Manifest der Radikalen Mitte - Wätzold Plaum - E-Book

Manifest der Radikalen Mitte E-Book

Wätzold Plaum

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Beschreibung

Wir leben in politisch aufwühlenden Zeiten. Multiple Krisen erfassen den Westen. Jahrzehnte relativen Wohlstands und Sicherheit scheinen auf der Kippe zu stehen. Die Polarisierung in der Gesellschaft nimmt zu. Der Ton wird rauer, unter Bürgern wie auf der politischen Bühne. In verwirrenden Zeiten justiert Wätzold Plaum den politischen Kompass neu: Die Ideologie der „Radikale Mitte“ wendet sich ebenso gegen Fanatismus wie gegen Relativismus. Ihre Kritik zielt auf die dominierenden Ideologien der Gegenwart: Kapitalismus und Vulgärsozialismus. Über das Politische hinaus brauchen wir eine Philosophie der Mitte, die ähnlich der Stoa oder dem Konfuzianismus individuelles Leben und politisch-gesellschaftliche Partizipation auf eine philosophische Grundlage stellt. Das Manifest beinhaltet nach der Klärung begrifflicher Grundlagen eine Diskussion der drei großen Lehren der politischen Philosophie: Konservativismus, Liberalismus und Linksprogressivismus. Diese Lehren sind im Sinne der „Radikalen Mitte“ nicht als wahr oder falsch anzusehen, sondern als verschiedene legitime Perspektiven auf Politik und Gesellschaft. Zur Abwehr des Relativismus werden ferner vier gedankliche Modelle entwickelt, welche als Orientierungshilfen und geistige Leitplanken dienen können: die vier Ebenen der Betrachtung, die drei Stufen der Sittlichkeit, die drei Aspekte des guten Lebens und die vier fundamentalen Dimensionen des Menschseins. Schließlich arbeitet der Autor anhand der gesellschaftlichen Bereiche Digitalisierung, gemeinschaftliches Wohnen und Ökonomie konkrete Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme heraus.

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Wätzold Plaum

Manifest der Radikalen Mitte

Warum wir eine Ideologie der politischen Mitte brauchen

Anfragen Presse, Lesungen etc.: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Manifest der Radikalen Mitte

Wätzold Plaum

Copyright © 2022 Wätzold Plaum Alle Rechte vorbehalten.

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ISBN: 9783754601396

Über den Autor: Wätzold Plaum studierte Physik und promovierte 2010 in Mathematik an der Universität Regensburg. Er arbeitet im Bereich und Software- und Fahrzeug-Entwicklung. 2012 erschien sein Buch „die Wiki-Revolution“ zum Thema Digitalisierung und Politik. Seit 2013 betreibt er den YouTube-Kanal „Wätzolds Welt“. 2019 promovierte er im Fach Philosophie zu einem eigenen geschichtsphilosophischen Modellentwurf. Wätzold Plaum betätigt sich auch als Musiker.

WIDMUNG

Dieses Buch ist dem Publikum des Kanals „Wätzolds Welt“ gewidmet, deren reger Zuspruch mir den Mut gab, meine Visionen in diesem Manifest niederzulegen.

Inhaltsverzeichnis

DANKSAGUNG

Mein Dank gilt Wolfgang, der einen entscheidenden Anstoß gab. Justine, Gabriel, Deborah, Mathis und Andreas haben sich durch gründliches Lektorat und klugen Bemerkungen verdient gemacht.

Vorwort: Philosophie und Ideologie

Dieses Manifest ist ganz und gar Ideologie. Damit unterscheidet es sich von politischer Philosophie. Beide gehören zusammen.

Die politische Philosophie ist Gegenstand des reflektierenden Denkens, der Vernunft. Sie nimmt sich Zeit für eingehende Analysen und gibt sich nicht eher zufrieden, bis den Dingen in einer Weise auf den Grund gegangen wurde, dass die unermüdlichsten Geister sich zumindest vorläufig zufrieden geben. Demgegenüber dient Ideologie dazu, ins Handeln zu kommen. Eine politische Ideologie ist ein Kompendium einer politischen Philosophie. Sie kümmert sich nicht um die Probleme der Rechtfertigung. Sie ist Maxime des handelnden Menschen, denn dieser wird in der Praxis von vereinfachten Denkschemata geleitet, die unmöglich all jenen geschlungenen Denkpfade in sich aufnehmen können, zu denen die theoretische Vernunft fähig ist. Ideologie ist simpel, holzschnittartig, plakativ, auf Schlagworte reduziert, apodiktisch und auf Verständlichkeit und Anwendbarkeit ausgelegt. Ideologie ist nichts Schlechtes, sondern etwas Notwendiges, immer dann, wenn es darum geht, in der Welt etwas zu verändern.

Zum Übel wird sie nur dort, wo Ideologie und Philosophie verwechselt oder auf unbedachte Weise vermischt werden. Marx war ein glänzender Ideologe, aber ein schlechter Philosoph. Ihn als vollwertigen Philosophen zu stilisieren führt zu jenen engstirnigen und überspannten Staatsdoktrin, die das Denken einkerkerten in den Jahrzehnten der kommunistischen Diktatur.

Wir wollen der Philosophie keine Absage erteilen. Allein hier geht es nicht darum, die dargebotenen Ansichten letztendlich zu fundieren. Es geht darum einer neuen Geisteshaltung Name und Programm zu geben. Es ist dies die Geisteshaltung der Radikalen Mitte oder gleichbedeutend des Radikalen Zentrismus.

Vorspiel: Das Wesentliche

Es ist Zeit für ein neues Denken. Dieses Denken stemmt sich gegen eine Stimmung, die in allgemeinen politischen Fanatismus zu kippen droht. Die Scharfmacher scheinen das Feld zu übernehmen. Linksprogressive verabsolutieren die Gleichheit, Libertäre die Freiheit, Nationalisten das Volk, Religiöse den Glauben, Globalisten die eine Menschheit und Ökologisten den Umweltschutz. Für Fanatiker gibt es ein alles beherrschendes Problem, dessen Lösung sich alles unterzuordnen hat. Naturgemäß haben sich die Fraktionen in einem Klima der Fanatisierung immer weniger zu sagen. Das politische Gegenüber dient nur noch dazu, verbal delegitimiert und mit immer maßloseren Forderungen überzogen zu werden. Die gesellschaftliche Mitte wird zur Kampfzone. Immer mehr Menschen verbarrikadieren sich hinter geschlossenen Weltbildern.

Das führt zum Niedergang der Gesprächskultur, einer Kultur des Kompromisses und des gegenseitigen Verständnisses. Dieser Niedergang bedroht unsere Freiheit. Er entzieht einer freiheitlichen, egalitären und gemeinschaftlichen Gesellschaft den Boden. Er befördert autoritäre Herrschaftsformen. Die Demokratie ist in Gefahr! Diese Gefahr ist weder rechts noch links, weder national noch international. Denn ob der Staat die Wirtschaft vereinnahmt oder die Wirtschaft den Staat, macht im Ergebnis wenig aus. Ob wir über den Nationalismus oder den Internationalismus in den Autoritarismus abgleiten, gleicht der Wahl zwischen Pest und Cholera. Im Europa Erdogans und Brüssels braucht man beides nicht lange suchen!

Die Gefahr legt sich wie ein Totentuch über die westlichen Gesellschaften. Die bestehende Ordnung droht sich in eine technokratische Diktatur zu verwandeln. Schleichend. Leise. Deswegen sollten diejenigen ihre Kräfte bündeln, die den drohenden Niedergang vor Augen haben und willens sind, ihn abzuwenden. Die Lage ist ernst, wenngleich nicht hoffnungslos. Dieser Ernst erfordert radikale Maßnahmen. So wie ein global ausbrechendes Virus radikale politische Maßnahmen rechtfertigen mag, so rechtfertigt sich unser Radikalismus durch den Ausbruch eines geistigen Virus.

Viele gibt es, die beitragen können. Zahlreich sind mittlerweile die, welche die bestehenden Verhältnisse hinterfragen, ohne sich dabei allzu simplen Ideologien hinzugeben. Viele gibt es, die sich in den eng abgegrenzten ideologischen Gattern nicht wiederfinden. Grob gesprochen stehen sie in der politischen Mitte. Doch sie haben keine gemeinsame Stimme, kein Bewusstsein dafür, dass sie in Zeiten wie diesen mehr denn je angegriffen, aber auch mehr denn je gefragt und herausgefordert sind. Diese vielen Menschen sollten sich einander bewusst werden. Es sollten diejenigen zueinander finden, welche sich einerseits in etwa der politischen Mitte zuordnen, andererseits es aber nicht lassen können, kritisch und eigenständig zu denken. Dieses Manifest und die darin zugrunde gelegte Ideologie können dabei helfen, zu so einem „Wir“ zu finden. Ja, wir sind kritisch gegenüber hergebrachten Ideologien, aber eben von einem festen Standpunkt aus, der mehr ist als ein indifferentes „Dazwischen“. Wir sind nicht die Mitte der Gauss’schen Normalverteilung, die große Koalition oder der faule Kompromiss. Was wir anstreben, ist eine neue Ideologie. Dies ist die Form, in der neue Ideen wirksam werden: Die Ideologie der radikalen Mitte.

