Mascha, du darfst sterben - Antje May - E-Book

Mascha, du darfst sterben E-Book

Antje May

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Beschreibung

Der schmerzvolle Weg einer Mutter, die für den Tod ihrer Tochter gekämpft hat

Die 17jährige Mascha erlitt bei einem Verkehrsunfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Ihre Mutter kämpfte dafür, Maschas Leiden beenden zu dürfen, nachdem klar war, dass die lebenserhaltenden Maßnahmen der Intensivmedizin für sie mehr Fluch als Segen waren.

Antje Mays Buch ist der berührende Nachlass einer Mutter, der den schwierigen Entscheidungsprozess, die Tochter letztendlich aufzugeben, dokumentiert. Ihr bewegender Erfahrungsbericht nimmt die Leser mit in die Welt der Krankenhäuser, wo es häufig an Wärme, Menschlichkeit und Empathie fehlt.

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Antje May

Mascha,

du darfst

sterben

Wenn der Tod Erlösung ist

Gütersloher Verlagshaus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2016 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © Michael Forsberg / corbis

ISBN 978-3-641-18828-3V001

www.gtvh.de

Für Mascha

Ich bin sicher, dass Maschas Seele irgendwo weiterlebt, und wünsche mir, dass sie mir von dort aus gestattet, ihr Schicksal zu veröffentlichen.

Liebe Leserin, lieber Leser!

1964 in Bensberg geboren, wuchs ich im Bergischen Land auf, wo ich auch heute noch zu Hause bin. Ich wurde Altenpflegerin, versorge seit 30 Jahren Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen und habe viele Sterbende begleitet und dabei Angehörige in dem schwierigen Prozess des Loslösens und Abschiednehmens erlebt und unterstützt. Diese praktische Erfahrung und aufbauende Fortbildungen haben mir deutlich gemacht, wie wichtig es ist, in diesen Extrem-Situationen im Gespräch mit den Betroffenen, Angehörigen und Helfenden zu bleiben.

Der schwere Unfall, die Zeit danach und der Tod meiner eigenen Tochter jedoch waren völlig neue und andere Erfahrungen. Es war das bittere Ende einer tiefen Bindung, eines langen Weges, und es riss mir den Boden unter den Füßen weg. Dennoch, ich stehe heute immer noch – nur anders ...

Damals, kurz vor dem Unglück, war ich als alleinerziehende Mutter mit meinen Kindern in eine Wohnung gezogen, die eine günstige Busanbindung hatte. Durch meine wechselnden Schichten war ich nicht immer in der Lage, die Kinder zu Terminen oder Verabredungen zu fahren. Jugendliche wollen und müssen mobil sein. Eigentlich war alles gut. Drei Monate lang hatten wir uns eingelebt, dann geschah der schreckliche Unfall an genau dieser Bushaltestelle.

Maschas Leben war nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma abhängig von intensivmedizinischer Überwachung und Versorgung. Nach kurzer Zeit hieß die Diagnose: Wachkoma. Eine Regenerierung hielten die meisten Ärzte für fraglich bzw. ausgeschlossen. Dennoch wurde sie weitertherapiert, was während fünf harter Monate bei mir zu einer tiefen Auseinandersetzung bezüglich der Maßnahmen führte. Hätte meine Tochter unter diesen Umständen weiterleben wollen? Wie würde ihr Leben ohne Maschinen aussehen? Was hatte sie – was hatte ich – zu erwarten?

Fünf Monate dauerte es, bis ich Mascha schließlich in ein Hospiz bringen durfte, wo sie wenig später verstarb.

Sie als Leser dieses Buches werden verstehen, dass ich hier die härteste Zeit meines Lebens darlege. Vielleicht haben auch Sie ein schweres Schicksal hinter sich, denn die gibt es leider in jeder Generation, in jeder Familie. Manches Schicksal ist wie ein Ast, der plötzlich bricht und genau auf einen herunterfällt. Mascha und uns, die wir sie lieb hatten, hat das Schicksal getroffen.

Ich wünsche mir sehr, dass mehr Menschen darüber nachdenken, dass wir alle, zu jeder Zeit, von einem Schicksal betroffen sein können. Nicht nur Unfälle, auch andere Geschehnisse, können ein Gehirn oder andere Organe schädigen.

