Drogen nicht existieren würden. Mein Herz gehört euch, die ihr in den ersten Lebenswochen einen Kampf um das Überleben führen müsst. Ihr kommt als »Benjamin Button« zur Welt, so weise und so unendlich tapfer.

Und es wär’ doch ganz schön, wenn man Dinge gewinnt,

die schon längst verloren waren …

Johannes Oerding, Benjamin Button

INHALTSVERZEICHNIS

Prolog

Der ganz normale Wahnsinn

Eine Kindheit in der zweiten Reihe

Silke und Kerstin

Der Tag, der alles verändert

Der King of Pop

Und dann kommt Sascha

Der Kampf beginnt

Und was ist mit eigenen Kindern?

Die Petition »Sascha Kühl«

Siege - und Niederlagen

Das Hoch im Norden

Gebt uns Zuversicht!

Abschiede

Ein Kinderparadies? Einfach ein Zuhause!

Epilog

Dank

Das größte Geschenk, das du jemandem machen kannst,

bist du selbst - jemandem ein Stück deines Herzens zu geben

ist mehr wert, als der ganze Reichtum der Welt.

Michael Jackson

PROLOG

Ich hatte viele Situationen in meinem Leben, in denen es darum ging, mit einem Entschluss meinem Weg eine neue Richtung zu verleihen: als meine Schwester starb und ich nicht zur Beerdigung ging, sondern ihrem besonderen Schicksal auf meine Weise gedachte. Als ich früh von zu Hause auszog, um mich von meiner sehr besonderen Mutter loszueisen. Als ich für Michael Jackson arbeitete, und damit wieder aufhörte, weil diese Welt nicht meine Welt war. Als ich meinen besten Freund heiratete und mich wieder von ihm trennte. Als ich begann, mit Menschen mit Behinderung zusammenzuarbeiten, und dabei feststellte, wie gut wir uns verstanden. Als ich mein erstes behindertes Pflegekind aufnahm, gegen alle Widerstände, die mir der Staat, meine Familie, meine Freunde und Bekannten damals in den Weg legten. Als ich eine Bundestagspetition erwirkte und dafür sorgte, dass Menschen wie ich behinderte Pflegekinder aufnehmen dürfen, die zuvor in Heimen lebten. Als ich den Anruf bekam, da gäbe es diesen Jungen, 5 Jahre alt und lediglich 84 Zentimeter groß, geistig behindert, schwerst traumatisiert, der in Obhut genommen wurde, weil er schwere Misshandlungen erleben musste. Als ich ihn zu mir nahm und er nur Töne von sich geben konnte wie das Spielzeug Furby, der einzige Begleiter auf seiner emotional einsamen Odyssee. Als er in unserer Familie geradezu aufblühte und in der Silvesternacht 2001 Punkt Mitternacht ein erstes neues Wort sprach.

Ich beugte mich über sein Bettchen und fragte: »Und, was sagt man jetzt? Frohes … neues …«

Da ging ein Strahlen über sein Gesicht und er antwortete laut und deutlich: »Zuhause!«

Darum geht es in diesem Buch, das Sie in Ihren Händen halten: Wie ich auf meinem Zickzackweg durchs Leben durch viele glückliche und manchmal auch nicht so glückliche Entscheidungen meine Bestimmung fand: Ich gebe Kindern mit Behinderung, die nicht ich geboren habe, ein Zuhause. Formell nennt man sie Pflegekinder. Für mich sind sie mein Leben. Ich sorge dafür, dass sie nicht in Einrichtungen untergebracht werden müssen, sondern ihr Recht auf eine Familie bekommen. Ich glaube fest daran, dass sie innerhalb einer Familie ihr Potenzial entfalten können und ihr Lebensglück finden. Ich bin zwar nicht ihre leibliche Mutter, aber ich bin ihre Herzmama, und das 24 Stunden am Tag, das ganze Jahr über, so lange, wie sie bei mir bleiben. Wissen Sie, was das Verblüffendste ist? Beim Schreiben wurde mir klar, dass wirklich jede Entscheidung, die ich jemals traf, auf diese Bestimmung hingeführt hat. Heute kann ich mir gar nichts anderes mehr vorstellen, als das zu tun, was ich mit Liebe und Leidenschaft tue. Und damit möchten meine Kinder und ich Sie in der kleinen, aber aufregenden Welt von Mama Held »Herzlich willkommen!« heißen.

DER GANZ NORMALE WAHNSINN

Auch wenn wir schon weit gekommen sind.

Wir gehen immer weiter hoch hinaus.

Egal, wie hoch die Hürden auch sind.

Sie sehen so viel kleiner von hier oben aus.

