Medien der Rechtsprechung - Cornelia Vismann - E-Book

Medien der Rechtsprechung E-Book

Cornelia Vismann

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Recht wird gesprochen. Es gilt das Prinzip der Mündlichkeit. Die Rechtsprechung operiert indes auch mit Medien, die nicht der Stimme zugehören. Eine Fotografie zu Beweiszwecken oder eine Kamera zur Übertragung einer Gerichtsverhandlung zählen ebenfalls zu den Medien der Rechtsprechung. Weit davon entfernt, bloße Hilfsmittel der Wahrheitsfindung zu sein, greifen sie in das Verfahren ein. Und dort, wo unter der Macht technischer Medien die justitiellen Formen verwildern, wird das Gericht zum Tribunal.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 634

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cornelia Vismann

Medien der Rechtsprechung

Fischer e-books

Herausgegeben von Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski

Vorwort

Die Medien der Rechtsprechung bilden den letzten großen Themenkomplex, mit dem sich Cornelia Vismann (1961–2010), Professorin für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar, befasst hat. Das nun vorliegende Buch, das die Autorin noch wenige Tage vor ihrem Tod zum Abschluss hat bringen können, ist Teil einer Trilogie von Texten, die sie selbst als ihr wissenschaftliches Vermächtnis verstanden wissen wollte. Während sich Cornelia Vismann mit ihrer Dissertationsschrift Akten. Medientechnik und Recht, ebenfalls erschienen im S. Fischer Verlag, 2000,[1] auf mediale Aspekte der Exekutive, auf Medien als Instrumente exekutivischen Handelns, konzentrierte, hat sie mit einer unter dem provokativen Titel »Was waren die Staatsmedien?« im Sommersemester 2009 an der Bauhaus-Universität gehaltenen Vorlesung den legislativen Aspekt von Medien in den Blick genommen.[2] In den Medien der Rechtsprechung, die Cornelia Vismann als das »Herzstück« ihrer Überlegungen verstand, geht es schließlich um die Rechtsprechung, um die Leistungen und Effekte der von der Judikative in Dienst genommenen Medien.

Was hat der Tisch im Gerichtssaal verloren? Wodurch unterscheiden sich Theater und Gericht? Mit welcher Stimme spricht der Übersetzer? Bestimmt der Aufriss des klassischen Amphitheaters in heutigen Gerichtsräumen noch immer die Stätte des Rechtsprechens, wenn technische Medien wie TV und Film eingebunden sind? Dass der Rede innerhalb eines gerichtlichen Verfahrens grundlegende Bedeutung zukommt, scheint kaum einer Erwähnung wert. Dass jedoch das Schweigen eine keineswegs geringere Relevanz besitzt, wird hier ebenso herausgearbeitet wie die allmähliche Überwindung des Primats der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, an dessen Stelle neue Formen gerichtlicher Kommunikation wie etwa das remote judging in Konstellationen der transitional justice, der Rechtsprechung in post conflict situations und Schwellenländern, treten. Tische und Dolmetscher, Reden und Schweigen, Nachspielen und Vorführen sind nur einige Dinge und Praktiken, die zur medientechnologischen Basis gehören, auf der sich Rechtsprechung vollzieht. Die Autorin entfaltet in diesem Buch die historische Genese der Objekte und Prozesse: anhand verschiedenartiger Quellen, von Filmen über literarische Texte bis hin zu architektonischen Anordnungen, werden die Verfahren und Medien der Rechtsprechung einer eingehenden Analyse unterzogen. Maßgebend ist dabei die Leitunterscheidung zweier unterschiedlicher Funktionslogiken: des theatralen und des agonalen Dispositivs.

Den Begriff »Dispositiv« gebraucht die Autorin, wie bereits in den Akten, »in Anlehnung an Foucault als Matrix des Ensembles an Redeweisen, Techniken, Strategien und Institutionen einer Rechtsmacht«.[3] »Dispositive sind für mich Anlagen, und in der Rechtsprechung sehe ich zwei Hauptanlagen: die theatrale und die agonale«, so ihre mündliche Auskunft. Der unhintergehbaren theatralen Dimension des Gerichts mit seinen Räumen des Bedenkens werden die Entscheidungsarchitekturen des agonalen Dispositivs gegenübergestellt. Nicht um das Verhandeln geht es dort, sondern um die Entscheidung, das Urteil. Das Gerichtstheater genügt sich im Nachspiel, während im Prozessdrama Wettkampf und Entscheidung zusammenfallen. »Die ordentliche Gerichtsbarkeit ist vollkommen den Bedingungen des Theaters angepasst. Für die Sonderformen der Justiz greift die Logik des Wettkampfs.« Diese Logik des Agonalen[4] sieht Cornelia Vismann im Tribunal verwirklicht, jener vermeintlichen Sonderform der Jurisdiktive, die nach ihrer Einschätzung gegenwärtig das im theatralen Dispositiv agierende Gericht verdrängt.

An die Einführung der beiden Dispositive schließt in der Ordnung dieses Buches die genaue Analyse jener sieben Medien an, die für Cornelia Vismann die Technik des Rechtsprechens bestimmen. Es sind Akten, Stimme und Öffentlichkeit, Fotografien, Kino und Fernsehen – und eine von Praxen des remote judging bestimmte »Fern-Justiz«, die die Autorin vor allem in gegenwärtigen Szenarien der transitional justice aufgefunden hat. Während Akten und die früheren Aufsätze zu Justinian und über das Kommentieren sich auf Rom konzentrierten, findet hier die Grundlegung der Rechtsprechung im antiken Griechenland ihre medientechnische Analyse. Solon und Sophokles, Kleist und Feuerbach, Preminger und Handke werden zu Zeugen einer Entwicklung, die Cornelia Vismann als Geschichte der Informalisierung des gerichtlichen Verfahrens erzählt. »Technische Medien entziehen sich der theatralen Logik der Justiz und versetzen die Prozessbeteiligten an einen Ort, der alles andere als ein Schauplatz ist – inmitten von Kabeln und Monitoren.« Erzählt wird indes keineswegs eine Verlustgeschichte, sondern die Geschichte eines Wandels, eine Transformationsgeschichte.

Die Nürnberger Prozesse markieren für die Autorin einen dramatischen Wendepunkt in der Mediengeschichte des Rechts. Das Geschehen im Gerichtssaal wird in Nürnberg zum globalen »Courtroom-Drama« – und beeinflusst so die Dramaturgie anderer Verfahren der Rechtsprechung in weltweit wahrgenommenen gesellschaftlich-politischen Übergangssituationen. Das Nürnberger Militärtribunal installierte einen bis dahin beispiellosen »umfassenden Medienverbund aus Mikrophonen und Kopfhörern, Simultandolmetschern, Zuhörern und Verhörten, Leinwand, Richtern, Kameras, Prozessbeobachtern und Beobachteten«. Die Entformalisierung macht die Gerichtsszene zum Tribunal. Gerichtsöffentlichkeit wird in Nürnberg Weltöffentlichkeit. Im Gerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes begann ein neues Zusammenspiel von Justiz und Bild, genauer: Justiz und Bildgebung des Holocaust. Das wirkliche »Vermächtnis von Nürnberg« ist für Cornelia Vismann indes die Offenheit für medientechnische Neuheiten, die Bereitschaft, neuesten Techniken im Verfahren Raum zu geben. Mit solcher Offenheit schließe das 1993 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingesetzte UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), ein Versuchslabor für die Verfahren vor dem seit 2003 tätigen Internationalen Strafgerichtshof (ICC), an die Nürnberger Prozesse an. »Was aber passiert mit dem Gericht selbst, wenn die Medientechniken das Verfahren übernehmen?« Am Beispiel des Prozesses gegen Slobodan Milošević zeigt die Autorin, wie das Eindringen der Fernsehkameras und webcams in die geschlossene Welt des Gerichts die strenge Ordnung des Prozesses aufbricht. »Regellosigkeit, Lärm sowie das Verschwimmen der Grenze zwischen Innen und Außen sind die Folge.«

Während sich Völkerrechtler und Experten transnationaler Rechtsentwicklung angesichts ungewisser Zukunftsperspektiven von Welt und Recht seit einigen Jahren mit Nachdruck der Vergangenheit zuwenden, hat Cornelia Vismann den Weg in die umgekehrte Richtung eingeschlagen. Als Medienwissenschaftlerin geht die Rechtshistorikerin den Weg nach vorn, ins Zentrum einer Rechtsprechung, die nationalstaatliche Grenzen transzendiert. Es handelt sich, das wird in diesem Buch deutlich, nicht nur um eine Justiz jenseits des Staates, sondern auch um eine Jurisdiktive jenseits des Gerichts und seines theatralen Dispositivs. »Transitional Justice heisst nicht allein, dass eine Periode des Übergangs zu einer öffentlichen Sache gemacht wird. Es heißt auch, dass die Justiz sich selbst im Übergang befindet.«

Cornelia Vismann zeigt, dass die in Nürnberg erstmals praktizierte, im Verfahren des Jugoslawientribunals gegen Milošević perfektionierte »Fern-Justiz« nicht nur medial die Wände des Gerichtsraums öffnet, sondern eine globale Öffentlichkeit zur Stätte der Rechtsprechung macht. Doch hat damit diese Öffentlichkeit, hat der Zuschauer jene aktive Rolle erlangt, die sich in Nürnberg als Versprechen abzuzeichnen schien? Um den Bürger, den »Zuschauer with a job«, war es Cornelia Vismann zu tun. »Wer hat die Macht zu entscheiden? Wer hat die Macht, etwas zu wissen?« Diese Frage beschäftigte sie noch in unseren letzten Gesprächen. Und die Ignoranz, mit der die Möglichkeiten einer Übergangssituation verkannt werden, die jenseits der klassischen Dispositive einer neuen Matrix der Jurisdiktive Raum geben könnte. »Hier ist eine ganz große Chance vertan. Die Chance heisst: transitional justice. Transitional justice heisst: wir legen offen, dass etwas in Veränderung begriffen ist. Wir gehen nicht über zu klassischen Formen.«

In dem hier vorliegenden Buch geht es um die Kunst der Form, um die Praxis einer Rechtsprechung, die ihre Legitimation durch Verfahren[5] gewinnt, durch die Form, die dem Recht niemals nur äußerlich ist, sondern auf etwas verweist.[6] Die Medienwissenschaftlerin, die mit den klassischen Formen der Jurisdiktive so profunde vertraut war, erweist sich dabei als leidenschaftliche Anwältin des Rechts. Insofern ist dieses Buch auch, und vielleicht vor allem, normativ. Die Autorin plädiert für eine Konfrontation mit dem Gegenwärtigen und seinen Möglichkeiten; sie sieht genau hin: »Das müssen wir erstmal aushalten, dass wirklich vieles unklar ist. Wir klammern uns an die bestehende Form«, so ihr Urteil. »Doch es kommt darauf an, dass wir das Schwere aushalten.« Und es kommt, so zögerte sie nicht anzuschließen, auf das Wagnis an. Auf den Mut zum Handeln, mit dem neue Formen der Rechtsprechung gewagt, neue Medien der Jurisdiktive verhandelt werden.