Doch ab welchem Zeitpunkt sterben wir wirklich? ... wollen wir sterben? Wenn wir technisch in der Lage sind, Leben zu retten und zu erhalten, sollte es nach meinen Erfahrungen mit Mascha auch möglich sein, Therapien herunterzufahren und Leid zu stoppen. Ich rede hier nicht von Sterbehilfe, sondern meine Themen sind Ethik und Würde. Diese Begriffe dürfen in unserer hochtechnisierten Zeit nicht vergessen werden.

Ich wünsche mir, dass ich mit diesem Buch Menschen erreiche, die für sich und in ihren Familien die Notwendigkeit erkennen, über diese schwierigen Themen zu sprechen. Mit dem Ziel, einen Willen benennen zu können, solange man noch dazu in der Lage ist. Denn ich bin sicher, dass eigentlich nur jeder für sich selbst entscheiden kann, was für ihn lebenswert ist.

Antje May, im Februar 2016

Finnland

August 2009. Gerade bin ich in Helsinki gelandet. Es ist Sommer und angenehm warm. Das Blau des Himmels grenzt sich von den weißen Wolken deutlich ab. Noch eine Stunde und ein Bus wird mich in Richtung Lappeenranta bringen. Zum Sommerhaus am See. Das Gepäck ist leicht, doch es gibt eine andere Last, von der ich noch nicht weiß, wie ich sie durch die nächsten Tage und Jahre tragen werde. Der Tod meiner Tochter. Vor drei Tagen ist Mascha beerdigt worden. Sie wurde 17 Jahre alt.

Flughafenbetrieb. Leute eilen vorbei, manche stehen herum. Koffer, Trollis, Rucksäcke. Es wird begrüßt oder verabschiedet. Ich bin allein. Am liebsten würde ich laut schreien: »Mascha ist tot, Mascha ist tot.« Permanent denke ich diesen Satz. Versuche es zu begreifen. Aber ich diszipliniere mich. Natürlich. Es würde ja auch nichts nützen, ich würde für verrückt erklärt, zumindest in dieser Kultur. Fühle mich dem Leben entrückt und sitze nun hier auf einer Bank am Flughafen. So plötzlich ohne Kinder. Ohne Familie. Nach all den Jahren Trubel. Habe viel gearbeitet und die Kinder ... meine Kinder, die ohne ihren Vater aufwachsen mussten.

Ich komme mir vor, als sei ich eine andere Person als die, die ich vor einem halben Jahr gewesen bin. Und das ist auch so. Meine Rolle als Mutter spiele ich kaum noch. Mein Sohn Raphael ist mit 19 dabei, eigene Wege zu gehen. Mascha ist vor einem knappen halben Jahr verunglückt. Sie konnte danach nicht mehr sprechen. Jedenfalls nicht verbal. Ich hoffe, ich habe sie dennoch richtig verstanden. Mein Alltag bestand aus täglichen Fahrten in die Intensivklinik. Täglichen Ängsten, Sorgen und schrecklichem Mitleiden. Wirklich Alltag wurde das nie.

Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, keine Tochter mehr zu haben. Wenn mich jemand fragt, ob ich Kinder habe, sage ich: »Zwei. Eins auf der Erde und eins im Himmel.« Unter Jugendlichen sehe ich sie und höre ihre Stimme. Es ist, als sei sie noch da, existent. Zur gleichen Zeit ist der Schmerz des Vermissens unendlich groß. Schlimmer noch: Ich lebe und du bist tot. Falsche Reihenfolge. Eltern haben gefälligst vor den Kindern zu sterben.

Nie wieder zusammen lachen. Nie mehr unterhalten. Nichts mehr zusammen unternehmen. Ich hatte doch noch so vieles mit dir vor ... nie mehr, nie mehr, nie mehr. Habe ich dir genug gegeben? Hatten wir Zeit genug? Mir ist so klargeworden, dass jeder Moment, den man gemeinsam verbringt, der Letzte sein kann. Jederzeit. Mir war dies vor deinem Tod durchaus bewusst. Meine Mutter hat dazu beigetragen, indem sie uns als Kinder lehrte, man solle sich immer nett voneinander verabschieden, auch im Streit, denn es kann jederzeit die letzte Begegnung gewesen sein.

