Mara im Kokon. Ein Leben unter Wachtturm-Regeln - Barbara Kohout - E-Book

Mara im Kokon. Ein Leben unter Wachtturm-Regeln E-Book

Barbara Kohout

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Beschreibung

Nach sechs Jahrzehnten gutgläubiger Gefolgschaft wagte die Autorin, den Druck, die Ordensregeln und einige Lehren der Zeugen Jehovas zu hinterfragen. Die Folge war Bestrafung mit »Gemeinschaftsentzug«. Er bedeutet den Verlust des gesamten sozialen Umfelds: Freunden, Familie, Nachbarn, die zu den Zeugen Jehovas gehören, ist es untersagt mit einer solchen Person Umgang zu pflegen. Als sich 1949 die Eltern der Autorin entschieden, dem Werben der Zeugen Jehovas nachzugeben und sich der Gruppe anzuschließen, war von solch drastischen Maßnahmen nichts zu ahnen. Auch die Autorin selbst ließ sich im Alter von elf Jahren begeistern: von der Freundlichkeit, der angeblich einzigen Wahrheit und der Aussicht auf Rettung durch den Gotteskrieg Harmagedon hindurch, der die übrige Menschheit mit Vernichtung bedrohte. Sechzig Jahre später folgte auf die Hoffnungen und Versprechungen ein böses Erwachen durch die Erkenntnis, dass ihr Leben extrem fremdbestimmt war. Die Autorin beschloss sich mit diesem Zustand nicht zufrieden zu geben. Sie stellte sich ihrer Vergangenheit. In diesem Buch erläutert sie die religiösen Vorschriften der Organisation und macht auf die Lage der Ausgeschlossenen und derer, die die Gemeinschaft freiwillig verlassen haben und die man »Abtrünnige« nennt, aufmerksam. Sie stellt den Anspruch der Leitenden Körperschaft auf den Prüfstand, analysiert Bibelauslegungen und deren Auswirkungen auf das Leben der Gläubigen. Die Protagonistin Mara ist eine fiktive Person. Aber sie erzählt wahre Episoden aus einem ereignisreichen Zeugen-Leben.

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Barbara Kohout

MARA IM KOKON

Ein Leben unter Wachtturm-Regeln

Engelsdorfer Verlag 2010

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

eISBN: 978-3-86268-115-0

Foto der Autorin (Buchrückseite © Eva-Katrin Herrmann

Copyright (2010) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte bei der Autorin

www.engelsdorfer-verlag.de

Ein herzliches Dankeschön

Dieses Buch wäre ohne die selbstlose Hilfe einer Gruppe ganz wunderbarer Menschen nicht vollendet worden.

Diesen möchte ich meinen besonderen Dank aussprechen.

Allen voran meinen Kindern Renate, Jörg-Alexander und Thomas Manuel. Sie haben mir viele Dokumente und Informationen verschafft. Sie haben mich ermutigt und standen in der Zeit meiner persönlichen Krise zu mir.

Ein ganz großes Dankeschön an Thomas Mang für seinen unermüdlichen Einsatz bei der Korrektur und Gestaltung und seine unglaubliche Geduld für immer neue Änderungen.

Vielen Dank an alle Testleser, die Zeit und Ideen eingebracht haben: Hildegard Mang, Annette Satzger, Robert Krings, Sascha Nauen, Dr. phil. Joachim Domnick, Nina Domnick, Gisela Lanzinger Ullmer.

Jeder Hinweis von ihnen führte zu einer Verbesserung des Ganzen.

Meiner Lektorin Bettine Reichelt ein ganz herzliches Dankeschön. Ihre gute Arbeit ist eine echte Bereicherung.

Doch nicht zuletzt danke ich meinem geliebten Mann Karl. Er stand an meiner Seite gleichgültig was passierte. Er hat mir vor allem seine Liebe gegeben.

Inhalt

Vorwort

Freiheit

Der Ernst des Lebens

Die Aufgabe Uslar

Beruf und Berufung – ein schwieriger Spagat

Kraftstation Camberg

Weilheim – durch das Tal der Tränen

Abbruch, Ausbruch, Aufbruch

Epilog

Anhang Checkliste

Buchempfehlungen

Glossar

Vorwort

Religion gilt dem gemeinen Mann als wahr

Dem Weisen als falsch

Und dem Herrscher als nützlich

Seneca

Lied 162

Predigt das Wort! (2. Timotheus 4,2)

1. ‚Predigt Gottes Wort!‘ ist heute

von Jehova ein Gebot.

Soll’n erkennen alle Leute

die Gefahr, die jedem droht.

‚Predigt Gottes Wort‘ und lehret,

helft den Sanften zu verstehn.

Eure Tätigkeit vermehret;

laßt uns furchtlos vorwärts gehn.

2. ‚Predigt Gottes Wort‘ beständig;

seid zum Zeugnis stets bereit.

Eure Hoffnung bleib’ lebendig;

macht bekannt sie weit und breit.

Predigt weiter, selbst wenn’s schwierig,

wenn Verfolgung setzt dann ein.

Hofft auf Gott; seid stets begierig,

eurem Auftrag treu zu sein.

3. Predigt Wahrheit unablässig.

O wie wichtig, daß man hört!

Satans Welt, voll Leid, gehässig,

geht zu Ende, wird zerstört.

‚Predigt Gottes Wort‘, streut Samen;

euch und andern Rettung bringt.

Bis Gott heiligt seinen Namen,

predigt treu; ihm Lobpreis singt.

Die persönlichen Anweisungen des Apostel Paulus im zweiten uns erhaltenen Brief an seinen treuen Freund und Mitstreiter Timotheus (2. Timotheus 4,2) kann man mit Fug und Recht als den Hauptauftrag an alle getauften Zeugen Jehovas bezeichnen. Viele Jahrzehnte meines Lebens stand auch ich in diesem Dienst. Jedoch galt mir und gilt den „normalen“ Zeugen bis heute aus unerfindlichen Gründen nur der erste Teil von Vers 2: „Predige das Wort, halte dringend darauf in günstiger Zeit, in unruhevoller Zeit“ (NWÜ). Die Fortsetzung des Textes ist dann, aus Sicht der Zeugen Jehovas, nur noch ernannten Ältesten gesagt: „Weise zurecht, erteile Verweise, ermahne, mit aller Langmut und Kunst des Lehrens.“ Das erste halbe Bibelzitat reicht aus um

zu erklären, dass das Predigen ein Gebot Jehovas an jeden Zeugen Jehovas sei,

zu erklären, dass alle Menschen in Gefahr sind,

zu erklären, dass diese Tätigkeit vermehrt werden und unablässig zu jeder Gelegenheit getan werden müsse. Denn:

Widerstand und Verfolgung wären zu erwarten. Sie kämen von Satan, weshalb die Zeugen begierig sein müssten, treu den Auftrag Gottes zu erfüllen.

Satans Welt, die voll Leid und Gehässigkeit ist, würde

bald

zu Ende gehen und

zerstört.

Wie oft habe ich diese Anweisung mit „Predigt das Wort!“, dem Lied 162, verinnerlicht. Es war in unserem Liederbuch Singt Jehova Loblieder (erschienen 1986) enthalten. Man könnte es die Lebenshymne eines Zeugen Jehovas nennen. Es enthält alle Anweisungen, die er vonseiten der „Leitenden Körperschaft“ erhält und die er beachten soll.

Das Predigen bringt demnach Rettung für die Zeugen und für solche, die sich bekehren lassen. Das Predigen, wird behauptet, gäbe Gott Gelegenheit, seinen Namen zu heiligen. Deshalb benutzt er seine Zeugen für diesen Dienst.

Aber wem nutzt dieser Dienst wirklich? Mara, die Heldin des Buches, möchte anhand ihres Lebens herausfinden, wem sie wirklich 60 Jahre ihres Lebens gedient hat.

Wie ermittelt man aber, ob eine Tätigkeit für Gott oder für eine menschliche Organisation nützlich ist? Im Gespräch mit ihrer Freundin Helena erfahren wir mehr über Maras Leben. Gemeinsam mit ihr und unterstützt von Noah und Franz analysiert sie typische, von der Wachtturm-Organisation genutzte Bibelzitate und zeigt ihre manipulative Verwendung. Sie übersetzt die Aussagen der „Wachtturm-Sprache“ in die Umgangssprache und hilft, ihre Auswirkung auf das Leben der Menschen innerhalb des Wachtturm-Kokons zu verstehen.

Die speziellen Techniken der Manipulation sind nicht allein Merkmale der Wachtturm-Organisation. Sie werden allgemein von Psychogruppen und totalitären Organisationen oder Kulten angewendet und sind somit auch auf andere Gruppen übertragbar, die sich als Heilsbringer darstellen und damit Anhänger werben.