 

Dieses Buch konnte von seiner Autorin noch mit eigener Hand fertiggestellt werden – und trägt doch Spuren eines Bruchs. Aber selbst dort, wo Cornelia Vismann manche Passagen nicht mehr mit der Kraft ihres unbedingten Stilwillens glätten und polieren konnte, ist der Text getragen von einer stilistischen Sicherheit und sprachlichen Eleganz, die unter Juristen wie Kulturwissenschaftlern ihresgleichen sucht. Die mitunter verspielte, zuweilen elliptische und dann wieder unversehens strenge Sprache hat einen ganz eigenen, einen eigenwilligen und eigensinnigen Ton.

Eingriffe haben die Herausgeber nur behutsam vorgenommen, um dem Wunsch der Autorin zu entsprechen, dass es »ihr« Buch bleiben solle. Es sind lediglich einige Hinweise auf weiterführende Texte von Cornelia Vismann beigefügt, welche in der Typoskriptfassung letzter Hand weitestgehend fehlten. Aus diesem Grund erscheint der Apparat nun um einige wichtige, einschlägige Texte der Autorin ergänzt. Die Verbindungen der Medien der Rechtsprechung mit dem Gesamtwerk sind indes vielfältiger und facettenreicher, als es diese wenigen expliziten Referenzen auf den ersten Blick offenlegen. Hier ist es an den Lesern, sich Cornelia Vismann an die Fersen zu heften, einer Spurensucherin, die dem Recht und seinen Medien geduldig auf den Grund ging. Viele ihrer Texte, ihrer Aufsätze, Glossen und Marginalien, wurden an exquisiten, mitunter entlegenen Orten publiziert. Sie aufzufinden, bedarf der Neugier und des intellektuellen Spürsinns. Geplant ist daher eine Sammlung verschiedener Aufsätze von Cornelia Vismann, die, herausgegeben von Markus Krajewski und Fabian Steinhauer, 2012 im S. Fischer Verlag erscheinen wird.

Ergänzt wurde auch der Hinweis auf ein unlängst von Alexandra Kemmerer geführtes Interview mit der ehemaligen Haager Chefanklägerin Carla Del Ponte, die bei Cornelia Vismann immer wieder als eine zentrale Protagonistin ihrer Mediengeschichte der Rechtsprechung erscheint.[7] Das angeführte Zitat aus dem Gespräch mit Del Ponte mag exemplarisch verdeutlichen, dass die in diesem Buch beschriebenen Entwicklungen längst nicht abgeschlossen sind. Der Wandel der theatralen Logik der Justiz vollzieht sich vor unser aller Augen, ein Drama der Transformation, dessen Tragik Cornelia Vismann so pointiert beschreibt wie keiner der zahlreichen, durch völkerstrafrechtliche Expertise ausgewiesenen professionellen Beobachter neuer Formen von Tribunal und Gericht.

Für die Rechts- und Kulturwissenschaftlerin, die Philosophin und Medientheoretikerin Cornelia Vismann gilt, was sie selbst einmal über den von ihr so sehr geschätzten Jacques Derrida geschrieben hat: ihr war das Recht nicht nur Gegenstand, sondern auch Fluchtpunkt, Horizont allen Denkens und Schreibens. Das Recht – oder, wie sie es lieber formulierte: das Juridische – ist allgegenwärtig, und wo die Autorin die Medien und Medientechniken der Rechtsprechung dekonstruiert, da ist diese Dekonstruktion a promise, not a doctrine – a cry for justice.[8] Es ist eine Sehnsucht, ein Verlangen nach Gerechtigkeit, das dazu antreibt, an den Fundamenten des Rechts zu rütteln und die Juristen, die Jurisdiktive immer neu mit den eigenen Grenzen zu konfrontieren.

 

Die Medien der Rechtsprechung scheinen auf den ersten Blick vor allem an zwei Zielgruppen adressiert zu sein: Juristen und Medienwissenschaftler. Eine heterogene Leserschaft also, in zwei mitunter als inkommensurabel geltenden Disziplinen verortet. Für die Herausgeber warf diese Unterschiedlichkeit handfeste praktische Probleme auf. Wie sollte man mit den jeweiligen fachlichen Gepflogenheiten umgehen, etwa hinsichtlich der im Typoskript nicht immer einheitlich angewendeten, in der Rechtssprache üblichen Abkürzungen wie StPO (Strafprozessordnung), GVG (Gerichtsverfassungsgesetz) oder BVerfGE (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts)? Wir kamen überein, dem Leser kleine wechselseitige Anpassungsleistungen abzuverlangen, ohne ihn dabei mit kryptischem Fachvokabular zu überfordern. Dabei setzte uns letztlich die Autorin den Maßstab. Cornelia Vismanns Werk ist selbst ein Medium der Vermittlung zwischen ganz unterschiedlichen disziplinären Denk- und Gesprächsräumen. Auch sprachlich holt sie die hochausdifferenzierten Diskurse unterschiedlichster akademischer Zünfte und Zirkel in einen Raum gegenseitigen Verstehens hinein. Mit ihrer immensen Gelehrsamkeit, ihrem analytischen Blick und der assoziativen Kraft ihres Denkens und Schreibens war Cornelia Vismann eine Brückenbauerin, die die Grenzen der Disziplinen mit Ernsthaftigkeit und Anmut überwand. Sie suchte »disziplinübergreifend nach den Wechselwirkungen literarischer und juristischer Formen«[9] und öffnete das Theater des Rechts für das Gespräch der Geistes- und Sozialwissenschaften. Auch die Medien der Rechtsprechung sind daher ein Buch nicht nur für Juristen und Medienwissenschaftler, sondern auch für Kulturtheoretiker und Philosophen, für Literaturwissenschaftler und Politologen, für Kameraleute und Rechtspfleger – kurz: ein Buch für neugierige Leser, denen daran liegt, das Recht zur Sprache kommen zu lassen.

 

Der Dank, den die Autorin nicht mehr abstatten konnte, muss an dieser Stelle fehlen. Der Dank der Herausgeber gilt Susanne Wagner für die gewissenhafte Hegung des »master file«, für ihre sorgfältigen Recherchen bei der Überprüfung und Ergänzung der Fußnoten, die Erstellung des Literaturverzeichnisses und die Beschaffung der von der Autorin ausgewählten Abbildungen. Dank gilt auch dem Lektor Alexander Roesler bei S. Fischer für die engagierte und geduldige Betreuung des gesamten Vorhabens. Freunde und Kollegen Cornelia Vismanns, ihre Familie und, vor allen, ihr Witwer Balthasar Haußmann haben die zügige Drucklegung des Manuskripts durch Hinweise und Auskünfte unterstützt und durch ihre Anteilnahme und Ermutigung gefördert. Ihnen allen sind wir in Dankbarkeit verbunden. Danken möchten wir schließlich auch der Fakultät Medien an der Bauhaus-Universität Weimar und dem Wissenschaftskolleg zu Berlin, den Orten jeweiliger institutioneller Anbindung der Herausgeber, die zugleich auch Orte der Autorin sind.

Die Autorin wusste, dass wir – der Medienhistoriker und Kulturwissenschaftler, die an Fragen der transnationalen Rechtsentwicklung, an Grundlagen und Kontexten des Rechts interessierte Rechtswissenschaftlerin und Publizistin – uns schwerlich je aus eigenem Antrieb in ein gemeinsames Projekt verstrickt hätten. Das sagte sie uns auch, mit einem Schalk in der leise gewordenen Stimme. Unser Erstaunen über die plötzliche transdisziplinäre Verknüpfung amüsierte sie. Mit jener feinsinnigen Ironie und freundlichen Entschiedenheit, die uns beiden an ihr so wertvoll war, hat Cornelia uns dieses Buch anvertraut. Wie so viele der Konversationen in der Woche ihres Sterbens war auch unsere gemeinsame Arbeitssitzung mit der Autorin, erste und letzte zugleich, geprägt von ihrer Freude am Stiften immer neuer, unkonventioneller Gesprächszusammenhänge. An ganz unterschiedlichen Orten in der Kartographie ihrer Denk- und Lebenswelten waren wir Cornelia Vismanns Freunde und Kollegen geworden. Als Herausgeber der Medien der Rechtsprechung wurden wir nun noch einmal, und neu, ihre Leser. Als sie uns an einem Dienstag im späten August heiter und hoch konzentriert ihre Hinweise zur Edition dieses Buches in die Federn diktierte, da sah sie in uns wohl zuerst die, denen ihre Arbeit stets vornehmlich verpflichtet war: in je eigenen disziplinären Engführungen verfangene Hörer und Leser, denen ihr Werk jenseits überkommener Diskursgrenzen neue Räume des Verstehens eröffnet.