Tim Bendzko, Hoch

Wenn Sie meinen jetzigen Heimatort Ovelgönne auf der Landkarte suchen, werden Sie im Nordwesten der Bundesrepublik fündig. Zwischen Bremen und Oldenburg, nahe der Weser, wo das Land weit und grün ist und der Himmel sich bis zum Horizont erstreckt. Das ist die Gegend, von der man sagt, dass man freitags schon sehen kann, wer sonntags zum Kaffee kommt. Bis zur Nordsee ist es ein Katzensprung – was für die weitere Geschichte der Familie Held bedeutsam sein wird – und auch sonst bestimmt Wasser das Leben bei uns in der Wesermarsch. So heißt die Region, in der man niemals vergessen sollte, Gummistiefel parat zu haben. Denn überall fließt, plätschert und gluckert es, in Priele und Siele, wie wir die Gräben und Durchläufe nennen, die dafür sorgen, dass wir nicht ständig nasse Füße bekommen. Der Boden unter uns ist torfig und weich, was manches Haus in Mitleidenschaft zieht, wenn die schweren Lastwagen vorbeirumpeln, die mit Flügeln, Motoren und Getrieben für die großen Windkrafträder beladen sind. Auch diese prägen unser Landschaftsbild: Zu Hunderten drehen sie sich im Kreis, angetrieben vom stetigen Wind, der von der Nordsee weht. Draußen auf dem Wasser entstanden in den letzten Jahren weitere Windparks, die man vom Strand aus besonders gut sieht. Dort bin ich oft mit den Kindern. Sie lieben es, im Matsch zu spielen, den das Meer bei Ebbe als Abenteuerspielplatz zurücklässt. Erwähnte ich bereits, dass Gummistiefel angesagt sind? Matschhosen, am besten Overalls, ebenfalls. Ich sollte allerdings auch nicht vergessen, dass ich neben dieser bewährten Nordsee-Ausrüstung immer Notfallrucksäcke mit Absauggeräten und anderem lebensnotwendigem Zubehör dabeihabe. Dazu kommen Rollstühle und Rehawagen. Aber natürlich auch Spielsachen, Wechselkleidung und Kekse, wie in anderen Familien auch.

Wie in anderen Familien auch. Das ist ein Satz, der mir wichtig ist. Natürlich sind wir anders, und doch sind wir es auch nicht. Denn in erster Linie sind wir einfach eine Familie. Eine Patchworkfamilie. Das steht auf der bunten Kachel, die ich neben unsere Haustür geschraubt habe: »Patchworkfamilie Die Helden« ist da zu lesen. Darunter zeigen freundlich gemalte Tiere, dass es bei uns lustig zugeht. Oh ja, auch das ist mir wichtig: Obwohl bei uns Krankheit und auch der Tod nie weit weg sind, geht es sehr lustig zu. Das hören Sie, sobald sich die Tür öffnet, und das sehen Sie dann auch: An den Wänden begrüßen Sie Porträts von Mickey Maus, Donald Duck und Kermit, dem Frosch. Die Treppenstufen, die nach oben in den ersten Stock führen, habe ich mit Zitaten von Walt Disney versehen. Das steht zum Beispiel »We whistle while we work« – »Bei der Arbeit pfeifen wir« oder »We believe in happy endings« – »Wir glauben an ein gutes Ende«. Diese Sätze geben mir Kraft, wenn der Tod wieder einmal um die Ecke schleicht. Und wer steht aus demselben Grund gleich neben der Eingangstür? Es ist Meister Yoda persönlich: »Möge die Macht mit dir sein«, sagt er uns. Die damit verbundene Zuversicht und der Glaube an sich selbst können meine Kinder, unsere Pflegekräfte und auch ich gut gebrauchen.

Zurzeit leben vier schwerbehinderte Kinder unter meinem Dach. Drei von ihnen benötigen intensivmedizinische Betreuung. Das bedeutet in unserem Fall, dass mehrere Pflegekräfte mit im Haus sind, und zwar rund um die Uhr. Ich habe sehr vieles – einen ausgefüllten Tag, eine wunderbare Aufgabe und das Glück, Kindern, die ein besonderes Schicksal haben, eine Familie zu geben – doch eines habe ich nicht, und das ist ein Privatleben.

Sechs Uhr morgens, der Wecker klingelt, mein Tag beginnt. Im oberen Stockwerk ist mein Schlafzimmer, aber es ist kein echter Rückzugsort. Ich schlafe nie tief und fest die ganze Nacht durch. Mein Mutterinstinkt sorgt dafür, dass ich immer halb wach bin. Unten ist der Nachtdienst zu Gange, und natürlich kann ich die Pflegekräfte hören. Bei jedem Kind steht eine Kamera, die Bilder und Laute auf die Monitore der Babyphones überträgt und auch diese Geräusche kriege ich häufig mit. Das ist auch gut so, denn wenn der Notfall eintritt, muss es bei uns schnell gehen.

Im Zimmer neben mir schläft Erik. Auf den ersten Blick sehen ihm viele seine Behinderung nicht an.

»Was für ein süßer Junge«, heißt es. Manche nennen ihn »den kleinen Professor«, vor allem, wenn er seine unzähligen Fragen stellt. Dabei ist das größte Wunder, dass er überhaupt fragt. Als ich ihn aufnahm, schrie er bloß. Er schrie eine Stunde lang. Er schrie zwei Stunden lang. Er schrie drei Stunden lang, vier Stunden lang, acht Stunden lang. Einmal schrie Erik 14 Stunden lang, ohne Pause, ohne dass ihm die Stimme versagte, ohne dass ich etwas tun konnte. Damals brachte er mich an meine Grenze. Ich heulte Rotz und Wasser. Mir wurde klar, wie viel Leidensdruck das Fetale Alkoholsyndrom ihm verschafft, was eine Ursache seiner Behinderung ist. Wie es entsteht, ist – leider – schnell erklärt: durch den Alkohol, den eine werdende Mutter in der Schwangerschaft trinkt. Es braucht nur eine kleine Menge, um gravierende Folgeschäden zu verursachen.