Es ist die Geschichte meines Lebens, mein Lebensbericht. Ich verbinde mit der Veröffentlichung dieses Buches eine Hoffnung. Die Hoffnung und den aufrichtigen Wunsch, betroffenen und interessierten Lesern Zusammenhänge zu erklären und solche mit ähnlichen Erfahrungen zu trösten und ihnen Mut zu machen. Die Bestrafung mit sozialem Tod, der Gemeinschaftsentzug, ist eine unmenschliche und menschenverachtende Maßnahme und ein Verstoß gegen die Menschenrechte und Menschenwürde. Wer das begreift, kann seinen Blick nach vorn richten und verstehen, wie kostbar die Freiheit ist, die letztlich daraus erwächst.

In diesem Sinne fühle ich mich mit meinen Lesern verbunden.

Barbara Kohout

Augsburg im Sommer 2010

Freiheit

Mara war in eine fremde Welt geraten. In ein fremdes Leben. So vieles erlebte sie das erste Mal: Sie flog zum ersten Mal in einem Flugzeug, wohnte zum ersten Mal in einem 5-Sterne-Hotel in einem fremden Land. Als habe sie zum ersten Mal Urlaub. Beinahe fühlte sie sich frei – zum ersten Mal. Wie konnte ihr das widerfahren? Fast immer war ihr Leben von Regeln und Vorschriften umgeben gewesen. Was sie tat, dachte, fühlte, hoffte bestimmte die Wachtturm-Organisation. Nach 60-jähriger, kritikloser Zugehörigkeit begann sie vor etwa zwei Jahren, Fragen zu stellen. Die Antworten brachten sie dazu, sich schockiert von den Ordensregeln abzuwenden.

Und jetzt war sie hier. Mitten im Taurusgebirge. Es war unfassbar. Sie hatte von den überwältigenden Gefühlen nichts ahnen können, als ihnen die Kinder zur Goldenen Hochzeit diesen Urlaub schenkten. Etwas verloren stand sie in der Gruppe von Touristen, die die Teppichmanufaktur besichtigten. Sie versuchte sich ganz klein zu machen: Sie drückte die Arme eng an den Körper, klammerte sich mit beiden Händen an ihre schwarze Umhängetasche. Und zugleich faszinierte sie alles, was sie sah und hörte: die wunderbaren Muster der handgeknüpften Teppiche, die geschickten, flinken Hände der Knüpferinnen, die Herstellung der Seidenfäden.

Alle Besucher durften aus einem Korb einen Kokon entnehmen. Es fühlte sich an wie ein kleines, unscheinbares Behältnis. Die Seidenraupe spinnt sich darin ein, um sich entwickeln zu können. Der Seidenweber aber verhindert diese Entwicklung. Staunend sah sie zu, wie aus einem solchen Kokon kaum sichtbare Fäden gezogen werden. Sie sind so reißfest, dass sie sprichwörtlich wurden: „Das Leben hängt an einem seidenen Faden“, fiel ihr ein.

„Genau so war mein Leben.“ Mara bemerkte nicht, dass sie laut dachte. Erst als eine Frau neben ihr sie fragte: „Wie meinen Sie das?“, wurde es ihr bewusst. „Ach“, antwortete sie verlegen, „das ist eine sehr lange Geschichte.“ „Ich liebe lange Geschichten“, antwortete die Dame neben ihr. „Ist der Urlaub nicht die beste Gelegenheit, sie zu erzählen?“ Die Frage klang nicht neugierig, sondern herzlich. Die Fremde sah sie mit einem entwaffnenden Lächeln an. Mara fasste beinahe augenblicklich Vertrauen zu ihr und erwiderte schüchtern: „Ja, vielleicht … Wir sehen uns ja sicher im Restaurant beim Abendessen.“ Im Grunde aber war sie davon überzeugt, dass die Fremde sie vergessen würde. Wäre ihr das nicht lieber?

Mara dachte an ihr langes Leben zurück, ein Leben in einem Kokon. Und ein selbst ernannter Seidenweber hatte verhindert, dass sie sich aus dieser Hülle heraus entwickelte: 60 Jahre lang war sie der ehrlichen Meinung gewesen, „in der Wahrheit“ zu sein. Sie glaubte stets allem, was die Wachtturm-Gesellschaft in ihren Schriften als Erkenntnis, die unter der Leitung des Heiligen Geistes geschrieben wurde, veröffentlichte. Weil die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas für sich in Anspruch nahm, direkt von Gott autorisiert zu sein, wagte sie nie, ihren Anordnungen und Regeln zu widersprechen. Augenblicklich verspürte Mara wieder dieses bittere Warum. Warum hatte sie niemals eine Ordensregel hinterfragt?

Gut, dass sie durch den Reiseleiter in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Die Reisegruppe bestieg den Bus, der sie zum Mittagsstützpunkt brachte. Mara gelang es nicht, die bitteren Gedanken abzuschütteln, die sie immer überfielen, wenn sie an die vergangenen Jahrzehnte ihres Lebens dachte. Alles war Regeln unterworfen. Ihr Zeitplan, ihre Lebensplanung, wie sie sich kleiden sollte, was in ihrer Ehe schicklich war oder als „widernatürliche sexuelle Begierde“ abgelehnt werden musste, und immer der Hinweis darauf, dass die „verbleibende Zeit“ verkürzt ist und man nur durch eifriges Predigen beweisen könne, dass man Jehova und den Nächsten liebt. Mara seufzte tief und versuchte, sich wieder der Gegenwart zuzuwenden.

Das Mittagessen nahmen sie in einem landestypischen Kebabhaus ein. Nach dem Hauptgang fragte Mara ihren Mann Noah scheinbar beiläufig: „Du Schatz, wie findest du die beiden, die vor uns im Bus saßen?“ - „Sie sind sehr sympathisch, finde ich. Sie scheinen sich gut zu verstehen. Warum fragst du?“ „Die Frau hat mich eingeladen, heute Abend bei einem Glas Wein von mir zu erzählen. Ich habe gesagt – vielleicht. Aber ich bin mir nicht sicher. Du kennst mich ja. Ich rede nicht gern über mich. Und gerade jetzt …“ - „Andererseits“, unterbrach sie Noah, „wir leben gerade in einem großen Aufbruch. Vielleicht tut es dir gut. Du musst ja nichts sagen, was du nicht sagen willst. Lass es doch darauf ankommen.“ Innerlich war Mara erleichtert, dass ihr Mann keine Bedenken hatte. „Du hast recht. Ich lasse es einfach auf mich zukommen. Vielleicht hat sie es ja auch nicht so ernst gemeint. Vielleicht treffen wir uns in der Menge gar nicht.“

Der Nachmittag verging wie im Flug: Sie besichtigten eine Tropfsteinhöhle und eine Festung, probierten den frisch gepressten Saft aus Granatapfel und Orangen und fanden ihn köstlich. Mara konnte nicht aufhören zu fotografieren. Alles war toll: das Meer, der Strand, die Palmen, die Bauten, große Schiffsanker. Alles war einfach unglaublich schön.

Am Abend gingen Mara und Noah, nachdem sie sich etwas ausgeruht und erfrischt hatten, ins Restaurant. Sie wurden bereits erwartet: Als sie die Lobby betraten, sahen sie ihre neuen Bekannten in der Nähe des Eingangs. Lächelnd kamen sie auf Noah und Mara zu und sagten: „Wir haben bereits einen schönen Tisch für uns reserviert, wenn es Ihnen recht ist. Er steht etwas abseits. Wir würden gern den Abend mit Ihnen verbringen.“ Es klang so natürlich und aufrichtig, dass Mara und Noah fast gleichzeitig „Ja, sehr gerne“, antworteten.

Sie nahmen in einer ruhigen Nische Platz. Jeder vertiefte sich in seine Speisekarte. So überwanden sie die ersten schwierigen Minuten. Der Kellner kam und schenkte Wein ein. Die nette Unbekannte hob ihr Glas und sagte: „Es ist wohl Zeit, dass wir uns vorstellen. Ich bin Helena und das ist mein Mann Franz. Ich trinke auf einen angenehmen Urlaub.“ Mara und Noah erhoben ebenfalls ihre Gläser. „Sehr angenehm“, sagte Mara. „Ich bin Mara und mein Mann heißt Noah. Ich fände es toll, wenn wir keine Förmlichkeiten brauchen.“ „Das sehen wir genau so“, antwortete Helena lächelnd und sie prosteten sich zu.

Helena war dreißig Jahre als Hausärztin in einem Kurort im Allgäu tätig gewesen. Vor Kurzem hatte sie ihre Praxis an einen jungen Kollegen übergeben. Zur Feier ihrer neuen Freiheit buchte sie diesen Urlaub mit ihrem Mann, einem Forstwirt.

Mara berichtete von ihrer Goldenen Hochzeit. Ihr Sohn fuhr extra 400 Kilometer, um sie zum Flughafen zu bringen. „Er wusste, dass wir wegen dieser Flugreise sehr aufgeregt waren“, sagte sie sichtlich stolz und dankbar. Der Abend schritt voran. Die beiden Frauen entdeckten mehr und mehr gemeinsame Interessen. Mara taute auf, sie gestikulierte beim Erzählen und lachte gern und oft.