 

 Berlin und Weimar, 2. Dezember 2010

 Alexandra Kemmerer

 Markus Krajewski

A.Dispositive

Rechtsprechen findet statt, es hat eine Stätte und es vollzieht sich nach einem geregelten und wiederholbaren Ablauf. Dieser wird von zwei Anordnungen grundlegend bestimmt, einer theatralen und einer agonalen. Die Genese des Gerichthaltens aus der Versammlung um ein Ding prägt dem Gerichthalten performative Züge auf. Die Herkunft des Rechtsprechens aus dem Wettkampf betont den Akt des Entscheidens. Diese zweifache Grundmodalität gerichtlicher Verfahren, seine Rahmung als Theater und Kampf, bestimmt die Technik des Rechtsprechens. In den Konkretionen verschiedener Rechtskulturen und verschiedener Epochen sind beide Dispositive unterschiedlich ausgeprägt. Dispositive sind Anfänge, sie setzen Genesen in Gang. Was in ihnen angelegt ist, wird von den Medien konkretisiert, die mal agonale, mal theatrale Elemente betonen. Im Französischen, wo dispositif de jugement das Gerichtsurteil bezeichnet, kommt diese Grundlegungsmacht darin zum Ausdruck, dass das vor Gericht Gesprochene zu einem Urteil führt.[10] Die Verhandlung bedingt das Urteil. Die beiden zentralen Akte des Rechtsprechens, das Gerichthalten und das Entscheiden sind in den ausdifferenzierten europäischen Rechtssystemen nicht beide zu gleichen Anteilen enthalten. Die ordentliche Gerichtsbarkeit ist vollkommen den Bedingungen des Theaters angepasst. Für die Sonderformen der Justiz greift die Logik des Wettkampfs. Schlicht gesagt ist das agonale Dispositiv damit für die justitiellen Formen reserviert, die aus der Normalordnung des Gerichts herausfallen. Das Gerichthalten selbst ist auf das theatrale Dispositiv verpflichtet. Beides hat Folgen für die Medien des Rechtsprechens. Sie sind andere im Agon des Rechtstreits als auf dem Theater des Gerichts. Die Dispositive ziehen unterschiedliche Medien an und schließen bestimmte Medien aus. Die Medien sind demnach abhängig von den Dispositiven, in denen die jeweilige Rechtsprechungsform agiert. Wer nicht nur Beobachtungen anstellen will über das Indienstnehmen bestimmter Medien und den Ausschluss anderer beim Akt des Rechtsprechens, wem es also um eine Logik zu tun ist, in der die Medien der Jurisdiktive stehen, der kann nicht umhin, der Erforschung der Medien die Konturierung der beiden Dispositive voranzustellen.

I.Theatrales Dispositiv 

1.Die unhintergehbare theatrale Dimension des Gerichts

Recht-Sprechen als Dinghegung – Dinge versammeln (Latour) – Ding und Sache (Lacan) – Aus Richten wird Urteilen – Wozu das Theater? – Ökonomisierungen des Gerichthaltens – Non-lieu der Verhandlung (Althusser) – Bekenntnisse als Verhandlungssupplement (Rousseau) – Die Unverzichtbarkeit des Gerichthaltens: Prozesse gegen sprachlose Dinge (Messer, Tiere, Automaten) – »Réjouer les crimes« (Legendre) – Nachstellen und Nachspielen – Réjouer les choses: die Dinge ver-handeln – Der Ernst des Gerichtstheaters (Rimini-Protokoll) – Die Zeit des Gerichts, Vergangenheitswerdung im Nachspiel

Der Richter hegt das Ding. Ausdrücklich sagt dies das germanische Recht, und daran ist zu erinnern, wenn es darum geht zu bestimmen, was ein Gericht macht, wenn es Recht spricht. So zentral ist das Ding für die Rechtsprechung, dass nach ihm einst die Stätte des Gerichthaltens »Thing« genannt wurde. Inzwischen ist das Gericht allerdings vornehmlich mit Urteilen und Strafe-Zumessen assoziiert. Die genuin theatrale Dimension des Gerichthaltens, die mit dem Ding zusammenhängt, ist darüber verblasst. Deswegen gilt es, daran zu erinnern, dass es das Ding und die Dinge sind, welche das Gerichthalten als ein Verfahren der Darstellung prägen. Die Dinge sind der Grund dafür, dass das Gericht schlichtweg ein Theater ist. Sie sind die Causa, la chose, eben das Ding, um das herum man sich versammelt und das man zur Sprache bringt. Dinge, definiert der Wissenschaftshistoriker Bruno Latour, der gleichermaßen das Labor und das Gericht auf die Objekte hin untersucht, die diese Verfahren der jeweiligen Wahrheitsfindung leiten, sind das, was Leute zusammenbringt, weil es sie entzweit.[11] Was im Streit ist, ist ein Ding. Hinter den gegenständlichen Dingen steht das Ding, das entzweit – ein Akt der Gewalt, eine Verletzung, eine empfundene Ungerechtigkeit. Vor Gericht wird das Ding verhandelt, und das heißt zur Darstellung gebracht. Nicht allein im Strafgericht verhält es sich so. In einem ausdifferenzierten Rechtssystem, mit seinen eigenen Gerichtsbarkeiten, werden jeweils bestimmte Dinge verhandelt. Ob Straf-, Zivil- oder Verwaltungsgerichte, sämtliche Gerichte machen dasselbe, wenn sie Gericht halten. Sie konvertieren das strittige Ding in eine aussprechbare Sache. Diese Konversion von Ding in Sache ist der performative Kern allen Gerichthaltens. Dinge, die zur Sache geworden sind, sind im Recht angekommen. Über sie kann man reden, man kann darüber entscheiden oder andere Rechtsfolgen daran knüpfen. Jacques Lacan hat die deutsche Sprache für diese Differenzierung von Ding und Sache geschätzt und das Ding dem Register des Realen zugeschlagen, die Sache der symbolischen Ordnung. »Die Sache ist das Wort des Dinges«, schreibt Jacques Lacan und lässt beide Begriffe auch im Französischen, wo sie ohne diese Differenzierung jeweils mit la chose übersetzt werden müssten, unübersetzt. Dinge fallen in das Register des Realen und werden in der symbolischen Ordnung von der Sache vertreten.[12] Diesen Übertragungsvorgang von einem stummen und grundsätzlich verstockten Ding in eine verhandelbare Sache sicherzustellen ist nach germanischem Recht die Aufgabe der Richter. Sie leiten das Zeremoniell der Sprachwerdung, wachen über die Einhaltung des Verfahrens, steuern die Transformation von Ding in Sache. Sie sind die Dramaturgen der Aufführung eines Dings auf der Bühne des Rechts. Ihnen haben die vor Gericht Geladenen so zu folgen wie Schauspieler den Anweisungen eines Regisseurs. Sie sind diejenigen, nach denen sich die anderen zu richten haben, und sie richten das Ding in der Sprache ein. Was die dinghegenden Richter nicht machen, ist das, was man heute zuallererst mit dem Beruf eines Richters verbindet. Sie urteilen nicht. Diese Aufgabe oblag nach germanischem Recht den Urteilern.

Als das gelehrte Recht im 12. Jahrhundert vordringt, verschmelzen die beiden gerichtlichen Funktionen, Richten (Dinge einrichten) und Urteilen zu einer einzigen.[13] Mit Referenz auf das römische Recht und der Verwissenschaftlichung des Rechts in der frühen Neuzeit wird Richtern die Entscheidungsfindung auferlegt.[14] Dingheger werden eingespart. Sie werden verdrängt von Richter-Subjekten, die nunmehr beides machen: das Verfahren leiten und urteilen. Der Schwerpunkt des Rechtsprechens verlagert sich insgesamt auf den Akt des Urteilens. Die versammelnde und versöhnende Kraft des gerichtlich gehegten Dings gerät in den Hintergrund. Die Hauptbestimmung der Gerichte besteht, sobald Dingheger und Urteiler in Personalunion agieren, im Urteilen und Verurteilen, in der Feststellung von Schuld und dem Aussprechen von Strafe. Strafen wird ein öffentlicher Akt. Das Wort »Strafe« kommt im 12. Jahrhundert auf und überlagert das bisherige Denken in Kategorien des Schadens und der Buße.[15] Das Gericht geht von da in der Bestimmung auf, ein Urteil zu finden. Und aus dem Ding werden bloße Objekte, die in der cartesianischen Tradition Gegenstände in der Verfügungsgewalt von Subjekten sind.

In dieser Perspektive, vom Richter-Subjekt aus auf die im Gericht verhandelten Gegenstände, wird dem Vermögen des Dings, zu versammeln und sprechen zu machen, keine Aufmerksamkeit mehr gewidmet. Es kommt weder in den Abhandlungen über die Rechtsprechung noch in den Ausgestaltungen der gerichtlichen Verfahren vor. Die performativen Elemente der Rechtsprechung, die das Ding in die Sache überträgt, werden überlagert von einer Justiz, die mit pompösen Justizpalästen blendet, beeindruckt und einschüchtert. Die Bühne für das Ding, das versammelt, weil es entzweit, verblasst vor der wuchtigen Selbstinszenierung der Justiz, wie sie dann seit dem 19. Jahrhundert die Vorstellung vom Gericht prägt. Wenn man heute nach der Funktion der Gerichte fragt, dann steht diese Form des Gerichthaltens vor Augen, die vor über zweihundert Jahren entstanden ist. Aus der Stätte der Dinghegung wird in dieser Zeit eine Kulisse für die Rechtsprechung. Das wirft die Frage auf, wozu das Spektakel überhaupt gut sein soll. Das Gerichthalten steht von da an im Verdacht, bloßes Theater zu sein, ohne tragende Funktion für den Akt des Rechtsprechens. Die Inszenierung wird als ein Akt angesehen, welcher der ernsthaften Aufgabe der Rechtsfindung nachgeschaltet ist. Es wird eigens begründungsbedürftig, warum die Justiz so und nicht anders verfährt, wenn sie ein Urteil fällt.

Sobald dem Ding im Recht keine verfahrensleitende Funktion mehr zukommt, wird das Gericht auf die Urteilsfunktion reduziert. So sehr werden Gericht und Urteil Synonyme, dass eine Kritik am urteilenden Denken nach Descartes in die Forderung nach Abschaffung des Gerichts mündet.

