Märchenfluch, Band 3: Der Kuss der Wahrheit - Claudia Siegmann - E-Book

Märchenfluch, Band 3: Der Kuss der Wahrheit E-Book

Claudia Siegmann

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Beschreibung

Eigentlich könnten Flo und die anderen Märchennachfahren aufatmen: Schließlich haben sie ihre gefährlichste Feindin besiegt, die böse Fee Invidia. Doch die Herrscher über die Märchengemeinschaft haben große Pläne für Flo, die ihr Leben ins Chaos stürzen: Ausgerechnet sie soll die neue dreizehnte Fee werden und damit Unsterblichkeit erlangen. Ein Schicksal, das sie unwiederbringlich von allen Sterblichen trennen würde – nicht zuletzt von ihrem Freund Hektor und ihrer Schwester Vicky … Der fantastische Abschluss der Märchenfluch-Trilogie

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2020Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag© 2020 Ravensburger VerlagCopyright © 2020 by Claudia SiegmannDieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.Lektorat: Regine TeufelUmschlaggestaltung: Anna RohnerVerwendetes Bildmaterial von © Carolin Liepins, © Boiko Olha/Shutterstock, © Vladimirkarp/Shutterstock, © Manfred Ruckszio/Shutterstock, © Africa Studio/Shutterstock, © Brittany/AdobeStock und © Konstantins Pobilojs/AdobeStock Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47986-3www.ravensburger.de

Man hatte ihm Handschellen angelegt. Er war noch zu benommen, um sich genau an die Geschehnisse der letzten Minuten zu erinnern, aber er wusste, dass er nur knapp mit dem Leben davongekommen war.

Nun wurde er abgeführt, zusammen mit den Alten, die er so sehr verabscheute. Während die Feen zu einem Transporter gebracht wurden, führte man ihn zu einem anderen Wagen. Er wehrte sich nicht, als man ihn auf den Rücksitz drängte. Die Tür wurde zugeknallt, und alles um ihn herum wurde wunderbar still. Die Scheiben waren getönt, und da es draußen bereits dunkel war und regnete, konnte er die Gesichter der Menschen nicht erkennen. Es kam ihm albern vor, wie aufgeregt sie im zuckenden Blaulicht durcheinanderliefen.

Sein Kopf dröhnte. Er dachte an Flora Anthea Allenstein. Er hatte ihr vertraut. Hatte geglaubt, dass sie Invidia für ihn wieder zurückverwandeln würde. Jetzt war die dreizehnte Fee tot. Von Flora getötet. Dabei hatte Invidia ihr Versprechen doch noch nicht eingelöst …

Die Besitzerin des Wagens riss die Beifahrertür auf und brachte sich mit einem Sprung vor dem Regen in Sicherheit.

»So, mein Lieber. Ich kann dich auf der Stelle töten«, sagte sie und klappte die Sonnenblende herunter, um sich im sanft beleuchteten Spiegel die nassen Haare zu richten. »Oder du wirst von nun an für mich arbeiten.«

Jonathan wollte gern am Leben bleiben. Er wollte nicht sterben, bevor er sich an Flora gerächt hatte. Sie hatte ihn belogen und betrogen. Und sein Herz gebrochen.

»Scitus!« Ich zog und zerrte so fest am Rückspiegel, dass Hektor mir wahrscheinlich ein striktes Cabrioverbot auferlegt hätte. Aber ich konnte gerade wirklich keine Rücksicht auf ein Auto nehmen, wenn doch das Leben meiner kleinen Schwester in Gefahr war. Der Spiegel musste mir auf der Stelle verraten, welche Konsequenzen es für Vicky haben konnte, dass Goldhaar nun im Besitz eines ihrer Haarbänder war.

Der sichtlich angeschlagene Scitus sah mich weiterhin schweigend an. Ich rüttelte erneut am Rückspiegel.

»Raus damit, Scitus! Was kann eine Fee mit einem persönlichen Gegenstand anfangen?«

Er stellte die Nasenflügel auf und hob das Kinn.

»Du meinst«, deutete ich seinen Blick, »das Haarband verleiht Goldhaar Macht über Vicky? Sie könnte Vicky irgendwelche Dinge tun lassen?«

Scitus schüttelte langsam den Kopf.

»Kann Goldhaar Vicky schaden, indem sie das Haarband zum Beispiel verbrennt, oder so?«

Wieder schüttelte Scitus den Kopf, diesmal ein wenig genervt, wie mir schien.

»Gut. Vicky wird weder eine willenlose Marionette in Goldhaars Händen, noch kann Goldhaar irgendwelche Voodoo Zauber mit dem Haarband anstellen …«, fasste ich einigermaßen beruhigt zusammen. »Was soll ihr das blöde Haarband dann überhaupt bringen?«

Ich biss auf meiner Unterlippe herum und versuchte intensiv, mir das Gespräch mit Gracia ins Gedächtnis zu rufen.

Was hatte sie damals auf dem Friedhof noch gleich gesagt? Ich dürfe einer Fee keinesfalls einen persönlichen Gegenstand schenken. Aber warum nicht? Wie war das, wovor hatte Gracia Angst gehabt? Davor, dass die anderen Feen von meiner Existenz erfahren könnten.

»Scitus«, flüsterte ich. »Kann eine Fee durch einen persönlichen Gegenstand eine Verbindung zu einer anderen Fee herstellen?«

Scitus hob vielsagend eine Augenbraue. Diese hatte durch eine dicke Schwellung ihren natürlichen Schwung eingebüßt, was Scitus nicht halb so erhaben aussehen ließ, wie der es sich wahrscheinlich wünschte.

Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr es mich aufwühlte, dass man ihm so zugesetzt hatte. Nachdenklich fuhr ich fort: »Dann kann Goldhaar Vicky orten? So, wie man ein Handy orten kann?«

Scitus’ Miene blieb ausdruckslos.

»Okay. Nicht orten? Nicht orten!«

Die lädierte Braue hob sich zweimal kurz hintereinander.

»Doch orten?«

Als wolle er mich mit seinem Blick für meine Begriffsstutzigkeit ohrfeigen, kniff er ein Auge zusammen und hob die Braue erneut, höher diesmal. Scheinbar war ich also doch auf der richtigen Spur.

»Warte! Nicht orten, aber trotzdem aufspüren … Und zwar …« Dass ich da nicht gleich draufgekommen war! Es war nicht mal eine Stunde her, da hatte ich mich selbst dort befunden, an dem geheimen Rückzugsort der Feen, wo sie ihre Kräfte schöpften.

Die nächsten Worte stieß ich laut aus: »Am Ufer der Zeit?«

Scitus blinzelte erleichtert, und eine Träne spülte verkrustetes Blut aus seinem Augenwinkel.

Automatisch hob ich eine Hand, um ihm tröstend über die Wange zu streichen. Dabei stieß ich versehentlich leicht gegen seine Lippen. Für wenige Sekunden wurde dabei etwas sichtbar, das mich an einen teuflischen Wurm erinnerte. Entsetzt riss ich meine Finger zurück.