Helena spürte, dass sie nun bereit war, ihre Fragen zu beantworten. Den ganzen Tag hatte sie diese nicht losgelassen: „Was meintest du mit ‚dein Leben hing am seidenen Faden’?“ Mara schwieg überrascht und verlegen. Dann gab sie sich einen Ruck: „Ich war jahrelang mit einem unsichtbaren seidenen Faden umsponnen und lebte wie in einem Kokon.“

„Willst du mir erzählen, wie es dazu kam?“ Helena sah Mara offen an und es war ein ehrliches Interesse in ihrer Geste. Plötzlich hatte Mara das Gefühl, in ihrem Innersten würde eine eiserne Schleuse geöffnet. Sie konnte den Strom von Worten, der sich aufgestaut hatte, nicht mehr aufhalten. Sie wehrte sich dagegen und begann, zögernd und etwas stockend, zu reden.

„Ich habe die letzten sechzig Jahre meines Lebens in dem Kokon einer religiösen Glaubensgemeinschaft gelebt. Sie schirmte mich von dem normalen Leben der Außenwelt völlig ab. Mein Mann und ich stellten unsere Zeit, unsere Kraft und unsere finanziellen Mittel in den Dienst dieser Gemeinschaft. Wir enthielten unseren Kindern vieles von dem, was für andere vollkommen selbstverständlich ist. Vor allem erzogen wir sie im Sinne der Religionsgemeinschaft dazu, auf Beruf und Ausbildung weniger Wert zu legen als auf Predigen und Missionieren. Als wir allmählich begriffen, wie weltfremd wir alle waren, sagte mein Sohn einmal – er ist jetzt vierzig Jahre alt: Wenn ich vor einer Diskothek stehe, fühle ich mich wie ein 12-jähriger Junge, der zum ersten Mal heimlich von zu Haus weggegangen ist und etwas Verbotenes tun will.“

„Ihr Jugendlichen, widersteht weltlichen Einflüssen.“1 Unter der Überschrift „Discomusik und Discotheken“ heißt es im Wachtturm vom 1. August 1979, Abs. 18: „Sind das passende Vergnügungsstätten für Christen?“ Die Antwort wird wenig später in Abschnitt 20 angefügt. Sie lautet: „Es schickt sich für Christen offensichtlich nicht, ein Lokal aufzusuchen, in dem der Sex betont wird und dessen Gäste im Großen und Ganzen wenig Achtung vor dem Sittenmaßstab des Wortes Gottes haben. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Lokal als ‚Diskothek‘ bezeichnet wird oder einen anderen Namen trägt. Vergessen wir nicht, daß die Welt Satans alles mögliche unternimmt, um uns so weit zu bringen, daß wir uns ihren Regeln und Sitten angleichen. Sollten wir daher nicht damit rechnen, daß Satan verlockende Vergnügungen als Köder benutzt, um uns zu fangen?“

Mara wurde von Erinnerungen überwältigt und schwieg. Gedankenverloren sah sie in ihr Glas. Sie wollte reden. Aber es formte sich in ihr eher eine Art Beichte. Sie hätte gern die Last, die sie niederdrückte, geteilt und abgelegt. Noch immer fühlte sie sich schuldig.

Helena spürte das. Durch ihre langjährige Berufserfahrung hatte sie dafür einen beinahe untrüglichen Instinkt. Vorsichtig fragte sie daher: „Zu welcher Religionsgemeinschaft habt ihr gehört? Willst du mir erzählen, wie du da hineingeraten bist?“

„1947 kam ich gemeinsam mit meiner Mutter und meinen beiden jüngeren Schwestern im katholischen Bayern an. Ich war damals ein Kind von acht Jahren. Endlich, nach einer lebensgefährlichen Odyssee durch drei Länder, waren wir in Sicherheit. Unsere Flucht dauerte acht Monate. Einen Teil davon verbrachten wir im Lager. Sooft wir an einer Kirche vorbeikamen, ging meine Mutter hinein und bat Gott um seinen Schutz. Wir erlebten wirklich mehrere Male Situationen, in denen wir spürten, wir waren bewahrt worden. Wir waren der festen Überzeugung, ein Schutzengel habe uns gerettet. Ich denke, dass das viele gläubige Menschen nachempfinden können. Wir waren also durch Gottes Hilfe gerettet worden.

Trotzdem fühlte ich mich sehr schlecht. Es waren ja bei weitem noch nicht alle Probleme gelöst. Heute weiß ich, dass das ein ausschlaggebender Grund dafür war, dass wir für die Werbung dieser Psychogruppe empfänglich waren.

Keiner wollte uns in der neuen Heimat haben. Wir waren völlig mittellos und verstört. Wir besaßen buchstäblich nichts mehr, was uns an unsere Heimat erinnerte. Auch keine Familie von Seiten der Mama und keinen unserer Freunde. In der Schule betete meine Lehrerin – eine Schwester vom Orden der Englischen Fräulein – jeden Morgen ein gesondertes Gebet mit der Klasse für das ‚arme Heidenkind‘. Sie meinte es bestimmt gut, denn sie betete ja für mich. Aber meine Mitschüler verstanden etwas ganz anderes: Für sie war ich arm, ein Heidenkind und allein.

Wenn meine Mutter die von mir verabscheute Sauerampfersuppe kochen wollte – wir hatten einfach fast nichts zu essen –, schickte sie mich auf die Wiese, um Sauerampfer zu pflücken. Ich musste aber auf der Hut sein. Sobald ich den Bauernjungen von Weitem kommen sah, gab ich Fersengeld, denn er bedrohte mich mit seinem Knüppel. Ich sollte von seiner Wiese verschwinden. Arme Heiden waren nicht erwünscht.

Mein Vater war ein guter Schreiner. Er bastelte aus Abfallholz Spielzeuglastautos. Damit ging er in einige Nachbardörfer. Er wollte sie bei den Bauern gegen ein paar Kartoffeln für uns eintauschen. Als er am Abend nach Hause kam, hatte er nicht eine Kartoffel bekommen.

Wer sich in eine solche Situation hineinversetzen kann, wundert sich nicht darüber, dass wir aufmerksam zuhörten, als ein freundlicher Herr an unsere Tür kam, der mit uns über Gott und die Bibel sprechen wollte. Er behandelte uns nicht verächtlich oder herablassend, sondern menschlich. Mutti interessierte sich für die Bibel. Sie war aber verunsichert durch Vaters verbitterte Äußerungen. Er wollte nichts mehr mit Religion zu tun haben, weil er gesehen hatte, wie Geistliche die Vernichtungswaffen segneten. Wenn seine Mutter ihn manchmal aufforderte, zur Kirche zu gehen, antwortete er oft zornig: ‚Da kriegen mich keine zehn Pferde mehr rein. Mit einem Gott, der Waffen segnen lässt, will ich nichts mehr zu tun haben. Da gehe ich lieber zum Fußballplatz.‘ Der freundliche Herr lud uns ein, Zusammenkünfte zu besuchen. Die Leute dort waren alle ebenso freundlich, ja sogar herzlich.

Uns wurde erklärt, dass die Katholiken etwas glaubten, was gar nicht in der Bibel stehe. Die Worte Dreieinigkeit oder Fegefeuer wären kein einziges Mal in der Bibel niedergeschrieben. Die Katholiken könnten das aber nicht wissen, weil für sie die Bibel auf dem Index der verbotenen Bücher stehe. 1947 war das tatsächlich noch der Fall. Meine Mutter trug ihre Bibel, die sie zur Hochzeit vom Pfarrer bekommen hatte, immer bei sich. Sie las oft darin. Auch ihre Schwiegermutter war evangelisch-lutherisch und strenggläubig. Viele Texte der Bibel verstand meine Mutter nicht, aber sie glaubte doch ehrlich daran. Wie leicht war es, den Schluss zu ziehen: Die Katholiken lügen, die Bibelforscher sagen die Wahrheit.

Der gleiche Mechanismus funktionierte auch mit der Lehre der Evangelischen. Sie glauben an eine unsterbliche Seele. Uns wurde ein Bibeltext vorgelesen: Die Seele, die sündigt, die soll sterben. Und da kein Mensch ohne Sünde ist, wird auch jede Seele sterben. Die Schlussfolgerung war einfach: Die anderen Religionen haben nicht die Wahrheit. Man kann sie nur bei den Bibelforschern oder Zeugen Jehovas finden.“

„Wenn ich bedenke, in welchem seelischen Konflikt deine Eltern waren! Sie waren so enttäuscht von dem Erlebten im Krieg und auf der Flucht. Dein Vater wollte doch die Religion eher verdammen. Und zugleich hattet ihr das Gefühl, ihr seid beschützt worden“, warf Helena ein.

„Ja, das war sicher unglaublich schwer für meine Eltern. Auf mich wirkte diese Erkenntnis aber wie eine Droge. Ich hatte etwas, was mich meinen Mitschülern überlegen machte. Ich hatte ‚die Wahrheit’.

