Marktsozialismus - Erich Apel - E-Book

Marktsozialismus E-Book

Erich Apel

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Beschreibung

Der klassische Staatssozialismus, der aus der Oktoberrevolution von 1917 hervorging, scheiterte nicht zuletzt auf ökonomischem Gebiet. Zwar gelang es sozialistischen Staaten in Osteuropa und Asien in der Nachkriegszeit durch die Übernahme des sowjetischen Systems der zentralen Planwirtschaft Schwerindustrien aufzubauen und Wirtschaftswachstum zu erzeugen. Nach anfänglichen Erfolgen bei der nachzuholenden Industrialisierung gerieten diese Länder aber in wirtschaftliche Krisen. Das Modell der zentralen Planwirtschaft konnte weder die wachsenden Konsumbedürfnisse der Bevölkerung befriedigen, noch auf die technologischen Herausforderungen aus dem Westen, wie die "mikroelektronische Revolution", reagieren. Politische Legitimationskrisen der Herrschaft der Kommunistischen Parteien waren die Folge. Nicht wenige Parteikader und ÖkonomInnen des Ostens sahen daher bereits in den 1960er-Jahren marktsozialistische Wirtschaftsreformen als mögliche Lösung der Probleme. Dabei knüpften sie auch an die sowjetische "Neue Ökonomische Politik" (1921–1928) an. Dieses Buch dokumentiert die zentralen Debatten über die Einbindung kapitalistischer Praktiken in den sozialistischen Alltag. Man diskutierte die Einführung von Marktelementen, die Liberalisierung von Preisen, Dezentralisierung der Planung und die Autonomie für Betriebe. Eine wichtige Rolle spielten die Reformversuche des jugoslawischen Modells unter Tito, das "Neue System der Planung und Lenkung" in der DDR sowie die "sozialistische Marktwirtschaft" der Volksrepublik China. In der historischen Debatte um "Marktsozialismus" wurden viele Fragen aufgeworfen, die auch im 21.Jahrhundert noch von zentraler Bedeutung sind – nicht zuletzt für zukünftige Experimente einer nichtkapitalistischen Gesellschaft.

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Seitenzahl: 252

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Felix Wemheuer (Hg.)Marktsozialismus

© 2021 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

Covergestaltung: Gisela Scheubmayr

ISBN: 978-3-85371-888-9(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-486-7)

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhaltsverzeichnis
Felix Wemheuer: Kann der Markt den Sozialismus retten? (Einleitung)

 

Kapitel 1: Neue Ökonomische Politik (NÖP): Taktischer Rückzug oder Modell für den Aufbau des Sozialismus?
Wladimir Iljitsch Lenin: Den Austausch mit den Bauern über den Markt regeln (1921)
Nikolaj Bucharin: Der Weg zum Sozialismus (1925)
Josef Stalin: Die Fehler der Bucharin-Gruppe und die Notwendigkeit der Kollektivierung (1929)

 

Kapitel 2: Materielle Anreize: Markt, Lohn, Preis und Profit in der Planwirtschaft
Jewsei Grigorjewitsch Liberman: Plan, Gewinn, Prämie (1962)
Ota Šik: Betriebe und Gewinnorientierung im Sozialismus (1965)
Debatte zwischen Maurice Dobb und Charles Bettelheim: Die Rolle von materiellen Anreizen (1965/66)
Diane Elson: Markt-Sozialismus oder Sozialisierung des Markts? (1988)

 

Kapitel 3: Das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung“ (NÖSPL) in der DDR
Zentralkomitee der SED: Kritische Einschätzung der bisherigen Praxis und Leitung der Volkswirtschaft (1963)
Erich Apel/Günter Mittag: Mehr Effizienz durch ökonomische Hebel (1964)

 

Kapitel 4: Debatte um das jugoslawische Modell
Rudi Supek: Das neue Modell der sozialistischen Selbstverwaltung (1973)
Ernest Mandel: Kritik der jugoslawischen ökonomischen Theorie (1967)

 

Kapitel 5: „Reform und Öffnung“ in China
Xue Muqiao: Wertgesetz und neue Preispolitik in China (1982)
Zhao Ziyang: Die Küstengebiete für ausländisches Kapital öffnen (1988)

 

Quellenangaben für die ausgewählten Texte
Kurzbiographien der AutorInnen
Weitere Lesetipps

Über den Autor

Felix Wemheuer, geboren 1977 in Bad Harzburg/Niedersachsen, ist seit 2014 Professor für Moderne China-Studien an der Universität Köln. Im Promedia Verlag erschienen unter seiner Herausgeberschaft die Bücher „Maoismus“ (2008) und „Die Linke und der Sex“ (2011) sowie "Linke und Gewalt" in der „Edition Linke Klassiker“.

Editorische Notiz:

Die Texte in diesem Buch wurden in ihrer originalen Schreibweise übernommen, das betrifft vor allem die Anwendung der zum Zeitpunkt der ursprünglichen Publikation gängigen deutschen Rechtschreibung.