Es hieß, als ich Erik zu mir nahm, dass er niemals viel können wird. Im Arztbrief lautet der Schlusssatz: »Dem Knaben wird alsbald seine Behinderung anzusehen sein.« Wenn Sie der Meinung sind, das klingt hartherzig, haben Sie recht Trotzdem höre ich solche Sprüche häufig. Sie stacheln mich an, weil ich denke: »Euch werden es die Kinder schon noch zeigen!« Daher bin ich stolz darauf, dass Erik bald in die Schule gehen wird und irgendwann selbst entscheidet, ob er getauft werden will oder nicht.

Nachts kommt er oft zu mir, daher ist die Tür zwischen unseren Zimmern offen. Dann will er »muckeln«, unsere Wortschöpfung für kuscheln. Erik braucht viel Nähe, und das ist noch so ein Wunder. Als ich ihn zu mir nahm, konnte er keinerlei Berührung aushalten, ganz so, als würde sein kleiner Körper bei jedem Kontakt einen elektrischen Schlag erhalten. Dass »Warum?« sein liebstes Wort wurde, dass er neben mir am Herd steht und Gemüse schnippelt, dass er etwas isst – wenn auch nur mit Tricks, die ich anwenden muss –, dass sein Lachen so ansteckend ist, dass alle mitlachen müssen, dass er unser Dasein bereichert: das alles entstand durch die Kraft der Familie. Deshalb bin ich eine unnachgiebige Verfechterin des Rechts jedes Kindes auf Familie. Und damit meine ich auch behinderte Kinder. Sie haben dasselbe Recht auf Familie wie alle anderen.

Jetzt rührt sich diese Familie, und ich sollte aufstehen. Raus aus den Federn! Waschen, Zähne putzen anziehen – das alles läuft nicht anders ab als in vielen Familien, Behinderung hin oder her. Wo ist mein Lieblings-T-Shirt, Mama? Hier, aber wo sind deine Socken? Kannst du mir bitte sagen, was sie in der Lego-Box zu suchen haben?

Ich gehe mit meinen Kindern kein Haar anders um als viele Mütter mit ihren. Es gibt keinen Behinderten-Bonus. Ich erziehe sie so, dass ich ihr Potenzial fördere und ihnen gleichzeitig beibringe, was sie wissen müssen, um durchs Leben zu kommen. Dabei kann ich auch mal laut werden, das steckt in meinem Naturell. Ich versuche dabei, nicht ungerecht zu sein, denn Ungerechtigkeit habe ich als Kind selbst erfahren. Deshalb weiß ich, wie sehr sie ein Kind verwirrt gleichgültig, ob es behindert ist oder nicht. Was ich auch nie tue: Ich bin keinem über längere Zeit hinweg böse. Es ist ein eisernes Prinzip im Hause von Mama Held: Jeder Tag muss gut zu Ende gehen.

Heute Morgen fühle ich mich ein wenig zerschlagen, denn die Nacht war unruhig. Jonathan schläft in der Regel zwei Stunden am Stück, danach ist er eineinhalb Stunden wach. Bei Richard kann es ähnlich sein. Cora hat eine sehr niedrige Herzfrequenz und muss immer wieder umgelagert werden. Ihr Monitor piepst, wenn ihr Pulsschlag auf unter 45 Schläge pro Minute fällt. Coras lange Atempausen – in der Fachsprache spricht man vom Bradykardie-Apnoe-Syndrom – haben Auswirkungen auf den Herzschlag, der dann plötzlich zum Erliegen kommen kann. Muss man sie deshalb mehrmals wecken, kann sie einen epileptischen Anfall bekommen, da dies eine Epilepsieform ist, die beim Einschlafen und Aufwachen ausgelöst wird. Das war heute Nacht leider der Fall. Ich bin mit aufgestanden, um sie gemeinsam mit dem Nachtdienst zu versorgen. Mithilfe eines Notfallmedikaments können diese Anfälle meist beendet werden. Grundsätzlich beruhigen wir ihren Organismus mit einer öligen Lösung, in welcher der Wirkstoff THC steckt. Gemeinhin bekannt unter dem Wort Cannabis. Seit Cora ihn erhält, geht es ihr um einiges besser. Doch das war ein langer Weg: Zwei Jahre musste ich mit ihrer Krankenkasse darum kämpfen.