Ja, wir sind radikal. Das heißt für uns, sich nicht mit den herrschenden Eliten gemein zu machen. Radikalität steht für die Überzeugung, dass unsere gesellschaftliche und staatliche Ordnung von einer schwerwiegenden Krise gezeichnet ist. Daraus folgt, dass grundlegende Kursänderungen notwendig sind. Daraus folgt nicht, dass hierfür Gewalt, Verfolgung und Verfemung Andersdenkender, Unterhöhlung demokratischer Entscheidungsprozesse, Diskursverbote oder jede noch so niederträchtige Form der Propaganda für uns legitim wären.

Wir sind radikal, aber wir sind keine Fanatiker. Fanatismus ist eine Geisteshaltung aus einseitiger Überspitzung eines als erstrebenswert erkannten Wertes. Dieser Wert wird absolut gesetzt und andere Werte um seinetwillen geopfert. Der Fanatiker ist also kein Feind des Guten schlechthin, erkennt es jedoch nur teilweise und setzt diese Erkenntnis über alles. Er übersieht, dass verschiedene Werte sich gegenseitig beschränken müssen. Er läuft Gefahr in die Fanatismusfalle zu tappen. Erweist sich nämlich die Verwirklichung seiner Utopien als nicht geglückt, so wird er rufen: „Wir waren nicht konsequent genug!“ Mehr desselben ideologischen Programms, immer mehr, bis der Wahnsinn die Katastrophe gebiert.

Wir wägen also ab. Wir suchen nach der goldenen Mitte. Bevor wir in eine Richtung laufen, müssen wir auch in die entgegengesetzte schauen. Der Wertekanon der Radikalen Mitte orientiert sich grob an den Werten des Humanismus – Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit mögen hier kein schlechter Startpunkt sein. Sie sind gewachsen auf dem Boden von Christentum und Aufklärung, dem historische Mutterboden der westlichen Kultur, den es zu respektieren und bewahren gilt, ohne in formelhafte Erstarrung oder weltfremde Nostalgie zu verfallen.

Für jeden Standpunkt, für jede Meinung, jedes noch so moralisch unantastbare Plädoyer gilt: Audiatur et altera pars! Man möge auch die andere Seite hören! Denn alles historisch Gewordene hat ein Recht, wodurch es entsteht, und eine Schuld, an der es zugrunde geht. Dies nennen wir das Prinzip der historischen Zweischneidigkeit. Oft ist es klüger dem politischen Gegner das Recht zu nehmen, indem man sich selbst zum Anwalt des dahinter stehenden Guten macht, als ihn ob seiner Schuld anzuklagen.

Allem historisch Gewordenen ein gewisses Recht zuzusprechen ist nicht einfach. Recht und Schuld mögen ganz unterschiedlich gewichtet sein, dennoch gesteht dieses Prinzip jedem vermeintlich noch so abscheulichen Gegner ein gewisses berechtigtes Interesse, Motive und Anliegen zu, und damit auch sich selbst die Möglichkeit des Unrechts. Wo heute nicht nur im politischen Zirkus Narzissmus als Volkskrankheit grassiert, wovon die mit Regelmäßigkeit sich erhebenden Empörungswellen nur allzu klares Zeugnis geben, bedarf es einer neuartigen Kultur der Demut. Jeder von uns hat ganz schnöde Interessen und redet sie sich mit Moral schön. Jeder von uns hat schon einmal Standpunkte als universelle Lösungen darbieten wollen, die doch nur allzu sehr gefärbt waren durch individuelle Vorlieben oder Traumata. Niemand vermag die Sichtweisen aller Menschen zu ermessen.

Wir wägen ab und streben nach der goldenen Mitte. In politischer Hinsicht ist dies der Ort, an dem sich die weltanschaulichen Lager wie Linksprogressivismus, Liberalismus und Konservativismus zum Dialog treffen. Keines dieser Lager hat per se recht oder unrecht oder ist per se gut oder böse. Jedes Lager repräsentiert eine legitime Sicht auf Kultur und Gesellschaft. Vielmehr gleichen die politischen Lager unterschiedlichen Sinnen – Hören, Sehen, Fühlen – und führen zu unterschiedliche Therapien des politisch-gesellschaftlichen „Körpers“. Wer kocht, muss mit allen Sinnen kochen: schmecken und riechen, hören und sehen. In der Politik ist es nicht anders. Nur wenn verschiedene „Sinne“ zusammenfinden, kann eine konstruktive Politik entstehen. Ohne die politische Mitte kann es keine freiheitliche Politik im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung geben, da ohne lagerübergreifenden Dialog immer nur die Minderheit eines Lagers über die Mehrheit der anderen Lager herrschen kann.

Die goldene Mitte ist für uns, die Radikale Mitte, aber noch mehr. Das menschliche Sein, die menschlichen Verhältnisse werden geprägt von zahllosen Gegensätzen: Körper und Geist, Intuition und Verstand, Selbstbehauptung und Mitgefühl, Tradition und Neugierde, Gemeinschaft und Selbstbestimmung, Gemeinsamkeit der Herkunft und Gemeinsamkeit der Zukunft, Natur und Kultur, der Einzelne und das Ganze, Selbständigkeit und Beziehung, Überordnung und Unterordnung, Ähnlichkeit und Differenzierung, männlich und weiblich, Unterscheidung und Einheit. Aus dem Verständnis derartiger Gegensätze streben wir nach einem tieferen Verständnis des Menschseins. Nur wo der Mensch verstanden wird, kann Politik mehr sein als eine Ansammlung von geschichtlich zusammengewürfelten Bestimmungen und Unterteilungen. Auf der Suche nach der goldenen Mitte suchen wir die Erkenntnis des Menschen. Jeder in sich. Und so weit als möglich auch gemeinsam. Dies ist die Mitte, aus der heraus eine positive, das Leben fördernde Politik fast zu einer nebensächlichen Folge wird.

Denn Politik ist nicht alles. Es gibt das Private, das dem Zugriff durch die Politik entzogen bleiben sollte. Sittliche und politische Ordnungen sind voneinander zu trennen. Wo das moralisch Richtige mit dem gesetzlich Gebotenen gleichgesetzt wird, befinden wir uns in einer totalitären Diktatur. Das überzogene Moralisieren in der Politik trägt also den Keim der Diktatur in sich. Propaganda ist immer moralisierend und in ihrer Absolutheit quasi metaphysisch. Die Religion, die individuellen philosophischen Überzeugungen, der Glaube oder Unglaube müssen Gegenstand der freien Entscheidung des Individuums bleiben. Wir sehen in der Gegenwart starke Tendenzen, das Politische wieder erneut mit den Elementen der Religion anzureichern. Der unvoreingenommene Diskurs wird ersetzt durch unisono gebrüllte Parolen. Gerade auch bei politischem Aktivismus jenseits der Parlamente sind symbolische Handlungen, Glaubensbekenntnisse, pastorale Ehrerbietungen, moralgeschwängerte Predigten auf dem Vormarsch. Besonders in Deutschland sollte man vor dem Hintergrund des Traumas des Dreißigjährigen Krieges sowie zweier totalitärer Diktaturen diesen Tendenzen entschieden entgegentreten!

Die politische Mitte als Ort des gesellschaftlichen Diskurses wird heute durch Angriffe von mehreren Seiten zerrieben: Da wäre erstens eine Politik, die zunehmend der Logik des Sachzwangs folgt. Die Idee, Politik sei eine Art Wissenschaft, führt direkt in den Totalitarismus. Faschismus und Kommunismus hatten den Anspruch, eine Art wissenschaftliche Form der Staatsführung zu leisten. Diese Idee beruht auf einem Irrtum. Kein noch so weises Expertengremium ist der Verantwortung gewachsen, das gesellschaftliche Ganze besser zu erfassen als dieses sich selbst. Jeder Mensch ist Teil des kommunikativen Netzes – ähnlich dem Nervengewebe des Gehirns – welches den gesellschaftlichen Diskurs formt.

Da wäre zweitens eine zunehmend digitale Kultur, in der Menschen sich in geschlossene Sonderwirklichkeiten zurückziehen. Der gesamtgesellschaftliche Konsens wird von Jahr zu Jahr geringer. Es wird also anstrengender, sich zu einigen. Die notwendigen Kräfte jedoch scheinen zu schwinden. An die Stelle des gegenseitigen Zuhörens treten großinquisitorische Rechthaberei und narzisstisches Empörungsgehabe.

Da wären drittens Eliten, welche seit Jahrzehnten die öffentliche Meinung durch Wühlarbeit von Thinktanks und PR-Agenturen penetrieren. Angegriffen ist das, was seit Jahrhunderten die größte Stärke des Abendlandes und jeder freiheitlichen Gesellschaft war: Meinungsfreiheit, zwischenmenschlicher Respekt bei inhaltlicher Differenz, die Anerkennung der Beschränktheit des eigenen Standpunktes, Wissenschaft und Logik als Referenzpunkte eines vernünftigen Diskurses.