Im Flugzeug haben mich dein Lachen und deine Lebensfreude begleitet. Deine Vorfreude auf die geplante Reise nach Stockholm und Helsinki, die du mit einer Freundin in den Sommerferien antreten wolltest, war spürbar nahe. Mit 17 Jahren. Die Zukunft vor sich. Den Realschulabschluss ein Jahr vorher gefeiert. Im Sommer dann zur Berufsschule mit dem Ziel: Fachabitur im Sozialwesen und dann als Streetworkerin arbeiten. Schon als Kind hast du über eine enorme Empathie verfügt. Mitgefühlt und nachgespürt. Dich über Ungerechtigkeiten aufgeregt. Und darüber diskutiert. Über so vieles haben wir geredet. Du wolltest diese Welt verstehen. Und nun, endlich so etwas wie erwachsen werden. Reisen mit Freundinnen und dann eine berufliche Zukunft ansteuern. Ich wusste, du würdest deinen Weg gehen.

Nun habe ich deine geplante Reise angetreten, Stockholm lasse ich aus. Mein Herz ist schwer. Alles ist anders. Nichts wird sich für mich jemals so anfühlen wie vor deinem Tod. Um mich herum bewegt sich die Welt, als ob nichts passiert sei. Ich finde dasunpassend.

Habe einen Rucksack gekauft, der eigentlich für dich bestimmt war. Er ist voll mit Tagebüchern und Notizen aus der Zeit in der Klinik sowie Fotos von dir. Vor und nach deinem Unfall.

Es wird schwer, aber ich will und muss diese Zeit noch einmal gedanklich durchleben. Am Pflegebett habe ich dir versprochen, dass das alles nicht umsonst war. Ich habe dir auch versprochen, dass du noch viele Kinder haben wirst. Du fragtest mich einige Wochen vor dem Unglück: »Und was, wenn ich keine Kinder bekommen kann?« Ich wollte dir damit sagen, dass ich in deinem Sinn weiteragieren würde, wenn ... Ich hätte alles getan, um deinen Traum, Straßenkindern in Brasilien zu helfen, für dich zu verwirklichen.

Vielleicht hilft ein letztes Versprechen trauernden Menschen, weiterzuleben. Erste Schritte zu tun für das Gedenken an den Verstorbenen. Aus Liebe. Und dabei lernt man, erneut zu leben.

Nun habe ich mir eine Aufgabe gestellt, die mich herausfordern wird:

Das letzte Versprechen am Totenbett. Es war nicht umsonst. Ich hoffe, du wirst durch dein schlimmes Schicksal etwas bewirken. Vielleicht war es dann nicht umsonst. Ich möchte Menschen zum Nachdenken anregen. Ärzte, Pflegende, Angehörige. Letztendlich alle Menschen. Auch ich habe einmal daran geglaubt, dass es immer andere trifft. Ein schlimmes Ereignis, eine Tragödie. Heute weiß ich sicher: Wir werden alle eines Tages sterben. Auf welche Weise weiß niemand. Vielleicht werden wir uns aufgrund von Reanimationsmöglichkeiten und einer guten Intensivmedizin ebenso eine Weile in einem Stadium zwischen Tod und Leben befinden.

Bei strömendem Regen fahre ich im Langstreckenbus durch die finnische Landschaft. Ein Teil deiner Asche fährt in meinem Handgepäck mit. Illegal. Einer deiner Gedanken in der letzten Woche vor dem Unfall war: »Am liebsten wäre mir, wenn meine Asche hier und da verstreut würde.« So soll es sein. Das Beerdigungsinstitut hat mitgespielt und völlig problemlos etwas abgegeben. Gut. Die Flughafenkontrolle war spannend. Ich habe keine Ahnung, ob sie mir geglaubt hätten, dass in der silbernen kleinen Dose keine Drogen sind. Die Dose war für sie uninteressant, zum Glück.

In einer Stunde kommt der Bus an. Regen klatscht an die Scheiben. Ich sehe hier und dajunge Mädchen, deren Haarfarbe und deren Teint der von Mascha gleichen. Sie hatte finnische Gene. Helle Haare und helle Haut. Im Mai hatte sie offiziell die finnische Staatsangehörigkeit erhalten. Dies war möglich, weil ihre Oma aus Finnland stammt. Sie wollte es so gerne. Ich habe es ihr erzählt, als sie in der Klinik lag.