Man muss lange suchen, um eine Bestimmung des Gerichts zu finden, die nicht in dieser Urteilsfunktion – ob nun in kritischer oder affirmativer Absicht – aufgeht. Eine Beschreibung der Rechtsprechung, welche der performativen, »dinghegenden« Seite des Gerichts Rechnung trägt, fehlt weitgehend. Freilich gibt es solche, die sich mit dem Theater des Gerichts als einem Phänomen beschäftigen. Doch ein integraler Akt wird in dieser Aufführungspraxis nicht gesehen. Das Gericht, das Gerichthalten ist schlicht eine Veranstaltung, welche das Urteil vorbereitet. Niklas Luhmann gehört zu den wenigen, die betonen, dass die Darstellung selbst unabdingbarer Teil des Rechtsprechens ist. Ihm zufolge besteht der Sinn der offiziellen Gerichtsverfahren »in der Darstellung eines Vorgangs der Entscheidungsfindung auf Grund von Normen«.[16] Die Darstellung dieses Vorgangs zeigt oder soll zeigen, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Gleichwohl wird ihnen keine das Verfahren bestimmende Macht zugebilligt. Worauf es ankommt, ist allein die Plausibilisierung einer Entscheidung. Was immer am Ende einer Verhandlung steht, die Anweisung zur Lieferung eines bestimmten Gegenstands, die Zahlung einer Geldsumme, eine behördliche Auflage oder die Freisprechung von einer Schuld, der Weg dahin soll für jeden nachvollziehbar sein. Die erhoffte Legitimation durch Verfahren schlägt allerdings leicht um in die Kritik am Zeremoniell. Gerichthalten muss sein, so die undiskutierte Grundannahme, ob es allerdings so aufwendig veranstaltet werden muss, wie es Übung ist, das steht zur Disposition. Muss es unbedingt ein Gerichtstheater sein, auf dem alle Betroffenen erscheinen? Wären nicht auch schlichtere Verfahren denkbar? Ließe sich das Gericht nicht auch im Schriftweg abhalten?

Zweifel am inszenatorischen Aufwand des Rechtsprechens kommen aus dem Innern der Justiz. Sie betrachtet ihr eigenes Tun unter dem Aspekt der Prozessökonomie. Wozu soll die Darbietung nütze sein, die oft genug ohne Publikum stattfindet, wenn es nicht gerade um aufsehenerregende Prozesse geht? Eine überlastete Justiz hat in den vergangenen Jahrzehnten ihr eigenes Zeremoniell immer wieder bestimmten Kürzungen unterzogen. Sie hat immer mehr Verfahrensgegenstände aus der öffentlichen Verhandlung herausgenommen.[17] Allein Verbrechen bleiben von solchen Rationalisierungen des Justiztheaters verschont. Sie sollen nicht in der gleichen Weise ökonomisiert werden wie Vergehen, die den größten Anteil der Arbeit der Strafjustiz ausmachen.[18] So erlaubt die deutsche Justiz den Verzicht auf eine Gerichtsverhandlung bei Taten mit geringer Schuld, sofern an der Strafverfolgung kein öffentliches Interesse besteht. In diesen Fällen können Verfahren mit oder ohne Auflagen und Weisungen eingestellt werden, besagen §§ 153 und 153a der Strafprozessordnung (StPO). Und auch dann, wenn eine Strafe zu erwarten ist, die nicht in einer Freiheitsstrafe besteht, kann das Gericht nach §  407 StPO auf das theatrale Drumherum verzichten und seine Entscheidungen per Post, durch schriftlichen Strafbefehl verschicken. Auch der »Deal«, der unter der amtlichen Bezeichnung der Absprache firmiert, gehört in die Reihe der Maßnahmen, die alles Umständliche aus einem Verfahren herauskürzen.

Auch eine sich selbst bis aufs Äußerste rationalisierende Justiz bleibt demnach dem Gerichthalten verpflichtet. Die Zusammenkunft um ein Ding, das entzweit, ist ein Faktum, von dem auch eine Justiz, die Richten mit Urteilen gleichsetzt, nicht abrückt. Die beiden Prozessmaximen Mündlichkeit und Öffentlichkeit schreiben diese Praxis lediglich als Prinzip fest. Warum es so ist, dass die Regel des Rechtsprechens die Versammlung ist, darüber wird man vom Recht selbst jedoch keinen Aufschluss erhalten. Sicher zollt das Gericht der Öffentlichkeit Tribut, um dem Vorwurf einer Arkanjustiz zu entgehen. Doch bewegt sich alles, was die Justiz, der das 19. Jahrhundert ihre bis heute bestehende Form gegeben hat, zum Gerichthalten als einer allgemeinen, öffentlichen Veranstaltung sagen kann, im Raster der Zweck-Mittel-Erwägungen, der sie selbst entstammt.[19] Die juristischen Begründungen für das Gerichthalten bleiben darum tautologisch. Sie verweisen auf die vom Recht selbst gesetzten Zwecke. So ist es unbestritten, dass ein Verfahren sein muss, weil es Justizgrundrechte gibt. Kein Urteil ist rechtmäßig, dem nicht ein Verfahren vorausgeht. Die Begründung, dass Gerichte dazu da seien, die Strafe zu vermitteln,[20] dringt nicht in die juristische Tiefenschicht des Dings vor. Heißt ›vermitteln‹, dass das Verfahren die Strafe plausibilisiert? Hält die Bestrafung des einen alle übrigen etwa davon ab, Straftaten zu begehen, wie es die Theorie von der positiven Generalprävention besagt?[21] Und müssten die Debatten um eine veränderte Zwecksetzung der Strafe[22] sich dann nicht auch in veränderten Verfahrensformen niederschlagen? Wie erklärt man im Übrigen für alle anderen als die strafrechtliche Gerichtsbarkeit, dass auch hier Gericht gehalten wird?

Man muss also wohl die Gegenprobe machen und fragen, was wäre, wenn eine Entscheidung kein solches Verfahren durchlaufen hätte, um ermessen zu können, was es heißt, dass das Gerichthalten ein unabdingbarer Bestandteil des Rechtsprechens ist. Was wäre ein Urteil ohne Gericht? Einer, der diese Frage beantwortet hat, weil ihm dies widerfahren ist, ist der Philosophieprofessor Louis Althusser, bekannt für seine Lire-le-Capital-Kurse in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhundert. Ein gerichtliches Verfahren wird ihm verweigert. Er hat seine Frau getötet. Daran besteht kein Zweifel. Das Verfahren wird wegen Zurechnungsunfähigkeit zur Tatzeit eingestellt. Was es bedeutet, dass kein Verfahren stattgefunden hat, reflektiert der Nicht-Angeklagte ausführlich in seinem Text Die Zukunft hat Zeit von 1985.[23] Der Vorspann dazu deduziert seine Schrift aus dem zweifelhaften Vorteil der Verfahrenseinstellung, non-lieu, wie es bei Althusser heißt: »… Wäre mir dieser Vorteil nicht zugute gekommen, hätte ich vor Gericht erscheinen müssen. Und wenn ich vor Gericht hätte erscheinen müssen, hätte ich auch erwidern müssen.«[24] Der Text geht demnach auf den Zwang zum Schreiben zurück, der entstanden ist, weil dem Täter das Privileg eines ordentlichen Gerichtsverfahrens vorenthalten wurde. Seinen Text sieht er als Platzhalter für das Nicht-Stattgehabte. Althusser schreibt, weil es kein Gericht gegeben hat, das ihm Gelegenheit geboten hätte, sich zur Tat zu äußern. Das literarische Substitut für diese Einlassung qualifiziert der Autor selbst als Antwort auf eine unterbliebene Anklage. »Dieses Buch ist eben die Erwiderung, zu der ich sonst gezwungen gewesen wäre.«[25]

Althusser ist allerdings zu sehr erfahrener Parteigenosse der Kommunistischen Partei und zu lang hyperreflektierender Analysand Jacques Lacans, als dass man ihm diese Qualifizierung seiner Schrift als Verteidigungsrede ohne jedes Kalkül abnehmen würde. Auch seine wiederholte Anspielung auf den von Michel Foucault herausgegebenen Bericht des Mörders Pierre Rivière kann man ihm nicht einfach abnehmen. Die von ihm gesuchte Nähe zu dem Familienmörder verschleiert, dass sein Text zehn Jahre nach der Tat abgefasst wurde, während die Tat Rivières nach Foucault begangen wurde, um aufgeschrieben zu werden.[26] Der Verdacht liegt nahe, dass Althusser diesen Text auch ohne non-lieu der Gerichtsverhandlung geschrieben hätte. Gleichwohl, eine Verhandlung hat nicht stattgefunden und nun schreibt der Nicht-Angeklagte eine »Erwiderung«, für die er das Medium Buch zum Gericht umbaut. Die Schrift formuliert die Causa, die zur Verhandlung ansteht. Sein Verfasser macht sich zum Angeklagten. Das Anklagen soll in der lateinischen Form, als Accusura, im Wort die Causa, la chose, das Ding, in sich tragen, die darauf drängt, verhandelt zu werden.[27]

Althusser erwidert nun allerdings nicht bloß mit zehnjähriger Verspätung auf eine nicht stattgehabte Anklage. Er inszeniert eine Gerichtsverhandlung vor dem Publikum der Leser seines Buchs. Bei allen autorschaftlichen Freiheiten, die er sich für seine Erwiderung nimmt, ist es doch juristisch präzise als gerichtliches Verfahren verfasst. »[…] ich bin mir bewußt, daß die Erwiderung, die ich hier versuche, weder den Regeln eines Auftritts in einem Verfahren, das nicht stattgefunden hat, noch der Form entspricht, die es befolgt hätte.«[28] Diese Distanzierung vom juristischen Format heißt indes nicht, dass die Schrift nicht das Substitut eines gerichtlichen Verfahrens ist. Der letzte Satz im Vorwort gibt darauf einen Hinweis: »Gleichwohl frage ich mich, ob das vergangene und für immer vergangene Versäumnis eines Auftritts vor Gericht, seiner Regeln und seiner Form, letztlich nicht noch deutlicher vor Augen führt, was ich der öffentlichen Beurteilung und ihrer Freiheit vorlegen möchte.«[29] Die Leser werden damit als Richter adressiert in einem Verfahren, das der Autor nach allen Regeln der Prozesskunst führt.