Tiefschwarz, glitschig und schleimig wand sich dieser Wurm von der Ober- in die Unterlippe des Gesichts im Spiegel, fraß sich in seine Haut, hinterließ Löcher, die jedoch nicht bluteten, sondern sogleich wieder verheilten, nur um kurz darauf von Neuem aufgerissen zu werden.

Obwohl der Wurm schon kurz darauf nicht mehr sichtbar war, begriff ich, weshalb Scitus so schweigsam war. Ein besonders heimtückischer Zauber, da er unsichtbar war.

Diejenige, die ihn gewirkt hatte, war Scitus also auf die Schliche gekommen. Und da sie nicht verhindern konnte, dass ich Scitus zu mir rief, wollte sie offensichtlich wenigstens sicherstellen, dass er nicht mit mir sprach und am Ende noch heimlich aufgeschnappte Dinge verriet.

Zumindest war jetzt klar, wer sich Scitus unter den Nagel gerissen hatte. Mit trockener Stimme fragte ich: »Dann ist Goldhaar deine neue Herrin?«

Er wich meinem Blick aus, und das war Antwort genug.

Statt wütende Drohungen auszustoßen, sah ich Scitus tief in die Augen. Alles wurde schwarz, pulsierte, dröhnte. Ich ließ nicht zu, dass mein Zorn explodierte, kämpfte dagegen an, zwang ihn, sich in der Spitze meines rechten Zeigefingers zu konzentrieren. Den Finger legte ich auf Scitus’ Mund und ließ meinen Zorn so zielgerichtet aus mir herausschießen wie Löschwasser auf einen Brand.

Entkräftet ließ ich meine Hand in den Schoß sinken. Müdigkeit wallte in mir auf, und ich gab dem Drang nach, meinen Kopf gegen die Nackenstütze sinken zu lassen.

Der Zorn, der durch meinen Körper gerast war, hatte wie eine Sturzflut alles um sich herum mitgerissen. Ich war erschöpft und fühlte mich sogar zu schwach, um die Augen zu öffnen, da hörte ich ein leises Schmatzen. Und eine Stimme, die klang, als sei sie seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt worden, krächzte: »Teuerste! Das ist wirklich kein guter Zeitpunkt für ein Schläfchen. Ihr solltet besser Eure Schwester warnen! Sie darf vorerst keinesfalls das Ufer der Zeit betreten.«

Seit etwa einer halben Stunde saß er jetzt schon in diesem Büro. Das konnte er deshalb so genau sagen, weil er im Geiste das Violinkonzert in e-Moll von Mendelssohn durchgegangen war, alle drei Sätze. Schon überlegte er, welches Stück er als nächstes wählen sollte, da öffnete sich die Tür und Goldhaar kam herein.

Sie ging an ihm vorbei zu dem Schrank, riss ihn auf und griff nach einer Packung Kekse. Noch bevor sie ihren Schreibtisch erreicht hatte, war einer davon ganz in ihrem Mund verschwunden. Wie jemand, der sich eine Pause redlich verdient hatte, ließ sich Goldhaar in ihren Sessel fallen und streckte die Beine aus. Mit den Füßen streifte sie ihre hohen Schuhe ab, und es mussten noch drei weitere Kekse dran glauben, ehe sie gewillt schien, sich mit Jonathan zu befassen.

Er lehnte mit einem Kopfschütteln ab, als sie ihm die aufgerissene Packung entgegenhielt, und sie wischte sich schulterzuckend einen Krümel von der Oberlippe.

»Also«, sagte sie endlich und nahm ihn kauend in Augenschein. »Wie es aussieht, haben dir die letzten Tage gut getan. Du wirkst erholt.«

Gern hätte Jonathan ihr gesagt, sie solle an ihrem Spott ersticken, doch stattdessen erwiderte er: »Ausschlafen und gutes Essen. Was will man mehr?«

»Mach dich darauf gefasst, dass deine Unterbringung das nächste Mal keine drei Sterne verdient, wenn du verstehst.«

Jonathan dachte an die feuchten Wände, die grelle Beleuchtung rund um die Uhr und den Brei, dessen widerliches Aussehen nur durch den ekelhaften Geschmack übertroffen wurde. Er nickte langsam. »Was soll ich tun?«

Die Schiebetür öffnete sich lautlos. Mit einem schnellen Blick über die Schulter vergewisserte ich mich, dass mich niemand beim Betreten des Gebäudes sah. Ich hatte den anderen nicht gesagt, was ich vorhatte. Warum auch? Neva brach in Kürze nach Frankreich auf, wo sie mindestens das nächste Jahr verbringen würde, sie hatte andere Sorgen. Genau wie Val. Die steckte derzeit bis zum Hals in Schwierigkeiten, da die Genaver eine Untersuchung gegen sie eingeleitet hatten. Man wollte feststellen, ob Val ihren Freund vorsätzlich in eine Kröte verwandelt hatte.

Hektor hatte ich absichtlich nicht ins Vertrauen gezogen, denn der würde nicht zulassen, dass ich mich in Gefahr begab. Und das würde ich garantiert müssen.

Die Einzige, die Bescheid wusste, war Vicky. Wir beide hatten uns einen Schlachtplan zurechtgelegt, der hoffentlich funktionierte.

In ihrer Eigenschaft als erste Vorsitzende der Genaver hatte Karin Goldhaar von mir verlangt, der Mühle ein für allemal den Rücken zu kehren und für sie zu arbeiten. Meine Entscheidung hatte Goldhaar zwar schon am Tag nach dem Kampf mit Invidia erwartet, doch ich hatte mir bis zum Wochenende Zeit gelassen, ehe ich angerufen und um einen Termin gebeten hatte. Ich hätte gern behauptet, ich hätte damit reine Nervenstärke bewiesen und Goldhaar absichtlich zappeln lassen, doch in Wahrheit wusste ich nicht, was ich machen sollte. Es gelang mir nicht, Krämer zu erreichen. Der hatte mir während unserer letzten Unterhaltung eindringlich nahegelegt, mich mit der ersten Vorsitzenden und den Genavern zu arrangieren. Damit ich seinen Rat auch bloß befolgte, hatte er mich obendrein gefeuert.

Ich konnte noch immer nicht glauben, dass er das wirklich getan hatte, und hoffte inständig, er würde das richtigstellen und mir zu guter Letzt ein paar brauchbare Tipps im Umgang mit Goldhaar geben, doch der Kerl war wie vom Erdboden verschluckt. Wirklich ein spitzenmäßiges Timing.

Mit klopfendem Herzen atmete ich tief durch und ging auf den Empfangstresen zu. Dem herablassenden Blick nach zu urteilen, mit dem ich sogleich gemustert wurde, hatte sich bezüglich der Einschätzung der eigenen Wichtigkeit im Leben des W. Hahnenbalken nicht viel getan. Er schien noch immer fest davon überzeugt, schier unersetzlich zu sein. Wie bei meinem letzten Besuch im Haus der Genaver führte er mich zum Fahrstuhl, tippte an allen dafür vorgesehenen Stellen lange Zahlenkombinationen ein und geleitete mich zu Goldhaars Büro. Dass er es tat, ohne dabei ein einziges Wort zu verlieren, kam mir sehr entgegen. In meinem Kopf ging es nämlich mächtig drunter und drüber.