Doch halten wir inne! Ist all die Vernünftelei überhaupt geeignet den Herausforderungen der Gegenwart gerecht zu werden? Brauchen wir nicht Visionen, Mut, Begeisterung und Emotion viel eher als eine buchhalterisch-kleinliche Verwaltung des Gegenwärtigen? In der Tat: Politik ist mehr als die Verwaltung des Status Quo. Als das könnte man die politische Mitte auch verstehen. Nein, ein einfaches „Weiter so!“ wird uns nicht zum Ziel führen. Denn die Herausforderungen sind gewaltig: Da wäre das Auseinandergehen der sozialen Schere, zunehmendes Einsickern autoritärer Politikelemente, eine Desintegration unserer Kultur durch überspannten Moralismus einerseits und nihilistische Zersetzung andererseits. Da wären ökologische Herausforderungen, die Verwerfungen des technischen Fortschritts, die Herausforderungen, die unterschiedlichen Kulturen der Menschheit in einen gemeinsamen internationalen Handlungsrahmen zu integrieren, und noch so vieles mehr...

Sozialismus und Liberalismus irren, wenn sie die vernünftige Lösung dieser Herausforderungen als die einzige und höchste Aufgabe der Menschheit begreifen. Denn die Probleme gründen tiefer. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Vielen Menschen fehlt eine Sinnperspektive – individuell wie gesellschaftlich – ein positives und die Selbsterkenntnis förderndes Menschenbild, Freiraum jenseits des Hamsterrades der beruflichen und familiären Verpflichtungen. Wir brauchen eine Kultur, die innere Welten erschließt und ergründet. Hier verbirgt sich der Kraftpol für das Zustandebringen von kulturellen Höchstleistungen, von Mitmenschlichkeit und Zuversicht. Die innere Sonne wärmt uns durch Geborgenheit, das Gefühl, aufgehoben zu sein, die Zuversicht, dass es „schon gut gehen wird“. Diese innere Sonne kann viele Gesichter haben. Für den einen ist es die Musik, für den anderen der Glaube, für den dritten die meditative Erfahrung, für den vierten offenbart sie sich im Naturerleben, für den fünften in tief empfundener Freundschaft und Gemeinschaft. All dies sind Gefilde der Seelenkultur.

Die innere Sonne aber wird durch das Spektakel der Gegenwärtigkeit verdunkelt. Denn Seelenkultur sieht sich in der Moderne an den Rand gedrängt, zur Nebensache erklärt, zur Modeerscheinung oder einer Angelegenheit des individuellen Geschmacks, ebenso banal wie eine Lieblingsfarbe. Die Moderne hat andere Leitwerte. Es gilt flexibel zu sein, aufgeschlossen für Neues, bereit zum lebenslangen Lernen, ortsungebunden, hoch motiviert, exzellent ausgebildet, auf der Höhe der Zeit, informiert und kritisch. Um nicht missverstanden zu werden – die genannten Eigenschaften sind per se nicht schlecht. Wenn ihre Verwirklichung aber den Preis hat, dass die Seele verkümmert, müssen uns die Folgen nicht wundern: Depressionen, Süchte, Ängste, Persönlichkeitsstörungen, Vereinsamung gedeihen im Schatten einer Moderne, die sich selbst absolut setzt, zum Modernizismus wird.

Im linksprogressiven wie im liberalen Lager finden sich heute Varianten des Modernizismus, dieser ins Fanatische gesteigerten Form der Moderne. Konservative haben sich hier entweder angepasst, ergehen sich murrend in Nostalgie oder in trotzigem Reaktionismus. Kaum einer spürt dem Gegensatz von Moderne und ihrem psychischen Widerpart, den romantisch-gemüthaften Seiten des menschlichen Geistes in ernsthaftem intellektuellem Bemühen nach. Die radikale Mitte erkennt ausdrücklich beide Seiten an und widerspricht in diesem Sinne dem Modernizismus, ohne die Moderne zu verwerfen. Gleichwohl müssen die herkömmlichen Einsprüche des Konservativismus als ungenügend angesehen werden, wenn sie sich nicht aus gereiften philosophischen Überzeugungen ergeben, sondern aus spontan empfundenen Vorbehalten. Wir erkennen hier eine wesentliche Baustelle der aktuellen politischen, gesellschaftlichen und philosophischen Auseinandersetzung. Hier gibt es viel zu tun!

Die Lage

In was für einer Zeit leben wir? In welchem Kontext steht politisches Denken? Was sind die geistigen Spannungsfelder der Gegenwart? Wir werden im ersten Teil dieses Manifestes zunächst auf zwei zentrale Begriffe eingehen, welche für die gegenwärtige politische Debatte höchst bedeutsam sind. Danach werden wir uns mehreren polaren Begriffspaaren zuwenden, die wichtige Spannungsfelder des politischen Denkens markieren.

Politischer Gnostizismus

Eine Seuche geht um im Westen – die Seuche des politischen Gnostizismus. Diese Geisteshaltung teilt die Welt in vereinfachender Weise in „gut“ und „böse“ ein. Faschismus und Kommunismus waren im 20. Jahrhundert zwei Beispiele für diese geistige Grundhaltung. Er ist ein, vielleicht sogar der Nährboden für Fanatismus.

Woher kommt der Name? In der Spätantike war die „Gnosis“ eine vielgestaltige philosophisch-spirituelle Bewegung, welche von einem schroffen Gegensatz von „gut“ und „böse“ ausging. Nach gnostischer Lehre gibt es zwei Weltprinzipien, „Geist“ und „Materie“. Jedes dieser Weltprinzipien hat einen eigenen Schöpfergott. Einen guten Gott, welcher weltentrückt in einer rein geistigen Sphäre waltet, und einen als böse verstandenen Schöpfer, einen „Demiurgen“, der die materielle Welt erschaffen hat. Die Erlösung des Menschen geschieht durch das Zünden eines „göttlichen Funkens“ durch ein als „Gnosis“ bezeichnetes Wissen bzw. Erleben. Tatsächlich spielt häufig ein simples „Erlösungswissen“, ein Glaubensbekenntnis eine zentrale Rolle in einem gnostizistischem Narrativ.

Politischer Gnostizismus ist nun nicht einfach „Gnosis im neuen Gewande“, denn spirituelle Betätigung in der Tradition der Gnosis kann sich auch ganz privat vollziehen und damit unpolitisch bleiben. Gnostische Lehren tragen aber gewisse Grundzüge, die in politischen Ideologien wiederkehren. Es gilt dabei, eine gedankliche Grundfigur herauszuarbeiten, die uns in ganz unterschiedlichen Ideologien begegnet.

Für den politischen Gnostizisten ist die Welt von einer grundlegenden Verderbtheit gekennzeichnet. Er glaubt jedoch nicht daran, dass der Grund für diese Verderbtheit die Schlechtigkeit der Menschen ist. Für ihn ist die Welt verdorben, weil unglückliche Verhältnisse die Menschen in Unwissenheit und Unterdrückung gefangen halten. Er ist beseelt von dem Glauben, die Menschen aus diesen unglücklichen Verhältnissen befreien zu müssen. Häufig glaubt er sich hierfür in einer ganz besonderen historischen Situation. In der höchsten Form nimmt diese historische Selbstbestimmung den Charakter des apokalyptischen Denkens an, indem für die Gegenwart die finale Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse erwartet wird. In diesem Endkampf werden wir entweder auf eine höhere Stufe des Daseins gehoben oder durch ein Katastrophe zugrunde gehen. Allgemeiner glaubt der politische Gnostizist, durch seine Taten den Erlösungsprozess voranbringen zu können und auch zu müssen – sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene.

Häufig ist dieser Erlösungsprozess durch zwei Stufen gekennzeichnet. Die erste Stufe sieht die ideologische Annahme des gnostischen Wissens vor, der gnostizistischen Weltsicht, wodurch der „Adept“ auf die Stufe des „Aufgewachten“ gehoben wird. Auf einer zweiten, höheren Stufe des „Heiligen“ ist das ganze Leben durchdrungen von dem Einsatz für die gnostizistische Erlösung. Die „heiligen Erleuchteten“ treten mit prophetischem missionarischem Eifer und totaler Hingabe für die – aus ihrer Sicht – einzig wahre gute Sache ein. Gnostizistisches Denken ist geradezu darauf angelegt, jede Form von Personenkult zu begründen, sei es die Verehrung von „Gurus“ oder die von charismatischen politischen Führern. Und mehr noch: Man kann den Gnostizismus wie eine Blaupause verstehen, um Sekten und politische Ideologien zu gründen.

Vom Standpunkt der radikalen Mitte aus ist der politische Gnostizismus zu kritisieren (Wir haben also einen ersten Kampfbegriff und ein erstes Feindbild!) Gnostizismus allgemein kann als postaufklärerisches Phänomen begriffen werden – das legen kulturhistorische Überlegungen nahem – und so erkennen wir auch den politischer Gnostizismus als ein postaufklärerisches Phänomen. Er tritt bevorzugt in epochalen Spätphasen auf, die durch Aufklärung, Philosophie und intellektuellen Liberalismus geprägt waren. Des Debattierens, Argumentierens, Differenzierens müde gebiert der Geist einer nach wie vor verstandeslastigen Zeit eine Art neue Religion, oder besser Pseudoreligion. Die originäre Aufgabe des Verstandes besteht darin, Problemstellungen klarer zu formulieren, Einzelfragen zu klären, zu analysieren, Lösungen für Einzelprobleme zu finden. Dabei unterscheidet der Verstand nach wahr und falsch, nach gültig und nicht gültig, er ist auf Vereindeutigung angelegt, er operiert digital. In größenwahnsinniger Selbstüberhöhung nimmt sich der Verstand im Gnostizismus des „großen Ganzen“ an und entwirft eine Welt, die ebenso binär und dualistisch ist, wie es seiner gewöhnlichen Arbeitsweise entspricht.