Felix Wemheuer: Kann der Markt den Sozialismus retten? (Einleitung)

„Der Versuch, heute dieses künftige Ergebnis des vollkommen entwickelten, vollkommen gefestigten und herausgebildeten, vollkommen entfalteten und reifen Kommunismus praktisch vorwegzunehmen, wäre gleichbedeutend damit, einem vierjährigen Kind höhere Mathematik beibringen zu wollen.“

Lenin (1920)1

„Ob wir etwas mehr Plan oder Markt haben, ist kein grundlegender Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Planwirtschaft ist nicht gleichbedeutend mit Sozialismus. Im Kapitalismus gibt es auch Planung. Marktwirtschaft ist nicht gleichbedeutend mit Kapitalismus, denn im Sozialismus gibt es auch Märkte. Plan und Markt sind beides wirtschaftliche Instrumente.“

Deng Xiaoping (1992)2

Welche Bereiche der Gesellschaft sollen über den Markt geregelt und damit bestimmt von Profit, Gewinn und Verlust werden? Das ist eine der zentralen Fragen der Gegenwart. In der Hochphase des Neoliberalismus der 1990er-Jahre privatisierten Regierungen (im unterschiedlichen Ausmaß) auf allen Kontinenten öffentliche Betriebe und Wohnungen. Auch Bildung, Gesundheit, öffentliche Infrastruktur, Sicherheit, Altenpflege, Bahnen oder Post wurden teilprivatisiert und kommerzialisiert. Regierungen versprachen mehr wirtschaftliche Effizienz, besseren Service und Entlastung für den „Steuerzahler“. Spätestens seit der globalen Finanzkrise von 2008 scheint diese neoliberale Utopie gescheitert zu sein. Selbst der politische Mainstream tritt in vielen Ländern wieder für eine Stärkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft und seiner Aufgaben in der öffentlichen Daseinsfürsorge ein.

Vor über 100 Jahren begann eine gegensätzliche Debatte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde nach orthodoxer Auffassung des sowjetischen Marxismus-Leninismus der Sozialismus mit Planwirtschaft gleichgesetzt und Märkte mit Kapitalismus. Nach der russischen Oktoberrevolution von 1917 glaubten zum Beispiel linke Bolschewiki in der Phase des „Kriegskommunismus“ nicht nur Märkte, sondern auch den durch Geld vermittelten Warenaustausch sofort abschaffen zu können. Allerdings musste die Führung um Lenin vor dem Hintergrund von urbaner Hungersnot und Aufständen schon 1921 die „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP) einführen, die den Austausch mit dem Land über den Markt regelte.

Dieses Buch führt in die Geschichte der Debatten zum „Marktsozialismus“ von den 1920er- bis zu den 1980er-Jahren ein. In ihnen ging es nicht nur darum, ob die Einführung von Marktmechanismen in die Planwirtschaft zu mehr wirtschaftlicher Effizienz führt, sondern auch um die Frage, ob der Sozialismus durch Wirtschaftsreformen gerettet werden könne. Die zentralen Fragen lauteten: Welche Elemente der „alten“ Gesellschaft braucht man noch in der „neuen“? Wenn Bereiche der Gesellschaft Marktmechanismen unterworfen werden sollen, dann welche? Kann man auf Gleichheit bei der Verteilung zugunsten ökonomischer Effizienz vorerst verzichten? Ist es unter den Bedingungen eines kapitalistischen Weltmarktes und globalen ökonomischen Verflechtungen überhaupt möglich, eine Gesellschaft aufzubauen, die nach ganz anderen Kriterien funktioniert?

Linke KritikerInnen des „Marktsozialismus“ warnten schon früh vor der Zunahme sozialer und regionaler Ungleichheiten oder sogar der Entstehung einer „neuen Bourgeoisie“. Während Reformen in Richtung „Marktsozialismus“ in Osteuropa die „Regimewechsel“ 1989 nicht verhindern konnten, hält sich die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) bis heute an der Macht. Das Land steigt gegenwärtig zur globalen Wirtschaftsmacht auf. Die KPCh bezeichnet offiziell ihr System als „Sozialismus mit chinesischer Besonderheit“ bzw. „sozialistische Marktwirtschaft“. Einige westliche WissenschafterInnen sprechen hingegen von „Staatskapitalismus“ oder „staatlich durchdrungenem Kapitalismus“.3 Die Einkommensunterschiede in China sind im globalen Vergleich sehr groß.4 Auch im Kontext dieser gegenwärtigen Entwicklung ist die Debatte um „Marktsozialismus“ im 20. Jahrhundert sehr lehrreich.

Von Marx zum „Marktsozialismus“

Kommunismus als Negation des Kapitalismus bei Marx und Engels

Bekanntlich lag der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Forschungen von Karl Marx und Friedrich Engels darin, eine Theorie der Kritik der kapitalistischen Produktionsweise zu entwickeln. Sie machten nur knappe Aussagen darüber, wie eine zukünftige sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaft aussehen könnte. Das lag nicht zuletzt daran, dass sie im Gegensatz zum „utopischen Sozialismus“ die neue Gesellschaft nicht im Detail entwerfen wollten. Erst die Entwicklung der Industrie und damit auch des modernen Proletariats durch den Kapitalismus würden die materiellen Grundlagen und das Potenzial für eine zukünftige Gesellschaft schaffen, die nicht mehr von Not und Mangel bestimmt sei. Marx und Engels definierten den Kommunismus als Bewegung, die den Zustand der bisherigen Gesellschaft aufhebe.5 Klar war zumindest, dass die „Anarchie des Marktes“ durch eine bewusste planmäßige Organisation der Produktion der Gesellschaft ersetzt werden sollte.6 Kapitalistische Konkurrenz sei nicht nur die Triebkraft von technologischer Innovation, sondern führe auch zu regelmäßig wiederkehrenden Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Armut und Zerstörung der ökologischen Grundlagen der Erde.7