Unter „wahren Christen“ verstehen die Zeugen Jehovas ausschließlich sich selbst. In dem Buch Komm Jehova doch näher heißt es:2

„Wahre Christen leben heute somit in einem geistigen Paradies. […] Er hat uns mit einer Form der Anbetung gesegnet, die von Lügen und Entstellungen frei ist.“

Wir hinterfragten nichts. Ich bemerkte nicht, dass meine Kindheit zu dem Zeitpunkt zu Ende war, als wir uns auf die Versammlungsregeln eingelassen hatten. Die Versammlung assimilierte uns wie Treibsand – langsam, aber unwiederbringlich. Zeit, Kraft, materielle Mittel und Lebensplanung wurden von der Wachtturm-Gesellschaft geprägt. Ich stellte ihren Anspruch, dass sie die von Gott geleitete Organisation sei, nie auf den Prüfstand. Im 1. Brief des Paulus an die Christenversammlung in Korinth heißt es im 10. Kapitel, Vers 31: ‚Ob ihr esst oder trinkt oder sonst etwas tut, arbeitet daran mit ganzer Seele als für Jehova getan und nicht für Menschen.‘ Sie vermittelten den Eindruck, dass dieser Bibelspruch für alles galt, was man für die Wachtturm-Gesellschaft tat. Die Arbeit für diese Organisation war gleichbedeutend mit der Arbeit für Gott.“

Der Studienartikel „Diese sind es; die dem Lamm beständig folgen“3 soll den Zeugen unverrückbar im Sinn verankern, dass die Wachtturm-Organisation der von Christus gebrauchte „treue und verständige Sklave“ ist. Die Überschrift bezieht sich in ihrer Aussage auf diese Gruppe. Das Wort „Sklave“ kommt dann in den folgenden Absätzen 2–12 insgesamt 24 Mal vor.

Im Absatz 2 wird behauptet, eine Prophezeiung Jesu über das Zeichen seiner „Gegenwart und des Abschlusses des Systems der Dinge“ beziehe sich genau auf die heutige Zeit und auf die Mitglieder dieser „Sklavenklasse“ in New York. Als „Beweis“ wird die folgende Behauptung angeführt:

„In ihrem Mund wurde keine Unwahrheit gefunden, denn sie haben keine Irrlehren verbreitet.“

Im Absatz 3 wird deshalb gefolgert: Jesus hat den „treuen und verständigen Sklaven“ „über seine Hausknechte“ eingesetzt – die einzelnen Mitglieder der Sklavenklasse –, „um ihnen ihre Speise zur rechten Zeit zu geben“. Auch hat er den „Sklaven über seine ganze Habe gesetzt. (Mat. 24:45–47)“

Auffällig ist: Es wird eine Aussage der Bibel mit der Auslegung der Wachtturm-Gesellschaft verwoben. Dies ist eines von ungezählten Beispielen, wie die Botschaft der Bibel den Interessen der Wachtturm-Gesellschaft untergeordnet wird.

Weitere Begriffe, die gern von der Wachtturm-Gesellschaft missbraucht werden, sind unter anderem die „große Volksmenge“ „anderer Schafe“.

Häufig wird in den Veröffentlichungen mit dem Stellen von Gewissensfragen gearbeitet:

„Wäre nicht von den einzelnen gesalbten Christen und den ‚anderen Schafen‘ zu erwarten, dass sie dem vertrauen, der über sie eingesetzt worden ist?“

Vertrauen wird also erwartet. Die Begründung ist lediglich eine Behauptung. Die eigene Autorität beruht angeblich auf der Autorität Jehovas und des Christus. Da es sich bei dem „treuen und verständigen Sklaven“ angeblich um ein Kollektiv handelt, wird der Einzelne aus diesem Kollektiv zusätzlich ermahnt zu vertrauen:

„Es gibt viele Gründe, weshalb die Sklavenklasse unser Vertrauen verdient. […] 1. Jehova vertraut der Sklavenklasse. 2. Jesus vertraut ebenfalls dem „Sklaven“.

Die nachfolgenden Schrifttexte enthalten Aussagen über das Vertrauen Gottes und Christi zu seinen Dienern. Dem kann ein Zeuge Jehovas nicht widersprechen. Er übernimmt aber kritiklos die Behauptung, dieses Vertrauen wird ihrer „leitenden Körperschaft“ deshalb gegeben, weil eben auch den Dienern Gottes früher vertraut wurde. Warum Jesus oder Jehova dem „Sklaven“ vertrauen, wird nicht gesagt.

In dem 1995 freigegebenen Buch Erkenntnis, die zu ewigem Leben führt werden Lehrpunkte, die man als Hinderungsgrund für die Anerkennung als Religionsgemeinschaft auslegen könnte, neu formuliert. Die Sprache ist juristisch völlig korrekt und unangreifbar. Die Argumente können vor Gericht als Beleg dafür verwendet werden, dass Jehovas Zeugen loyale Staatsbürger seien. Die Bedeutung in der „reinen Sprache“ der Organisation lässt jedoch keinen Zweifel daran, wer die oberste Autorität ist.

Im letzten Satz des Kapitels 14 wird gesagt, dass die „Unterordnung“ 1. gottgefällig sei und 2. dadurch Jehova als die höchste Autorität anerkannt werde, der diese Unterordnung angeblich fordere. Unter Unterordnung versteht ein Zeuge Jehovas aber nicht den Respekt vor dem Gesetz des Staates. Er hört bzw. liest: Ganz gleichgültig wie die weltlichen Gesetze sind, wenn im Wachtturm etwas anderes steht, hat diese Lehre oberste Priorität.

Um zu zeigen, mit welchen Bibelzitaten die Leitende Körperschaft ihren Machtanspruch einfordert, will ich einige Argumente anführen und erläutern:

Kapitel 14 steht unter der Überschrift „Wessen Autorität sollten wir anerkennen?“: „Die grundsätzliche Erklärung, dass Autorität sowohl positiv – wie im Falle der Autorität unseres Körpers, der uns befiehlt zu essen und zu schlafen – als auch negativ – ‚Der Mensch hat über den Menschen zu seinem Schaden geherrscht (Prediger 8: 9)‘ – sein kann“, erscheint schlüssig und kann geeignet sein, den Leser in eine positive Grundhaltung gegenüber den nachfolgenden Ausführungen zu versetzen. Auch den Erklärungen, dass Jehova die höchste Autorität im Universum ist, weil er in der Bibel mehr als 300 Mal als „Souveräner Herr“ bezeichnet wird, möchte kein Zeuge widersprechen.

Auf dieser Grundlage der Zustimmung werden die „Obrigkeitlichen Gewalten“ – die menschlichen Regierungen besprochen (Absatz 7): „Jehova hat diese Regierungsgewalten zwar nicht ins Dasein gebracht, aber sie bestehen mit seiner Zulassung. Daher konnte Paulus schreiben: ‚Die bestehenden Gewalten stehen in ihren relativen Stellungen als von Gott angeordnet.’ Was zeigt das in Bezug auf diese irdische Autorität an? Dass sie Gottes Autorität untergeordnet ist oder geringer ist als diese (Johannes 19:10, 11).“

Der angeführte Bibeltext gibt ein Gespräch zwischen Pilatus und Jesus wieder: „Pilatus sagte daher zu ihm: ‚Redest du nicht mit mir? Weißt du nicht, daß ich Gewalt habe, dich freizulassen, und Gewalt habe, dich an den Pfahl zu bringen?‘ Jesus antwortete ihm: ‚Du hättest gar keine Gewalt über mich, wenn sie dir nicht von oben her gewährt worden wäre. Deshalb hat der, welcher mich dir ausgeliefert hat, größere Sünde‘“ (NWÜ4).

Im zitierten Absatz wird weiter gesagt: „Wenn daher ein Konflikt zwischen menschlichen Gesetzen und Gottes Gesetzen besteht, müssen sich Christen von ihrem biblisch geschulten Gewissen leiten lassen. Sie müssen „Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen (Apostelgeschichte 5:29)“ (NWÜ).

Im Selbstverständnis der Zeugen Jehovas sind allein sie Christen. Unter dem „biblisch geschulten Gewissen“ verstehen sie einzig die Handlung gemäß den Anweisungen, beziehungsweise dem „Rat“, der in den Wachtturm-Schriften veröffentlicht wird.

In den Absätzen 8 und 9 wird zugegeben, dass die obrigkeitlichen Regierungsgewalten meistens als „Gottes Dienerin zum Guten“ handeln. Als Beispiele werden die Post, Polizei, Feuerwehr, das Gesundheitswesen und die Bildung angeführt. Dafür muss ein Christ gewissenhaft Steuern bezahlen – selbst wenn diese Obrigkeit ihre Macht missbraucht. Sich ihr zu widersetzen würde bedeuten, sich der Anordnung Gottes zu widersetzen.

Jehovas Zeugen beteiligen sich folglich nicht an Kundgebungen gegen staatliche Anordnungen. Bürgerproteste, in welcher Form auch immer, werden von ihnen nicht unterstützt.

Der Grundsatz der Leitung durch ein Haupt oder Obrigkeit gilt auch in der Familie (Absätze 11–18). Der Mann ist das Haupt der Familie, die Frau soll sich unterordnen, die Kinder sollen gehorchen. Das ist gilt grundsätzlich, auch wenn es mit vielen liebevoll klingenden Worten umschrieben wird.