Invidia war besiegt. Die dreizehnte Fee existierte nicht mehr, weder in unserer Welt noch irgendwo oder irgendwann am Ufer der Zeit. Ich hätte Invidia davor bewahren können, auf die falsche Seite des Ufers gezogen zu werden, doch letztlich hatte ich es nicht verhindert, weil ich nur so sicherstellen konnte, dass meine kleine Schwester Vicky vor ihr sicher war. Ebenso meine Großmutter und ich selbst natürlich.

Auch dem Rest der Menschheit war durch Invidias Tod sehr wahrscheinlich ein großer Gefallen getan worden. Doch statt deshalb mit einem Hochgefühl erfüllt zu sein, war ich seither angespannt. Das wiederum hatte ebenfalls mit Karin Goldhaar zu tun.

Die erste Vorsitzende der Genaver war nämlich eine Fee, und das brachte, um es mal ganz salopp zu formulieren, einen hübschen Haufen Probleme mit sich. Eines davon war, dass Goldhaar seit Jahren eine feste Größe in den Reihen der Genaver war. Sie war jung, schön, für die meisten Leute vielleicht eine winzige Spur zu ehrgeizig und berechnend, trotzdem würde mir niemand abkaufen, dass sie eine von Invidias geifernden Schwestern war.

Selbstverständlich würde mir ebenfalls kaum jemand abnehmen, dass sie eine gemeine Diebin war, die sich unrechtmäßig Scitus angeeignet hatte.

Bisher hatte die erste Vorsitzende nicht versucht, mich umzubringen, und obwohl ich das wirklich sehr zu schätzen wusste, machte es mich auf eine nervenaufreibende Art und Weise nervös. Deshalb hatte ich Vicky davon überzeugt, dass es keinen anderen Weg gab. Um herauszufinden, was Goldhaar im Schilde führte, musste ich mich in die Höhle des Löwen begeben.

Hahnenbalken musste nicht klopfen, denn die Tür zu Goldhaars Büro stand offen. Da es am Ende eines langen Flures lag, hatte die Vorsitzende uns bereits im Blick, seit wir den Fahrstuhl verlassen hatten. Sie saß einfach nur da, an ihrem großen, leeren Schreibtisch, und gab nicht einmal vor, mit etwas beschäftigt zu sein.

Hahnenbalken schloss die Tür hinter mir. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr es mich beunruhigte, mit ihr allein in einem Raum zu sein. Deshalb ging ich mit festen, schnellen Schritten zu einem der Stühle vor ihrem Schreibtisch und setzte mich unaufgefordert.

So. Jetzt hieß es, Nerven zu behalten!

Aus der Nähe erkannte ich, dass Goldhaar müde aussah. Sie war wie immer schön, doch es fehlte das lebendige Strahlen, von dem sie sonst immer umgeben wurde. Und waren da nicht sogar ein paar Fältchen um ihre Augen?

Als ärgerten sie meine Blicke, warf sie das dunkle Haar zurück und rieb sich über das Gesicht, bis ihre Wangen rosa schimmerten.

»Ich sollte dir einen Kalender schenken, damit du dicke rote Kreuze darin machen kannst. Ganz offensichtlich hast du Schwierigkeiten, morgen von übermorgen zu unterscheiden.«

Ich zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Ich musste die ganze Angelegenheit erst einmal verdauen.«

Ja, denn wie gefährlich Invidia auch immer gewesen war, ich hatte sie auf dem Gewissen und war nicht gerade stolz darauf. Einer gewalttätigen Rose in einem schäbigen Gewächshaus den Garaus zu machen, war eine Sache, jedoch in ein menschliches Gesicht zu blicken, wenn man jemandem den Todesstoß verpasste, war etwas ganz anderes. Hoffentlich verfolgten mich Invidias weit aufgerissene Augen in meinen Träumen nicht bis an mein Lebensende.

Goldhaar schnaufte. »Sei’s drum. Ich hatte sowieso einen Riesenhaufen Ärger.« Als würde ihr bewusst, wie unprofessionell es war, mit Außenstehenden über die Arbeit zu sprechen, riss sie die Arme in die Luft. »Aber das muss dich ja nicht interessieren. Also? Du wirst ab jetzt für mich arbeiten?«

Das war eine simple Frage, auf die ich eine klare Antwort hätte geben sollen, doch stattdessen sagte ich: »Sie sind eine Fee.«

Wäre dies ein Film gewesen, hätte ich nun auf der Fernbedienung rumgedrückt, in der Annahme, die DVD sei hängen geblieben. Goldhaar rührte sich nicht, blinzelte nicht mal, sondern starrte mich mit leicht geöffnetem Mund einfach nur an, bis ich es nicht länger aushielt. Ich lehnte mich vor und wiederholte kühl: »Sie sind doch eine Fee, hab ich recht, Frau Goldhaar?«

Endlich fing sie sich, lehnte sich zurück und fragte mit leicht zuckenden Mundwinkeln: »Immerzu unterschätze ich dich. Wie bist du denn darauf nur wieder gekommen, Dornröschen?«

»Ein Pferdeschwanz hat Sie verraten.«

Goldhaar wirkte zuerst ein wenig verblüfft, doch dann winkte sie ab. »Egal. Ich hab jetzt wirklich andere Dinge, um die ich mich dringend kümmern muss.«

Ich betrachtete sie misstrauisch. »Ach ja?«

»Du liebe Zeit, entspann dich, Dornröschen. Du hast Angst vor mir? Gut. Das gefällt mir.« Eine Hand legte sie flach auf die Tischplatte, mit der anderen stützte sie ihren Kopf ab, was sie beinahe wie ein junges verträumtes Mädchen aussehen ließ. Wäre da nicht dieses Zucken ihrer Mundwinkel gewesen. »Lassen wir die Spielchen, dafür bin ich gerade wirklich nicht in der Stimmung.«

Ich hatte sie kalt erwischt, so viel war sicher. Goldhaar betrachtete mich mit nachdenklich zusammengekniffenen Augen eine lange Weile, ehe sie ernst sagte: »Du bist die Tochter einer meiner Schwestern. Du weißt, was das bedeutet?«

Wohl kaum, dass ich sie ab jetzt Tantchen nennen durfte. Feen waren unsterblich, zumindest bis zu dem Moment, in dem eine von ihnen ein Kind bekam. Dann ging die Unsterblichkeit auf die nächste Generation über. Die einzige Möglichkeit, das umzukehren, war die unerbittliche Auslöschung dieser neuen Generation. Zwischen Goldhaar und mir herrschte also ein ganz normaler Generationenkonflikt, der nur einen Schluss zuließ.