Die Vorstellungen einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft waren bei Marx und Engels in erster Linie von einer Negation der Grundkategorien des Kapitalismus geprägt. Produktion von Gütern und Dienstleistungen als Waren für den Markt, Lohnarbeit und Privateigentum an Produktionsmitteln sowie Grund und Boden sollten aufgehoben werden. Dadurch würde auch das Geld als Mittel der Zirkulation und Akkumulation überflüssig. Eine gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Hand- und Kopfarbeit, Stadt und Land und die damit verbundenen sozialen Hierarchien sollten abgeschafft werden. Wenn nach einer Übergangsphase die Produktivkräfte weit genug entwickelt seien, könnten im Kommunismus Tätigkeiten, Leben und Verteilung getreu der Devise „jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen“ verwirklicht werden. Auch der Staat als Instrument von Klassenherrschaft würde im Kommunismus unnötig und absterben, da die klassenlose Gesellschaft ihre Belange selbst verwalten könne. Um dieses Endziel zu erreichen, sei aber eine Übergangsphase notwendig, in der noch nach der jeweiligen Arbeitsleistung entlohnt werde. Erst nachdem die Produktivkräfte und das Bewusstsein der Menschen weit genug entwickelt seien, könne die Gesellschaft zu kommunistischen Verteilungsprinzipien übergehen.8

Die Vorstellungen von Marx und Engels prägten auch die Kommunistischen Parteien in den Ländern des Staatssozialismus. Allerdings gab es dort ganz andere gesellschaftliche Voraussetzungen, als die „Klassiker“ als Grundlage für den Kommunismus entwickelt hatten.

Von der Oktoberrevolution zum klassischen Modell in der Sowjetunion

Nach der russischen Oktoberrevolution im Jahr 1917 übernahmen die Bolschewiki in einem Land die Macht, in dem über 80 Prozent der Bevölkerung außerhalb der Städte lebte. Die Vorstellungen, wie in einem rückständigen Agrarland Sozialismus aussehen könnte, waren umstritten und vage. Zunächst setzte die Sowjetregierung ein moderates ökonomisches Programm um – in Form einer Bodenreform und der Einführung von „Arbeiterkontrolle“ in Fabriken. Im Bürgerkrieg (1918−1920) entstand jedoch der sogenannte „Kriegskommunismus“, bei dem in den Städten der Staat die Wirtschaft übernahm und eine rationierte Verteilung einführte. Um die Rote Armee und Städte zu versorgen, ließ die Sowjetregierung auf den Dörfern zwangsweise Getreide requirieren, ohne den BäuerInnen dafür eine angemessene Gegenleistung bieten zu können. Geld wurde durch die hohe Inflation nahezu wertlos. Nach dem Sieg der Roten Armee über die konterrevolutionären Weißen brachen BäuerInnenaufstände los und die Flotte revoltierte in Kronstadt. Vor diesem Hintergrund setzte vor allem Lenin 1921 die sogenannte Neue Ökonomische Politik (NÖP) durch: Der Austausch mit den BäuerInnen sollte anhand dieser neuen ökonomischen Leitlinie nun über den Markt regelt werden. Tatsächlich stellte die neue Politik auch eine Legalisierung der schon existierenden städtischen und ländlichen Schwarzmärkte dar.

In der Partei gab es Diskussionen darüber, ob ein hybrides Wirtschaftssystem mit staatlicher und kollektiver Industrie, privatem Handel und bäuerlicher Kleinproduktion ein langfristig angelegtes Modell für den Aufbau des Sozialismus sei oder nur ein kurzzeitiger taktischer Rückzug. In den 1980er-Jahren bezogen sich Reformkräfte innerhalb kommunistischer Parteien auf die NÖP als Urform und Vorbild eines „Marktsozialismus“. Allerdings führte die NÖP nach einigen Jahren zu großen Problemen. 1928 kam es zu einer städtischen Versorgungskrise, da die BäuerInnen ihr Getreide nicht zu den festgelegten Preisen verkaufen wollten. In den Städten standen hohe Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit und der zur Schau gestellte Reichtum der HändlerInnen für viele ArbeiterInnen im Widerspruch zu den Idealen der Oktoberrevolution.

In der Partei setzte Stalin eine radikale Abkehr von der NÖP durch, indem zunächst in Sibirien wieder Zwangsmaßnahmen gegen die Bäuer­Innen stattfanden, um Getreide zu beschlagnahmen. Die AnhängerInnen einer Fortsetzung der NÖP um Nikolaj Bucharin, die sogenannte „rechte Opposition“, verlor den Machtkampf mit Stalin und wurde aus ihren Führungspositionen in der KPdSU entfernt. Schließlich ließ die Regierung mit Unterstützung von ArbeiterInnenaktivistInnen und Armee die Landwirtschaft in der Zeit von 1928 bis 1931 fast vollständig kollektivieren. Die Auseinandersetzungen mit der Landbevölkerung führten zur Deportation von „KulakInnen“ nach Sibirien und in einigen Regionen zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Es kam zu einer schweren Hungersnot mit 6 bis 8 Millionen Toten.9 Mit dem ersten Fünfjahresplan 1928 begann ein ambitioniertes Programm, um die Industrialisierung, die in Westeuropa schon fortgeschritten war, unter Führung des Staates in kürzester Zeit nachzuholen.

Bis Mitte der 1930er-Jahre hatte sich in der Sowjetunion das sogenannte „klassische Modell“10 des Staatssozialismus herausgebildet, das vor Stalins Tod 1953 nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde bzw. werden durfte: Eine leninistische Kaderpartei übte eine diktatorische Alleinherrschaft über alle Bereiche der Gesellschaft aus; die Industrie war verstaatlicht und die Landwirtschaft kollektiviert. Zentrale Fünf-Jahres-Pläne sollten den wirtschaftlichen Aufbau langfristig steuern. Konkrete Vorgaben für die Produktionsmengen aller wichtigen Produkte wurden zentral von Planungsbehörden festgelegt und die Umsetzung an die Betriebe und landwirtschaftlichen Kollektive, die Kolchosen, delegiert. Die staatlichen Behörden entschieden auch über die Verteilung von Investitionen und Gewinnen der Betriebe. Sie legten die Löhne und fast alle Preise fest. Die meisten Ressourcen flossen in den Aufbau der Schwerindustrie durch die „Ausbeutung“ der Landwirtschaft. Im Rahmen des staatlichen Monopols für den Auf- und Verkauf von Getreide setzte der Staat die Preise für den Aufkauf zu Ungunsten der BäuerInnen besonders niedrig an. Privater Konsum sollte generell beschränkt werden, um mehr Akkumulation und Investitionen durch den Staat zu ermöglichen. In diesem System gab es weiterhin Lohnarbeit, auch wenn die Kernbelegschaften wichtiger Industriebetriebe, zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg, weitgehend vor Entlassungen geschützt wurden. Auf Planvorgaben und die Verwendung des gesellschaftlichen Mehrproduktes hatten die ArbeiterInnen auf Betriebsebene wenig Einfluss. Die offiziellen Gewerkschaften galten als „Transmissionsriemen“ zwischen Partei und Massen, Streiks waren nicht erlaubt.