Der gesamte Text von über dreihundert Druckseiten lässt sich ohne Mühe als Gerichtsverhandlung entziffern. Er ist weit mehr als eine persönliche Erwiderung oder Verteidigung. Er ist die Inszenierung des fehlenden Prozesses im angestammten Medium des Schriftstellers. Althusser betätigt sich zunächst als Ermittlungsrichter. Er schildert, wie er unabhängige Experten zu seinem Fall befragt und um Stellungnahmen bittet. Er sammelt und sichtet Dokumente für diesen Prozess in eigener Sache.[30] Im ersten Kapitel seines schriftlich geführten Prozesses stellt er den Tathergang dar. Dieser Bericht der Tat hat, wenngleich er aus Täterperspektive geschrieben ist, dieselbe Funktion wie die Verlesung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft. Sie führt in das ein, was Sache werden soll. An das Kapitel zur Konturierung des Verhandlungsgegenstands schließt das dritte Kapitel an.[31] Es enthält die Angaben zur Person. Die nachfolgenden Kapitel nehmen die Funktion von sachverständigen Stellungnahmen in einem Verfahren ein. Sie enthalten die Wiedergabe medizinischer und pharmakologischer Gutachten, welche dann – wie in einem ordentlichen Gerichtsverfahren – interpretiert werden. Wie in keiner guten Strafverteidigung fehlt auch hier nicht der Rückbezug auf die schwere Kindheit. Die Tat wird aus einer in der Person angelegten Ambivalenz abgeleitet. Es folgen autobiographische Angaben, die sich wie die Einlassung eines Angeklagten lesen, mit denen er um Verständnis für seine Tat wirbt. Mit dem Übergang vom zwölften zum dreizehnten Kapitel wird dann ein neuer Verfahrensabschnitt eingeleitet. Das eine Kapitel endet mit der Anrufung des Namens der vom Autor getöteten Ehefrau, während das andere eine längere Kapitelgruppe einleitet, in welcher der Autor sich im Verhältnis zu seinem Werk, der Philosophie, der Partei und der Politik beschreibt. Scheint man im vorhergehenden Kapitel noch einen Angeklagten zu vernehmen, der die Tat in Worte fasst, ohne Reue, aber doch nicht ohne dramatisches Talent (»Hélène!«), so kommen nun die Spezialisten zu Wort, welche die Tat ins Verhältnis zum gesamten Umfeld des Täters setzen. In der Chronologie, welche auf der Oberfläche den Text strukturiert, folgen dann die letzten Jahre bis zur detailliert im Ablauf geschilderten Tat mit ab und an eingestreuten Gegenstimmen zur eigenen Deutung der Tat. Doch was heißt »eigen« bei einem Autor, der die Rollen sämtlicher Beteiligter am Gerichtsprozess beherrscht? Die ins Buch geholten Meinungen erwecken schließlich den Eindruck einer umsichtigen, unvoreingenommenen und neutralen Verhandlungsführung. Dieser Autor sucht nicht etwa, sich in gutem Licht darzustellen, er sucht, so suggeriert dieser Aufbau der Schrift, die Wahrheit, die höher ist als er selbst. Im letzten Kapitel wird der Brief eines Arztes wiedergegeben, der das »Drama« (so der wiederholte Ausdruck des Urhebers für seine Tat) in zahlreichen Facetten schildert. Dieser legt einen Freispruch nahe. In einem letzten Satz – und der Angeklagte hat immer das letzte Wort – fordert der Autor »diejenigen, die glauben, mehr darüber zu wissen und zu sagen zu haben« auf, »es zu sagen«. Doch kann dies mehr sein als Rhetorik, nach dieser so vorbildlich in alle Richtungen ermittelnden Verhandlung? Was gäbe es denn noch zu sagen, was nicht schon der Autor gesagt hat? Auf einen Freispruch und sonst auf nichts läuft dieses auf dem Papier inszenierte Verfahren hinaus. Der Text endet mit einer Paraphe, A. L. So unterschreiben Richter, nicht Autoren.

Althussers Schrift ist ein komplizierter, aber dennoch plastischer Beleg für die Notwendigkeit einer Gerichtsverhandlung. Kompliziert ist sie, weil die ausdrücklichen Erklärungen strategische Manöver in apolegetischer Absicht enthalten, die allerdings bloß in die Irre führen. Jenseits dieser Tendenzen wird deutlich, dass der Nicht-Angeklagte einem Diskursivierungszwang folgt. Es muss gesagt werden, was getan wurde. Erst die in Worte gefasste Tat entbindet von ihr. Damit holt die schriftliche Fassung nach, was man seinem Autor verweigert hat: einen Prozess. Er ist nicht etwa notwendig, weil er eine Entscheidung vorbereitet. Auch ohne jedes Urteil muss ein Verfahren sein. Es leistet die Konversion von Tat in Wort, ohne die ein Trauma fortwirkt.

Wem der Prozess verweigert wird, der ist auf ein anderes Medium als das Gericht verwiesen, um diese Versprachlichung zu vollziehen. Althussers Vorläufer ist in dieser Hinsicht weniger Pierre Rivière, der schließlich zur Niederschrift der Tat ausdrücklich angehalten wurde, als vielmehr Jean-Jacques Rousseau. Dessen »Bekenntnisse« sind ebenfalls Folge eines verweigerten Prozesses.[32] In den Confessions bekleidet der Autor stellvertretend alle Gerichtspositionen, um einen Prozess in eigener Sache und in Schriftform abzuhalten.[33] Der Titel verweist auf das Zentralstück eines Strafverfahrens, das Geständnis. Nach der Lehre zum Gratianischen Dekret darf eine confessio weder durch Boten noch in einem schriftlichen Bericht überliefert werden.[34]Inter praesentes soll ein Geständnis abgelegt werden. Allein in dieser Form kann es ein Zusammenspiel des Beichtenden mit der Instanz, die die Beichte abnimmt, geben und Reaktionen der Reue auf der einen und Gnade auf der anderen Seite auslösen. Rousseau rückt seine aufgeschriebenen Bekenntnisse möglichst nah an die mündliche Beichtsituation und liefert bestimmte Aktualitätszeichen des Geständnisses jeweils mit. So vermerkt er den höheren Pulsschlag und die Tränen beim Niederschreiben des Erinnerten. Darin wird ein Rousseau sichtbar, der nicht, wie der in Derridas Grammatologie gezeichnete, die Schrift schlechthin für nachrangig gegenüber der Stimme hält. Hier sind es die Erfordernisse des juristischen Genres der confessiones, die den Schreiber dazu bewegen, eine quasi-präsentische Schreibform zu wählen.

Rousseau und Althusser supplementieren den ihnen jeweils vorenthaltenen juristischen Prozess in Schriftform. Was sie sich damit erschreiben, ist ein Forum, auf dem die Tat in Worten fassbar wird. Um dieser Versprachlichung willen wird Gericht gehalten. Dieser Akt ist so elementar für die zukünftige Befriedung des Dings, dass die Tat auch dann ein Gericht hervorruft, wenn nicht einmal mehr eine Person in die Tat verwickelt ist. Auch dort, wo kein menschlicher Täter eine Tat begangen hat, soll das, was geschehen ist, aber nicht hätte geschehen sollen, zur Sprache gebracht werden. Tierprozesse[35] geben davon ein Zeugnis. Auch das griechische Stieropfer, die Buphonien, zeugen davon, dass eine Gerichtsverhandlung auf eine Tat folgen muss.[36] Der Prozess, der rituell nach Schlachtung und Verspeisung des Tiers einmal jährlich abgehalten wird, verhandelt die Tat, die in der Tötung des Stiers besteht. Sämtliche Beteiligten wälzen ihre Schuld ab: die Wasserträgerinnen auf die Messerschleifer und diese auf denjenigen, der das Messer in den Stier gestoßen hat, bis die Reihe an das Messer kommt, das stimmlos ist (aphonos) und dem deswegen keine Verteidigung mehr möglich ist. Das Messer wird schuldig gesprochen. Schuld ist das Ding. Es wird darum in das große Meer geworfen, was bedeutet, dass es aus der Polis ausgestoßen wird. Man hat diese jährlich sich wiederholende Zeremonie als »Unschuldskomödie«[37] bezeichnet und dabei vielleicht die befriedende Kraft dieser Verhandlung verkannt. Man kann in all den Verfahren, in den Dingen, die sich schließlich nicht selbst verteidigen können, ohne Zweifel ein einziges Ablenkungsmanöver von eigener, menschlicher Schuld sehen. Doch wird spätestens dann, wenn ganz ohne jedes mythische Zeremoniell und fernab mittelalterlicher Rechtsvorstellungen in der Gegenwart die Strafbarkeit von Automaten diskutiert wird, welche Schaden angerichtet haben,[38] deutlich, dass es noch etwas anderes sein muss als die individuelle Dimension des Zur-Rechenschaft-Ziehens, die das Verfahren leitet. Die ausdrücklichen Bestimmungen des Gerichthaltens erfassen jedenfalls nicht, warum sprachlosen Dingen der Prozess gemacht werden soll. Die Zwecksetzung der Generalprävention greift hier ebenso wenig, wie die Justizgrundrechte, die immerhin Menschenrechte sind, dafür ins Feld zu führen – es sei denn, man deklariert Menschen zu Dingen.[39] Die gesamte Geständnis- und Reue- wie auch die Urteilsdimension entfällt, wenn die Verurteilung auf ein Objekt trifft, das seinerseits nicht in der Lage ist, sich zu verteidigen, und aus einem Urteil für zukünftiges Verhalten auch keine Konsequenzen ziehen wird. Damit verlagert sich in diesem Extremfall die Funktion des Gerichts auf den Akt des Gerichthaltens selbst, um des Gerichthaltens willen. Es soll zur Sprache kommen, was geschehen ist und was jede Verbindung zur Ordnung schlechthin zerrissen hat.

Wohl niemand hat diesen Prozess der Versprachlichung – den Gerichtsprozess als Versprachlichungsprozess – deutlicher benannt als der Rechtshistoriker Pierre Legendre. Hätte er seiner Frage »warum Gesetze?«[40] die Frage hinzugestellt, »warum Gerichte?«, so müsste seine Antwort lauten: um des Theaters willen. Das Theater des Gerichts leistet die Wiederaufführung der Tat im symbolischen Raum. Die oft bemerkte Verwandtschaft zwischen Theater und Gericht kommt hier auf den Punkt. Niemand bestreitet, dass das Gerichthalten einem theatralen Schema folgt. Doch vermag weder die gemeinsame Genese in der Tragödie noch der Aufweis struktureller Parallelen zu erklären, warum die Gerichtsbühne derart unerlässlich ist, dass selbst eine auf Funktionalität bedachte Justiz darauf nicht etwa verzichtet. Alle Zwecksetzungen des Gerichts ließen sich schließlich auch anders verfolgen als durch theatrale Inszenierungen. Ginge es allein darum, den Tathergang herauszufinden, bräuchte man dieses Theater nicht. Ginge es nur darum, den Täter einer gerechten Strafe zuzuführen, wäre das theatrale Aufgebot entbehrlich. Auch zur Urteilsfindung trägt ein solches Schauspiel nichts bei. Das Urteil kann schließlich auch anders als in einem theatralen Rahmen gefunden werden. Auch therapeutische und erzieherische Zwecksetzungen einer Aufführungspraxis der Gerichte sind bloß nachträgliche Erklärungsversuche für diese unverbrüchliche Verbindung von Theater und Gericht.