Man könnte diese hier vorgestellte Kritik am Gnostizismus dahingehend missverstehen, es solle dem weltanschaulichen Relativismus das Wort geredet werden. Es geht nicht darum, „Gut“ und „Böse“ als Grundrichtungen des sittlichen Urteilens zu diskreditieren. Selbstverständlich sollten wir bezogen auf die eigene Lebensführung darum bemüht sein, das Gute zu verwirklichen und das Böse zu meiden. Doch schon wenn es um die Beurteilung der Überzeugungen unserer Mitmenschen geht, ist es eben nicht mehr so einfach, „gut“ und „böse“ klar zu trennen. Kennen wir wirklich die Absichten der anderen? Wie viele Streitereien und Missverständnisse entstehen dadurch, dass sich Menschen gegenseitig schlechtere Absichten unterstellen, als sie vorlagen? Wie viel mehr gilt dies für die komplexen Zusammenhänge der Welt! Sachlich betrachtet ist kaum ein Mensch oder eine Sache ausschließlich gut oder schlecht. Es dominieren die Grautöne – in den gesellschaftlichen Verhältnissen, der Kultur, der Politik. Dem politischen Gnostizisten aber ist das zuwider. Es ist ihm zu banal. Er träumt sich mit Verstandesmitteln in den Zustand einer religiösen, voraufklärerischen, totalen Erzählung, wie sie in traditionelle Religionen zu finden waren. Er erschafft sich auf intellektuelle Weise nicht selten einen neuen Mythos, wie etwa Marx mit der Idee des „Urkommunismus“. Bildlich gesprochen läuft er mit zwei Farbeimern durch die Welt und verwandelt die Farben derselben mit seinem groben ideologischen Pinsel in ein schachbrettartiges Schwarz­weiß.

Politische Gnostizisten begegnen uns in allen politischen Lagern. „Gut“ und „Böse“ tragen häufig andere Namen: „progressiv“ vs. „reaktionär“, „deutsch“ vs. „undeutsch“, „aufgewacht“ vs. „Schlafschaf“, „klimaschädlich“ vs. „klimaneutral“. Und es ist ja auch naheliegend, politischen Erzählungen dieForm eines Kampfes zwischen „Gut“ und „Böse“ zu geben. Damit lässt sich dramatisches großes Kino machen, es fesselt und bedient tiefsitzende Erzählgewohnheiten. Der Gnostizist fängt mit seiner Ideologie „das Böse“ ein, markiert es und weist den Pfad der Erlösung. Und wenn es gut ausgeht, dann ist alles versöhnt und geborgen. Es ist nicht verwunderlich, dass das weltanschauliche Angebot des Gnostizismus auf viele Menschen so attraktiv wirkt – gerade auch auf junge Menschen. Die Annahme einer gnostizistischen Ideologie wirkt ungemein beruhigend, man weiß sich auf der „richtigen“ Seite, die Welt um einen herum wird in einen Sinnzusammenhang gesetzt; und vor allem in seiner apokalyptischen Variante wertet Gnostizismus die Gegenwart, die jeweilige Generation auf. Grundlegende geistige Bedürfnisse nach Sinn und Orientierung vermögen gnostizistische Ideologien auf eine einfache Weise zu bedienen, ohne allzu viel abzuverlangen.

Das hat allerdings seinen Preis. Denn der Gnostizismus zerstört das, worum es uns hier geht: die Mitte. Und das in mehrfacher Hinsicht. Als Erstes wird durch ihn die individuelle Herausforderung ein gutes Leben zu führen – die Mitte der eigenen Lebensführung – auf den großen „Weltenkampf zwischen Gut und Böse“ projiziert. Man ist schon bei den „Guten“, wenn man die richtige Gesinnung hat und denen applaudiert, die des gnostizistischen Prophetenamtes walten (und ansonsten nichts tut). Darin offenbart das zurecht kritisierte „Gutmenschentum“ – welches es nicht nur im linksprogessiven Lager gibt – seine wahre gnostizistische Natur.

Als Zweites zerstört der politische Gnostizismus die Mitte eines ausgewogenen Urteils. In einer sachlichen und aufgeklärten Urteilsbildung hat die Moral das letzte und nicht das erste Wort. Erst wenn wir einen Sachverhalt verstanden haben, können wir ihn moralisch einordnen. Das gnostizistische Schwarzweißdenken ist gekennzeichnet durch die klare Tendenz, schon im Voraus Sachverhalte moralistisch zu bewerten. Die Bewertung steht von Anfang an fest, und die weitere geistige Auseinandersetzung trägt allein den Charakter der Festigung dieses bereits getroffenen Urteils. Dies ist mittlerweile zum inoffiziellen Standard des Journalismus geworden – bezeichnet als „Haltungsjournalismus“, jedoch von Propaganda kaum zu unterscheiden.

Als Drittes werden Menschen zerstört in der Art und Weise, wie sie im gesellschaftlichen Diskurs wahrgenommen werden. Kein Mensch ist so wenig wert, dass er es verdient hätte, mit den eigenen politischen Ansichten gleichgesetzt zu werden. Wenn der politische Gegner nicht mehr als herausfordernder Gesprächspartner gesehen wird, sondern als Aussätziger, mit dem in Kontakt zu treten ein Tabu ist, dann wirkt hier eine besondere Form der Entmenschlichung, die nur selten als solche thematisiert wird. Das gehässige Reden über „die Linken“ oder „die Rechten“ ist meist nicht viel mehr als eine narzisstische Selbstinszenierung, deren selbstüberhöhender Charakter nicht selten damit zu tun hat, nicht über die intellektuellen Mittel zu verfügen, sich auf Augenhöhe mit dem politischen Gegner auseinanderzusetzen. Wer allein in einem Kosmos unter dem Fixsternhimmel der eigenen Dogmen argumentieren kann, vermag sich im Milieu der Geschwister im Geiste für aufgeklärt halten, hat aber die eigene Mündigkeit mit dem Korsett ideologischer Vorurteile verwechselt. Bezogen auf das Wesen eines Menschen sind politischen Ansichten aber ein vergleichsweise kleiner und nebensächlicher Teil. Die Mitte des Menschseins ist um Größenordnungen reicher als der bescheidene Zettelkasten politischer Überzeugungen, den wir mit uns herumtragen. Diese Mitte aber wird ent-eigentlicht, ja geleugnet, wenn Menschen auf ihre Zugehörigkeit zu diesem oder jenem politischen Lager reduziert werden.

Als Viertes schließlich verliert der politische Gnostizismus auch die Mitte zwischen Seele und Verstand. Er ist einseitig verstandeslastig, kann Einzigartiges nicht als solches zur Kenntnis nehmen und befindet sich in einem Zustand des ständigen Bewertens. Vernunft entsteht aber durch eine Erweiterung des Verstandesdenkens um Aspekte eines seelenhaften Verständnisses sowohl der eigenen Person als auch anderer. Seelenhaftes indes ist auf eine einzigartige Weise charakteristisch, in gewachsener Gewordenheit, individuell ohne Attitüde und doch Ausdruck von etwas Höherem. Jeder Mensch ist zunächst einmal ein solches Einzigartiges, das aus sich heraus weder gut noch böse, sondern einfach nur es selbst und als solches wertvoll ist.

Verschwörungstheorien

Das Wesen der Demokratie besteht darin, dass die herrschende Klasse der ausdrücklich verfassten Kontrolle durch die Beherrschten unterliegt. In einer aufgeklärten Gesellschaft ist es nicht so einfach, dieses Prinzip anzugreifen. Gegen den offenen Angriff durch traditionellen Faschismus oder Marxismus-Leninismus sind moderne Demokratien gewappnet. Bleibt die Gefahr durch verdeckte Angriffe: durch Wühlarbeit, Manipulation der öffentlichen Meinung, die stete Verengung des Fensters des Sagbaren, die Lenkung von Wissenschaft durch interessengeleitete Spenden – kurz: durch Elemente der Verschwörung.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren die äußeren Bedrohungen des demokratischen Westens weitgehend verschwunden. Heute werden die Bedrohungen für die Demokratie stärker im Inneren vermutet. Von Herrschenden wie Beherrschten. Verschwörungstheorien sind hierbei das intellektuelle Hilfsmittel Letzterer. Es ist also nicht verwunderlich, dass gerade in westlichen Staaten Verschwörungstheorien in den letzten Jahren vermehrt Verbreitung finden. Schillernd ist indes der Begriff. Für die Konzernmedien ist „Verschwörungstheorie“ die Schublade für all jene Erzählungen, Einordnungen und Theorien, die dem selbst propagierten Bild der Wirklichkeit widersprechen. Alternative Medien wiederum weisen diese Etikettierung entweder empört zurück oder kehren sie ironisch um.