Im Staatssozialismus fand ein Warenaustausch zwischen dem staatlichen, kollektiven und kleinen privaten Sektor statt. Außerdem wurde der Landbevölkerung erlaubt, innerhalb der Kolchosen auf „privatem Hofland“ für die Eigenversorgung und auch teilweise für Märkte, Kartoffeln und Gemüse anzubauen. Staatliche Zuteilung durch Rationierung von Lebensmitteln sah die sowjetische Regierung als Notbehelf in Krisenzeiten an. Im Warentausch galt Geld als allgemeines Äquivalent und im Verhältnis zum Weltmarkt gab es ein staatliches Außenhandelsmonopol.

Die sowjetische Parteiführung bezeichnete diese Verhältnisse schon Mitte der 1930er-Jahre als Verwirklichung des Sozialismus. Den Übergang zum Kommunismus stellte sich Stalin in seinen letzten Lebensjahren als die Übernahme aller Bereiche durch einen einheitlichen Sektor des Eigentums des ganzen Volkes vor. An den Ideen der Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit sowie des Absterbens des Staates hielt er zwar formal fest, aber ihre Verwirklichung wurde auf eine ferne Zukunft vertagt.11

Übernahme des sowjetischen Modells in Osteuropa und China

Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Sowjetunion als Vorbild, wie ein rückständiges Agrarland eine rasante Industrialisierung und Urbanisierung vollziehen könne. Die sowjetische Kriegswirtschaft war in der Lage gewesen, zum Sieg über das stärker industriell entwickelte Nazi-Deutschland entscheidend beizutragen. Nach dem Beginn des Kalten Krieges 1947 setzte die Sowjetunion ihre Vorstellungen von Sozialismus in ihrem Machtbereich durch. Die „Volksdemokratien“ in Osteuropa (Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien und Albanien) und die Sowjetische Besatzungszone in Ostdeutschland erlebten zunächst eine „demokratische Revolution“, in der feudaler Großgrundbesitz an die Landbevölkerung verteilt wurde. Nach wenigen Jahren gingen sie jedoch zur „sozialistischen Transformation“ über. Die Industrie wurde verstaatlicht und die Landwirtschaft kollektiviert. Die Regierungen orientierten sich am Modell der zentralistischen Planwirtschaft der Sowjetunion. Nur Jugoslawien ging ab 1948 nach dem Bruch zwischen Stalin und Josip Broz Tito einen eigenen Weg.

Im Unterschied zur radikalen „sozialistischen Offensive“ in der Sowjetunion von 1928 setzten die Regierungen der „Volksdemokratien“ auf eine graduelle sozialistische Umwälzung von Industrie und Landwirtschaft. Stalin selbst hatte zu dieser Politik geraten.12 So konnten bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen mit der Landbevölkerung und Hungersnöte im Unterschied zur Sowjetunion vermieden werden. Selbst Länder wie Nordvietnam und China, in denen starke lokale Bewegungen die Kommunistischen Parteien an die Macht gebracht hatten, orientierten sich am sowjetischen Modell. In China halfen Tausende sowjetische BeraterInnen dabei, den ersten Fünf-Jahresplan (1953−1957) aufzustellen und umzusetzen.

Zunächst schien das sowjetische Modell erfolgsversprechend. In den 1950er-Jahren gelang es vielen staatssozialistischen Ländern Schwerindus­trien aufzubauen und beeindruckendes Wirtschaftswachstum zu erzeugen.13 Rasante Urbanisierungen beschleunigten Modernisierungsprozesse in der Gesellschaft. Bildung und Gesundheitsversorgung sollte der Bevölkerung kostenlos zugänglich gemacht werden. Neuen Wohnraum und Kulturangebote stellte der Staat der Bevölkerung zu symbolischen Preisen zur Verfügung. Die Verfassungen garantierten „das Recht und die Pflicht zur Arbeit“. Die Kommunistischen Parteien wollten darüber hinaus mit Maßnahmen der „positiven Diskriminierung“ Kindern von „Arbeitern und Bauern“ den Zugang zu Hochschulbildung und politischen Ämtern ermöglichen. Die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt und ihr Vordringen in sogenannte „Männerberufe“ wurde durch betrieblich organisierte Kinderbetreuung ermöglicht.

Nach der Spaltung Europas in zwei Lager durch den Kalten Krieg nach 1947 träumten nicht wenige sozialistische PolitikerInnen und Ökonom­Innen von einer Abkopplung vom kapitalistischen Weltmarkt. In einer transnationalen sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft sollten Ressourcen planmäßig und koordiniert entwickelt sowie solidarisch ausgetauscht werden.14 Die Regierungen der Agrarstaaten Osteuropas hofften, die periphere Stellung ihrer Länder der Zwischenkriegszeit überwinden zu können, indem sie selbst eine industrielle Basis aufbauten. Die Vision eines geschlossenen sozialistischen Weltmarktes war nicht zuletzt eine Alternative zum damals bestehenden Kolonialsystem in Afrika und Asien, in dem sich auch neue unabhängige Staaten nur schwer aus der hierarchischen Arbeitsteilung mit den kapitalistischen Zentren befreien konnten.

