Meer Momente wie dieser - Svenja Lassen - E-Book
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Meer Momente wie dieser E-Book

Svenja Lassen

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Beschreibung

Manchmal braucht man eben Meer – und einen Sommer voller Meer-Momente!

Seit Jahren versteckt Sina sich erfolgreich vor dem Leben – bis ihre beste Freundin Amelie sie zu einem gemeinsamen Sommer auf Sylt überredet. Sina träumt von entspannten Stunden am Strand, während Amelie eine Liste anlegt, die für aufregende »Meer-Momente« sorgen soll. Als Amelie in letzter Minute abspringt, packt Sina trotzdem kurz entschlossen ihren Koffer und macht sich allein auf die Reise. Auf der Insel wartet in der gebuchten Unterkunft jedoch gleich die nächste Überraschung, und plötzlich ist der mitgereiste Hamster im Gepäck das kleinste ihrer Probleme. Um wieder auf positive Gedanken zu kommen, klammert Sina sich an der Liste mit »Meer-Momenten« fest, muss aber bald lernen, dass es manchmal besser sein kann, einfach loszulassen und seinem Herzen zu folgen. Dabei macht sie zwischen Dünen und rauschenden Wellen Bekanntschaft mit einem ganz besonderen Mann …

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Buch

Seit Jahren versteckt Sina sich erfolgreich vor dem Leben – bis ihre beste Freundin Amelie sie zu einem gemeinsamen Sommer auf Sylt überredet. Sina träumt von entspannten Stunden am Strand, während Amelie eine Liste anlegt, die für aufregende »Meer-Momente« sorgen soll. Als Amelie in letzter Minute abspringt, packt Sina trotzdem kurz entschlossen ihren Koffer und macht sich allein auf die Reise. Auf der Insel wartet in der gebuchten Unterkunft jedoch gleich die nächste Überraschung, und plötzlich ist der mitgereiste Hamster im Gepäck das kleinste ihrer Probleme. Um wieder auf positive Gedanken zu kommen, klammert Sina sich an der Liste mit »Meer-Momenten« fest, muss aber bald lernen, dass es manchmal besser sein kann, einfach loszulassen und seinem Herzen zu folgen. Dabei macht sie zwischen Dünen und rauschenden Wellen Bekanntschaft mit einem ganz besonderen Mann …

Autorin

Svenja Lassen lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn im hohen Norden Deutschlands, unweit der Nordsee. Am glücklichsten ist sie mit einer Brise Seeluft im Haar und Strandsand unter den Füßen. Ihre Leidenschaft für Bücher entdeckte sie bereits als Kind, seit 2016 kam aber auch die Liebe für das Schreiben eigener romantischer und humorvoller Geschichten hinzu. Mittlerweile hat die Autorin mehrere Romane sehr erfolgreich als Selfpublisherin veröffentlicht und zählt zu den Finalisten des Kindle Storyteller Award 2020. »Meer Momente wie dieser« ist ihr erster Roman bei Blanvalet.

Weitere Informationen unter: www.svenjalassen.de

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen. Copyright © 2021 by Svenja LassenCopyright © 2021 by Blanvalet,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.ISBN978-3-641-26132-0V008www.blanvalet.de

Kapitel 1

Sanft strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und meine Haut antwortete darauf mit einem Kribbeln. Gleich würde er mich küssen. Unsere Lippen waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Seine Augen strahlten blauer als der Himmel hinter ihm. Ich schloss die Lider, öffnete meinen Mund erwartungsvoll … Da klopfte es an der Tür. Widerwillig öffnete ich die Augen einen Spalt. Die Umrisse meines Gegenübers wurden unschärfer, je lauter die Geräusche ertönten.

»Geh nicht!«, wollte ich rufen, blieb aber stumm. Schon verwandelte sich das vermeintliche Klopfen in Gepolter, und ich erwachte gänzlich aus meinem Traum. Einem wunderschönen Traum, wohlbemerkt. Weswegen ich mich über den Lärm aus dem Flur nur noch mehr ärgerte. Ich hörte Amelie kichern und verdrehte die Augen. Meine Mitbewohnerin und ihr Freund Tommek hatten offenbar einen Drink zu viel getrunken. Mein Wecker auf dem Nachttisch zeigte 02:52 Uhr an – mitten in der Nacht. Ernsthaft? Dabei war es nicht einmal Wochenende, sondern Montag oder vielmehr Dienstagmorgen. Genervt starrte ich in die Dunkelheit. Einige Sekunden später fiel Amelies Zimmertür ins Schloss, und ich drehte mich auf die Seite. Vorsorglich drückte ich mir ein Kissen aufs Ohr, um etwaigen Geräuschen aus dem Nachbarzimmer zu entgehen.