»Sie wollen mich töten?«

»Vom ersten Augenblick an, das kannst du mir glauben!« Goldhaar fiel dieses Geständnis offensichtlich leicht, denn sie unterstrich es mit einem glockenklaren Lachen, das sich wie eine schallende Ohrfeige anfühlte.

»Was soll denn dann der ganze Quatsch, dass ich für Sie arbeiten soll? Wollten Sie auf diese Weise sicherstellen, dass ich einen bedauerlichen«, ich leistete mir den Luxus, das nächste Wort mit den Fingern in übertriebene Anführungszeichen zu setzen, »Unfall habe?«

»Ehrlich gesagt, war das anfangs eine Option«, erwiderte Goldhaar mit ganz und gar unschuldigem Ausdruck. »Allerdings habe ich in meiner Zeit als Politikerin auch gelernt, abzuwarten, Geduld zu bewahren und den Wert der Dinge genau zu überprüfen. Und in dich«, ein manikürter Finger stieß in meine Richtung, »setze ich große Hoffnungen. Glaub mir, ich hätte dir das alles gern nach und nach beigebracht, dich langsam herangeführt, doch da du nun mal schon so vieles weißt, können wir uns das Vorgeplänkel auch sparen.« Ihr Tonfall wurde kühler. »Es gibt da ein kleines Problem, an dem du nicht ganz unbeteiligt bist. Ich erwarte von dir, dass du es schnellstens wieder in Ordnung bringst, und alle sind zufrieden.«

»Aha.« Jetzt war ich doch verwirrt. »Und was genau meinen Sie?«

Goldhaar ließ sich ein wenig tiefer in ihren Sessel sinken und unterdrückte ein Gähnen. »Dreizehn, Dornröschen! Dreizehn waren es, dreizehn müssen es sein. Durch das Ableben meiner geliebten Schwester Invidia ist kürzlich sozusagen eine Stelle frei geworden.« Sie bemühte sich, mit einem schnellen Handwedeln etwaigen Missverständnissen vorzubeugen. »Nein, keine Sorge, ich hege keinen Groll. Du musstest tun, was nötig war. Hätte ich auch getan. Ehrlich. Das war Notwehr, nicht wahr?«

Mir stand nicht der Sinn danach, mit ihr über meine Erlebnisse am Ufer der Zeit zu sprechen. Wir sahen uns schweigend an, schließlich nickte Goldhaar und fuhr fort: »Deine Existenz hat ein ewiges Gleichgewicht zerstört. Damit wir das wieder in den Griff bekommen, solltest du einfach Invidias Platz einnehmen.«

»Was muss ich dafür tun?«

»Bereit sein! Wie du sicher weißt, habe ich gerade praktischerweise all meine lieben verbliebenen Schwestern um mich versammelt.«

»Sie haben sie festnehmen lassen«, erinnerte ich, damit Goldhaar die Ereignisse nicht zu sehr verklärte.

»Der Zweck heiligt die Mittel, Dornröschen. Sie sind alle hier, oder?«

Ich hätte zu gern gewusst, wie es Gracia ging, zwang mich aber, möglichst unbeteiligt zu wirken. Auf keinen Fall sollte Goldhaar glauben, mir liege etwas an meiner Großmutter, um sie dann als Druckmittel gegen mich einzusetzen. »Wenn Sie sagen, ich solle Invidias Platz einnehmen … Was genau heißt das?«

»Meine Schwestern und ich, wir werden dich in einem uralten magischen Ritual in unseren Kreis …« Diesmal kam Goldhaar nicht gegen ihr Gähnen an. Murmelnd erklärte sie: »Entschuldigung! Hab in letzter Zeit kaum geschlafen.« Sie kratzte sich an der Stirn. »Ähm, wo war ich?«

»Schwestern, Ritual, Kreis«, gab ich ungeduldig die Stichworte. »Vielleicht irre ich mich ja, aber kann es nicht sein, dass die ein oder andere«, dabei dachte ich an drei ganz besonders gruselige Feen, die so nett und harmlos wie ein Schwarm hungriger Piranhas auf mich gewirkt hatten, »Ihrer Schwestern es mir übel nimmt, dass Invidia … Also, was mit ihr geschehen ist?«

Goldhaar ließ sich für ihre Antwort Zeit. »Unsinn! Im Grunde genommen wollen wir doch alle dasselbe. Wir sehnen uns nach Harmonie und Einigkeit.« Sie stand auf und reckte den Hals, während sie sich gleichzeitig die Schläfen massierte. »Ich bin zuversichtlich, dass wir einen Zustand wie ehedem erreichen können. Jung, schön, unsterblich. Das übliche Feending eben. Für dich heißt das, niemals altern und sterben, keine Krankheiten, keinen Schmerz.« Sie setzte sich vor mir auf die Schreibtischkante, strich mir über den Kopf und sah mir dabei tief in die Augen. »Wir müssen nur zusammenhalten, Liebes. Wir sind Familie.«

Ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen, als ich Goldhaars Büro verließ. Nicht etwa, weil sie mir eine Zukunft in ewiger Jugend in Aussicht gestellt hatte, sondern weil ich genau das herausgefunden hatte, weshalb ich mich überhaupt in ihr Büro gewagt hatte.

Goldhaar hatte keine Ahnung! Durch ihre Arbeit als erste Vorsitzende hatte sie wohl gerade einen recht vollen Terminkalender und konnte sich nicht mit Nebensächlichkeiten wie Haarbändern und dergleichen beschäftigen. Perfekt!

Zusätzlich hatte Goldhaar mich von einer weiteren, tonnenschweren Last befreit. So wie die Dinge lagen, musste ich mir vorerst nicht den Kopf wegen Gracia zerbrechen. Goldhaar war auf sie angewiesen. Ohne Gracia konnte Goldhaar die eigene Unsterblichkeit glatt vergessen. Eine bessere Garantie, dass es meiner Großmutter gut ging, hätte sie mir gar nicht geben können.

Die erste Vorsitzende und neue böseste Fee hatte mir Bedenkzeit eingeräumt. Eine ganze Woche. Dafür, dass sie ansonsten immer alles schon am nächsten Tag haben wollte, fand ich diese Zeitspanne bemerkenswert großzügig. Aber man sollte die Entscheidung, ob man ewig leben will, auch nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln. Das wollte gut durchdacht sein, deshalb musste ich mit Vicky darüber sprechen.

Ich strebte wohlgemut auf den Fahrstuhl zu.

Das Haus der Genaver zu verlassen, war viel einfacher, als es zu betreten. Wollte man in eines der Büros gelangen, musste man einem fähigen Mitarbeiter wie W. Hahnenbalken folgen, der sicherstellte, dass man nur den Raum betrat, für den man autorisiert war. Raus kam man, indem man freundlich in diverse Kameras winkte und darauf wartete, dass der Fahrstuhl sich irgendwann öffnete.