Die Krise der zentralistischen Planwirtschaft

Mitte der 1950er-Jahre zeichneten sich in einigen Ländern deutliche Probleme mit dem sowjetischen Modell ab. Zu Stalins Lebzeiten hatte die sowjetische Regierung zur Durchsetzung des entbehrungsreichen Akkumulationsregimes massiv Zwang und Terror eingesetzt. Dazu gehörten das System von Arbeitslagern („Gulag“) sowie drakonische Strafen für „Arbeitsverweigerung“ in der Industrie und „Unterschlagung“ von Getreide in den Kollektivwirtschaften. Betriebsleitungen mussten fürchten, bei Nichterfüllung von Plänen der Sabotage beschuldigt zu werden.

Im „Tauwetter“ nach Stalins Tod 1953 begannen die sowjetische Regierung und andere Länder unter dem Stichwort „neuer Kurs“ die Ankaufspreise für Agrarprodukte zugunsten der BäuerInnenschaft deutlich zu erhöhen und auch den städtischen KonsumentInnen entgegenzukommen. Außerdem wurde das Gulag-System weitgehend aufgelöst. Nicht überall reichten die Maßnahmen aus. ArbeiterInnen wie auch BäuerInnen forderten Anrecht auf mehr Konsum, Mitsprache sowie weniger Arbeitszwang ein. In der DDR kam es 1953 zum Aufstand, in Polen und Ungarn 1956. Der Unmut über die Versorgungslage und die Arbeitsnormen verband sich mit nationalistischen Stimmungen gegen den übermächtigen Einfluss der Sowjetunion. Außerdem wurden Forderungen nach dem Ende des Machtmonopols der Kommunistischen Parteien und ihrer Kontrolle von Medien und Kultursektor laut. Die Legitimationskrisen des Systems waren offensichtlich.

Die Phase zwischen 1953 und 1957 wird auch als „erste Reformwelle“ bezeichnet. Kader und ÖkonomInnen begannen Debatten darüber, wie man ein Gleichgewicht in der Entwicklung von Schwer- und Leichtindustrie sowie der Landwirtschaft herstellen könnte.15 Jugoslawien und Polen ließen eine weitgehend private Landwirtschaft zu. Eine Dezentralisierung der Planung sowie mehr Autonomie für die Betriebe sollten zum Beispiel in Polen dazu beitragen, eine flexiblere Anpassung an die Bedürfnisse der KäuferInnen aber auch an technische Herausforderungen vornehmen zu können. Anstatt von Reformen wurde zunächst vorsichtig von einer „Perfektionierung des Plans“ gesprochen. Ein großes Problem bestand zum Beispiel darin, dass Betriebe Materialien und Arbeitskräfte horteten, zum Teil auch versteckt vor den Behörden, um Mangel in der Zukunft ausgleichen zu können. Konsumierende handelten ähnlich, in dem sie Waren horteten, wenn sie gerade in den Läden verfügbar waren und verstärkten dadurch den Mangel beim Angebot. Die Festlegung von Planzielen nach überwiegend quantitativen Kriterien (die berühmt-berüchtigte „Tonnenideologie“) führte zu Qualitätsmängeln und großer Verschwendung von Ressourcen.16 Die Arbeitsmoral in den Belegschaften ließ zu wünschen übrig, da es besonders unter den begehrten Fachkräften keine Sorge vor Arbeitslosigkeit gab. Der Enthusiasmus der Aufbruchsjahre war weitgehend verflogen. Zumindest in Osteuropa wollten und konnten die Parteiführungen nicht mehr auf drakonische Strafen wie in der Stalin-Ära setzen, um Arbeits-, Ablieferungs- und Plandisziplin zu erzwingen. In den meisten staatssozialistischen Ländern des sowjetischen Blocks wurden 1957 die Reformversuche abgebrochen und die entsprechenden Ideen als „Revisionismus“ verworfen. Scheinbar war die Krise des Modells der zentralistischen Planwirtschaft noch nicht tief genug – die konservativen Kräfte in den Parteien behielten die Oberhand.

„Marktsozialismus“ in der zweiten Reformwelle der 1960er-Jahre

Nach der kurzen ersten Reformwelle folgte in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre eine weiterreichende zweite Welle.17 Im Vergleich zu den Nachkriegsjahren nahm das Wirtschaftswachstum in vielen Ländern Osteuropas in diesem Zeitraum deutlich ab. Es kam zu ernsthaften Versorgungsschwierigkeiten mit Konsumgütern des täglichen Bedarfs wie zum Beispiel in der Tschechoslowakei. In China hatte das Nachahmen von Stalins „sozialistischer Offensive“ im Rahmen des „Großen Sprungs nach vorne“ zwischen 1959 und 1961 sogar zu einer Hungersnot mit zwischen 15 und 40 Millionen Toten geführt. Nur eine radikale neue Ausrichtung der Wirtschaft und Getreideimporte konnten die Katastrophe beenden.18

Parallel zur Verlangsamung des Wachstums in Osteuropa und der Hungersnot in China erlebten die kapitalistischen Zentren in Westeuropa die „goldene Ära“ der Nachkriegszeit. Gewerkschaften konnten massive Lohnerhöhungen und bessere Sozialstandards durchsetzen und in der entstehenden „Konsumgesellschaft“ wurde der Traum von Automobil, Eigenheim und Fernurlaub auch für breite Schichten der ArbeiterInnenklasse verwirklicht. Viele kapitalistische Länder öffneten das Hochschulsystem für breite Massen jenseits der Söhne, und wenigen Töchter, des BildungsbürgerInnentums. Das Elend der Nachkriegszeit konnte weitgehend überwunden werden.