Frisch gewaschen, mit geputzten Zähnen und strubbeligem Haar hüpft Erik die Treppe hinab. Unten, im Erdgeschoss, hat der Tag ebenfalls schon begonnen. Der Nachtdienst ist dabei, die Übergabe an die Pflegekräfte der nächsten Schicht vorzubereiten. Dabei erhalte ich den Rapport der Nacht. Einiges habe ich mitbekommen, über den Rest werde ich ins Bild gesetzt. Während ich mich über Zahlen und Diagramme beuge, versorgt eine Pflegekraft den kleinen Richard. Sie ist eine gelernte Kinderkrankenschwester und hat viele Jahre in einem Krankenhaus gearbeitet. Dort war sie für zehn bis fünfzehn Kinder gleichzeitig verantwortlich, jetzt ist es nur eines. Das klingt nach paradiesischen Umständen, und ganz falsch ist dieser Eindruck nicht. Im typischen Krankenhaus-Jargon spricht man vom Pfleger-Patienten-Quotient. Gemeint ist, für wie viele Patienten eine Pflegekraft oder ein Arzt zuständig ist. Dieser Quotient ist nicht allzu gut. Und das ist nicht nur in normalen Krankenhäusern so, sondern auch in Kinderkliniken oder Seniorenheimen. Zu wenig Fachpersonal kümmert sich um zu viele Patienten. Klar, dass ein Einzelner dabei auf der Strecke bleibt.

Nun fragen Sie sich, wie es sein kann, dass sich bei Mama Held eine Krankenschwester um einen Jungen kümmern kann? Wie schaffe ich es, bei mir einen Pfleger-Patienten-Quotienten von 1:1 herzustellen, was wie ein schöner Traum klingt? Das werde ich Ihnen in den kommenden Kapiteln erzählen. Dann werden Sie sehen, welche positiven Auswirkungen diese intensive Betreuung mit sich bringt: Sie sorgt dafür, dass das eine oder andere Wunder passieren kann. Eines will ich gleich vorwegnehmen, und das ist die Sache mit dem lieben Geld. Schließlich leben wir in einem Land, in dem der Taschenrechner eine wichtige Funktion einnimmt. Jeder Arzt und jede Pflegekraft muss alles minutiös festhalten, damit es abgerechnet werden kann. Das ist bei mir auch so. Ich halte ebenfalls alles minutiös fest. Wenn man am Ende die große Rechnung aufmacht und das Familiensystem mit dem stationären Unterbringungssystem vergleicht, gibt es nur einen Sieger: Die Betreuung behinderter Pflegekinder in einer Familie kostet den Staat und Steuerzahler viel weniger, als wenn man sie in Einrichtungen und Kliniken unterbringt – wo sie obendrein nicht so intensiv betreut werden können. Das wissen nur wenige – was sich mit diesem Buch hoffentlich ändert.

Aber lassen wir das Geld erst mal außer Acht, denn es gibt Frühstück! Das läuft bei uns ein bisschen anders ab. Richard zum Beispiel kann gar nicht essen. Er kam in einer Badewanne in einem Bordell zur Welt, als Kind einer obdachlosen Prostituierten. Sie ist HIV positiv, heroinsüchtig und alkoholkrank. Daher hat auch Richard das Fetale Alkoholsyndrom.

Wie viele Kinder mit FAS – das gängige Kürzel für diese Behinderung – ist er kleinwüchsig. Dazu hat er Fehlbildungen im Gesicht, motorische Einschränkungen und Störungen im Verhalten, bei seiner Gedächtnisfunktion, seiner Aufmerksamkeit und seiner Fähigkeit zu lernen. Als wäre das nicht genug, ist Richard Autist, und, was sein Leben ständig bedroht: er kann nicht genügend Sauerstoff aufnehmen. Deshalb ist er über einen Schlauch mit einem Sauerstofftank verbunden. Das ist ein großes Ding, das in einer Ecke steht und das ich, um es freundlicher zu gestalten, mit einem Krümelmonster-Überzug in ein Spielzeug verwandelt habe. Der Schlauch ist lang genug, um Richard seine Bewegungsfreiheit zu geben, die er auch gerne nutzt. Wir – einschließlich unsere Familienhunde Findus und Greta – achten darauf, dass wir nicht darüberstolpern, denn der Schlauch endet in einer Trachealkanüle unterhalb von Richards Kehlkopf. Wie viele autistische Kinder isst er nicht. Das passiert unter anderem auch, wenn diese Kinder in ihren frühsten Lebenswochen durch Intensivmedizin überwältigt werden. Aus diesem Grund hat Richard eine Magensonde. Das ist ein Schlauch in der Bauchdecke, der direkt im Magen endet. Über die nimmt er sein Frühstück zu sich. Dazu setze ich oder die Pflegekraft eine Spritze mit hochkalorischer Nahrung an die Sonde und gebe den Inhalt hinein. Danach wird Richard frisch gewickelt, gewaschen und angezogen. Meistens will er dann in meine Arme. Ich möchte nicht allzu oft das Wort Wunder in den Mund nehmen, aber an dieser Stelle soll es nochmals geschehen. Schließlich sagt man über Autisten, dass sie Emotionen kaum erkennen noch interpretieren können, was zur Folge hat, dass sie selbst nur wenige soziale und emotionale Kompetenzen entwickeln. Das habe ich bei Richard auch zu hören gekriegt. Nun, ich kann anderes berichten. Wenn er jetzt in meinem Arm ist, spielen wir unser Lieblings-Ritual. Dazu klopfe ich mit dem Finger sanft auf seine Stirn und sage: »Klopf, klopf!«