Meinen Einkaufszettel habe ich geschrieben. Teilweise sogar in Finnisch. Ich werde mich mit einigen Grundnahrungsmitteln eindecken und anschließend im kleinen Sommerhaus am See mit dir verschanzen. Habe jeden Tag Angst, dass meine Erinnerungen verblassen. Das darf nicht passieren. Ich will schreiben.

Die Natur hier im Norden ist faszinierend, und es tut gut, auf Reisen zu sein. Vielleicht eine Reise zu einer neuen Identität. Meine Seele schreit nach Heilung, die ich hoffe in der finnischen Natur zu finden. Alles noch einmal zu durchdenken und nachzuspüren. Meinem Ich neue Wurzeln geben, damit ich meine Zukunft bestehen kann. Habe Raphael, deinen Bruder, immer wieder gefragt, ob er wirklich alleine zurechtkommt. Da jeder auf seine Weise trauert und wir zwei sehr verschieden sind, weiß ich heute: Es war gut, eine Trennung herbeizuführen. So brauchten wir keine Kraft aufzubringen, uns noch gegenseitig auszuhalten.

Nachdem ich alles Nötige eingekauft habe – es gießt immer noch in Strömen –, hat mich Annikki, die Schwester meines Onkels, abgeholt und zum See gefahren. 25 Kilometer von der kleinen Stadt Taavetti entfernt liegt der kleine See Hiijärvi. Meine Eltern besitzen hier seit 15 Jahren ein Sommerhaus. Als ich aus dem Auto steige, weiß ich, dass es die richtige Entscheidung war, hierher zu kommen, und bin meinen Eltern dankbar wie nie zuvor für dieses Fleckchen Erde. Back to the roots. Brunnen, Plumsklo, Sauna, Boot, Fahrrad. Ruhe und alleine sein, nach den vergangenen tragischen, wirren Monaten.

Ich trinke mit Annikki Kaffee. Die Unterhaltung klappt prima, sie spricht 40 Worte Englisch und ich 35 Worte Finnisch. Ich zeige ihr Fotos von Mascha und erkläre, wie froh ich bin, eine ruhige Abschiedszeit hier in der Natur mit »ihr« verbringen zu können. Vier Wochen liegen vor mir. Hier sind fast keine Menschen. Vielleicht verirrte Bären. Aber eher nicht.

Dann fährt sie zurück nach Lappeenranta. Näkemiin – auf Wiedersehen !

Eine schöne Abendstimmung breitet sich über dem See aus. Der Regen hat aufgehört, und die Luft ist frisch und klar. Es riecht nach Fichten. Ein Foto meiner Tochter steht am Kaminsims, ich zünde eine Kerze an und frage sie in Gedanken, wann die Asche in den See soll. Heute noch. Es sind für mich unbeschreiblich kostbare Minuten. Ich will alles inihrem Sinn gestalten. Ich trete auf die Holzveranda, als ein Singschwan – laut singend – in der Bucht landet. Mein Herz geht auf. Zufall? Ein Zeichen?

Es ist fast windstill. Ich nehme mit dem Ruderboot Kurs auf eine Stelle im See, die nicht zu nah, aber auch nicht zu weit weg von der Hütte ist. Will mich an dieses Grab erinnern können. In Finnland sind Seebestattungen erlaubt. Es ist spät, fast Nacht, doch hier im Norden sind die Nächte hell. Ich mag das. Der Mond leuchtet rötlich durch die aufgerissene Wolkendecke. Das Boot gleitet ruhig über den spiegelglatten See. Ihre hellen Aschereste sinken langsam ins dunkle Wasser. Ich weine und fühle mich ganz nah bei ihr. Meine tapfere Tochter. Und doch empfinde ich: Alles war gut, der Tod war gut so. Das Leid hatte ein Ende.

Abends sitze ich auf der Holzterrasse und blicke auf den See. Alles in absoluter Stille. Ungewöhnlich. Wir müssen wohl wirklich Abschied nehmen. Ich werde ohne dich einfach weiterleben. Ich meine, das Herz schlägt einfach weiter. Aber so schwer. Ein Stück Zukunft ist gestorben. Meine Tochter ist tot. Ich versuche zu begreifen.

»Wie soll man den Tod verstehen, wenn man das Leben nicht versteht«, sagte Augustinus wohl einmal, und ich denke: Das ist wahr.