Vor diesem Hintergrund mehrten sich im Wettkampf der Systeme die Zweifel an der „Überlegenheit“ der zentralistischen Planwirtschaft in Osteuropa. In der UdSSR strebte der Parteiführer Nikita Chruschtschow 1962 im Zuge der sogenannten Liberman-Debatte eine stärkere Gewinnorientierung und Autonomie von Staatsbetrieben an, um die wirtschaftliche Effizienz zu steigern. 1965 beschloss die Parteiführung der KPdSU die sogenannten Kossygin-Reformen, benannt nach dem damaligen Premierminister. Die Entwicklung in der UdSSR eröffnete auch den „Bruderstaaten“ neue Freiräume. Besonders ambitioniert kamen in der DDR ab 1963 das „Neue Ökonomische System der Planung und Lenkung“ (NÖSPL, ab 1967 „Ökonomisches System des Sozialismus“ genannt) in Gang und der neue „Ökonomische Mechanismus“ in Ungarn (1968−1973). In der Tschechoslowakei verband die Parteiführung unter Alexander Dubček im sogenannten „Prager Frühling“ 1968 ökonomische Reformen mit politischer Liberalisierung. Die jugoslawische Regierung unter Tito stärkte die Autonomie der Betriebe und den Wettbewerb im Rahmen der „Arbeiterselbstverwaltung“. In China ließ die Führung um Liu Shaoqi und Deng Xiaoping 1961−62 private Familienwirtschaft in der Landwirtschaft in einigen Provinzen zu. Zwischen 1960 und 1963 reduzierte die Regierung die Zahl der städtischen ArbeiterInnen, die Anrecht auf Rundumversorgung hatten, um 26 Millionen und schickte die meisten von ihnen auf das Land zurück.19 Und die Parteiführung ließ die Macht der BetriebsleiterInnen gegenüber der Belegschaft durch die Abschaffung der kollektiven Führung stärken.

Der Begriff „Marktsozialismus“ wurde in der Regel in den meisten Ländern vermieden, um nicht den Eindruck zu erwecken, die Planwirtschaft sei gescheitert und es gebe ein Zurück zum Kapitalismus. Natürlich verliefen Debatten und Reformen während der zweiten Welle nicht in allen Ländern gleich, trotzdem gab es Gemeinsamkeiten: Betriebe sollten durch Gewinnorientierung und höhere Prämien für Management und Belegschaft zur Steigerung der Produktivität animiert werden. Gewinn und Verlust könnten nur realistisch abgebildet werden, wenn nicht mehr alle Preise politisch festlegt, sondern sich stattdessen am „Wert“ der Produkte orientieren würden, so die Reformkräfte. Besonders die hohen Subventionen für Grundnahrungsmittel stellten eine schwere Belastung die Staatshaushalte dar.20 Dieses Problem hatte sich nach dem Ende der Stalin-Ära noch verschärft, indem in den meisten staatssozialistischen Ländern Ankaufspreise zugunsten der BäuerInnen erhöht worden waren, aber nicht die Verkaufspreise in den Läden. Im Rahmen der Reformagenda wurde nun die Anzahl der Produkte in den zentralen Planvorgaben in der Regel deutlich reduziert. Neben den Unternehmens- und Preisreformen sollten durch die Stärkung des kollektiven Sektors und die Anerkennung eines kleinen privaten Sektors Mängel in der Versorgung ausgeglichen werden und zu mehr Wettbewerb führen. Die Reformkräfte versuchten die Bevölkerung von ihrem Vorhaben zu überzeugen, indem sie ein deutlich höheres Konsumniveau versprachen. In der Regel gingen die Wirtschaftsreformen einher mit der Aufwertung von SpezialistInnen, Intellektuellen und FacharbeiterInnen in Form von materieller Besserstellung und Gewährung von mehr Freiräumen. Die Rhetorik des „verschärften Klassenkampfes“ der Stalin-Ära verschwand weitgehend aus den offiziellen Diskursen im sowjetischen Lager.

Die Entspannungspolitik zwischen den Supermächten USA und UdSSR verbesserte in den 1960er-Jahren auch den Zugang zu Hochtechnologie auf dem Weltmarkt für die sozialistischen Länder. Statt der Utopie einer autarken sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft zu folgen, intensivierten viele Staaten den Handel mit dem „kapitalistischen Ausland“. Das führte wiederum zu Anstößen, Preise an das Weltmarktniveau anzupassen. Ein Grund der Hinwendung zum kapitalistischen Weltmarkt war auch, dass gemeinsame Koordination und Arbeitsteilung in der sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft häufig an nationalstaatlichen Eigeninteressen scheiterten.21

Im Westen stießen die Reformen in Osteuropa in linken Flügeln der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften auf einige Sympathie. Sie begrüßten mehr Marktelemente und politische Mitbestimmung im Osten und hofften auf mehr Plan und öffentliches Eigentum im Westen. Einige „MarktsozialistInnen“ im Westen vertraten ein Wirtschaftssystem, in dem Schlüsselindustrien und Infrastruktur in öffentlicher Hand waren, Bildung und Gesundheitsversorgung vom Staat kostenlos zur Verfügung gestellt, aber der Konsum- und Servicesektor durch den Markt geregelt werden sollten.22

Die zweite Reformwelle nahm in den meisten Ländern Osteuropas im Zuge des sowjetischen Einmarsches in der Tschechoslowakei 1968 jedoch ein jähes Ende. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings und aus Angst vor einer „Konterrevolution“ ließ Moskau den Verbündeten deutlich weniger Spielraum. Ungarn konnte die Preisreform zwar noch weiterführen, musste der sowjetischen Führung jedoch glaubhaft versichern, im Unterschied zu Prag keine politische Liberalisierung anzustreben. In der DDR wurde 1971 Walter Ulbricht von dem Parteiflügel um Erich Honecker mit Unterstützung der sowjetischen Regierung entmachtet und die Reformversuche im Sinne des NÖSPL endgültig gestoppt. In China beendete schon der Beginn der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ unter Führung von Mao Zedong im Sommer 1966 die Bestrebungen zur neuen Ausrichtung der Wirtschaft. Die AnhängerInnen der Politik von Liu und Deng in der Partei wurden verfolgt und einige führende Kader und Intellektuelle von den Roten Garden sogar in den Selbstmord getrieben.