Als Nächstes drücke ich sein Näschen. In einem Comic-Buch würden darüber die Laute »O-Ü« stehen, und genau die spreche ich auch aus. Spätestens jetzt zeigt Richard dieses unwiderstehliche Lächeln, das alle Menschen so an ihm lieben. Doch wir sind noch nicht fertig: Wie an einem Glöckchen ziehe ich sachte am rechten Ohrläppchen. Das macht natürlich »Bimm!«. Nun kommt das linke dran: »Bamm!« Zum guten Schluss fährt mein Zeigefinger über seine Lippen, während ich wie ein Didgeridoo-Spieler ein langes »Brrrrr« von mir gebe. Danach ist Richard an der Reihe: Klopf, klopf macht er bei mir. Dann drückt er meine Nase, O-Ü, zieht meine Ohren, Bimm, Bamm, und fährt über meine Lippen: Brrrrr! Die Töne gebe ich vor, schließlich kann er nicht sprechen, alles andere macht er selbst. Sein Wesen drückt unbändige Freude aus – von wegen, Autisten entwickeln keine emotionalen Kompetenzen! An manchen Tagen fordert Richard unser Ritual Dutzende Male ein – und er bekommt es jedes Mal. Das ist ein Vorteil im Familienverbund: wir haben dafür fast immer Zeit. Wir bauen bewusst Nähe zu ihm auf, überwinden körperliche Distanz und schulen seine Sozialkompetenz. Mit Erfolg: Dieses Kind, von dem es hieß: »Frau Held, über den Kindergarten müssen Sie sich keine Gedanken machen, das wird er nicht schaffen«, ist längst im Kindergarten.

Natürlich bräuchte ich manchmal vier Beine, vier Arme und zwei Köpfe. Denn Jonathan weint gerade, weil auch er von mir gehalten werden will. Da bin ich froh, dass meine Pflegekräfte den Kindern nicht nur die allerbeste Versorgung sicherstellen, sondern auch viel Liebe geben. Für Jonathan ist das ganz wichtig. Der Junge starb in seinen ersten Lebensstunden aus ungeklärter Ursache und wurde lange reanimiert. Durch den Sauerstoffmangel wurde sein Hirnstamm schwer beschädigt. Er kann nicht schlucken, seine Atmung ist erschwert, er kann sich so gut wie nicht bewegen und hat immer wieder Spastiken. Und er ist ein Schätzchen, wie es im Buche steht, ein Prinz Charming mit langen weichen Wimpern. Sein Gesicht drückt bedingungslose Liebe aus. Das ist Liebe, die so ehrlich und tief ist, dass es manchmal wehtut.

Kürzlich, als ich mit Jonathan im Krankenhaus war, weil ihm dort die permanente Sonde zur Nahrungsversorgung gesetzt wurde, litt er unter Schmerzen. Dann fiel sein Blick auf mich. Auf einmal bestand sein Gesicht nur noch aus diesem betörenden Lächeln. Es ging ihm wirklich schlecht, und doch legte er wie viele meiner behinderten Pflegekinder diese erstaunlichen Nehmerqualitäten an den Tag, und lachte noch dabei. Wir, die alles mit dem Verstand gegeneinander abwägen und aufrechnen, tun uns da oft schwerer. Ich gehe daher einen Schritt weiter: »Wir Erwachsenen können selbst in vielen Lebensbereichen gesunden«, sage ich gerne, »wenn wir Kinder mit Behinderungen begleiten.«

Als Vorsitzende des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder kümmere ich mich darum, dass Pflegeeltern und Pflegekinder zusammenfinden und im Laufe ihrer gemeinsamen Zeit gut miteinander leben. Alle ehrenamtlich Engagierten im Verband bieten den Familien eine besondere Gemeinschaft. Im Laufe der Jahre konnten wir vielen Familien helfen, entsprechend groß ist meine Erfahrung geworden. Sie basiert nicht nur auf meinem Alltag, sondern auf dem von vielen Pflegefamilien in ganz Deutschland. Alle machen diese positiven Erfahrungen: Das Lachen, die unverstellte Freude und die besondere Lebensenergie behinderter Kinder wiegen die oft schwere Aufgabe allemal auf. Da heute die Welt ständig von Energiebilanzen spricht, will ich das auch tun: Diese fällt eindeutig positiv aus. Wer einem behinderten Pflegekind eine Familie schenkt, erfährt mehr Lebensfreude, als man von außen betrachtet jemals vermuten würde.