Das Theater des Gerichts, so wie es in der Legendre’schen Theorie vorkommt, ist nicht mit dem Beiwerk eines auf Repräsentation bedachten Rechts zu verwechseln. Gemeint ist die unhintergehbar theatrale Dimension des Rechtsprechens. Gerichthalten heißt Theater veranstalten. »Réjouer les crimes« betitelt der Rechtshistoriker ein Kapitel in seiner Analyse des Prozesses um den Gefreiten Lortie.[41] Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass ein Verbrechen durch das Auseinanderklaffen von Wort und Tat gekennzeichnet ist. In seinem Bericht des Verbrechens, dass der Gefreite namens Lortie begangen hat, zeichnet er die schrittweise Herauslösung aus der symbolischen Ordnung bis zur Tat nach und zieht daraus den Schluss, dass dieser Riss durch eine Darstellung, die Wiederaufführung der Tat im symbolischen Raum des Gerichts, behoben werden könne. »Das Verbrechen muß […] als Übertretung dargestellt werden, damit ihm ein Platz in der Sprache gegeben werden kann.«[42] Was das Gericht also leistet, ist die Situierung der Tat und des Täters in der Ordnung der Sprache. Das Réjouer ist nicht etwa auf therapeutische Effekte aus. Im Nachspielen erhält die Tat eine Fassung in der Sprache, sie wird handhabbar, erträglich oder doch zumindest justitiabel, so wie der Täter darin als sprechendes Subjekt adressiert wird.[43]

Das Nachspielen eines Verbrechens in der Dramaturgie des Gerichts ist etwas anderes als das Nachstellen einer Tat am Tatort. Es hat auch nichts mit dem sogenannten Re-enactment gewisser TV-Dokumentationen historischer Ereignisse gemein. Weder das Wieder-Durchleben einer vergangenen Begebenheit noch das getreue Nachstellen einer vorwerfbaren Handlung hat etwas mit dem Theater gemein, das das Gericht veranstaltet. Réjouer les crimes ist keine Technik des Wiederholens, die dem originalen Geschehen möglichst ähnlich zu sein versucht, wie es beim Nachstellen am Tatort der Fall ist. Dort wird ein Geschehen vorausgesetzt, das rekonstruiert werden soll.[44] Insbesondere im Vorfeld der Hauptverhandlung, zur Ermittlung einer Tat, wird die kriminologische Technik des Nachstellens praktiziert, an Ort und Stelle. Für das Nachspielen auf einer anderen Bühne ist es indes konstitutiv, dass die Aufführung an einem anderen als dem Tatort stattfindet. Der Gerichtssaal ist unabdingbarer Bestandteil des Nachspielens, wenn es seine Funktion erfüllen und der Riss von Tat und Wort geglättet werden soll. Das Stück, das auf der Bühne des Gerichts gegeben wird, gehorcht daher nicht den Regeln der getreuen Abbildung. Es unterliegt – angefangen von den architektonisch vorgegebenen Blickachsen bis hin zur festgelegten Redeordnung vor Gericht – den Anforderungen der symbolischen Ordnung an Darstellbarkeit. Alles ist festgelegt bis auf die Aufführung selbst. Sie ist das Ereignis ohne Präzedenz und ohne Wiederholung (abgesehen davon, dass dieses Schauspiel mehrere Instanzen durchlaufen kann).

Replay und Réjouer unterscheiden sich genau in diesem Punkt der Singularität des Ereignisses. Was auf der Gerichtsbühne entsteht, ist etwas Neues, eine Erzählung über das, was sich zugetragen hat. Diese Übertragung eines Geschehens vom realen Ort, dem Tatort, auf die hochartifizielle Bühne des Gerichts macht aus der Tat ein Ereignis in der Sprache. Die Formel vom theatrum veritatis et justitiae des Barock-Juristen Jean-Baptiste de Luca, die das Werk Legendres durchzieht, bezeichnet diesen Sachverhalt der Transformation vom Realen in die symbolische Ordnung. Sie zeigt an, dass Wahrheit und Gerechtigkeit selbst die Ereignisse sind, die auf der Bühne des Gerichts statthaben. Das in der frühen Neuzeit beliebte Wort vom theatrum meint den Schauplatz, ganz so, wie Freud diesen Ausdruck verwendet, als Szene einer Umwandlung. Die Gerichtsbühne transformiert die unerhörte, unaussprechliche und darum bedrohliche Tat in eine erzählbare Handlung.

Die unhintergehbare theatrale Dimension der Justiz folgt nach Legendre aus der Tat selbst, die aus der symbolischen Ordnung herausfällt und deswegen nach Darstellung verlangt. Das Theater des Gerichts ist demnach alles andere als eine abwertende Phrase. Das Gerichtstheater ist nicht etwa bloß Theater. Es ist auch nicht einfach eine bequeme Metapher, um die visuelle Präsenz des Gerichthaltens zu erfassen. Das Nachspielen der Tat macht nach Legendre das Gerichthalten im Kern aus. Die Theatralisierung von Verbrechen erfordert die Bühne, die das Gericht ist. Was die Justiz ist und was sie macht, wird in dieser Sicht nicht vom letzten Akt aus bestimmt, von der Urteilsverkündung als Ermächtigungsgrundlage für den Vollzug der Strafe. Die Strafe wird von der Szene des Gerichts aus betrachtet sogar zu einem bloßen Annex der Verhandlung, der entfallen kann, ohne dass deswegen das Verfahren zwecklos würde. (Althusser fühlte sich um den Akt des Nachspielens betrogen. Ihm fehlte nicht etwa die Bestrafung.) Um Gegenstand einer Bezugnahme in der Sprache werden zu können, wird das Verbrechen auf dem forensischen Schauplatz verhandelt.

Nachgespielt werden indes nicht allein die großen Verbrechen.[45] Jede Handlung, die die symbolische Ordnung stört, zieht eine Verhandlung nach sich. Legendres ›Réjouer les crimes‹ lässt sich darum verallgemeinern. Nachgespielt werden muss, was aus der Ordnung der Sprache herausfällt. Das Ding, das entzweit, gehört in das Register des Realen. Jede Gerichtsverhandlung, nicht allein die strafrechtliche, leistet die Integration in die symbolische Ordnung. Für jeden noch so unspektakulären Rechtsstreit gilt, dass er das gerichtliche Nachspiel(en) der Dinge nach sich zieht. Réjouer les choses wäre der Imperativ allen Gerichthaltens. Im Nachspielen oder Verhandeln wird das Ding zur Sache.

Die These von der Theatralität des Gerichts ist der größten Herausforderung dort ausgesetzt, wo das Gerichtstheater auf einer Theaterbühne nachgespielt wird. Die Theatergruppe Rimini-Protokoll hat die Rede vom Gerichts-Theater beim Wort genommen und es im Theater inszeniert. Ihr Gerichtstheaterstück Zeugen![46] macht damit die Probe auf die Rede vom Theater des Gerichts, das in aller Regel auf seiner Differenz zum bloßen Theater besteht. So wird meist konzediert, dass das Gerichthalten theatrale Züge trage, gegen eine vollkommene Gleichsetzung beider Bühnen verwahrt man sich indes. Immerhin zeitige das Justizschauspiel Folgen, während das bloße Theater gänzlich folgenlos bleibe. Diesem folgenlosen Spiel gegenüber soll das Gericht mit dem ganzen Ernst seines Urteils zu Buche schlagen. Der griechische Ahnherr des Rechts Solon hat mit Blick auf das Recht davor gewarnt, das Theater als bloßes und das heißt folgenloses Spiel abzutun. Der greise Herrscher soll nach einer Theatervorstellung den Schauspieler und Dichter Thespis, der, wie im 6. Jahrhundert üblich, als einziger Darsteller seiner eigenen Dramen auf einem Wagen stehend[47] aufgetreten war, gefragt haben, ob er sich nicht schäme, so viel Lügen (pseudomenos) zu verbreiten. Und dieser soll sich damit verteidigt haben, dass die Worte bloß im Scherz (metà paidias) gesprochen worden seien. Solon soll daraufhin davor gewarnt haben, auf der Bühne nach Art der Kinder zu reden, die für ihre Worte nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Schon bald könnten derlei zurechnungsunfähige Reden das Rechtsleben (en tois symbolaiois) ergreifen. Solons antitheatrales Vermächtnis,[48] das aus dieser Begebenheit abgeleitet wird, ist eigentlich ein Vermächtnis für den Ernst des Theaters aus der Sorge um die Folgen für das Recht. Gleichwohl wird das Theater nach Art des Schauspielers Thespis auf der Seite des Scherzes verbucht. Wenn auch das Gericht ein Theater ist, dann ist es jedenfalls keine, das sich derart unverantwortliche Reden erlauben könnte.