Die Reformen der zweiten Welle scheiterten jedoch nicht nur am Linienschwenk der Sowjetunion und am Widerstand der konservativen Kräfte innerhalb der Kommunistischen Parteien. Preisreform bedeutete zunächst in der Regel Preissteigerungen bei den hochsubventionierten Grundnahrungsmitteln. Zum Beispiel löste der Beschluss der sowjetischen Regierung 1962, die Verkaufspreise von Fleisch und Milchprodukten um 30 Prozent zu erhöhen, Unruhen und Streiks in der Stadt Novocherkassk aus. Die blutige Niederschlagung der Proteste trug zum Niedergang des Parteiführers Chruschtschow bei. Die sowjetische Regierung wagte es die nächsten zwei Jahrzehnten nicht noch einmal, diese Verkaufspreise anzutasten. Gleichzeitig erhöhten die Führer jedoch mehrfach die Ankaufpreise für die BäuerInnen, was die Last der Subventionierung für den Staatshaushalt weiter erhöhte.23 Durch die Erhöhung der Fleischpreise brachen in Polen in den Jahren 1976 und 1980 ArbeiterInnenunruhen und Streiks aus. In der Tschechoslowakei und in der DDR reagierten Teile der Belegschaften ablehnend auf die Stärkung der Macht des Managements und die Ausdifferenzierung der Lohnhierarchien. Die neuen Unterschiede verstießen gegen populäre Gleichheitsvorstellungen, die noch als Erbe der ArbeiterInnenbewegung der Zwischenkriegszeit nachwirkten.24

Von Krisen zu den Regimewechseln in Osteuropa

Einige staatssozialistische Länder versuchten in den 1970er-Jahren Wachstum und Technologietransfer durch die Aufnahme von ausländischem Kapital zu fördern. Nach Jugoslawien ließen auch Rumänien (1971), Ungarn (1972), Polen (1976) und Bulgarien (1980) Joint-Venture-Betriebe mit ausländischer Kapitalbeteiligung zu. Einige Staaten verschuldeten sich mit hohen Beträgen bei westlichen Kreditgebern. Die Produktionssteigerungen durch Technologieimport blieben jedoch hinter den Erwartungen zurück. Selbst das Konsumniveau konnte in einigen Ländern nur durch Importe und Westkredite gehalten werden, Außenhandelsdefizite und Schuldenkrisen waren die Folgen. Ende der 1980er-Jahre trat deutlich zutage, dass weder Marktreformen im Stil Jugoslawiens und Ungarns, noch ein Festhalten am Modell der zentralistischen Planwirtschaft wie in der DDR wirtschaftliche Stagnation und Niedergang verhindern konnten. Am Ende glaubten selbst große Teile der Parteieliten nicht mehr an die Überlegenheit des eigenen politischen Systems und seiner Legitimation in der Bevölkerung. In Polen, Ungarn und in der DDR handelten die Regierungen am runden Tisch mit Delegierten der Oppositionsbewegungen einen friedlichen Regimewechsel aus. Es folgte die Einführung des Kapitalismus und eine Welle von Privatisierungen. Sozialismen aller Varianten schienen diskreditiert.

Der Sinneswandel zeigte sich auch besonders deutlich bei Ökonomen wie dem Ungarn János Kornai. Er entwickelte sich in den 1950er-Jahren vom Marxisten zum Kritiker der zentralistischen Planwirtschaft und schließlich in den 1980ern zum Wirtschaftsliberalen. In seinem Standwerk zur Ökonomie des Kommunismus aus dem Jahr 1992 argumentiert er, dass die Lockerung der zentralen Planvorgaben im Rahmen des ungarischen „Marktsozialismus“ nicht zu echter marktwirtschaftlicher Konkurrenz und ökonomischer Disziplin der Betriebe geführt habe, da sie weiterhin keine Konkurse fürchten mussten. Sie wirtschafteten weiter mit einem „weichen Budget“. Die Betriebsleitungen würden sich daher nicht wie private Unternehmen verhalten, sondern wie Teile der Staatsbürokratie. Da Massenentlassungen nicht möglich seien, versuchten sie weiterhin, die Belegschaft mit paternalistischen Maßnahmen zufriedenzustellen. Diese Mentalitäten könnten nur durch eine radikale Privatisierung und vollständige Durchsetzung des Marktes gebrochen werden.25

Eine Schocktherapie wurde Anfang der 1990er-Jahre von Teilen der politischen Eliten Osteuropas als einzige Möglichkeit einer „Heilung“ vom System der zentralistischen Planwirtschaft und des Marktsozialismus gesehen. Marktradikalismus war keinesfalls nur ein Westimport.26