Das Gleiche trifft auf die Autorität in der Versammlung zu (Absätze 19– 23). Hier werden die Ältesten „unter der Leitung des Heiligen Geistes ernannt“ folglich muss ihnen die Versammlung gehorchen. Damit sie aber trotzdem eine demütige Haltung gegenüber der „leitenden Körperschaft“ einnehmen, werden sie mit folgenden Worten ermahnt: „Die Ältesten bilden keine Geistlichenklasse.5 Sie sind Diener und Sklaven Gottes, die sich der Bedürfnisse ihrer Glaubensbrüder annehmen, genauso wie es unser Herr, Jesus Christus, getan hat (Johannes 10: 14, 15).“

In diesem Text sagt Jesus unter anderem „Ich gebe meine Seele zugunsten meiner Schafe hin.“ Das impliziert den Anspruch der Leitenden Körperschaft gegenüber den ernannten Ältesten, sich bis zum Äußersten für die Interessen der Organisation oder Versammlung zu verausgaben. Allerdings wird den ernannten Ältesten die Verantwortung übertragen, in der Versammlung die Rechtsgewalt auszuüben.

Die Anweisung lautet gemäß dem Absatz 22 wie folgt: „Diese durch heiligen Geist ernannten Männer haben auch die Autorität, Personen, die den Weg der Sünde eingeschlagen haben oder die eine Gefahr für die geistige und sittliche Reinheit der Versammlung darstellen, in Zucht zu nehmen und zurechtzuweisen. […] Damit die Versammlung rein bleibt, mag es notwendig sein, schwere Verfehlungen zu berichten, von denen man weiß (3. Mose 5:1).“

Durch den angeführten Bibeltext wird verdeutlicht, was man unter einer „schweren Verfehlung“ versteht, die gemeldet werden muss, weil sie eine Gefahr für die Versammlung darstellt: „Falls nun eine Seele sündigt, indem sie eine öffentliche Verfluchung gehört hat, und der Betreffende ist Zeuge, oder er hat es gesehen oder hat es erfahren, dann soll er sich, wenn er es nicht berichtet, für sein Vergehen verantworten.“

Zweifel oder Kritik an der „Leitenden Körperschaft“ oder an ihren Lehren zu äußern, gilt als schwere Sünde, die mit dem Gemeinschaftsentzug bestraft wird.

In den letzten beiden Absätzen wird abschließend mit Nachdruck darauf verwiesen, dass man von Jehova autorisiert sei. Absatz 24 könnte man als ein Drohszenario empfinden, dass der Teufel persönlich die Zeugen zu unabhängigem Denken verführen möchte: „[…] Satan, der Teufel, fördert den Geist der Rebellion unter der Menschheit (Epheser 2:2). Der Weg der Unabhängigkeit wird als verlockender und besser hingestellt als der Weg der Unterordnung.“

Der Bibeltext lautet: „[…] gemäß dem System der Dinge dieser Welt, gemäß dem Herrscher der Gewalt, der Luft, dem Geist, der jetzt in den Söhnen des Ungehorsams wirksam ist.“ (NWÜ) Auf der Grundlage dieses Textes werden solche, die die Organisation verlassen, als Kinder des Teufels betrachtet.

Auch die Belehrung über die Bedeutung der Taufe zielt darauf ab, die Zeugen unzweifelhaft auf die Organisation einzuschwören: „[…] Die Taufe ‚im Namen des heiligen Geistes‘ bedeutet, daß der Täufling Jehovas heiligen Geist, seine wirksame Kraft, als das Werkzeug betrachtet, dessen sich Gott bedient, um seine Vorsätze auszuführen und um seine Diener zu befähigen, seinen gerechten Willen in Gemeinschaft mit seiner vom Geist geleiteten Organisation zu tun.“6

Der Leitung der Wachtturm-Organisation ist es bewusst, dass theologisch frei denkende Menschen vielen ihrer Lehren widersprechen. Wenn daher ein Zeuge Jehovas in seinem Predigtdienst so viel Interesse findet, dass er ein Studium mit dem Erkenntnisbuch beginnen kann, wird er dem Wohnungsinhaber bereits auf Seite 21 mit Absatz 21 erklären, dass er mit Widerstand zu rechnen hat:

„[…] Allerdings ist damit zu rechnen, dass der Rat der Bibel Änderungen im Denken und Handeln verlangt. (22) Freunde und Verwandte, die es gut meinen, mögen gegen das Bibelstudium sein, […] Manche befürchten vielleicht, man würde sich einer Sekte anschließen oder zu einem Fanatiker werden. In Wirklichkeit bemüht man sich lediglich, eine genaue Erkenntnis über Gott und seine Wahrheit zu erlangen.“7

„Die Gespräche, die uns mehr und mehr in die Organisation führten, folgten in gewisser Weise einer Methode, bei der der Dieb ruft: ‚Haltet den Dieb.‘ Egal, welche Argumente wohlmeinende Freunde vorgebracht hätten: Man war bereits darauf vorbereitet, dass Widerstand zu erwarten war. Es wurde bereits ‚prophezeit‘. Auch hier kommt man zu dem Zirkelschluss: Die Zeugen sagen die Wahrheit. Der Teufel bedient sich der anderen, der Freunde, Verwandten oder Nachbarn. Er erscheint wie ein ‚Engel des Lichts‘, um uns davon abzuhalten, ‚die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt‘, kennenzulernen. Ich nenne das Manipulation.“

„Es war der Strohhalm, an den ihr euch in dem Treibsand geklammert habt, weil er die scheinbar einzig mögliche, vernünftige Erklärung war“, bemerkte Helena verständnisvoll.

„Ich beklage heute nicht, dass ich mein Leben auf einer Täuschung aufgebaut habe und es jetzt unwiederbringlich vergangen ist“, fuhr Mara fort. „Ich beklage, dass sich dieses Leben auf meine Kinder und Enkelkinder ausgewirkt hat. Es hat sie in ihrer Entwicklung eingeschränkt und behindert. Sie wurden in dieses System von Regeln und Kontrollen hineingeboren und haben emotionalen Schaden gelitten. Wir haben zwar gesehen, dass dieses System von außen angegriffen wurde, aber für uns war das System unangreifbar.“

Die Frage, ob man Kinder davor beschützen kann, durch ihre Begeisterungsfähigkeit Opfer von Manipulation und Ausbeutung zu werden, ist nicht nur ein spezifisches Problem der Wachtturm-Gesellschaft.

Im Auftrag des deutschen Bundestages sammelte eine Enquete-Kommission Informationen zum Thema Sekten und Psychogruppen. Aufgrund ihrer Empfehlungen wurden empirische Untersuchungen bei einigen Sachverständigen in Auftrag gegeben. Sie ermittelten die Mechanismen, Voraussetzungen und Zusammenhänge, die Personen anfällig machen, in die Abhängigkeit von fundamentalistischen religiösen und ideologischen Gemeinschaften oder totalitären Systeme zu geraten. Die Forschungsergebnisse brachten Erkenntnisse darüber wie solche Gruppen Macht über Menschen bekommen und wie sie dadurch zu Opfern von Manipulation und Ausbeutung werden.

Wissenschaftler, die sich mit dieser Problematik befassten, wie zum Beispiel Leon Festinger, kamen zu übereinstimmenden Ergebnissen: Um eine zufriedenstellende Antwort zu erhalten, muss man die sozialpsychologischen Aspekte berücksichtigen. Folgende Fragen werden für wesentlich gehalten: Warum schließen sich Menschen Psychogruppen, totalitär geführten Vereinigungen oder neureligiösen Gruppen an? Welche Merkmale kennzeichnen das Gefährdungspotenzial einer Gruppe? Gibt es besonders anfällige Personen? Welchen Einfluss haben Bildung oder Intelligenzquotient? Welche Techniken der Manipulation führen zur Abhängigkeit innerhalb der Gruppe?

Zu den wesentlichen Erkenntnissen in der Sozialpsychologie gehört es, dass sich der Mensch nicht in der Hauptsache mit dem Verstand für eine neue Gruppe entscheidet. Die Entscheidung folgt in erster Linie dem Gefühl. Es muss sich gut anfühlen. Dabei spielen die kognitiven Fähigkeiten der geistigen Wahrnehmung eine entscheidende Rolle“.

Helena hatte sehr aufmerksam zu gehört. Sie wirkte betroffen. „Ich habe mich noch nie intensiver mit Jehovas Zeugen unterhalten. Ich hatte auch sehr wenig Zeit dafür. Deshalb kann ich mir jetzt nichts unter dem vorstellen, was du Regeln und Kontrollen nennst.“

Nachdenklich schaute Mara ihr Gegenüber an. Zögernd sprach sie weiter: „Es ist nicht leicht zu erklären und es wird nicht leicht für dich sein, es zu verstehen. Man bekommt keinen Verhaltenskodex in die Hand, nach dem man sich zu richten hat. Das hätte mein Vater sicher nicht akzeptiert. Er war vom Verhalten der Geistlichen im Krieg zutiefst enttäuscht. Er wollte nichts mehr mit einer Kirche zu tun haben, deren Führer die Waffen segnen, die Tod, Verwundung, Verlust und Elend über Menschen bringen. Aber unser Besucher – er hieß Poletti – versicherte ihm: Gerade das sei ein Beweis dafür, dass die Kirche sich nicht an Gottes Gesetz gehalten habe. Der Krieg war die Erfüllung einer Verheißung Jesu. Das Zeichen der Zeit des Endes und der Beweis, dass der Teufel auf die Erde geschleudert wurde. Bald wird auch auf der Erde der große Krieg Gottes, Harmagedon genannt, alles Böse beseitigen und Frieden und ein Paradies für die gerechten Überlebenden bringen.