Von dieser Differenz zwischen Theater und Gericht gehen etwa auch Kommunikationssoziologen aus, wenn sie dem Gerichtstheater einen Ernst bescheinigen, der dem bloßen Theater abgeht. »Obwohl das räumliche Arrangement, die sorgfältig kalkulierte Dramaturgie der Verhandlungsschritte und gelegentlich auch die bei Gericht verhandelten Geschichten bisweilen an Theateraufführungen erinnern […], erweisen sich Gerichtsverfahren im Großen und Ganzen als eine vergleichsweise ernste Angelegenheit.«[49] Das Gerichtstheaterstück der Gruppe Rimini-Protokoll macht sich nun nicht etwa einen Spaß daraus, den Ernst des Gerichts auf einer Unterhaltungsbühne vorzuführen, so wie man ein gut gehütetes Geheimnis lüftet, indem man es zur Schau stellt. Mit dem Kunstgriff, echte Justizpersonen ebenso wie professionelle Schauspieler auf der Zweitbühne des Theaters auftreten zu lassen, ohne ihre Herkunft jeweils zu kennzeichnen, irritiert es lediglich die Annahme, dass sich beide Bühnen fundamental unterscheiden und unterscheiden lassen. Beim Betrachten weiß man nicht, mit welcher Art von Schauspielern man es zu tun hat. Auf welcher Bühne sind sie Schauspieler, wenn sie an diesem Abend vor Gericht auftreten? Dieses unentscheidbare Oszillieren von justitiellem Nachspielen und nachspielendem Schauspielen zeigt jedem, der es sehen will, dass auch die vergleichsweise ernste Angelegenheit des Gerichthaltens Theater ist. Hinter dem Schauspiel der Justiz steht nicht etwa ein Nicht-Schauspiel, in dem die Organe der Justiz ernsthaft ihre ordentliche Arbeit verrichten. Alles an einer Gerichtsverhandlung ist Schauspiel. Die Personen, die zur Justiz gehören, sind Schauspieler ihres Amts und – das ist für die Legendre’sche These vom Nachspielen entscheidend – auch die vor Gericht zitierten Personen sind Schauspieler ihrer selbst.

Von der Unterscheidung in den Ernst des Gerichtstheaters und in das Amüsement des Unterhaltungstheaters bleibt wenig übrig, wenn man, wie die Gruppe Rimini-Protokoll, das Nachspielen nachspielt. Und dort, wo versucht wird, diese Unterscheidung theoretisch zu fundieren, entfällt vollends jedes Kriterium für die Abgrenzung des Unterhaltungstheaters von der Ernsthaftigkeit des Gerichtstheaters. Niklas Luhmanns Versuch, Unterhaltung und Nachrichten zu unterscheiden, liefert ungewollt eine Definition des Gerichts als Spiel, als Synonym für Unterhaltung. Ohne dass er diese Institution im Blick hatte, definiert er das Spiel in zeitlichen Parametern, ohne dabei auf die übliche Unterscheidung in Realität und Fiktion zurückzugreifen. »Auch ein Spiel ist eine Art von Realitätsverdoppelung, bei der die als Spiel begriffene Realität aus der normalen Realität ausgegliedert wird, ohne diese negieren zu müssen. […] Ebenso wie beim Spiel kann die Unterhaltung voraussetzen, daß der Zuschauer, anders als im eigenen Leben, Anfang und Ende beobachten kann, weil er schon vorher und noch nachher erlebt. Also gliedert er, gleichsam automatisch, die Zeit der Unterhaltung aus der ihn selbst angehenden Zeit aus.«[50] Ein Spiel soll es sein, wenn eine zeitlich abgegrenzte zweite Realität aufgeführt wird. So wird auch die Zeit im Gericht aus der kontinuierlich ablaufenden Normalzeit ausgegliedert. Bedingung der forensischen Performanz ist genau diese Schaffung einer zweiten Zeitebene. Das Gericht tagt in einer herausgehobenen Zeit. Paradoxerweise trifft damit die Definition für das Spiel gerade auf die Konstellation zu, die Luhmann aus dem Spiel ausnehmen wollte, wenn er das Spiel vom eigenen Leben abgrenzte. Das eigene Leben wird im Strafgericht verhandelt, und auch in Verhandlungsgegenständen geht es darum, etwas zur Sprache zu bringen, was die Prozessbeteiligten unmittelbar betrifft. Hier nun, unter den zeitlichen Parametern betrachtet, wird der Ernst des Gerichts zu einem Spiel, einer Veranstaltung mit definiertem Anfang und Ende. Die Zeit, die das Spiel aus dem normalen Lauf des Lebens heraushebt, ist die Zeit des Gerichts. In dieser Zeit des Gerichts ereignet sich die Transformation von Ding in Sache.

Indem das Gerichtsspiel die weiterlaufende Zeit ausschließt, gewährt es nicht bloß einen Moment der Zerstreuung, so wie Luhmann sie für die Unterhaltungsmedien im Blick hatte. Es unterbricht die schlichte Dauer und stellt damit in Aussicht, dass die Zeit nach Prozessende eine andere geworden sein wird. Im Nachspiel soll das, was zur Versammlung drängt, in eine andere Zeitdimension überführt werden. Es soll zu etwas werden, das stattgefunden hat. Indem der gerichtliche Schauplatz das Ding aufführt, soll es Vergangenheit werden. Noch vor jeder Einzelheit der Verhandlung besteht die zentrale Funktion der Verhandlung in dieser Transformation der schlichten Dauer in eine abgeschlossene Vergangenheit. Das bedrohlich Weiterwuchernde der Dinge, von dem Marcel Mauss eine Vorstellung gibt, wird darin gebannt. Das Nachspielen verspricht demnach die fundamentale Befriedung des Dings.

2.Gerichtstheater: »Der zerbrochne Krug« (Kleist)

Einheit von Raum, Zeit und Handlung – Die Inversionslogik des Zerbrochnen Krugs – Inversionsfigur 1: Der Gerichtsrat – Visitatio als Prozessbeobachtung – Das Gericht, die geschlossene Kammer – Inversionsfigur 2: Der schuldige Richter – Die Kammerspieldimension der Wahrheitsfindung – Die Wahrheitsermittlung – Goethes Misserfolg der Aufführung – Inversionsfigur 3: Die Klägerin – Da mihi factum … – »Zur Sache, Marthe Rull!« – Der Krug: Ding, Sache, Zeitmaß der Reden vor Gericht – Die Theatralisierungsmacht der Interdiktion – Variant des Zerbrochnen Krugs: eine ordentliche Gerichtsverhandlung – Die Inversion von Tragödie zu Komödie: König Ödipus von Sophokles – Dantes Divina Commedia: Menschenrichter und Richtermensch – Befangenheit in eigener Sache – Conrad Ferdinand Meyers Novelle »Die Richterin«: Die Geschlechterlösung des Menschengerichts-Dilemmas

Dem Theater ist es vorbehalten, auf seiner Bühne auszustellen, was es heißt, dass das Gericht ein Theater ist. Keinem Theaterstück ist dies so gelungen wie Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug. Die tragenden Bedingungen des Gerichtsspiels werden darin durchgespielt, so dass es gar nicht oft genug einer Analyse unterzogen werden kann. Für die Frage zur Theaterförmigkeit des Gerichts hat es paradigmatischen Status erlangt.

Die Szene ist eine »Gerichtsstube«. Das Gericht, das in Sachen Der zerbrochne Krug auf der Theaterbühne tagt, wechselt den Schauplatz während der gesamten Aufführung kein einziges Mal. Damit macht Kleists Theaterstück sich die strukturelle Gleichheit von einer Gerichtsverhandlung mit einem Bühnengeschehen zunutze. Beide Institutionen, Theater und Gericht, agieren schließlich in der klassischen Einheit der Handlung von Raum und Zeit. Und darum kann es für sich genommen kaum als besonders kunstvoll angesehen werden, eine Gerichtsverhandlung auf eine Theaterbühne zu übertragen. Die Kammerspieldimension ist im gerichtlichen Prozess bereits angelegt. Nichts liegt also näher, als das Geschehen von der einen auf die andere Bühne zu verlagern, ohne dass es dazu weiterer Kunstgriffe bedürfte. Das Justizverfahren weist eine dramaturgische Kunstfertigkeit auf, ganz ohne Zutun eines Theaterregisseurs. Doch was ist damit gewonnen, wenn man das Gerichtstheater schlicht auf die Theaterbühne holt, verdoppelt diese doch bloß, was schon im Original zu haben ist? Der Jurastudent und Dramenschriftsteller Kleist geht der Verwandtschaft von Gericht und Theater jedenfalls nicht auf den Leim, um daraus ein probates Gerichtstheaterstück zu fabrizieren. Wer keine Redundanzen erzeugen und stattdessen die Operationalität des Gerichtstheaters herausstellen will, muss Theater und Gericht zunächst voneinander entfremden. Die kunstlose Art wäre es, auf dem Theater eine andere Bühne zu installieren, die das Gerichtstheater exponiert, kommentiert und kritisiert. Kleist unterbricht die Gerichtstheatereinheit auf andere Weise. Sein dramaturgisches Mittel ist das der Inversion. Im Prozess selbst läuft ein zweiter Prozess ab, ohne Bühnenwechsel und unter konsequentem Verzicht auf jegliche gerichtsfremden Elemente.

Erste Figur der Inversion ist der Gerichtsrat. Mit ihm wird das Zuschauen selbst Teil des Bühnengeschehens. Gerichtsrat Walter betrachtet auf seiner Dienstreise, einer »Revisions-Bereisung«, die Szene des Dorfgerichts. Das rechtliche Institut der Visitation, das in der frühen Neuzeit einsetzt und das Regieren als eine Technik aus command und control, aus Befehl, Überwachung und Rückkopplung ausweist, wird hier zum Kunstgriff, um die Beobachterebene in das Gerichtsgeschehen einzuführen, die ansonsten, in den kunstlosen Prozessdramen, den Zuschauern allein zugedacht ist. Der Gerichtsrat soll sich von der Ordnungsmäßigkeit des gerichtlichen Geschäftsgangs auf unterer Ebene überzeugen. Seine Aufgabe, die Rechtsprechung einer Revision zu unterziehen, bringt die Außenperspektive der Zuschauer auf die Bühne. Nicht allein sehen die Zuschauer dem Revisor bei der Sichtung der gerichtlichen Amtsgeschäfte zu, die in einem niederländischen Dorf vonstattengehen.

Mit der Figur des visitierenden Gerichtsrats gelingt das Kunststück, eine Beobachterperspektive in den geschlossenen Gerichtssaal einzuführen, ohne seine Geschlossenheit dafür preiszugeben.