„Sozialistische Marktwirtschaft“ in China nach 1978

Auch wenn die zweite Reformwelle in Osteuropa scheiterte, lieferte sie einige Ideen, die in China nach Maos Tod von der neuen Führung unter Deng Xiaoping unter dem Label „Reform und Öffnung“ umgesetzt wurden. Kader und ÖkonomInnen, die die Phase zwischen 1961 und 1965 geprägt hatten, ließ die Parteiführung wieder rehabilitieren. Osteuropäische ÖkonomInnen, die als Vordenker von Reformen nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ ins westliche Exil gingen, wie zum Beispiel der Tschechoslowake Ota Šik und der Pole Włodzimierz Brus, lud die chinesische Regierung Anfang der 1980er-Jahre als Berater ein. Chinesische Delegationen wurden nach Ungarn und Jugoslawien entsandt, um von den dortigen Preis- und Betriebsreformen zu lernen, ohne sie allerdings zu kopieren.27 Obwohl die chinesische Strategie von „Reform und Öffnung“ durchaus als Teil eines transnationalen Ideentransfers zu sehen ist, lässt die KPCh sie heute als rein nationale Erfolgsgeschichte des „Sozialismus mit chinesischer Besonderheit“ schreiben. Von „sozialistischer Marktwirtschaft“ wird von offizieller Seite seit 1992 gesprochen.

Die weitgehendsten Schritte der KPCh waren bis Mitte der 1980er-Jahre die Auflösung der Volkskommunen und die Zulassung einer privaten Familienwirtschaft auf staatlichem Boden. Auf dem Gebiet der Industrieproduktion führte die Regierung unter Zhao Ziyang ein duales System der Festlegung von Preisen durch Plan und Markt ein. Die Landbevölkerung, die ohnehin in China nie in den sozialistischen Wohlfahrtsstaat integriert war, profitierte zunächst von den Reformen durch Steigerung der Einkommen und des Ernährungsniveaus.

Den Rahmen marktsozialistischer Reformen der zweiten Welle überschritt die chinesische Regierung unter Jiang Zemin erst zwischen 1998 und 2002, als große Teile der Staatsindustrie privatisiert wurden. Nach offiziellen Angaben sank die Zahl der urbanen Beschäftigten im Staatssektor zwischen 1995 und 2003 um ca. 44 Millionen.28 Außerdem ersetzte die Führung lebenslange Beschäftigung durch ein Arbeitsvertragssystem, sprich die Arbeitskraft wurde zur Ware gemacht. Die Regierung ließ zudem Privatunternehmen im großen Ausmaß zu. Vor diesen Schritten waren die „MarktsozialistInnen“ im sowjetischen Block zurückgeschreckt und es waren dort erst die Regimewechsel von 1989 nötig, um sie durchzusetzen. Die Öffnung Chinas für ausländisches Kapital führte dazu, dass ab den 2000er-Jahren ausländische Direktinvestitionen zum Hauptmotor des Wirtschaftswachstums wurden. Das Angebot von billigen Arbeitskräften, die vom Land in die Fabriken zogen, machte China zur „Werkbank der Welt“. In Osteuropa waren Löhne, Sozialstandards und auch das Ausbildungsniveau der Beschäftigten schon in den 1980ern zu hoch, um im kapitalistischen Weltsystem noch diese periphere Rolle einnehmen zu können. Diese strukturellen Unterschiede der Gesellschaften sollten bei einem Vergleich der Transformationen in China und Osteuropa bedacht werden.

Einführung in die ausgewählten Texte

Für dieses Buch habe ich vor allem Texte der Debatten zum „Marktsozialismus“ aus der Sowjetunion, Osteuropa und China ausgewählt. Auch in den Staaten, wo heute noch Kommunistische Parteien an der Macht sind (Vietnam, Laos, Kuba und Nordkorea) gab es mehrfach Wirtschaftsreformen. Diese Länder spielten allerdings keine Vorreiterrolle und es sind nur wenige ökonomische Texte auf Deutsch zugänglich. Im Buch befindet sich leider nur ein Text einer Frau, der britischen feministischen Ökonomin Diane Elson. Das liegt nicht zuletzt daran, dass besonders die Debatten auf dem Gebiet der Ökonomie im Staatssozialismus sehr männlich dominiert waren. Die Texte sind nicht immer chronologisch geordnet, da vor allem die Hauptlinien der Argumentation abgebildet werden sollen.

Kapitel 1: Neue Ökonomische Politik (NÖP): Taktischer Rückzug oder Modell für den Aufbau des Sozialismus?

Im ersten Kapitel geht es den Autoren um die Frage, ob die sowjetische NÖP (1921−1928) ein Modell für den Aufbau des Sozialismus sein kann. Bis 1929 fanden in der bolschewistischen Partei noch breite Debatten um den Entwicklungsweg der Sowjetunion statt.29 Ausgewählt wurden hier nur drei zentrale Akteure: Lenin, Bucharin und Stalin.

Lenin erklärte 1921 zunächst, dass die Einführung der NÖP eine große Niederlage auf wirtschaftlichem Gebiet für die Bolschewiki darstelle, da die Partei das Scheitern des „Kriegskommunismus“ einsehen musste. Indem die Ablieferungspflicht für Getreide der BäuerInnen gegenüber dem Staat durch eine Besteuerung ersetzt würde, ließe man den freien Handel wieder zu. Darin und in Konzessionen für ausländisches Kapital sieht Lenin einen „Übergang zur Wiederherstellung des Kapitalismus in beträchtlichem Ausmaß“. Gleichzeitig stellt er die NÖP aber als unabwendbaren strategischen Rückzug dar, ohne den die Sowjetmacht nicht zu halten sei. Der Klassenkampf werde darüber entscheiden, ob das Proletariat oder die Bourgeoisie die BäuerInnen auf ihre Seite ziehen können. Von der NÖP als „Marktsozialismus“ kann bei Lenin keine Rede sein, weil er die Maßnahmen als notwendiges Übel und Zugeständnis an die kapitalistischen Kräfte sah.

Nach dem Tod Lenins entwickelte Bucharin 1925 in der Broschüre „Der Weg zum Sozialismus“ die Konzeption der NÖP weiter. Die NÖP