Ich stand nun schon geraume Zeit vor besagtem Fahrstuhl und drückte aus purer Ungeduld erneut ein paar Knöpfe, da öffnete sich im Gang hinter mir eine Tür, und zwei Männerstimmen waren zu vernehmen. Die eine tief und älter, die andere jung. Sie schienen beide verärgert, aber besonders der Jüngere von beiden klang genervt: »… doch schon tausendmal gesagt, dass ich nicht weiß, wo ich so einen Wisch herkriegen soll. Das ist ein Witz, oder? Sie wollen mich auf den Arm nehmen, stimmt’s?«

»Nein, ich befolge lediglich die Vorschriften.«

Ich hatte mich neugierig umgedreht und sah jetzt, wie einer von ihnen rückwärts aus dem Büro kam. Er hielt dabei eine Mappe hoch, die er wütend über seinem Kopf schwenkte, wobei ein paar lose Blätter herausfielen und zu Boden segelten.

»Wissen Sie was? Mir ist ganz egal, ob Sie mich schikanieren. Bitte schön! Sie kriegen die Papiere. Ich treibe die Unterlagen auf. Und wenn Sie damit ein paar Papierflieger falten wollen – auch gut.«

»Mehr will ich doch gar nicht«, erwiderte der andere in einem Ton, der es schwer machte, ihm zu glauben. »Alles muss seine Ordnung haben.«

Die Tür wurde energisch vor dem jungen Mann geschlossen, der mit einem ungläubigen Lachen den Kopf schüttelte und dabei etwas vor sich hin murmelte, das ein bisschen wie »Schwachkopf« klang. Dann kniete er sich hin, um seine Unterlagen vom Fußboden aufzusammeln.

Ich drehte mich blitzartig um. Mein Finger hatte nun schon so oft und fest auf den Knopf gedrückt, dass ich mich ehrlich fragte, ob der überhaupt funktionierte. Endlich kam der Fahrstuhl auf der Etage an und öffnete sich mit einem Signalton. Eilig sprang ich in die Kabine, quetschte mich in die hinterste Ecke und versuchte, die blöde Schiebetür durch hektisches Handwedeln dazu zu bringen, sich schneller zu schließen.

Der junge Mann rief: »He! Warte! Ich will auch mit!«

Ich hörte, wie er zu laufen begann, sah eine Hand, die sich in das Innere der Kabine schob und die Tür, die sich bereits bis auf einen schmalen Spalt geschlossen hatte, dadurch wieder öffnete. Und dann betrat er in voller Größe den Fahrstuhl.

»Das war ja total nett von dir, den Fahrstuhl nicht anzuhalten«, sagte er über die Schulter und drückte auf das von ihm gewünschte Stockwerk.

Ja. Ich hätte mich echt schämen können, wenn ich nicht schon einen anderen guten Grund dafür gehabt hätte, knallrot anzulaufen. Es fühlte sich seltsam an, lautlos in einem Fahrstuhl nach unten zu gleiten, während man sich wünschte, im Erdboden zu versinken. Wenigstens waren wir beide diesmal komplett angezogen.

»Ach!« Er hatte sich erst jetzt zu mir umgedreht. Während seiner Zeit als Haustierkröte hatte Salien auch eine Weile in meinem Zimmer verbracht. Ich hatte aufgegeben, nachzuzählen, wie oft ich wohl nackt vor dem Terrarium herumgesprungen war, als die Zahl dreistellig geworden war.

Selbstverständlich hatte ich mir vorgenommen, irgendwann mit Salien über das alles zu reden, zu fragen, an was er sich noch so erinnerte. Aber doch nicht in einem Fahrstuhl im Haus der Genaver! Ich hätte eine Räumlichkeit mit Fluchtwegen bevorzugt, die etwas größer und nicht rundum verspiegelt war. Wohin ich auch blickte, ich sah mir selbst mit hochrotem Gesicht entgegen.

Salien schien das nicht halb so peinlich zu sein wie mir. Mit schräg gelegtem Kopf grinste er mich an, und ich erwiderte scheu seine Blicke.

Obwohl ich Caruso zum Schluss wirklich gemocht hatte, war ich von der Tatsache beeindruckt, dass Salien überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit der fetten, hässlichen, mit Warzen übersäten Kröte hatte. Im Gegenteil. Nase, Kinn und Stirn waren wohlgeformt, die ehemals zitronengelben, seitlich vom Kopf sitzenden Glubschaugen waren an angebrachter Stelle in einem ausgesprochen hübschen Gesicht platziert. Sie strahlten nun blau und waren von langen, gebogenen Wimpern umgeben, was seinem Blick eine gewisse Intensität verlieh, der man sich nur schwer entziehen konnte. Das dichte blonde Haar war wellig, und Salien trug es länger, was eventuell damit zusammenhing, dass er als Kröte nur selten beim Friseur gewesen war.

Salien war etwas kleiner als Hektor und hatte nicht ganz so breite Schultern, wirkte aber genauso trainiert. Und ganz offensichtlich hatte er wie Timus ein gesundes Selbstbewusstsein, denn er tat nicht einmal so, als sei ihm unser unerwartetes Zusammentreffen auf engstem Raum unangenehm. Er lehnte sich mit einer Schulter gegen die Fahrstuhlwand und sah mir belustigt dabei zu, wie ich voller Unwohlsein meine Finger verbog.

»Lange nicht gesehen. Wie geht’s, Flo?«

»Gut«, erwiderte ich. »Und dir?«

»Na ja. Hab ein paar Schwierigkeiten mit den Genavern«, sagte er düster und zeigte auf die Mappe, aus der unordentlich reingestopfte Blätter rauslugten. »Diese Spinner hier wollen Nachweise, dass ich die letzten Wochen nicht vorsätzlich als Kröte verbracht habe.«

»Äh …« Wie sollte man so etwas nachweisen? »Wie stellen die sich das denn vor?«

»Keine Ahnung. Das kann mir der zuständige Sachbearbeiter«, Salien zeigte mit dem Daumen hinter sich, »ein echter Glücksgriff, wenn du mich fragst, nämlich zu seinem größten Bedauern auch nicht sagen. Wie ein Papagei wiederholt er immer wieder, dass er die Sachen braucht, um meinen Fall abzuschließen.« Er ließ kurz den Kopf hängen, wobei ihm ein paar Strähnen nach vorn ins Gesicht fielen. »Ansonsten muss er die Angelegenheit leider, leider vor das Gericht der Genaver bringen.« Mit einem Schnauben strich Salien die Haare zurück, und seine Augen blitzten, als er säuerlich hinzufügte: »Kann mir lebhaft vorstellen, wie ungern der arme Kerl das machen würde. Unschuldige Leute verklagen, ist ja bestimmt so überhaupt gar nicht sein Ding.«

»Hast du dich schon irgendwo beschwert?«

»Wo denn?«, fragte Salien mit einem derart umwölkten Gesicht, dass nur noch Blitz und Donner fehlten. »Krämer ist weg.«

»Ich weiß.« Außer Krämer gab es eigentlich nur noch einen Ex-Fabulus mit ausreichenden Beziehungen und Verbindungen, dem ich vertraut hätte. »Und kannst du nicht mit Wassermann …?«, schlug ich vor, doch Salien ließ mich nicht aussprechen. »Nein. Das mit diesem Trauma und so«, sagte er und ließ einen Finger neben der Schläfe kreisen, »Wassermann hält mich doch jetzt schon für einen komplett durchgeknallten Spinner. Da brauche ich nicht auch noch einen Vermerk wegen Verfolgungswahn in der Akte.«

»Verstehe«, murmelte ich. Lächelnd fügte ich hinzu: »Soll ich dir ein Attest geben? Ich könnte bestätigen, wie ungern du im Rindenmulch gehockt hast.«

Salien begann laut zu lachen, da räusperte sich jemand. Der Fahrstuhl war längst unten angekommen, und W. Hahnenbalken hinderte die Tür daran, sich wieder zu schließen, indem er sich halb zu uns in die Kabine gedrängt hatte.