Das reich illustrierte Buch Vom verlorenen Paradies zum wiedererlangten Paradies zeigt in einer endlosen Reihe von Abbildungen die schreckliche Vernichtung in Harmagedon:

„Panischer Schrecken wird sich der Menschenmassen bemächtigen, so daß sie nicht mehr wissen, was sie tun, und daher beginnen, sich gegenseitig umzubringen. ‚An jenem Tage, da wird eine große Verwirrung [Panik, RS] von Jehova unter ihnen entstehen; und sie werden einer des anderen Hand ergreifen, und eines jeden Hand wird sich gegen die Hand seines Nächsten erheben‘ (Sacharja 14:13). ‚Dann richtet sich jedes Mannes Schwert gegen den eigenen Bruder‘ (Hesekiel 38:21, AB). Aber ihr selbstsüchtiger Kampf um das Leben wird umsonst sein. Wer nicht von seinem Nächsten getötet wird, der wird von Gottes himmlischen Streitkräften umgebracht.

26 Die Vernichtung, die die Engel Christi über alle Gegner des Reiches Gottes und seiner Königreichszeugen bringen werden, wird schrecklich sein […]“8

Poletti behauptete, Jehovas Zeugen hätten sich nie an Kriegen beteiligt und wären deswegen sogar in Konzentrationslagern gewesen.

Das war für meinen Vater ein sehr starkes Argument. Einerseits gab es einen Schuldigen für all das Unglück, Satan, den Teufel, und andererseits gab es Menschen, die sich gegen ihn und für Gott entschieden haben und dafür sogar ihr Leben riskierten. Das beeindruckte ihn sehr.“

Gunther Klosinski, ein bekannter Erforscher der Psychokulte, bezeichnete einmal die Suche nach neuer religiöser Bindung als „Zeichen einer Erkrankung an weltanschaulich-religiöser Heimatlosigkeit“.9

„Das kann ich mir gut vorstellen“, pflichtete Helena bei. „Die komplizierte Welt wird einfacher, wenn man sie schlicht in gut und böse einteilen kann. Wenn dann auch noch ein Schuldiger für das Böse gefunden ist, lässt sich womöglich auch noch das eigene, unterbewusste Schuldgefühl verlagern. Dein Vater hat das ja bereits durch seine Abwendung von dem Glauben seiner Mutter zum Ausdruck gebracht. Aber stimmt die Erklärung denn? Haben sich Jehovas Zeugen nie an Kriegen beteiligt?“

„Es stimmt nicht ganz“, seufzte Mara. „Leider hat man uns damals verschwiegen, dass die Kriegsdienstverweigerung nur den zweiten Weltkrieg betraf. Im ersten Weltkrieg sind die deutschen Bibelforscher – wie die Zeugen Jehovas damals noch hießen – mit Enthusiasmus und religiöser Überzeugung dem Kaiser ins Feld gefolgt, weil ihnen im Wachtturm gesagt wurde, dass sie damit helfen, Jerusalem aus den Händen der Türken zu befreien.

Während der Zeit des 1. Weltkriegs verteidigte die Wachtturm-Gesellschaft den Krieg: Jesus würde seinen Thron aufrichten und das Paradies auf Erden wieder herstellen. In den Wachttürmen der Jahrgänge 1914 und 1915 in deutscher Sprache, erschienen die Namen der „Treuen“, die der Einberufung gefolgt waren. Man veröffentlichte Feldpostbriefe und Erfahrungen, wie die Bibelforscher in den Schützengräben „Zeugnis“ gaben. Es wurden Berichte veröffentlicht, wie man das Abendmahl inmitten von Kriegswirren feierte. Ebenfalls enthielten die Ausgaben dann die Todesanzeigen der Gefallenen. Alle damaligen Erwartungen in Verbindung mit diesem Krieg erfüllten sich nicht. Die Gesellschaft war gezwungen, neue Theorien zu erfinden. In Gesprächen und neueren Veröffentlichungen wurden diese – nach heutiger Lehre – falschen Wege nicht erwähnt.

Im Februar 1915 hieß es: „Wenn wir eine rechte Auffassung von dem Vorsatze und den Verheißungen Gottes haben, so sehen wir, das jetzt die Zeit vorhanden ist, in der die Juden Palästina von den Türken erhalten können. […] In den Worten unseres Herrn: ‚Jerusalem wird zertreten werden von den Nationen, bis daß die Zeiten der Nationen erfüllt sein werden‘, ist nichts enthalten, das diesem Gedanken widerspricht. Im Gegenteil, die Worte des Herrn stehen mit dem Gedanken in völliger Übereinstimmung; denn das Zertreten der Juden hat aufgehört. Es ist jetzt lediglich an den Juden, hinaufzuziehen und von dem Lande Besitz zu nehmen.“10

Solche Erklärungen machen den Enthusiasmus verständlich, mit dem etliche Bibelforscher der Einberufung folgten. Auch zu ihrer Zeit galten die Veröffentlichungen im Wachtturm als die „geistige Speise“, die der Herr seinem Volk durch seinen „treuen Knecht“ übermittelt. Sie waren ebenso von der absoluten Wahrheit überzeugt.

Wachtturm, Juni 1915: Nach Artikeln wie „Geduldiges Ausharren stellt die abschließende Erprobung dar“, Seite 83, und „Erwählt euch heute wem ihr dienen wollt“, Seite 87, werden „Briefe unserer Brüder aus dem Feld“, Seite 95, veröffentlicht – zum Beispiel von Walter Huhle.

Wachtturm, August 1915: „Von unserer Bruderschaft im Felde“: „Es grüßen folgende liebe Brüder: […]“ (S. 114). Es werden 68 Namen als Auswahl angeführt, da der Platz für alle Grüße nicht ausreichen würde.

Wachtturm Februar 1916: „Elisas Werk vor seiner Hinwegnahme“ (S. 24). Der Krieg wird mit der Schlacht des Syrers Ben Hadad gegen König Ahab von Samaria verglichen. Als prophetische Erfüllung erklärt der 4.

Absatz: „Wahre Christen, Geheiligte, sind ohne Zweifel in allen Armeen jener Länder zu finden, die eine gesetzliche Wehrpflicht haben. Wir hören von Zeit zu Zeit von solchen Bibelforschern in den verschiedenen Armeen, über ihr Wohlergehen und ihr Bemühen, selbst unter solch schrecklichen Umständen das Licht hochzuhalten und den Herrn zu verherrlichen. […]“

Absatz 5: „Viele fragen jetzt, warum läßt Gott den Krieg zu, ja warum deutet die Schrift an, daß Gott den Krieg veranlaßt? Wir antworten, daß es für den Sterbenden im Grunde genommen einerlei sein kann, ob er infolge eines Bajonettstiches, einer Schwertwunde oder einer Kugel stirbt, oder infolge von Auszehrung, Lungenentzündung, Blattern, oder einem allgemeinen Zusammenbruch der Kräfte. Und wenn es dem einzelnen einerlei sein kann, so können wir auch sagen, daß es Gott einerlei ist […]“

Immer wieder werden Leserbriefe und Kriegsberichte von Brüdern veröffentlicht:

Wachtturm vom 1. Januar 1916 – ein Kriegsbericht, der erzählt, wie Österreicher als lebende Schutzschilde benutzt werden.

Wachtturm vom Februar 1916 – Henny und Hero von Ahlften: „NB. Seither ist unser lieber Bruder zum Militärdienst eingezogen worden.“

Wachtturm vom Mai 1916 – Albert und Milda Uhlig „[…] Morgen muß ich zur Musterung, und da denke ich wieder so, vertrauend auf eines Höheren Beistand und Macht …“

Außerdem wird über die „Die Feier des Gedächtnismahles“ berichtet: Man nennt die Zahl der Anwesenden der einzelnen Gruppen. Am Schluss heißt es: „[…] außerdem zehn andere Orte mit 25, und etwa 30 Brüder im Krieg und beim Militär; zusammen 1.368.“

Daneben gab es weitere Voraussagen und Erwartungen, die sich als falsch herausstellten. Zum Beispiel erhoffte man die Auferstehung der „treuen Überwinder der alten Zeit“. 1920 erschien die Broschüre Millionen jetzt Lebender werden nie sterben. Dort heißt es: „Daher können wir vertrauensvoll erwarten, daß mit 1925 die Rückkehr Abrahams, Isaaks, Jakobs und der glaubenstreuen Propheten des alten Bundes von den Toten eintreten wird […] zu dem Zustande menschlicher Vollkommenheit.“ Das galt in den 20er Jahren des 20. Jh. als Voraussetzung für den Beginn der Herrschaft Christi auf Erden. Zugleich wurde gesagt: Wer zu dieser Zeit am Leben ist, soll nie mehr sterben.