Beim ganzen Frühstücks-Hin-und-Her werfe ich immer wieder ein Auge auf Erik. Mein kleiner Professor ist sehr dünn. Sein Kopf wirkt zu groß auf dem schmalen Körper. Eine der Herausforderungen für ihn – und damit auch für mich wie für das gesamte Heldenteam – ist die Nahrungsaufnahme. Das ist ebenfalls eine der unschönen Folgen des Fetalen Alkoholsyndroms. Daher bekommt Erik zum Frühstück eine Flasche mit einem aufgelösten hochkalorischen Pulver. Damit sind wir schon einmal auf der sicheren Seite – allerdings nur, wenn er die Flasche auch leert. Das klappt, wenn er sich dabei ablenken kann. Daher darf er jetzt eine Zeit lang Fernsehen schauen. Es ist die Sendung mit dem Elefanten, die Erik vergessen lässt, dass er sein Frühstück zu sich nimmt. Es war Tüftelei nötig, um herauszufinden, wie man ihm die ungeliebte Nahrungsaufnahme schmackhaft macht – eine detektivische Arbeit, die in einer Einrichtung wohl niemand hätte leisten können. Mich fordern solche Fragen heraus: ich will immer wissen, was ich tun kann, und ich lass auch niemals locker, bis ich es herausgefunden habe. Ich verlasse mich nicht auf Studien, die sagen, das sei zu tun und das andere zu lassen. Oder wenn einer, womöglich mit Rang und Namen, alles ganz genau weiß. Deshalb haben meine Kinder auch ihr Tablet, auf dem sie ausgewählte Sendungen sehen. Für manche Menschen sind Computer für die Kids ein »Geht gar nicht!«. Dabei sind sie ein praktisches Hilfsmittel, das hält, was andere nur versprechen: absolute Barrierefreiheit. Vor ein paar Jahren hätte mir kein Mensch geglaubt, dass ein Kind wie Richard eines Tages seinen Computer selbstständig bedienen kann, jeden Tag damit Neues lernt und dazu noch viel Spaß hat.

»Erik, du trinkst jetzt die Flasche leer!«, schallt meine Stimme durch den Raum.

Dieser Satz ist typisch für mich – und wichtig für die Kinder. In ihm steckt eine Aufforderung, die keine Interpretation zulässt. Ich verbinde sie nie mit einer Androhung von Sanktionen, wie: »Wenn du jetzt die Flasche nicht leer trinkst, dann schalte ich den Fernseher aus.« Kinder mit fetalem Alkoholsyndrom und auch Kinder mit Autismus verstehen dieses »Wenn-dann-Prinzip« nicht. Es ist ihnen zu abstrakt.

Auf diese Art und Weise haben wir es geschafft, dass Erik langsam, aber stetig an Gewicht zunimmt. Er ist noch immer das, was man einen Schmalhans nennt. Deshalb nehme ich ihn regelmäßig mit in den Supermarkt. Dort bekommt er eine Wurst an der Theke und sucht sich seinen Joghurt aus. Er lernt, dass Nahrungsmittel gut für ihn sind. Auch Richard ist mit dabei. Er soll Alltag erfahren. Der Aufenthalt im Supermarkt bringt Normalität in seine autistische Welt.

Während der Schulzeit bekommt Cora Frühstück in der Schule. Jetzt sind Ferien. Wir setzen uns an den großen Tisch im Esszimmer. Es gibt Brötchen, Butter und Marmelade, Käse und Wurst, dazu Kaffee und Tee, und Cora isst, was wir auch essen. Sie liebt es, bei uns am Tisch zu sitzen, und wir lieben es, wenn es ihr möglich ist. Das ist nicht immer der Fall. Cora ist die extreme Frühgeburt einer jungen Mutter, die synthetische Drogen und Alkohol in der Schwangerschaft zu sich genommen hat. Sie hat eine multiple Hirnschädigung, hervorgerufen durch extreme Frühgeburt und Polytoxine. Ihre Muskulatur ist verkrampft. Ihre Füße sind derart verdreht, dass sie auf den Fußaußenseiten geht. Sie schlägt sich selbst, beißt in ihre Hand, wird von Wutanfällen gepackt, die jedoch alle etwas bedeuten. Bei Cora geht es immer um das Gefühl, ob sie sich in einem sicheren Umfeld befindet oder nicht. Wird dieses zarte Gleichgewicht gestört, kann sie mit Fremd- und Autoaggression reagieren, weil die Situation für sie unerträglich wird. Manche Leute kommen mit Cora nicht klar, etliche haben regelrecht Angst vor ihr, da sie unberechenbar wirkt. Wenn sie sich schlägt oder andere sich vor ihr fürchten, zerreißt es mich geradezu. Ich fühle mich dann sehr hilflos und versuche sie für mich und die anderen zu »übersetzen«.

Im nächsten Augenblick sage ich schon wieder: »Dieses Mädchen funkelt wie eine Diskokugel!« Ohne Licht ist jede Diskokugel bloß ein langweiliger Gegenstand. Dann heißt es »Spot an!« und schon zeigt sie sich in den schönsten Farben. Das trifft auf Cora zu. Fällt das richtige Licht auf sie, kann man nur staunen. Dieses Mädchen steckt voller Liebe. Sie liebt Richard und Jonathan über alles – geht es den beiden nicht gut, geht es ihr auch nicht gut. Außerdem spürt sie lange vor uns, wenn sich Krankheit oder gar Schlimmeres ankündigen. Und dann liebt sie Musik! Diese ist für sie wie für mich ein Lebenselixier. Vor allem die Musik von Sarah Connor hat es ihr angetan. Cora hat sich die Musikerin als Lieblingskünstler ausgesucht. Sie versteht alle Texte und spricht sie in ihrer eigenen Sprache nach. Gehen wir auf ein Konzert – oh ja, natürlich gehen wir auf Konzerte! –, erleben Sie ein Mädchen, welches mich an das taube Mädchen im Lied von Herbert Grönemeyer erinnert, auch wenn Cora selbst gut hören kann. Doch die Zeile »ihr Blick ist der Welt entrückt« trifft den Nagel auf den Kopf: Im Konzert ist Cora nur noch Glück, Glück, Glück.