Was ist von Verschwörungstheorien zu halten? Anhand dieser Frage soll ein wichtiges Erkenntniswerkzeug der Ideologie der Radikalen Mitte vorgestellt werden: die Methode der ausgewogenen Mitte. Hierbei werden zunächst Extrempositionen formuliert, die sich häufig im Sinne eines unvereinbaren Gegensatzes ausschließen, und zwar mit dem Ansinnen größtmöglicher Neutralität. Idealerweise würden sowohl Befürworter als auch Gegner einer Extremposition unserer Formulierung zustimmen können. Durch das Abwägen von Recht und Schuld, von Pro und Kontra dieser Extrempositionen wird eine Vermittlung angestrebt, um sich auf diese Weise einer nach beiden Seiten ausgewogenen Position anzunähern.

Wenden wir diese Methode auf unsere Fragestellung an! Die erste Extremposition ergibt sich aus dem Gebrauch des Schlagwortes „Verschwörungstheorie“ durch die Konzernmedien. Demnach postulieren alle Verschwörungstheorien fälschlicherweise, dass eine breite Palette an politischen und gesellschaftlichen Erscheinungen in Wahrheit durch kleine Gruppen von Verschwörern gelenkt oder zumindest manipuliert wird. In den Konzernmedien reicht gemeinhin allein die Kennzeichnung als „Verschwörungstheorie“, um Ansichten zu diskreditieren. Eine Prüfung auf die Stichhaltigkeit des Verschwörungsverdachtes erfolgt meist nicht.

Was finden wir in der anderen Waagschale? Ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber Narrativen, auf denen sich Regierungsentscheidungen im Westen stützen. Dieses Misstrauen ist nicht unbegründet. So wurde der zweite Golfkrieg 1990 mit der „Brutkastenlüge“ gerechtfertigt. Eine PR-Agentur hatte die Behauptung erfunden, irakische Soldaten hätten beim Einmarsch in Kuwait gezielt Neugeborene getötet. Diese Lüge war kein einmaliger Lapsus. Der dritte Golfkrieg 2003 stützte sich ganz offiziell auf die Lüge über die Existenz von irakischen Massenvernichtungswaffen. Und die Coronakrise führte klar vor Augen, dass die Konzernmedien regelmäßig darin versagen, die Regierungspolitik kritisch zu begleiten. Speziell muss es als ein Versagen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks angesehen werden, dass Kritik an der Regierungslinie jahrelang kaum zu vernehmen war. Derartige Medien erfüllen nicht mehr die Funktion, welche sie in einer demokratischen Ordnung eigentlich zu erfüllen hätten – Raum für eine öffentliche Debatte zu bieten. Man kann diese systematisch festzustellenden Missstände nun einfach beklagen, oder aber einen dahinter liegenden Plan vermuten. Heutzutage ist es ein Leichtes, sich auch ganz anderen Interpretationen der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit zuzuwenden. Einschlägige Telegram-Kanäle halten für jeden Geschmack etwas passendes bereit.

Doch welche Seite hat recht? Zunächst einmal ist festzustellen: Die Implikation der Konzernmedien, dass jede Verschwörungstheorie per se unzutreffend sei, ist schlicht falsch. Denn Verschwörungen passieren, auch in westlichen Ländern. Historisch brachte hierfür der P2-Skandal in Italien den wohl eindrücklichsten Beweis. Der Name dieses Skandals geht auf die Freimaurerloge „Propaganda Due“ zurück, welche sich in den 1970er Jahren zu einer politischen Geheimorganisation entwickelte. 1981 wurde bekannt, dass dieses Netzwerk Polizei, Militär, Wirtschaft, Politik, Mafia und Geheimdienste umfasste. Der Verdacht, dass dieser Geheimbund Pläne für einen Staatsstreich entwickelt hatte, bestätigte sich schließlich durch eine gerichtliche Untersuchung. Unter anderem stand die P2-Loge auch in Zusammenhang mit der Terrorwelle der 1970er Jahre in Italien, bei der es zu Anschlägen unter „falscher Flagge“ kam.

Es ist damit der Beweis erbracht, dass auch in westlichen Staaten Verschwörungen von erheblichem Ausmaß möglich sind. Nicht jede Theorie über eine Verschwörung kann damit als Unsinn abgetan werden, wie es die Konzernmedien gemeinhin tun. Dies passiert allerdings nur dann, wenn sich Verschwörungstheorien in irgendeiner Weise auf die heimischen Gefilde der westlichen Staaten beziehen. Andernfalls ertönen auch aus den öffentlichen Sprachrohren Verschwörungstheorien, etwa wenn wieder einmal ein Geheimdienst des „Feindstaates“ Russland vermeintlich zu dilettantisch gearbeitet hat und ein russischer Staatsbürger vergiftet in einem westlichen Krankenhaus statt unter der Erde landet. Im Weltbild unserer Alphajournalisten scheint es zweierlei Arten von Staaten und Menschen zu geben. Die Edlen leben im Westen, die Schurken in Schurkenstaaten. Schurken rotten sich zu Verschwörungen zusammen, Edle niemals. Dies ist die Sicht der Beschwichtigungsprediger, derer, die uns erzählen, nur Informationen aus „verlässlichen“ (also mit unseren westlichen Eliten eng verwobenen) Quellen zu beziehen. Nur kein falsches Misstrauen! Es gibt hier nichts zu sehen!

Ist also Verschwörungstheorien generell zu glauben? Natürlich nicht, denn mit Theorien wie der von der „flachen Erde“ gibt es nun einmal ganz klar auch widersinnige Verschwörungstheorien. Andere – wie die von der nicht stattgefundenen Mondlandung – mögen zwar interessant und unterhaltsam sein, sind aber politisch irrelevant. Gerade Menschen, die sich erst seit kurzer Zeit abseits der Konzernmedien informieren, begehen nicht selten den Fehler, allzu einfachen Verschwörungserzählungen Glauben zu schenken. Was auch immer geschieht, hat demnach eine kleine Clique von Eingeweihten – Juden, Jesuiten, Welfenadel – im Voraus geplant. Nichts geschieht ohne List der heimlichen Marionettenspieler. Es sollte nicht unterschätzt werden, dass derartige Ideen auch gefährlich sein können. Zum einen für das psychische Wohlbefinden derer, die sich damit beschäftigen. Zwar ist es wichtig, sich über politische Zusammenhänge zu informieren, doch hat jeder Mensch auch eine gewisse Verpflichtung, sich nicht allzu sehr psychisch zu destabilisieren. Zum anderen bergen allzu geschlossene Verschwörungserzählungen die Gefahr, dass aus ihnen extremistische Konsequenzen gezogen werden. Nicht ohne Grund enthalten eigentlich alle extremistischen Ideologien Elemente von Verschwörungstheorien.

Dennoch ist die Methode, mit verschwörerischen Tendenzen mehr oder weniger systematischer und globaler Art zu rechnen, zunächst einmal ein Gebot der Vorsicht. Denn in einer gewissen Hinsicht ist das Moment der Verschwörung in der Politik in trivialer Weise real. Selbstverständlich ist damit zu rechnen, dass es in der Politik die Hinterzimmer gibt, und davon unabhängig ein Bild, das der Öffentlichkeit verkauft wird. Und selbstverständlich gibt es hier mithin bestürzende Diskrepanzen. Und natürlich gibt es auch organisierte Formen wie die Bilderberger-Konferenz oder diverse politische Stiftungen, die solche Tatbestände institutionalisieren. Darüber hinaus tragen nicht wenige Skandale, deren Aufarbeitung im Zuge der Selbstreinigungsprozesse freiheitlicher Gesellschaften nun einmal dazu gehören, den Charakter von Verschwörungen. Hier mit Verschwörungshypothesen zu operieren ist legitim, ja sogar notwendig.

Der Umgang mit Verschwörungstheorien sollte jedoch niemals zur Ideologie werden, niemals in geschlossenen Weltbildern oder gar in Formen des politischen Gnostizismus münden. Und das aus zwei Gründen. Erstens: Wer sich über längere Zeit mit Verschwörungstheorien beschäftigt, wird feststellen, dass in diesem Milieu viele widersprüchliche Informationen kursieren. Es können also nicht alle Verschwörungstheorien wahr sein. Manche hingegen schon: So wurde schon früh in Kreisen der Corona-Maßnahmenkritik der Verdacht geäußert, die Politik strebe nach der Einführung einer Impfpflicht – zu einem Zeitpunkt, als das von Seiten der Politik noch kategorisch ausgeschlossen wurde. Wenngleich eine globale Impfpflicht 2022 in Deutschland parlamentarisch scheiterte, so hatten in diesem Punkt die „Verschwörungstheoretiker“ doch recht behalten, hatten viele Politiker nach der Bundestagswahl ihre eigene Absage an eine Impfflicht scheinbar vergessen. Verschwörungstheorien sind also wie Hypothesen zu verstehen, über deren Wahrheitsgehalt wir zunächst einmal wenig wissen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als Verschwörungshypothesen im Hinterkopf zu behalten und stets die Wahrheitswahrscheinlichkeiten anhand der beobachteten politischen Gegenwart neu zu bewerten.