Diese Abgeschlossenheit ist die Grundbedingung allen Rechtsprechens. Sie garantiert jene Einheit von Raum, Zeit und Handlung, welche das Theater kennzeichnet. Der theatrale Raum des Gerichts ist diese geschlossene Kammer. Sie beschränkt die Verhandlung auf das Hier und Jetzt. Die justitielle Klausur wird bereits in den Gerichtsarchitekturen hergestellt. Man kann sich die Geschlossenheit eines Gerichtssaals, wie er zur Zeit Kleists üblich wurde, nicht extrem genug vorstellen. Oft ist er fensterlos, zumindest geben die Fenster den Blick nicht auf ein Außen frei. Alles, was im Gerichtssaal an ein Draußen erinnern könnte, ist daraus verbannt. So fehlen beispielsweise Uhren im Gerichtssaal. In einer geschlossenen Kammer, in der eigene Regeln gelten, herrscht eben auch eine eigene Zeit. Dieser Umstand ist allerdings so wenig bemerkt worden, dass nicht in Erfahrung zu bringen ist, seit wann dann doch Uhren in Gerichtssälen zu finden sind. Gewiss ist allein, dass sie dann zumeist so angebracht sind, dass sie allein im Blickfeld derjenigen hängen, die dafür sorgen sollen, dass das Verfahren nicht ausufert, Richter in erster Linie und auch Anwälte.

Die Abschottung gegen das Außen des Gerichts beginnt bereits beim Zugang dazu. Die Eintretenden sind einer Odyssee aus Gängen, Schranken, Kontrollen und Stockwerken ausgesetzt, welche eine Desorientierung hervorruft, die von der Welt draußen abschneidet. Wer auch noch seinen Personalausweis am Eingang abgeben und gegen einen Besucherausweis eintauschen muss, wie es zuweilen erforderlich ist, dem werden die zentralen Koordinaten der Normalwelt genommen, der er entstammt. Kurzum: im Gericht sind Außenbezüge gekappt. Ein Gericht in der Gestalt, die das 19. Jahrhundert ihm gegeben hat, ist nichts anderes als eine geschlossene Kammer. Es gilt das darin gesprochene Wort und sonst nichts. Die Wahrheit der Rechtsprechung ist eine, die zur Sprache kommt. Sie ist das Ergebnis einer internen Prozedur.

Der Gerichtsprozess, den Kleist auf der Theaterbühne inszeniert, hat es mit einem zerbrochnen Krug zu tun. Die Klägerin, die nicht weiß, wer ihn zerbrochen hat, strengt einen Gerichtsprozess an. In diesem sollen die Wahrheit über den zerbrochenen Krug, die Umstände seines Zerbrechens und der Verursacher dieses Bruchs zur Sprache kommen. Wie sich die Sache mit dem Krug zugetragen haben soll, wird gemäß dieser Geschlossenheitsbedingung auch auf der Kleist’schen Theaterbühne von den Befragten geschildert und nicht etwa in einer anderen Szene, außerhalb des Gerichtssaals, zur Darstellung gebracht. Der zerbrochne Krug kommt ohne Szenenwechsel aus. Darin gleicht das Theaterstück dem Gericht. Und doch ist das Stück nicht etwa eine simple Eins-zu-Eins-Übertragung des Gerichts auf die Theaterbühne. Dafür sorgt der visitierende Gerichtsrat, indem er die Außenperspektive in das Gerichtsinnere trägt. Dafür sorgt auch eine weitere Inversionsfigur in Person des Dorfrichters Adam. Er ist Richter und wird zusehends Tatverdächtiger. Könnte er es nicht gewesen sein, der den Krug zerbrochen hat, gelegentlich einer anderen, viel größeren Tat? Diese Verkehrung von einem auf die Wahrheit verpflichteten Richter zu einem wahrheitsscheuen Schuldigen stellt das Verfahren der gerichtlichen Wahrheitsfindung aus. Auch dieses unterliegt den Geschlossenheitsbedingungen. In der strikten Verpflichtung des Theaterstücks auf die Binnensicht des Gerichts wird das gerichtliche Vorgehen zur Wahrheitsfindung nicht etwa durch ein überlegenes Außen in Frage gestellt. Im Kleist’schen Stück herrscht eben die Logik der Inversion, und das heißt: von Innen das Innen des Gerichts aufzusprengen. Wie ließe sich das besser erreichen als durch einen Richter, der in eigner Sache zu Gericht sitzt? Ein Richter-Tatverdächtiger wird schließlich alles tun, um die geschlossene Kammer des Gerichts auch noch vor sich selbst verschlossen zu halten. Sein Agieren ist mithin dazu angetan vorzuführen, was es heißt, dass es das Gericht in der Hand hat, die Wahrheit herzustellen.

Der gerichtlichen Wahrheitsfindung ist ohnehin nicht beizukommen mit einer Kritik von außen. Die Wahrheit des Gerichts ist immun gegen jeden von außen herangetragenen Zweifel. Einer Relativierung durch andere Wahrheitsformen ist sie nicht zugänglich. Bis auf elementare naturwissenschaftliche Regeln lässt die gerichtliche Wahrheitsfindung sich nicht auf diese anderen Formen der Wahrheit ein. Damit geht die Justiz mit den Bedingungen ihrer Wahrheitsproduktion offener um als andere Wahrheitsdiskurse. Während diese sich zur Bewahrheitung auf eine höhere Autorität berufen (Natur, Physik, Gott), stellt das Gericht in aller Offenheit aus, dass die Wahrheitsfindung den von ihm selbst gesetzten Regeln folgt.[51]

Das Theaterstück vom Zerbrochnen Krug erschüttert diese autonome Fassung der Justizwahrheit. Es setzt dabei nicht etwa eine »wahrere« Wahrheit gegen die Justizirrtümer, die in der geschlossenen, sich selbst genügenden und seiner selbst gewissen Prozedur der Wahrheitsfindung nur allzu leicht denkbar sind. Kleists Gerichtstheater übt nicht einmal Kritik an der Begrenztheit richterlicher Rekonstruktionsarbeit. Statt von außen Zweifel an der Wahrheit zu säen, die das Gericht findet, implodiert die Wahrheit, um die im Zerbrochnen Krug gerungen wird, im Innern des Gerichts. Die Wahrheit bricht zusammen, so unmerklich, dass nicht mal einem Gerichtsrat gleich auffallen wird, dass hier etwas nicht stimmt. Auf den ersten Blick sieht alles allerdings so aus wie ein reguläres Verfahren. Auf der Oberfläche rollt die Befragung ordnungsgemäß ab und es scheint, als werde Stück für Stück freigelegt, wie die Sache mit dem zerbrochnen Krug sich zugetragen hat. Vor den Augen und für die Augen des visitierenden Gerichtsrats legt das Gerichtstheaterstück die Rekonstruktionsarbeit des Gerichts frei, ohne dass der Tathergang tatsächlich rekonstruiert werden würde. Die Sache, um die es im Prozess geht, wird im Verlauf sogar immer unklarer. Das korrekte Verfahren der Wahrheitsfindung ist nun einmal keine Garantie für die substantielle Wahrheit. Ganz ohne dass hier von außen ein Kriterium, etwa das der Gerechtigkeit, zum Maßstab gemacht werden würde, führt das Stück vom zerbrochnen Krug damit vor, auf welchem grundlosen Grund das Gericht agiert, wenn es die Wahrheit nach ausschließlich selbst gesetzten Regeln findet.

Der Prozess um den zerbrochnen Krug steckt voller Unstimmigkeiten.[52] Stutzig machen die Zeugenaussagen. So ist es stets »Glock eilf«, wenn die Zeugen etwas wahrnehmen. Um elf Uhr, gibt der Schwiegersohn der Klägerin, Ruprecht, an, entdeckte er seine verehrte Eve mit einem anderen Mann, um elf, sagt deren Mutter, die Klägerin Marthe Rull, bemerkte sie die Verwüstung im Zimmer, um elf, sagen die Mägde, sei der Dorfrichter Adam, der in diesem Fall zu Gericht sitzt, nach Haus gekommen.[53] Zugleich also müsste jemand ein Stelldichein gehabt, den Krug heruntergerissen und wieder zu Hause angekommen sein. Was stimmt? Was aus den verschiedenen Mündern auf der Bühne zur Sprache kommt, fügt sich nicht zu einer kohärenten Handlung.

Das Stück verweigert jede Auflösung dieser Unstimmigkeiten im Abschlussritual des Gerichts. Es belässt es dabei. Ein Richter, der die Wahrheitszweifel beseitigt, fällt hier schließlich aus. Dorfrichter Adam, auf den nach den Zeugenaussagen der Mägde der größte Verdacht fällt, den Krug umgestoßen zu haben, hat von allen Beteiligten am wenigsten ein Interesse an der restlosen Aufklärung des Geschehens, die schließlich nicht bloß darin besteht, ein kleines Missgeschick zuzugeben. Er unternimmt vielmehr alles, damit die Wahrheit nicht ans Licht kommt, wie es im Gerichtsschreiber namens Licht verbürgt ist. Dieser steht für eine andere Form der Wahrheit als die gerichtliche. Die Aufklärungswahrheit ist eine, die bereits vorliegt und lediglich ans Licht gehoben werden muss. Sie ist der Wahrheitsfindung des Gerichts gegenüber äußerlich. Sie gehört auf die Seite der Ermittlung, welche der gerichtlichen Verhandlung vorangeht und in Akten niedergelegt wird. Die ermittelte Wahrheit ist eine korrelative. Für die Richtigkeit dieser Wahrheit bürgt kein ordnungsgemäßes Verfahren der Wahrheitsfindung. Verifiziert wird sie dadurch, dass zwei Seiten einander entsprechen, die äußerlichen Gegebenheiten und die justizinternen Hypothesen. Die gerichtseigene Wahrheitsfindung folgt eigenen Regeln, ohne freilich die empirische Wahrheit außer Acht zu lassen. Wenn Dorfrichter Adam verhindert, dass die zum Gericht gehörende Wahrheit und damit die Wahrheit über seine eigenen Verfehlungen ausgesprochen wird, schaut man dem Gericht bei seiner Arbeit der Wahrheitsfindung zu. Man sieht, wie ein Gericht sich gegen jede Wahrheit abschottet, die es nicht selbst beherrscht. Ein schuldiger Richter stellt den Normalfall des Gerichthaltens aus. Die Wahrheit des Gerichts ist stets partiell – zerscherbt wie ein Krug, dessen Ganzheit sich nicht herstellen lässt, wohingegen die ermittelte Wahrheit zumindest einzelne Scherben ineinanderfügt.

Die Kammerspieldimension, auf die Kleist das Gericht strikt begrenzt, entging seinerzeit einem anderen Dramenschriftsteller mit ebenfalls juristischem Hintergrund. Als Johann Wolfgang von Goethe das Stück 1808