Das ist auch der Fall, wenn sie auf dem Rücken eines Pferdes sitzt. Eine meiner Pflegekräfte ist ausgebildete Reittherapeutin mit einem für diese Zwecke geschulten Pferd. Lassen es Wind, Wetter, Schule und Gesundheit zu, gehen wir reiten. Kontakt mit Tieren ist für die Kinder ohnehin wichtig. Sie bekommen ihn zum Glück mit unseren Hunden den ganzen Tag. Doch diesen kräftigen Pferdekörper zu spüren, setzt der Sache die Krone auf. Dazu ist ein Pferd als Fluchttier ständig auf der Hut – was Cora auch ist. So hat sie auf eine natürliche Weise einen Verbündeten gefunden. Das alles teilt sie mir mit, wenn auch in ihrer eigenen Sprache. Diese nenne ich Corajanisch. Ich verstehe, was Cora sagt, und ihre Assistenzkraft ebenso. Für die meisten Menschen klingt Corajanisch jedoch unverständlich wie alle fremden Sprachen dieser Erde.

Hat jeder sein Frühstück eingenommen, trifft während der Schulzeit der Fahrdienst ein. Erik und Richard gehen in den Kindergarten. Cora wird mit dem Bus der Lebenshilfe zur Schule gebracht. Eine Pflegekraft aus dem Heldenteam begleitet Richard, um seine lebenswichtige Versorgung zu sichern. Vorher haben wir noch einmal überprüft, ob die mobile Sauerstoffversorgung einwandfrei funktioniert. Darauf wird die Pflegefachkraft achten. Fällt Ihnen jetzt der moderne Begriff Helikoptereltern ein, die ständig über ihren Kindern kreisen, so klingt diese Situation doch ähnlich? Der große Unterschied ist: Richards Leben hängt am seidenen Faden, was in seinem Fall ein Schlauch aus Kunststoff ist. Er besucht einen gewöhnlichen Kindergarten, wo getobt und gespielt und gerannt und vielleicht auch ein bisschen gerauft und geschubst wird. Die helfende Hand achtet darauf, dass ihm dabei nichts zustößt. Dazu muss sie die Balance bewahren. Wir wollen ihn nicht verhätscheln. Die anderen Kinder sollen nicht das Gefühl haben, dass er etwas Besseres ist. Die Pflegekraft muss also da sein und sich gleichzeitig zurückhalten. Sie übernimmt keine der Aufgaben, die üblicherweise in jedem Kindergarten anfallen, das bleibt Aufgabe der Erzieherinnen und Erzieher.

Richard gefällt es dort. Den Kindern tut der Umgang mit ihm gut. Sie lernen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass man atmen, essen und gehen kann. Die Situation ist ein echter Win-Win, weil alle Seiten davon profitieren. Das ist mein großes Ziel: ein selbstverständliches Miteinander vom Kinderspielplatz bis zum Verwaltungsbüro.

Einmal hatte ich eine Praktikantin. Sie war richtig gut, kam prima mit den Kindern zurecht. Eines Tages fuhr ich mit ihr zu einer Familie ein paar Dörfer weiter. Auf dem Programm stand Hilfsmittelberatung. Hinter diesem Begriff verbirgt sich Wichtiges: Durch die richtigen Rollstühle, Essensgeschirre, Stühle, Lampen, Schuhe, Kleidung – die Aufzählung lässt sich unendlich fortsetzen – kann das Leben deutlich erleichtert werden. Viele haben jedoch keine Ahnung, was der Markt alles bietet und von der Krankenkasse tatsächlich übernommen wird. Durch meine Ausbildung zur Ergotherapeutin habe ich das von der Pike auf gelernt. Noch heute wälze ich jeden Katalog jedes Anbieters, weil ich neugierig bin, was findige Geister an brauchbaren Dingen erschaffen haben. Damit andere davon profitieren, biete ich diese Hilfsmittelberatung an. Auch dieser Familie konnte geholfen werden. Als wir zurückfuhren, war meine Praktikantin auffallend still. Auf einmal platzte es aus ihr heraus: »Kerstin! Ist dir aufgefallen, dass diese Leute drei behinderte Kinder haben?«

Für einen Moment war ich baff – was bei mir etwas heißen will. Dann fragte ich: »Und das ist für dich außergewöhnlich?«

»Ja, klar! Gleich drei behinderte Pflegekinder!«

Ich lächelte in mich hinein. »Wie lange bist du bei mir?«

»Morgen sind es vier Wochen.«

»Und wie viele behinderte Pflegekinder leben bei uns?«

Da wurde sie wieder still. Dann schüttelte sie verwundert den Kopf. »Du hast recht. Vier! Weißt du was? Bei dir fällt mir das nicht auf.«

Ich freute mich über ihre Worte. Was könnte besser diese Selbstverständlichkeit ausdrücken, die ich mir wünsche?