Zweitens: Selbst wenn eine Verschwörungstheorie als wahr anzunehmen ist, dann kann die entsprechende Verschwörung nur deswegen erfolgreich sein, weil sie die gesellschaftlichen Verhältnisse in einer zutreffenden Weise interpretiert und zielführend manipuliert. Keine Verschwörung ist so mächtig, dass sie die Gesellschaft in beliebige Richtungen lenken kann. Deswegen können strukturalistische Analysen auf gesellschaftlicher oder kultureller Ebene niemals durch Verschwörungshypothesen ersetzt, sondern immer nur ergänzt werden. Verschwörungshypothesen machen – richtig verstanden – die Sachlage komplizierter und nicht einfacher.

Wenn wir uns genau überlegen, worum es bei Verschwörungshypothesen eigentlich geht, so kann man das wissenschaftlich so formulieren: Es geht um die Geschichts- bzw. Zeitgeschichtsschreibung geheimdienstlicher, klandestiner, informeller Strukturen. Es ist davon auszugehen, dass, wo immer Historiker versuchen, die Geschichte zu rekonstruieren, zahlreiche historische Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben, welche nicht in den Chroniken zu finden sind, von denen es keine oder nur wenige schriftliche Quellen gibt. Und das nicht, weil diese Ereignisse unbedeutend gewesen wären, sondern weil sie absichtlich oder unabsichtlich nicht festgehalten wurden. Über wie viele gelungene Giftanschläge auf Machthaber schweigen die historischen Quellen? Und weiter: Welche Geschichtsklitterungen haben schon die Chronisten vergangener Jahrhunderte bewusst betrieben? Quellenkritisch zu arbeiten mag Stand der historischen Forschung sein, doch die konsequente Einbeziehung geheimdienstlicher Aktivitäten vergangener Jahrhunderte bringt die Historikerzunft an ihre wissenschaftstheoretischen Grenzen. Sie ist auch kategorisch jenseits des historiographischen Kanons.

Das Gleiche gilt für die Gegenwart. Vereinzelte nonkonformistische Historiker wie Daniele Ganser reichen bei weitem nicht aus, um die okkulte Weltgeschichte in hinreichender Qualität aufzuarbeiten. Hundertschaften von Historikern wären notwendig, ebenso wie freier Zugang zu allen Geheimarchiven in Rom, London, Washington, Moskau. Und selbst dann wären nur mündlich tradierte Erzählungen etwa aus Freimaurerlogen noch nicht berücksichtigt. So lange also die etablierte Historikerzunft das Thema geheimdienstlicher Verstrickungen stiefmütterlich behandelt, haben Verschwörungshypothesen auch die Funktion, den Finger in die Wunde zu legen.

Verschwörungshypothesen haben – richtig verstanden – eine bedeutsame Funktion im Rahmen einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sie üben Druck aus auf die herrschende Klasse, damit diese das eigene Wirken rechtfertigt und transparent macht. Verschwörungshypothesen sind die Argusaugen, mit welchen das Volk den Herrschenden auf die Finger schaut. Sie sind Ausdruck des gesunden Misstrauens, das die Bevölkerung gegenüber den Herrschenden in einer Demokratie haben sollte. Sie sind vergleichbar mit Überwachungskameras, die das Tun der Eliten kritisch beäugen. Die immer lauter werdende Polemik gegen Verschwörungstheorien ist unter diesem Blickwinkel als steigender Adrenalinspiegel einer herrschenden Klasse zu deuten, welche sich zunehmend Sorgen um den Fortbestand der eigenen Macht macht.

Dennoch sollte sich die Radikale Mitte Vorsicht walten lassen. Denn die Bewertung von Verschwörungshypothesen ist ausgesprochen schwierig. In falschen Händen werden daraus schnell gefährliche Verschwörungsideologien bis hin zu Formen des politischen Gnostizismus und Fanatismus.

Universalismus und Autarkismus

Eine der wichtigsten geistigen Bruchlinien des 21. Jahrhunderts ist diejenige zwischen Universalismus und Autarkismus. Zum einen haben wir also das kulturelle, politische und gesellschaftliche Ideal, die Lebensbedingungen der Menschheit durch zunehmenden Austausch von Ideen und Menschen immer gleichförmiger und besser zu gestalten. Eine Prämisse dieses Universalismus besteht darin, dass die Menschen in grundlegender Hinsicht gleich sind, wenigstens bezogen auf die Universalität der Menschenrechte. Deshalb erscheint eine universelle Ordnung der Menschheit möglich und etwa vor dem Hintergrund der Friedenssicherung und einer Förderung der allgemeinen Wohlfahrt auch erstrebenswert. Zum anderen sehen wir ein Prinzip berührt, welches neben den universellen Menschenrechten ebenfalls grundlegend für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist: die Subsidiarität. Dieses besagt, dass höhere staatliche Institutionen immer nur dann eingreifen sollen, wenn die Möglichkeiten des Einzelnen, einer kleinen Gruppe (beispielsweise der Familie) oder einer niedrigeren staatlichen Hierarchieebene allein nicht ausreichen, ein bestimmtes Problem zu lösen. Der Autarkismus strebt nach maximaler Subsidiarität, steht staatlicher Ordnung prinzipiell kritisch gegenüber und will diese nach Möglichkeit so kleinteilig wie möglich gestalten.

Schon sehr früh in der Geschichte zeigte sich der Gegensatz von Autarkismus und Universalismus: Für die demokratischen griechischen Stadtstaaten war die Autarkie, d.h. die Unabhängigkeit in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, ein wichtiges Ideal. Wenige Jahrhunderte später umfasste das Römische Reich mit seiner „Pax Romana“ („Römischer Frieden“) den gesamten Mittelmeerraum in einer universellen politisch-gesellschaftlichen Ordnung, wie sie die westliche Hemisphäre bis dahin noch nicht gesehen hatte.

Wonach sollen wir streben? Wohin werden wir uns entwickeln? Werden Sprachen und Kulturen sich immer weiter vermischen und eingeschmolzen werden in eine bunte Menschheitskultur? Oder wäre eine solche in der Tat ein diffuses Braun, das den Menschen von Jahr zu Jahr hohler erscheint und schnell als oberflächliche Staffage einer globalistischen Profitmaximierungsmaschine zu entlarven wäre, in welcher der entwurzelte Mensch nicht mehr ist als leicht verschiebbares Humankapital und Konsument? Ist die Moderne universell gültig und wird sie alle alternativen Entwürfe wie den Islam langfristig verdrängen? Oder vermögen außereuropäische Kulturen die Sekundärtugenden der westlichen Zivilisation zu assimilieren und damit gestärkt zum kraftvollen Gegenschlag auf die aufklärerische Moderne ausholen, etwa in der Form einer Großmacht China? Brauchen wir immer mehr internationale Integration, um die Herausforderungen der Gegenwart zu meistern, oder sind diese immer stärkeren Einbindungen der Menschen in immer weniger nachvollziehbare Wirkzusammenhänge im Kontext der Globalisierung gerade ein Teil des Problems? Müssen wir also zu regionalen Strukturen zurückkehren, wieder mehr Nationalstaat wagen, oder gar ganz weg von staatlichen Strukturen hin zu privat organisierten, überschaubaren Personenverbänden?

Und wieder ist die Methode der ausgewogenen Mitte naheliegend: Was spricht für den Universalismus? Hier müssen nicht viele Worte verloren werden, ist dies doch in westlichen Staaten die vorherrschende Ideologie: Dem Fortschritt der Menschheit dienlich ist gewiss ein möglichst weitgehender Austausch von Ideen, zwischen Menschen, Staaten und Kulturen. Damit dies immer besser möglich ist, liegt es nahe, Barrieren für die internationale Zusammenarbeit abzubauen: Handelshemmnisse, nationale Engstirnigkeit in kultureller, sprachlicher und politischer Hinsicht. Kulturen, die sich zu sehr auf sich selbst konzentrieren, laufen Gefahr zu erstarren. Ein Beispiel hierfür wäre China im 18. und 19. Jahrhundert, das von einem seit Jahrhunderten verfestigten Konfuzianismus geprägt war. In Kombination mit der alten Tradition des chinesischen Kulturchauvinismus – dem Sinozentrismus – führte dies dazu, dass China – anders etwa als Japan – den Herausforderungen durch die immer dominanter auftretenden westlichen Staaten nicht gewachsen war und durch Kriege und Revolutionen für viele Jahrzehnte in eine schwere Krise geriet.

Was ist nun umgekehrt die Schuld, die Schwäche, der Nachteil des Universalismus? Hier gilt es tiefer zu schürfen, muss doch der Zeitgeist gegen den Strich gebürstet werden. Gewiss ist der Universalismus im Westen in den letzten Jahrzehnten gegenüber dem Autarkismus dominant. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch, dass das Pendel der Geschichte sich auch in eine andere Richtung bewegen könnte. Der Zusammenbruch der weströmischen Antike ist ein eindringliches Beispiel dafür, dass ein einmal erreichter Stand des Universalismus nicht für die Ewigkeit gemacht sein muss. Auch wenn es für Jahrzehnte selbstverständlich erscheinen mag, dass die geistigen Horizonte immer weiter werden – eine Garantie auf Ewigkeit beinhaltet das nicht. Es ist außerdem fragwürdig, inwieweit bei einem solchen Zuwachs an Weite nicht auch der Zusammenhalt verloren gehen muss. Und in der Tat deutet sich mit dem Aufstieg der Identitätspolitik von rechts und links an, dass der liberale, universalistische Konsens, der in den 90er Jahren scheinbar global verbindlich wurde, zunehmend für Unbehagen sorgt.