Man erwartete 1925 nicht nur die Auferstehung treuer Männer aus alter Zeit, sondern manch einer hoffte, dass gesalbte Christen in jenem Jahr in den Himmel aufgenommen würden. Die Zeiten der Nationen seien abgelaufen. Es wurde behauptet, die Zeit der Wiederherstellung sei sehr nahe. Auf dieser Grundlage verkündigte die Gesellschaft von 1918 bis 1925: „Millionen jetzt Lebender werden nie sterben.“ Auch diese Lehre war bereits eine Korrektur nicht erfüllter Erwartung: Christus sollte bereits 1914 auf der Erde das Paradies wiederherstellen und alle anderen Königreiche vernichten.

„Aber es war doch irgendwann klar, dass die Toten nicht wiedergekommen sind. Hat das die Gläubigen nicht stutzig gemacht?“, warf Helena fragend ein.

„Ja, einige begannen zu zweifeln“, erklärte Mara. „Eine ganze Anzahl Gläubiger trennte sich damals von der Wachtturm-Organisation. Aber man erklärte solche nicht erfüllten Erwartungen, die durch neue Voraussagen der sogenannten Sklavenklasse ersetzt wurden, mit dem ‚helleren Licht‘, das Jehova seinem ‚treuen Knecht‘ geschenkt habe. Diese Art der Argumentationsweise wurde auch in den folgenden Jahrzehnten genutzt, wenn Vorhersagen nicht eintrafen.

1972 heißt es im Wachtturm unter der Überschrift „Fragen, die dich beunruhigen – Was solltest du tun?“: „CHRISTEN sind sich der Tatsache bewußt, daß Jehova Gott und Jesus Christus ihre Lehrer sind. Sie wissen, daß Gott gemäß dem Grundsatz, der in Sprüche 4:18 angegeben ist, sein Volk schrittweise leitet, ebenso wie er es mit dem ehemaligen Israel tat: ‚Der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende Licht, das heller und heller wird, bis es voller Tag ist.‘

Beim Beschreiten dieses Pfades bilden Grundwahrheiten die Grundlage, und zu diesen Wahrheiten gehören die Souveränität Jehovas, sein messianisches Königreich, das Loskaufsopfer Jesu Christi, daß die Erde zu einem Paradies gemacht werden wird und das ewige Leben für alle gläubigen, gehorsamen Menschen. Auf diese großen Wahrheiten leuchtet ständig ein immer helleres Licht, so daß verschiedene damit verbundene Gesichtspunkte geklärt werden. Dadurch werden auch das Verständnis und die Anwendung gewisser Bibeltexte und Änderungen in der Verfahrensweise und im organisatorischen Aufbau der Christenversammlung schärfer in den Brennpunkt gerückt. All dies vermehrt die Freude der Glieder des Volkes Gottes und hilft ihnen, sich in ihrem Leben und während sie die gute Botschaft predigen und lehren, freier zu bewegen und noch geistiger gesinnt zu sein.

Manchmal kommen einigen Zweifel über etwas, was gesagt wird. Irgendeine Erklärung in den Veröffentlichungen der Watch Tower Society mag nicht klar verstanden oder völlig erfaßt werden. Für einige mag es den Anschein haben, als widerspreche sie dem, was früher gesagt worden ist. Was kannst du tun, wenn dir solche Zweifel kommen? Vergewissere dich zunächst, daß du das, was erklärt worden ist, nicht mißverstehst und daß du nicht etwas hineinliest, was nicht da steht. Denke dann etwas über die Sache nach.“11

Im Folgenden ist der zitierte Text aus der NWÜ im Zusammenhang wiedergegeben. Daraus geht klar hervor, dass es sich nicht um ein fortschreitend besseres Verständnis handelt, sondern um die Gegenüberstellung von Gut und Böse. Die Guten wandeln im Licht, die Bösen in der Finsternis:

„14Den Pfad der Bösen betritt nicht, und wandle nicht geradewegs auf dem Weg der Schlechten. 15Meide ihn, zieh nicht darauf einher; wende dich davon ab, und zieh weiter. 16 Denn sie schlafen nicht, es sei denn, sie verüben Schlechtes, und ihr Schlaf ist [ihnen] genommen, es sei denn, sie veranlassen jemand zu straucheln. 17Denn sie haben sich mit dem Brot der Bosheit genährt, und den Wein der Gewalttaten trinken sie. 18Aber der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende Licht, das heller und heller wird, bis es voller Tag ist. 19Der Weg der Bösen ist wie das Dunkel; sie haben nicht erkannt, worüber sie fortwährend straucheln.“

Dieser Text wird nach meiner Auffassung eklatant manipulativ verwendet um die fehlerhaften Aussagen der Wachtturm-Organisation zu rechtfertigen.

Damit ließ sich der größte Teil der Anhänger beruhigen, und sie machten weiter mit.

Doch zurück zu meiner ersten Zeit in der Organisation: Allmählich vermittelte man uns ein ganz neues Vokabular. Ich nenne es die Hülle des Kokons. Es stellte eine unsichtbare Grenze dar. Im Zeugenjargon hieß das, wir müssen die ‚reine Sprache‘ lernen. Ganz normale Begriffe bekamen eine neue, zeugenspezifische Bedeutung.“

„Wie soll ich das verstehen?“, möchte Helena wissen.

„Wir hatten beispielsweise keine ‚autoritäre Führung‘ sondern eine ‚theokratische Leitung durch ein Haupt‘. Wir wurden nicht ‚indoktriniert‘ sondern ‚belehrt‘. Wir wurden nicht von der Religionsgemeinschaft ‚abhängig‘ gemacht, sondern ‚vor weltlichem Einfluss bewahrt‘. Anschuldigungen von außen klangen für uns häufig einfach nur absurd.

Im August 1994 führte der deutsche Zweig der Wachtturm-Gesellschaft eine Sozialstudie durch. Die Gesellschaft kämpfte zu dieser Zeit um die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR). Von den Behörden wurden eine Reihe von Anschuldigungen vorgebracht, die einer Anerkennung entgegenstanden. Die Wachtturm-Gesellschaft versuchte, die Anschuldigungen zu entkräften. Sie erarbeitete für die Sozialstudie einen Fragebogen in der „Sprache der Welt“. In einem Rundschreiben vom 22. August 1994 an alle Zeugen Jehovas, erläuterte die „Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland“, um welche Anschuldigungen es sich handele. Geschickt benutzte sie für die Erklärung der Anschuldigungen Vokabeln, die wir der „alten Welt“ zuordneten. Sie wurden in der Sprache „der Welt“ vorgebracht: Im Text hieß es zum Beispiel: „Sie beanspruche durch autoritäre Führung und Indoktrination den einzelnen total und mache ihn von der Religionsgemeinschaft abhängig, indem sie ihn von seiner Umwelt isoliere.“ Die zitierte Argumentation enthielt nur Vokabular, das in der Sprache der Religionsgemeinschaft nicht vorkam. Sie war deshalb für den Einzelnen nicht nachvollziehbar.

Mara fuhr fort: „Wir wurden nicht von ‚der Umwelt isoliert‘, sondern wir vermieden ‚schlechte Gesellschaft, die nützliche Gewohnheiten verdirbt‘. Der Satz: ‚Seine Freizeit sei ausschließlich für Bibelstudien, kirchliche Zusammenkünfte und Laienpredigertum zu verwenden‘, klang völlig fremd in unseren Ohren. Da wir als ‚Freizeit‘ nur das bezeichneten, was wir neben den ‚Versammlungsaktivitäten‘ tun konnten – mal in den Zoo gehen, zum Baden, zum Fußball oder Ähnliches – war diese Behauptung scheinbar nicht wahr.

Außerdem hatten wir keine ‚kirchlichen‘ Zusammenkünfte: ‚Kirche‘ war eine Bezeichnung für die ‚falsche Religion – Babylon die Große‘, das betraf uns also nicht. ‚Laienpredigertum‘? Ganz und gar falsch! Wir waren doch keine ‚Laienprediger‘, wir waren ‚Verkündiger des Wortes Gottes‘.

Die andere Wortwahl war eine geschickte Taktik. Wir füllten den Fragebogen zur Sozialstudie arglos aus und votierten in voller Überzeugung pro Religion, wenn auch mit dem Hinweis, dass wir den Eindruck hätten, die Ältesten übten unangemessen viel Druck aus. Das bezogen wir aber auf unsere Versammlung und nicht auf die Organisation als Ganzes.“

„Das ist ja unglaublich!“, rief Helena aus. „Es kommt doch niemand auf die Idee, dass man mit so simplen Mitteln manipulieren kann.“

„Wie recht du hast“, antwortet Mara. „Wir sind damals aber nicht misstrauisch geworden. Inzwischen ist mir ein weiterer geschickter Schachzug der Zeugen Jehovas aufgefallen: Uns wurde der Eindruck vermittelt, es handele sich bei dem Anerkennungsverfahren um die Anerkennung als Religionsgemeinschaft. Ihre Rundschreiben trugen nicht mehr den Absender ‚Wachtturm-Gesellschaft Deutscher Zweig‘, sondern ‚Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas‘. Aber wir haben in unserem Land Religionsfreiheit. Es bedarf keiner staatlichen Anerkennung als Religionsgemeinschaft. Es ging nur um die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechtes. Diese Anerkennung ist mit Privilegien verbunden, die der Staat den anerkannten Körperschaften gewährt.