Sind die Autos vom Hof und außer Jonathan alle Kinder aus dem Haus sinkt der Geräuschpegel bei Familie Held erst mal um einige Dezibel. Zeit zum Durchatmen bleibt jedoch nicht. Die Pflegekräfte, die im Haus arbeiten, sind meine Angestellten. Ich habe sie ausgewählt, sie eingestellt, verwalte die Gehälter, bin für sie verantwortlich. Daher gibt es bei mir wie anderswo Dienstbesprechungen in der Gruppe und einzelne Mitarbeitergespräche. Irgendwo drückt immer ein Schuh. Mir ist wichtig, dass alle ihre Arbeit mit Freude und Motivation verrichten. Der Betreuungsschlüssel stimmt, doch ist er nur eine Seite der Medaille. Zusätzlich stellt noch ein Pflegedienst die Fachkräfte für die nächtliche Überwachung der Kinder. Die private Atmosphäre kann zu Irritationen führen. Einmal wachte ich nachts durch Geräuschen auf, die ich nicht einordnen konnte. Als ich die Treppe hinabstieg und ins Wohnzimmer kam, fand ich zwei Mitarbeiter des Pflegedienstes in leidenschaftlicher Umarmung auf dem Sofa. Monitore und Babyphone waren unbeachtet. In einer anderen Nacht schrien sich die Diensthabenden derart laut an, dass ich wieder wach wurde. Da zeigt sich die Kehrseite der Medaille. Manche können schon mal vergessen, dass sie im Zuhause von mir und meinen Kindern sind. Und so menschelt es bei Familie Held, was bei Weitem nicht das Einzige und vor allem nicht das Wichtigste ist, was der häuslichen Intensivpflege Probleme bereitet. Das Schlagwort »Pflegenotstand« ist nicht umsonst in aller Munde, und der liegt nicht nur am Fachkräftemangel. Auch die Heldenfamilie ist davon betroffen. Der Pflegenotstand beginnt bei der Organisation der Pflegedienste. Da ist viel Luft nach oben. Die von den Diensten bereitgestellten Pflegekräfte sind oft ganz auf sich allein gestellt. Durch ihre Arbeitszeiten treffen sie selten einen Kollegen zum Austausch, was aber wichtig wäre. Vielleicht staunen Sie, weil ich nicht gleich von einer besseren Bezahlung spreche. Tatsächlich macht ein höherer Stundenlohn diese Arbeit nicht liebenswerter, das ist an der hohen Fluktuation der Mitarbeiter deutlich zu lesen. Gleichzeitig haben die Patienten eine hohe Abhängigkeit zu ihrem Dienstleister. Wir bei der Heldenfamilie leiden ebenfalls unter vielen und oft sehr kurzfristigen Dienstausfällen. Wenn die Nachtschicht nicht kommt, heißt das für mich: Ich übernehme, und wenn es sein muss auch mehrmals die Woche. Diese Ausfälle, schlecht ausgebildete Fachkräfte sowie bis zu 22 wechselnde Mitarbeiter im Monat haben mich dazu bewogen, das sogenannte Arbeitgebermodell zu wählen. Dabei bezahlt die Krankenkasse ein Budget zur Sicherung der Intensivpflege und ich stelle im Gegenzug das Heldenteam selbst zusammen. Damit bin ich Unternehmerin geworden, was ich nicht beabsichtigt hatte. Dafür stehen mir jetzt acht gut ausgebildete Fachkräfte zur Verfügung als beständiges und sehr motiviertes Team. Nur die nächtliche Versorgung delegiere ich immer noch an einen Pflegedienst. Tagsüber kann ich problemlos die Chefin meines Teams sein. Nachts, wenn ich schlafe, geht das leider nicht.

Nach den morgendlichen Besprechungen geht es an die Inventur. Ich gestehe, dass ich ein Ordnungsfanatiker bin. Es ist gar nicht leicht, den Überblick zu bewahren über alles, was die Kinder zum Leben und Überleben benötigen. Allein die Medikamente! Jedes Kind hat in einem Medizinschrank seine eigene Schublade. Darin findet sich alles, was Sie in einer Kinderklinik finden. Nehmen wir einmal Jonathan. In seiner Schublade lagern gut und gerne mehrere Dutzend Medikamente und Salben, von der Wund- und Heilsalbe über Ohrentropfen bis zu Betäubungsmitteln. Geht etwas zur Neige, bekomme ich vom Heldenteam einen Hinweis. Weil doppelt besser hält, schaue ich regelmäßig das gesamte Warenlager durch. Dazu gehören Windeln, Absaugkatheter, Einlagen, Kanülen, Nahrung und Handschuhe, die in einem extra Raum lagern. Dort befindet sich auch ein Regal mit Schuhen für alle Pflegekräfte. Alles ist ordentlich beschriftet, damit es an Ort und Stelle bleibt. Der Flur des Anbaus erinnert an einen Kindergarten. Auf vier Metern Länge hängen Matschhosen, Regenjacken, Schlupfsäcke, Rettungswesten und Verkehrswachtwesten säuberlich sortiert an Haken.