Worin aber besteht dieses Unbehagen? Eine Universalisierung des Welt- und Menschenverständnisses geht auch immer einher mit einer Verarmung. Wer sich ganz mondän als „Weltbürger“ begreift und darüber hinaus als „Individuum“, hat zwischen allgemeinen Menschenrechten und persönlichen, geschmäcklerischen Vorlieben nicht viel, aus dem er seine Identität schöpfen kann. Vor allem verschließt er die Augen davor, durch eine ganz bestimmte Geschichte geprägt zu sein, seien es die Biographien der eigenen Familie, die Geschichte der Region, der Nation oder des Kulturraumes. All diese gedanklichen Horizonte sind aber notwendige Ankerpunkte für Selbsterkenntnis, die durch Ähnlichkeit zu der Selbsterkenntnis anderer kulturelle und gesellschaftliche Verständigungsräume erschließt, die subtiler und tiefer sind als jene, die sich aus einem allgemeinen, abstrakten Menschentum ergeben. Der von links wie vom liberalen Kapitalismus erschallenden Ruf „Wir sind alle gleich!“ hat einen schalen Beigeschmack: „Wir sind alle nichts!“

Das Streben nach Selbständigkeit, nach Autarkie ist sowohl individuell als auch gesellschaftlich zu einer seltenen, geradezu aristokratischen Tugend geworden. Politisch heißt dies, die Probleme nicht komplizierter zu machen als nötig, sie dort zu lösen, wo sie entstehen. Kein staatlicher Anspruch auf Zuständigkeit ist unhinterfragt hinzunehmen. Institutionen jedweder Art sind von Natur aus egoistisch und streben danach, den eigenen Zuständigkeitsbereich und damit vor allem die zugeführten Ressourcen beständig auszuweiten. Gleiches gilt für Ideologien, Marketingkonzepte und Weltanschauungen. Es ist eine notwendige Bedingung für Freiheit, hier Brandmauern zu ziehen, die der immer stärker werdenden Machtkonzentration widerstehen.

Ein Übermaß an Abschottung mag geopolitisch vielleicht bei Nordkorea auszumachen sein, und ist für uns damit irrelevant. In einem anderen Bereich betrifft es uns jedoch unmittelbar: der Ideologie. Mögen wir in kulinarischer Hinsicht noch so aufgeschlossen sein fürs Fremdartige, Exotische – im Bereich der Weltanschauung und der politischen Ansicht herrscht in den Milieus mithin strenge Monokultur. Das führt zu diskursiver Dünnhäutigkeit und geistiger Trägheit. Ideologisch scheinen nur mehr Mikrodifferenzen erträglich zu sein. Alles außerhalb der eigenen Blase wird leichtfertig als „Hass und Hetze“, als dem Wahnsinn nahestehend, fanatisiert oder verloren gebrandmarkt, um sich von einer gedankliche Auseinandersetzung zu entlasten.

Unter der vereinfachenden Annahme, dass die Gründe für eine Extremposition stets Argumente gegen die entgegengesetzte Position sind, bedeutet die Methode der ausgewogenen Mitte eine zur Diskussion stehende These stets nach zwei Seiten im Sinne eines „Pro und Kontra“ hin abzuwägen. Sie ist damit in der europäischen Geistesgeschichte durchaus nichts Neues, aber im Klima zunehmender Ideologisierung wert, wiederentdeckt zu werden. Es ist allein deswegen hilfreich Extrempositionen zu formulieren, da diese Einzelaspekte am besten zur Kenntlichkeit bringen können. So wird in der liberalen Extremposition des Libertarismus der Leitwert der „Freiheit“ am konsequentesten zu Ende gedacht. Nur selten dürfte es hingegen realistisch sein, Extrempositionen realpolitisch verwirklichen zu wollen. Wir sollten vielmehr davon ausgehen, dass mittlere Positionen zu einer erfolgreichen Politik führen werden. Historische Beispiele sind gut geeignet, die Konsequenzen von Extrempositionen zu verdeutlichen. Dabei wird man immer wieder feststellen, dass jede spezifische Ausrichtung eines geistigen und gesellschaftlichen Klimas ihren Preis hat. Es gibt nur selten in der Geschichte ein einfaches „besser“ oder „schlechter“. Alles hat seinen Preis. Dies soll bezogen auf den Gegensatz von „Autarkismus“ und „Universalismus“ durch zwei Beispiele erläutert werden.

Vergleicht man die Kultur des Römischen Imperiums mit der der griechischen Polis, so hatten wir bereits festgestellt, dass hier eine universalistische Kultur mit einer autarkistischen verglichen wird. Auch wenn wir uns dem Selbstverständnis nach politisch eher mit der demokratischen griechischen Polis identifizieren, so dürfte die Sympathie des spätneuzeitlichen Zeitgenossen beim Verhältnis von „Offenheit“ und „Selbständigkeit“ eher bei den Römern liegen. Denn die Griechen – zumindest des vorklassischen und klassischen Zeitalters – waren nach unseren heutigen Maßstäben ausgesprochene Ausländerfeinde. Sie unterschieden klar zwischen „Hellenen" und „Barbaren“. Der griechische Kulturchauvinismus ging so weit, dass unter Alexander dem Großen der von den Persern eroberte Orient durch den Hellenismus kulturell überformt wurde.

Zwar sind ägyptische und mesopotamische Einflüsse für die Genese der griechischen Kunst durchaus bedeutsam, doch verstanden es die Griechen in hohem Maße, das Eigene zu kultivieren. Was heute, im spätneuzeitlichen Kontext, als „Abschottung“ oder „Intoleranz“ negativ konnotiert ist, kann eine positive Seite haben: die Kultivierung. Durch die Fokussierung auf das Eigene, in der Routine des Gewohnten, entsteht nicht zwingend immer nur in unkreativer Weise das schon bekannte Gleiche. Vielmehr ist der Gewinn einer solchen kulturellen Reise nach innen eine Verfeinerung und Vertiefung. Dieses unzeitgemäße Pochen auf das Eigene brachte im Falle der griechischen Kunst kulturelle Leistungen hervor, die für Jahrtausende richtungsweisend waren. Dies war der Kunst der zweiten großen Seefahrernation der Antike nicht vergönnt: der Kunst der Phönizier. Sie waren zwar fleißige Kunsthandwerker und tüchtige Kaufleute – phönizische Kunst fand sich von Marokko bis Russland – nachfolgende Generationen erinnerten sich ihrer kaum. Es fehlte ihr an Originalität – zu sehr bediente sie sich bei der Kunst der Nachbarvölker: Griechen, Assyrer, Ägypter. In ihrem Kunstschaffen waren die Phönizier zu aufgeschlossen für Fremdes, um für die Menschheit etwas geistig Bedeutendes zu schaffen.

Sie waren ähnlich aufgeschlossen für kulturelle Einflüsse wie die Römer, die neben anderen Kulturleistungen die bildende Kunst und Architektur weitgehend von den Griechen übernahmen. So sehr jedoch die Menschen im Mittelmeerraum Stabilität und Wohlstand der römischen Zivilisation die Früchte der griechischen Kultur für Jahrhunderte genießen ließ, so sehr machten sich auch Erstarrung und Niedergang bemerkbar. Die anspruchsvolle griechische Dramenkunst verschwand bald von römischen Bühnen und machte gewöhnlicher Volksunterhaltung Platz – mit einer gehörigen Portion Spektakel: Liebschaften und Ehebruch, Verfolgungsjagden und Schlägereien. Und auch die Wissenschaft erreichte unter den Römern nie wieder einen Höhepunkt vergleichbar mit dem unter Aristoteles und seinen Schülern.

Haben wir also die Wahl zwischen sich nach außen abgrenzender Kultivierung und weltoffener Inspiration? Ein Vergleich mit der modernen Quantenphysik drängt sich auf. In der Größenordnung von Atomen und Elementarteilchen ist es unmöglich, Ort und Geschwindigkeit (genauer gesagt den Impuls p, der über die Masse m über p=mv mit der Geschwindigkeit v verknüpft ist) eines Teilchens beliebig genau zu messen. Eine Steigerung der Genauigkeit für die eine Größe ist in naturgesetzlicher Weise mit einem Verlust der Genauigkeit bei der anderen Größe verbunden. In ähnlicher Weise könnten Universalismus und Autarkismus Gegensätze darstellen, die sich nicht gleichzeitig zur Blüte bringen lassen.

Betrachten wir ein weiteres kulturhistorisches Beispiel: die Entwicklung der populären Musik seit 1945 bis in die Gegenwart. Ältere Semester hört man gelegentlich über die Popmusik der Gegenwart nach dem Motto lamentieren: „Was sind schon Miley Cyrus und The Weekend gegen die Beatles und die Stones?“ Dass derartige Eindrücke mehr sind als Ressentiments, hat der britische YouTuber Arran Lomas in seinem Video „Why is Modern Music so Awful?“ überzeugend dargelegt. Flankiert von wissenschaftlichen Studien zeigt Lomas auf, dass die populäre Musik bezüglich messbarer Qualitätskriterien wie harmonischer Komplexität, klanglicher Vielfalt und Dynamik seit Jahrzehnten an Qualität verliert. Die höchste Qualität hatte demnach die Musik der 60er Jahre.