»Darf ich bitten«, sagte er arrogant und deutete mit ausgestreckter Hand zum Ausgang.

Salien hatte bereits den Mund geöffnet, um etwas zu Hahnenbalken zu sagen, doch dann ließ er ihn links liegen und wandte sich an mich: »Hast du Zeit? Ich würde dich gern auf einen Tee oder Kaffee einladen.«

»Jetzt?«

»Warum nicht? Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, mich bei dir für die gute Pflege zu bedanken.«

Eigentlich hatte ich sofort den nächsten Bus nach Hause nehmen wollen, damit ich Vicky anrufen und von dem Gespräch mit Goldhaar berichten konnte. Die Aussicht auf eine schöne Tasse Tee war aber so verlockend, dass ich mich entschied, die Einladung anzunehmen, zumal Salien angeboten hatte, mich anschließend nach Hause zu fahren. Grob überschlagen würde ich so nur eine halbe Stunde später als ursprünglich geplant nach Hause kommen. Außerdem fühlte ich mich gerade wie von einer unangenehmen Last befreit und meinte, eine kleine Abwechslung verdient zu haben.

Zwei Straßen weiter gab es zwar ein gemütliches Café, doch angesichts der Gefahr, dort Angestellten aus dem Büro der Genaver zu begegnen, die dort ihre Pause verbrachten, beschlossen wir, zurück in die Stadt zu fahren. Salien hatte auf ein solches Zusammentreffen noch weniger Lust als ich.

Wie Val fuhr auch Salien kein ganz neues Fabrikat, doch im Gegensatz zu Vals verbeulter Kiste hatte sein Auto weder eine Delle noch einen Kratzer. Allerdings war es auch nicht so gepflegt wie Hektors Cabrio. Im Fußraum lagen ein paar Verpackungen von Schokoriegeln, Bonbonpapier, Tankquittungen und andere Kassenbons.

»Hoffe, das stört dich nicht«, sagte er und lächelte mich charmant entschuldigend an. »Der Abfall da ist sozusagen Teil meiner Therapie.«

»Therapie?«, fragte ich erstaunt und schnallte mich an.

»Ja. Wassermann meint, ich wäre schwer traumatisiert. Durch den Verlust meiner Selbstbestimmung, wenn ich das richtig verstanden habe. Deshalb hat er mich dann zu so einem Psychodoktor geschickt.«

»Aaah«, machte ich mitfühlend und dachte daran, wie Salien von Val in ein Reiseterrarium gepackt und von mir zu festgelegten Zeiten mit der Sprühflasche traktiert worden war. Das war sicher nicht leicht zu ertragen gewesen.

»Ja«, fuhr Salien nachdenklich fort. »Dieser Doc hat mir geraten, mich aufzulehnen. Ich müsse dringend rebellieren.«

»Und deshalb lässt du Papier von Süßigkeiten auf dem Boden liegen?«

»Ziemlich erbärmlich, was?«, fragte Salien betreten, startete den Wagen und fuhr los. »Das hier war alles, was mir dazu eingefallen ist. Und das Schlimmste: Es hilft kein bisschen. Irgendwie fühle ich mich die ganze Zeit unter Druck, weil ich mich jetzt auch noch zwingen muss, es liegen zu lassen, statt es in einen Mülleimer zu …«

»Es tut mir schrecklich leid«, platzte es aus mir heraus. Dass der arme Salien sich wegen der ganze Caruso-Geschichte sogar in Behandlung begeben musste, war keine wirkliche Überraschung. Dennoch fühlte ich mich davon regelrecht überrumpelt, und ich rief lauter als nötig: »Du musst mir glauben, dass ich nichts davon wusste. Also, zumindest nicht, als du bei mir … gewohnt hast.«

»Schon gut.« Salien überlegte. »He, weißt du was? Es war richtig klasse, dass du Mavie geholt hast. Es war dir nicht egal, was mit Caruso war. Und das, obwohl du mich anfangs immer so angeekelt angeguckt hast.«

»Was?« Verlegen sah ich aus dem Fenster auf meiner Beifahrerseite. »Das hast du mitgekriegt?«

»Na ja. Es ist nicht gerade leicht, ein riesiges Gesicht zu ignorieren, das immer wieder vor der Scheibe auftaucht und angewidert in das Terrarium gafft, als sei darin etwas echt Ekelhaftes.«

»Darf ich ehrlich sein?«

»Bitte!«

»Es war etwas echt Ekelhaftes darin.«

»Du meinst Caruso?« Salien lachte. »Dann bin ich jetzt auch mal ehrlich.« Mit einer weiten Handbewegung bat er im Voraus um Nachsicht. »So mit den Augen einer Kröte betrachtet, warst du übrigens auch nicht gerade ein Jackpot. Da hat selbst das Immer-wieder-über-die-Augen-Schlecken nichts geholfen.«

»Ey!« Nun musste ich ebenfalls lachen. »Zumindest habe ich keine Warzen, und meine Haut ist nicht schlammgrün.«

»Eben. Total abstoßend!«

»Wie nett von dir.«

»Gerne. Und außerdem bist du eine schreckliche Sängerin.«

»Jetzt wirst du aber fies.«

Wir landeten schließlich in dem Café, in dem ich schon ein paar Mal mit Timus gewesen war.

Es war zwar gut besucht, doch wir ergatterten einen freien Tisch am Fenster mit Blick auf die Straße. Meine Scham hatte ich mittlerweile komplett verloren, zumal Salien mir gestanden hatte, dass er sich stets schaudernd abgewandt hatte, wenn ich nackt im Zimmer herumspaziert war. Ich besaß einfach nicht den Reiz eines Krötenweibchens.

Seine vernichtende Beurteilung meine Karrierechancen als Sängerin betreffend hatte mich schließlich auf seine ominösen Anfälle gebracht. Nachdem wir unsere Bestellungen aufgegeben hatten, sprach ich ihn darauf an.