Träume. So viele Träume in der vergangenen Nacht. Ich habe nur dreimal von dir geträumt, in der Zeit, als du im Krankenhaus gewesen bist. Dann nie wieder. Kurze Episoden, keine Handlung. Doch einmal, nach deinem Tod, hast du laut und deutlich gesagt: »Perfekt, Mama«. Verrückt ist das.

Ich vermisse dich so sehr. Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich einen solchen Schmerz empfunden. Wie soll ich mich noch über etwas freuen, mit dem Bewusstsein, dass du es nicht erleben wirst? Oder wirst du? Was soll ich glauben? In einer Trauerkarte stand: Du bist nur hinter der Wand, in einem anderen Zimmer. Vielleicht ist es ja so, dass du nun, ›Seele‹ für uns, unvorstellbare Dinge erfährst. Ich denke nur an die wunderschöne Wolkenlandschaft, die ich aus dem Fenster des Flugzeuges bewundert habe. Habe mir vorgestellt, du geisterst mitten in diesen herum. Alles sah so weich aus. Dann wurde mirklar, es ist kalt im Himmel. Und deine Haut: Auch sie war nachher so kalt. Die Seele benötigt keinen Körper. Sie wohnt nur eine Weile darin. Vielleicht.

Gestern, über dem See schwebte eine ganz besondere Wolke. Sie sah aus, als ob du dort oben stehst in einem langen Gewand und auf die Erde herunterschautest. Oder jemand anderes, jedenfalls sah es irgendwie versöhnlich aus. Gerade dann, als ich die Seebestattung beendet hatte und das Ruderboot an Land gesichert hatte. Habe ein Foto davon gemacht. Das war irgendwie ein heiliger Moment für mich. Vielleicht ist der Tod auch einfach nur ein Ende. Stille. Frieden. Dann kann ich mich auch damit trösten, denn dein Leidensweg ist nun vorbei.

Hier am See ist außer den Geräuschen der Natur völlige Stille. Die Sonne scheint warm auf mich herab. Heute Morgen, als ich auf das ›Puh-Klo‹ ging – ein kleiner Holzschuppen hinter dem Haus im Wald, der auch als Holzvorrat dient – huschte ein Eichhörnchen schimpfend einen Baum hinauf. Von dort sah es dann neugierig auf mich herab. Vielleicht kann ich es zähmen, dachte ich, und streute etwas Müsli auf einen nahliegenden Findling. Beim späteren Tagebuchschreiben fiel mir ein, was Saint-Exupéry im »Kleinen Prinzen« über das Zähmen sagt: Wir sind für das, was man zähmt, verantwortlich. So, als ob man jemanden liebt, denke ich.

Als ich in den letzten fünf Monaten täglich an deinem Bett saß, manchmal zwölf Stunden, rieten mir einige Menschen, ich solle mich schonen. Mal zu Hause bleiben, eine »Aus-Zeit« nehmen ... es wäre für mich unvorstellbar gewesen, dich nur einen Tag mit der Intensiv-Maschinerie alleine zu lassen. Als Mutter will man, dass sein Kind gut versorgt ist. Wer ist in der heutigen Zeit im Krankenhaus noch gut versorgt? Ich arbeite seit fast 30 Jahren in der Pflege. Ich weiß, was das heißt. Grundversorgung und dabei möglichst ein paar nette Worte. Überprüfung der Vitalwerte, der Gerätschaften und hoffentlich der Lagerung. Ja, alle sind nett, wenn Angehörige kommen. Auch sonst sind wir nett. Aber immer im Stechschritt. Überlastet – oft – und dann manchmal vielleicht auch nicht nett. Mit dem Team soll man auch noch klarkommen. Mit den Ärzten kommunizieren. Und die Angehörigen? Werden meistens als nervig empfunden, stören den Pflegerhythmus und stellen womöglich blöde Fragen. Als Mutter habe ich eine andere Verantwortung. Ich fühle mich verantwortlich für meine Tochter, aber nicht im Akkord. Vor allem nicht, wenn sie im Wachkoma oder was auch immer liegt. (Zitat eines Arztes: »Wachkoma oder auch nicht, der Zustand bleibt der Gleiche.«). Heute weiß ich durch Recherchen, dass der Zustand, in dem Mascha sich befand, wahrscheinlich zwischen Wachkoma und minimalem Bewusstsein schwankte.