Was hat dies nun mit Autarkismus und Universalismus zu tun? Betrachtet man die Popgeschichte der letzten Jahrzehnte durch die Brille dieser Begriffe, so lässt sich seit dem Krieg eine zunehmende Universalisierung und Internationalisierung der Popmusik feststellen. In den späten 40er und 50er Jahren hatten die Märkte für populäre Musik noch stark nationalen Charakter. Deutschland war dominiert vom Schlager, die USA von Countrymusik und Hollywood-Balladen. Der Rock’n’Roll brachte mit Elvis Presley den ersten echten Weltstar der Popmusik. Die kommenden Jahrzehnte waren geprägt von einer zunehmenden Vereinheitlichung der weltweiten Popmusikkultur. Einerseits waren in den 60er bis 80er Jahre noch starke nationale und ethnische Traditionen wirksam: die British Invasion, der von schwarzen Musikern geprägte Motown-Sound und nicht zuletzt der deutsche Beitrag: Krautrock mit seiner Bedeutung für die Geschichte der elektronischen Musik. Andererseits vollzog sich in diesen Jahrzehnten die immer stärkere Synthese eines internationalen Musikmarktes: Englisch etablierte sich als dominierende Gesangssprache, bald schon war von Produzenten geformte Kunstbands wie Boney M die Herkunft nicht mehr anzusehen. Universalisierung war der Trend der Zeit. Schwarze Künstler wie Michael Jackson oder Whitney Houston lösten sich zusehends von ihren schwarzen Wurzeln mit einer Musik, die bei allen Hautfarben und Kulturen kommerziell erfolgreich war. Heute sehen wir uns mit dem Paradox konfrontiert, dass die Mittel der elektronischen Musikproduktion theoretisch die größte stilistische Vielfalt in der Popmusik ermöglichen würden, in der Praxis – objektiv messbar – aber genau das Gegenteil festzustellen ist.

Interessant ist nun, dass die populäre Musik weder am Anfang dieser Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg noch an ihrem vorläufigen Ende in der Gegenwart ihre höchste Qualität hatte. Weder relativ gesehen höchste Autarkie noch höchster Universalismus scheinen also das Optimum darzustellen, sondern gerade jene Zeiten scheinen kulturell am fruchtbarsten gewesen zu sein, als beide Prinzipien relativ stark wirksam waren, die 60er bis 80er Jahre. Die Extrempositionen sind also kaum erstrebenswert. So leicht sie sich in grelle Ideologien verpacken lassen, so es bleibt es ein anspruchsvolles Unterfangen, eine Vermittlung zwischen diesen Extremen zu formulieren. Sich solchen Aufgaben zu stellen ist Programm und Auftrag der Radikalen Mitte.

Von Wäldern und Bäumen

Man kann den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Manchmal ist es auch umgekehrt und man sieht die Bäume vor lauter Wald nicht. In unserer Kultur haben wir beide Probleme.

Da wäre etwa die Frage, als was wir Menschen uns selbst begreifen. Die Wissenschaften haben hier zahlreiche einzelne Erkenntnisse geliefert. Allein die Tatsache, dass mehrere Disziplinen zu nennen sind – Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Humanbiologie, die historischen Wissenschaften, um nur die wichtigsten zu erwähnen – zeigt, dass es an einer integrierenden Sichtweise fehlt. Hier versagt auch die akademische Philosophie. Wir wissen als Menschheit über den Aufbau der Natur mehr als über uns selbst. Es fehlt uns schlicht an Überblick. Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Einzelne herausgepickte Ideen und Erkenntnisse werden zu Weltbildern aufgebläht, indem wahre Einzelerkenntnisse durch dogmatische Verallgemeinerung das weite Feld des Unwissens unkenntlich machen. Auf diese Weise kam ein Richard Dawkins zu einem evolutionistischem, eine Judith Butler zu einem linguistischem Weltbild. Derartige Weltbilder beruhen auf erkenntnistheoretischen Kurzschlüssen, da jeweils die Sichtweise einer Wissenschaft zu einer globalen, weltbildartigen Erzählung erhoben wurde, ohne alternative Sichtweisen – andere Wissenschaften oder außerwissenschaftliche Ansätze – hinreichend mit einzubeziehen. Hier Licht ins Dunkel zu bringen ist Aufgabe für Generationen. Wir brauchen einen vorläufigen Plan. Die Radikale Mitte versteht den Menschen als denkende, handelnde und fühlende Ganzheit. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen stets auf ein holistisches Menschenbild bezogen bleiben, bei dem weder etwa emotionale oder rationale Aspekte überbetont werden. Wenn einer der Aspekte des Menschseins vernachlässigt wird, gerät der Mensch aus dem Gleichgewicht, verliert er seine Mitte. Im Denken und Handeln ohne Fühlen wird der Mensch empathielos, kalt und unauthentisch. Im Handeln und Fühlen ohne Denken folgt der Mensch blindem Aktionismus, ist in ständiger emotionaler Aufwühlung, lässt sich von Angst überwältigen und von Stimmungen hin- und hertreiben. Im Denken und Fühlen ohne Handeln ergibt sich der Mensch im Lamentieren, Kritisieren, Solidarisieren, Imaginieren, ohne die Dinge auch nur einen Millimeter voranzubringen. Die Radikale Mitte steht für ein ganzheitliches Grundverständnis des Menschen, in das sich die grundlegenden Erkenntnisse der Humanwissenschaften einfügen, wodurch sie in den politischen Diskurs miteinbezogen werden.

Wir sehen aber auch die Bäume vor lauter Wald nicht mehr. Überall dort nämlich, wo sich Formen des Zentralismus etabliert haben, welche den Menschen in einer Weise überformen, die seine individuelle Würde bedroht. Die Moderne ging in der Tat mit einer gewaltigen Zentralisierung einher. Die Digitalisierung hat das Spannungsverhältnis von Individuum und Institution noch einmal verschärft. Dabei geht der einzelne Mensch in der durch die Institutionen geformten Masse unter wie der Baum im Wald. Einerseits kämpft die Radikale Mitte gegen den Modernizismus als eine fanatisierte Form der Moderne. Auf der anderen Seite gilt es, die progressiven Möglichkeiten der Gegenwart zu nutzen.

Die digitale Revolution erlaubt gänzlich neue Formen der politischen Selbstorganisation. So wie es beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vor allem durch die Erfindung des Buchdrucks zu einer tiefgreifenden Transformation aller politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse kam, so öffnen die digitalen Medien heute das Tor in eine verheißungsvolle Zukunft. Leider haben die Mächte der alten Systeme hier bislang in verhängnisvoller Weise hemmend gewirkt, und tun es noch immer. Die EU-Urheberrechtsreform, Löschwellen auf YouTube, vor allem auch in Zusammenhang mit der Kontroverse um Corona, führen dies klar vor Augen.

So lassen sich aus der gegenwärtigen Situation zwei entgegengesetzte Visionen für die Zukunft ableiten, eine Utopie und eine Dystopie. Die Digitalisierung kann genutzt werden, um bestehende Herrschaftsverhältnisse zu stärken und scheinbar für die Ewigkeit zu zementieren. Dies bedeutet eine weitestgehend digital vollzogene Überwachung für die große Mehrheit der Menschen, ein schleichendes Ende der Demokratie, einen ökonomischen Niedergang der Mittelschicht durch disruptive Geschäftsmodelle, neue, technokratische Formen des Autoritarismus. Viele Entwicklungen der Gegenwart deuten in diese Richtung. Die Lage ist zugespitzt, da sich das Weltfinanzsystem ähnlich wie Anfang des 20. Jahrhunderts in einer kritischen Situation befindet. Der Betriebsmodus des Kapitalismus hat pathologische Züge angenommen. Was der einfältigen Masse unter den Etiketten „Green New Deal“ oder „der große Reset“ verkauft werden soll, könnte sich als der wahnwitzigste Versuch erweisen, die Menschheit in eine Kontrollmatrix nach chinesischem Vorbild zu zwängen. Die Multimillionäre und Milliardäre, welche sich entweder selbst an die Spitze einer solchen Bewegung stellen oder andere vorschicken, werden eines garantiert nicht tun: Sie werden nicht auf die Privatjets verzichten, nicht auf die Privatköche und die Luxusvillen. Allerdings werden auch sie von einem solchen Regime – wenn es denn erst einmal steht – ebenfalls nicht verschont werden. Größenwahnsinnige Oligarchen sind die politischen Zauberlehrlinge unserer Zeit. Da können noch so viele Predigten erschallen, dass es „so nicht weitergehen kann“, dass die „Ressourcen neu und gerechter verteilt werden müssen“, um das „Klima zu retten“ oder die „Gesundheit der Menschen“, dass der Westen „seine historische Schuld“ bezahlen muss – all diese Parolen, so gemeinnützig und progressiv sie auch klingen mögen, sind doch aus dem Munde der Superreichen und ihrer Hofschranzen nichts weiter als Hohn und Spott, eitles, elitistisches Wortgeschraube von Menschenfängern, die nichts Gutes im Schilde führen.

---ENDE DER LESEPROBE---