Allmählich lernten wir allein durch einen anderen Gebrauch der Worte quasi eine neue Muttersprache: Die Kriegsmächte zum Beispiel gehörten zu dem ‚politischen System der Dinge‘ über das Satan, der Teufel, herrscht. Schriftstellen wie ‚die ganze Welt liegt in der Macht dessen, der böse ist‘ sollten das beweisen. Das Wort ‚die alte Welt‘ wurde ein Synonym für alles, was schlecht ist und unter der Macht des Teufels und der Dämonen steht. Aber es war nicht das landläufige Synonym für Europa.

Alles, was zur ‚alten Welt‘ gehört, ist für die Vernichtung in Harmagedon ‚gekennzeichnet‘. Die Auserwählten müssen sich davon getrennt halten. Wir mussten politisch neutral sein. Mein Mann konnte es z. B. aus diesem Grund nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, eine Festanstellung als Gewerbelehrer anzunehmen. Die Regierungen sind ja Teil des Systems der Dinge, des ‚zur Vernichtung geweihten Systems Satans des Teufels‘.“

Einige Regeln, an die sich die Mitglieder der Gemeinschaft bis zur Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts halten mussten: Sie gehen nicht zur Wahl. Die Zeugen Jehovas haben bereits eine himmlische Regierung. Christus ist ihr König, sie leben in einer Theokratie. Alle Wahlen sind weltlich, sprich teuflisch. Unter dieses Verdikt fallen auch die Wahl zum Schülersprecher oder Gemeindewahlen.

Mitglieder nehmen keine Arbeit an, bei der sie einen Treueeid auf die Verfassung schwören müssen. Dazu heißt es in Erwachet 1975 unter der Überschrift

„Das Schwören“12: „Ein gottesfürchtiger Christ tut auch gut daran, die Sachlage unter dem Gesichtspunkt der Worte Jesu zu betrachten: Zahlt […] Cäsars Dinge Cäsar zurück, Gottes Dinge aber Gott (Luk. 20:25). Ein Christ kann sich nicht durch einen Eid zu etwas verpflichten, was mit Gottes Gesetz im Widerspruch steht.“

Zeugen Jehovas verweigern den Wehrdienst und den Ersatzdienst oder Zivildienst, weil man auch dafür einen Wehrpass bekommt. Damit verletzen sie ihre Neutralität in politischen Angelegenheiten.

„Heißt das, Jehovas Zeugen dürfen keinen Zivildienst leisten? Auch nicht im Krankenhaus?“, wundert sich Helena.

„Ganz so einfach ist es nicht“, versuchte Mara zu erklären. „Als die Wehrpflicht in Deutschland eingeführt wurde, gab es viele Urteile, die den jungen Zeugen Jehovas Gefängnisstrafen eintrugen. Dann schuf der Gesetzgeber die Möglichkeit des Ersatzdienstes. Auch diesen lehnten die Zeugen zunächst ab, weil sie durch den Wehrpass Teil der Truppen wurden. Erst als es die Möglichkeit gab, 27 Monate Sozialdienst zu leisten, der als Ersatzdienst anerkannt wurde, arbeiteten die Zeugen Jehovas in den sozialen Einrichtungen. Sie dienten damit aber eben sehr viel länger als die übrigen Wehrpflichtigen.“

„Das muss man ihnen lassen. Damit opferten sie sehr viel an Zeit und Geld für ihren Glauben“, räumte Helena ein.

„Mein Neffe wollte unbedingt Medizin studieren. Er leistete seinen regulären Ersatzdienst in einer Klinik ab. Er wollte die Zeit seiner Berufsausbildung so kurz wie möglich halten, da es seinem Vater als Frührentner schwer fiel, das Studium zu finanzieren. Meinem Neffen wurde daraufhin die Gemeinschaft entzogen. Die Strafe traf einen sehr intelligenten, verantwortungsbewussten, jungen Mann. Er schloss sein Studium mit summa cum laude ab. Sein einziges Verbrechen bestand darin, auf die Bedürfnisse seiner Eltern Rücksicht zu nehmen.

Der Entzug der Gemeinschaft ist ein disziplinarischer Akt, wie es in der Wachtturm-Sprache heißt. Er bedeutet, dass niemand mit dieser Person Kontakt haben darf. Ziel ist die völlige soziale Isolation.

Es war uns untersagt, zu seiner Hochzeit zu gehen. Wir durften ihn nicht zur Hochzeit unserer Kinder einladen, obwohl sie vorher ein sehr gutes Verhältnis zueinander hatten. Wenn meine Schwester Gäste von den Zeugen einlud, durfte ihr Sohn nicht dabei sein. Er war praktisch Luft für alle seine früheren Freunde, geistig tot. Einen rigoroseren Einschnitt in die privaten und persönlichen Angelegenheiten der Familien kann ich mir nicht vorstellen. Wohl gemerkt, in Familien, die liebevoll und rücksichtsvoll miteinander umgehen.

„Fragen von Lesern“: „Wie sollte sich ein gewissenhafter Christ einem Verwandten gegenüber verhalten, der nicht zu seinem Haushalt gehört und dem die Gemeinschaft entzogen ist?“13

„[…] Im nächsten Vers wird der Ernst dieser Maßnahme betont. Er lautet: ‚Denn wer ihm einen Gruß entbietet, hat an seinen bösen Werken teil.‘ (2. Joh. 11) Das bedeutet nicht unbedingt, daß ein Christ, der mit jemandem spricht, dem zum Beispiel wegen Diebstahls die Gemeinschaft entzogen wurde, selbst ein Dieb wird – obwohl dies leicht geschehen könnte. Doch dadurch, daß er den Rat Gottes mißachtet und mit dem Betreffenden spricht, heißt er dessen Handlungsweise sozusagen gut, er tut so, als ob sie nicht von Belang wäre.

Wir haben also nun aus der Bibel selbst gesehen, wie sich ein treuer Christ einem Ausgeschlossenen gegenüber grundsätzlich verhalten sollte: Er sollte keinen Umgang mit ihm haben, ja nicht einmal mit ihm sprechen. […]“

„Das kann ich mir gar nicht vorstellen!“, sagte Helena ungläubig. „Ich kann deine Reaktion gut verstehen“, gab Mara zur Antwort. „Heute frage ich mich auch, wie das möglich war.“

Weitere Regeln, an die sich Zeugen Jehovas noch im 21. Jahrhundert halten sollten: „Sie können nicht“ Mitglied einer politischen Partei werden. Sie sollen sich so absolut neutral verhalten, als wären sie Gesandte in einem fremden Land. Dies gilt ebenso für die Mitgliedschaft in Organisationen, die politische Ziele verfolgen. Junge Männer können ihren Ersatzdienst nicht beim Roten Kreuz leisten. Dies gilt als bezahlte Arbeit für eine Organisation, die das biblische Gebot, sich des Blutes zu enthalten, nicht beachteten. Allerdings ist es möglich, ehrenamtlich für das Rote Kreuz tätig zu sein.

Sie stehen nicht auf, wenn die Nationalhymne gespielt wird. Sie lernen die Hymne nicht singen. Sie grüßen die Landesfahnen nicht. Schüler haben unter diesen Verhaltensregeln besonders zu leiden. Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden.

„Das ist ja wie ein eigener Staat im Staat“, konstatierte Helena.

„Das hast du ziemlich treffend formuliert“, erwiderte Mara. „Die Ansichten zu den einzelnen Punkten haben sich allerdings in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts teilweise gewandelt. Als man nach der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts erreichen wollte – wohl auch als Ergebnis der Sozialstudie – wurden viele Verhaltensanweisungen relativiert. Man wandelte alles, was der staatlichen Anerkennung abträglich sein konnte, in ‚Rat‘ um.

Ein sehr gutes Beispiel dafür ist ein Vortrag eines Gliedes der leitenden Körperschaft, der bei einem Bezirkskongress gehalten wurde. Einerseits sagt er: ‚Wir sagen dir nicht, was du tun sollst, wir sind nicht Wächter deines Glaubens‘, getreu der offiziellen Linie. Andererseits vergleicht er ein Hochschulstudium mit der Gefährlichkeit eines Selbstmordversuchs mit einem Kopfschuss:

„Eine Hochschule besuchen oder nicht kann ein Ausdruck deines Glaubens sein oder ein Mangel deines Vertrauens und kann, wie gezeigt, großen Kummer im Herzen hervorbringen. Es ist zweifellos so, dass die verbleibende Zeit verkürzt ist. Wie Paulus in 1. Kor. 7: 29 sagt […]