»Was hat das eigentlich ausgelöst? Weißt du das?«

»Tja. Darüber wollte ich mit dir auch noch sprechen. Du hast da einen gewissen Spiegel.« Salien bewies mir, dass er gut aufgepasst hatte und durchaus wusste, wie und warum der Spiegel in meinem Zimmer gelandet war.

Ich nickte. »Was ist mit ihm? Hat er dir geschadet?«

»Ja. Sein Auftauchen ist stets von einem Vibrieren begleitet, das sich auf meiner Krötenhaut wie kochendes Wasser angefühlt hat. Und gleichzeitig konnte ich nicht atmen. Es war, als würde jemand versuchen, mich wie einen Luftballon aufzublasen.« Salien verzog das Gesicht. »Das war echt übel. Ich hätte dich küssen können, als du diesen Widerling nicht mehr in dein Zimmer gelassen hast.«

»Na ja. So schlimm ist er eigentlich gar nicht«, verteidigte ich Scitus.

Salien neigte den Kopf und sagte mit blitzenden Augen: »Ja, ich habe mitgekriegt, dass ihr beide euch ganz gut versteht. Deshalb wollte ich ja mit dir über ihn reden. Er hat einen gewissen Ruf.«

Meine Augen rollten von allein. »Ja, ja.«

»Ehrlich, Flo. Der Kerl ist böse. Ich könnte schwören, dass er es genossen hat, mich zu quälen. Und was noch schlimmer war, er hat immerzu vor sich hin geplappert, wenn du weg warst.«

Interessiert horchte ich auf. »Selbstgespräche?«

»Eigentlich mehr Selbstbeweihräucherung. Der Knabe bildet sich einiges auf sich selbst ein.«

Ja. Mochte sein. Das passte zu Scitus. Dennoch hatte dieser eingebildete Knabe in der Zwischenzeit schon zweimal mein Leben gerettet.

Die hübsche junge Frau, die auch schon Timus und mich bedient hatte, brachte uns frisch gebackene Waffeln mit Sahne und heißen Kirschen. Dazu hatten wir heiße Schokolade bestellt. Salien bedankte sich bei ihr, nahm sich das Besteck und betrachtete voller Vorfreude die Waffel.

»Zu Krötenzeiten fand ich Mehlwürmer ganz okay, aber wenn ich heute so daran denke, wird mir manchmal ein bisschen schlecht. Selbst als Caruso habe ich hin und wieder von Waffeln geträumt.« Er schnitt ein Stück ab und steckte es sich in den Mund.

Kauend fragte er: »Du hast den Spiegel doch hoffentlich seiner Besitzerin zurückgegeben?«

Ich machte eine Kopfbewegung, die Ja, Nein, Vielleicht oder auch Wann geht der nächste Bus? hätte bedeuten können. Wie sollte ich jetzt über Scitus sprechen, ohne dass es sich anfühlte, als müsse ich eine scharfkantige Glasscherbe hinunterwürgen? Scitus vertraute darauf, dass ich ihn so schnell wie möglich retten würde, und ich hatte nicht den kleinsten Schimmer, wie ich das anstellen konnte.

Nachdem auch ich einen Bissen genommen hatte, fragte ich: »Du kannst dich an alles erinnern, was in meinem Zimmer passiert ist?«

»An das meiste. Glaube ich. Einiges ist verschwommen. Anderes wird von dem Drang, in mein kleines Wasserbecken zu springen, überdeckt. Es ist eigenartig … Aber darüber muss ich, dank Wassermann, schon oft genug in der Therapie sprechen. Also, nicht nur über dich und dein Zimmer.«

Das war ein ausgesprochen matter Versuch zu scherzen, und ich wechselte verständnisvoll das Thema. »Was ist jetzt mit dir und Val? Seid ihr wieder zusammen?«

»Hm!« Eine Kirsche rutschte von Saliens Gabel und landete in der Sahne. Er betrachtete das süße Malheur und sagte leise: »Das ist kompliziert.«

»Natürlich ist es das. Aber sie liebt dich.« Das wusste ich, schon allein, weil Val es mir pausenlos sagte. »Sie hat es nicht getan, um dir zu schaden.«

»Das weiß ich.« Salien drückte die Kirsche mit der Gabel tiefer in die Sahne. »Val und ich haben uns ausgesprochen.«

»Ha!«, triumphierte ich. »Dann bist du ihr nicht mehr böse?«

»Böse sein … Das ist doch nicht so, als hätte sie mir im Sandkasten ein Förmchen geklaut, und ich wäre deshalb sauer auf sie«, erklärte Salien geknickt.

»Entschuldige. Natürlich nicht.«

»Dass sie mich nur vor einer Dummheit hatte schützen wollen, verstehe ich. Und das finde ich eigentlich sogar ganz süß … Aber ich weiß nicht, wie ich ihr verzeihen soll, dass sie mir nicht vertraut hat und mich zwingen wollte, nach ihrer Pfeife zu tanzen.«

Der Sahneberg auf Saliens Teller erinnerte nun an einen blutigen Tatort im Schnee. Für die Kirsche kam jede Hilfe zu spät.

Dass Salien und ich uns verstanden, als seien wir schon seit einer Ewigkeit gute Kumpels, mochte daran liegen, dass wir vorübergehend quasi zusammengewohnt hatten. Salien hatte viel von mir mitbekommen und konnte mich deshalb recht gut einschätzen. Er gestand mir sogar, dass vieles von dem, was in meinem Zimmer passiert war, die gleiche schaurige Faszination auf ihn ausgeübt hatte, wie Daily Soaps. Nicht zuletzt, weil ich oft nach einem Telefonat einfach so rausgerannt war und er dann hatte warten müssen, wie sich die Dinge entwickelten. Aber diese Cliffhanger hatten sein Leben als Kröte wenigstens ein bisschen aufregender gestaltet.

»Ich war ganz hin- und hergerissen. Manchmal hätte ich am liebsten laut geschrien, dass du es nicht tun sollst.«

Er meinte die Sache mit Timus. Wie sich herausstellte, war auch Salien kein großer Freund des jungen Fürchtenichts. Aber das war nicht der Grund, weshalb er sich gewünscht hatte, ich würde mich für Hektor entscheiden. »Ich kenne Hektor schon recht lange, und ich wusste sofort, er ist der Richtige für dich.«

Ja, Hektor war der Richtige. Er machte mich nervös, brachte mich dazu, albern zu kichern, konnte elektrisierende Schauer durch meinen Körper laufen lassen und brachte mein Herz dazu, so laut zu schlagen, dass es keine anderen Geräusche mehr zu geben schien. Und das alles gelang ihm schon mit einem Blick, einem Lächeln, einer flüchtigen Berührung. Oder indem er in meinen Gedanken auftauchte, so wie jetzt.

»Sag bloß, du wusstest, dass er nichts mit Neva hatte?«, fragte ich milde vorwurfsvoll. »Du hättest es mir sagen können. Das hätte mir eine Menge Ärger erspart.«

»Habe es versucht. Immer wieder. Aber mein Gequake ist nicht richtig bei dir angekommen.«

»Stimmt. Ich dachte immer, du hast Hunger.«

»Hatte ich auch«, gab Salien zu. »Zumindest meistens …«

Er verstummte, als mein Handy klingelte. Hektor! Salien erhob sich, deutete diskret in Richtung Toiletten und ging davon, während ich das Gespräch annahm.

Hektor und ich hatten uns seit dem Kampf mit den Feen nur ein Mal kurz gesehen. Das lag an Neva oder vielmehr an deren bevorstehender Abreise.

Nevas Eltern hatten beschlossen, ihre jüngere Tochter für ein Jahr nach Frankreich zu schicken, damit bloß niemand mitbekam, dass ihr M-Gen inaktiv war. Das wollte die Familie Bruderherz unbedingt vertuschen, bevor man sich in Genaverkreisen noch über diesen schwerwiegenden Makel das Maul zerriss.

Da ich Neva schmerzlich vermissen würde und sie mir außerdem aus tiefstem Herzen leidtat, weil ihre Familie aus elenden Heuchlern bestand, war es für mich selbstverständlich, dass Hektor viel Zeit damit verbrachte, ihr bei den doch recht ausschweifenden Reisevorbereitungen zu helfen. Zwar tat es mir weh, dass sie sonst niemanden dabeihaben wollte, aber ich kannte Neva inzwischen recht gut. Sie war eher der unterkühlte Typ und konnte einfach nicht mit Gefühlen umgehen. Lieber setzte sie ihre Freunde wie ein überflüssig gewordenes Medikament ab, als sich selbst einzugestehen, wie sehr diese ihr fehlen würden.

Da auch ich gerade ein streng geheimes Süppchen kochte, von dem nur Vicky wusste, nahm ich es hin. Immerhin konnte ich mich damit trösten, dass ich nach Nevas Abreise Hektor ganz für mich alleine haben würde.

»He!«, hauchte ich ins Telefon.

»He«, gab Hektor mit seiner tiefen Stimme zurück. Er wusste, wie sehr ich darauf stand, und ließ mir einen Moment, in dem es nur mich und das Kribbeln im Magen gab, ehe er fragte: »Wo steckst du?«

»Bin was trinken.«

»Ah.« Pause. »Mit wem? Vicky?«

»Mit Salien.«

»Ah.« Längere Pause. »Davon hast du mir ja gar nichts erzählt?«

»Ach, wir haben uns im …« Bevor ich noch ausplapperte, dass ich im Haus der Genaver einen Termin mit Karin Goldhaar gehabt hatte, räusperte ich mich und sagte so locker wie möglich: »Salien und ich sind uns zufällig über den Weg gelaufen. Vorhin.«

»Ah.« Sehr lange Pause. »Gut. Grüß ihn von mir. Sehen wir uns nachher?«

»Auf jeden Fall!«

»Gut. Ich hol dich ab. Sagen wir gegen sechs?«

»Ich freu mich drauf. Haben wir was Bestimmtes vor oder …«

Hektor lachte. »Wirst schon sehen. Nur solltest du ab jetzt nicht mehr so viel essen.«

Ich steckte mir ein großes Stück Waffel mit Sahne und Kirschen in den Mund und sagte undeutlich: »Okay!«

»Mann, wo warst du?« Man musste nicht über ein absolutes Gehör verfügen, um herauszuhören, dass Vicky echt angefressen war. »Du wolltest mich anrufen, gleich, wenn du von Goldhaar zurück bist. Schon vergessen?«

»Ja. Deshalb hab ich dir ja eine Nachricht geschickt«, gab ich relativ ungerührt zurück, »dass es länger dauert und ich mich später bei dir melde.«

»Sehr witzig.«

»Ich hätte dir sofort geschrieben, falls was schiefgelaufen wäre.«

»Klar! Wenn man dich festgenommen, eingesperrt und das Handy abgenommen hätte?«

»Mhm!« Das war ein verbales Schulterzucken. »Worüber regst du dich denn so auf?«

»Worüber ich …?« Sie schnaufte. »Ich hab mir Sorgen gemacht!«

»Äh …« Es gefiel mir überhaupt nicht, dass jetzt Vicky wie die große Schwester klang. »Nun übertreib mal nicht.«

Es raschelte in der Leitung. Ich kannte das Geräusch, es stammte von Vickys üppiger Lockenpracht, wenn sie das Handy von einem Ohr zum anderen wechselte. Das hatte ich sie schon oft tun sehen, wenn sie mit ihrer Mutter telefonierte, deshalb wusste ich auch, dass sie dabei für gewöhnlich die Augen verdrehte.

Genervt fragte sie: »Und? Wie lief es?«

»Gut, soweit. Aber, wir sollten nicht … Du weißt schon!«

Es war Goldhaar durchaus zuzutrauen, Handys abzuhören, deshalb hatten wir als reine Vorsichtsmaßnahme beschlossen, nicht am Telefon über Angelegenheiten zu sprechen, die Genaver, Feen im Allgemeinen und Goldhaar im Speziellen betrafen.

»Okay. Dann komm ich jetzt vorbei.«

»Nein«, stieß ich aus. »Ich bin nachher verabredet und …«

»Flora!« Wenn sie sauer auf mich war, rollte Vicky das R in meinem Namen immer ganz besonders. »Man könnte glatt glauben, du hast vergessen, wie ernst die ganze Sache ist. Du bist total komisch. Benimmst dich, als wäre es dir nicht mehr wichtig.«

»Quatsch!« Es war wichtig. Aber andere Sachen eben auch. Wie zum Beispiel meine Verabredung mit Hektor. Ich nahm eine Strähne und wickelte sie um den Finger. »Hör mal, Vicky, ich weiß, dass du gerade …«

Sie fiel mir ins Wort: »Wenn du jetzt wieder darauf rumreitest, dass ich im Moment so gereizt bin, dann komme ich durchs Telefon, verstanden?«

»Okay«, sagte ich und zog dabei den letzten Teil ziemlich in die Länge.

Seit Neuestem wäre ich lieber mit einem Schwarm Wespen in einem Zimmer eingesperrt gewesen als mit meiner kleinen Schwester. Das lag daran, dass Vicky sozusagen auf kaltem Entzug war.

Sie hatte mir schwören müssen, sich vorerst von ihrem geheimen Rückzugsort fernzuhalten, von dem ich nun sicher wusste, dass es das Ufer der Zeit war.

Es war für Vicky besonders hart, denn sie bezeichnete es als ihren persönlichen Strandurlaub, der ihr Ruhe, Kraft und Sicherheit verschaffte, ganz gleich, wie kurz ihr Aufenthalt dort auch sein mochte.

»Pass auf, Vicky«, sagte ich beschwichtigend, »das ist doch alles halb so wild. Ich werde mir jetzt erst mal Klamotten für meine Verabredung mit Hektor raussuchen, und dann sehen wir weiter.«

Vicky schnappte nach Luft. »Bitte?«