Die Bilder meines Traumes schoben sich zurück in meine Gedanken, und der Nachhall stimmte mich wehmütig – zu real war das Kribbeln kurz vor dem Kuss gewesen. Dazu das verliebte Pärchen auf der anderen Seite der Wand … Auf einmal verspürte ich den sehnsüchtigen Wunsch, mich auch zu verlieben. Auf dieselbe intensive Art, wie ich damals für Michael empfunden hatte. Aber nach der schmerzlichen Erfahrung in der Oberstufe hatte es einfach nicht mehr aufkommen wollen, dieses Herzklopfen mit Tausenden von Schmetterlingen im Bauch. Zwar hatte ich seit damals die ein oder andere Beziehung gehabt, aber die hatten nur wenige Schmetterlinge dazu gebracht, aufzusteigen und nur träge mit den Flügeln zu flattern. Letztlich waren alle am Vergleich mit Michael Eberdinger gescheitert. Dieses Gefühl, dass das Herz übersprudelt vor lauter Glück, hatte nach ihm niemand mehr in mir ausgelöst. Und ich fragte mich manchmal, was mit mir nicht stimmte. Schließlich lag der gemeinsame Sommer mit Michael fast zehn Jahre zurück. Frustriert presste ich das Kissen fester aufs Ohr. Die Beziehung meiner Mitbewohnerin litt jedenfalls nicht unter mangelnder Leidenschaft, auch wenn bisher lediglich Amelies Gekicher und ein Gegenpart im Bariton dumpf durch die Wand zu mir herüberdrang. Aber bevor ich eine derart chaotische Beziehung führte wie die zwei im Nachbarzimmer, zog ich es doch lieber vor, allein zu bleiben.

Ich schloss die Augen und hoffte, gleich dem blauäugigen, blonden Typen wieder zu begegnen. Eigentlich stand ich auf dunkelhaarige Männer. Michael hatte dunkles Haar, war mein letzter Gedanke, ehe ich einschlief.

Als mein Wecker mich am nächsten Morgen unbarmherzig daran erinnerte, dass es Zeit war aufzustehen, konnte ich mich nicht mehr erinnern, was ich in der zweiten Hälfte der Nacht geträumt hatte. Gähnend schlug ich die Bettdecke zurück.

Die Sonne schickte bereits ihre Strahlen durch den schmalen Spalt meiner Gardinen. Als ich sie zur Seite schob, begrüßte mich ein wolkenloser Himmel. Es war Ende Juni, und ich liebte diesen Übergang vom Frühsommer in den Hochsommer, wenn die Temperaturen bereits angenehm waren, aber der größte Teil der warmen Jahreszeit noch vor einem lag.

In meinen Schlafsachen, bestehend aus kurzen Shorts und einem Top mit Spaghettiträgern, tapste ich in unsere Küche. Morgens brauchte ich als Allererstes eine Dosis Koffein, damit sich die Synapsen in meinem Hirn vollständig miteinander verbanden.

Die Kaffeemaschine befüllte ich meistens schon am Abend zuvor, damit ich sie morgens nur noch anschalten musste. Ich drückte auf den Knopf und nutzte die Zeit, bis der Kaffee durchgelaufen war, um Willi Wonka, unserem WG-Hamster, ein paar Leckereien zuzustecken.

Neugierig stellte er sich mit seinen Pfötchen ans Gitter und stopfte sich alles in die Backentaschen, was ich ihm reichte. Willi war an den meisten Tagen noch wach, wenn ich aufstand, und ich genoss es, den emsigen hellbraunen Fellball zu beobachten. Vor einem Jahr war Amelie auf die Idee gekommen, dass wir uns ein WG-Tier anschaffen sollten. Nur mühsam war es mir gelungen, ihr einen Hund oder eine Katze auszureden. In der Zoohandlung hatten wir unsere Herzen dann an dieses kleine Etwas verloren, obwohl mir eigentlich eher ein Goldfisch oder ein paar Guppys vorgeschwebt hatten. Mit vollen Backentaschen machte Willi es sich nun in seiner Höhle gemütlich. Den Rest des Tages würde er verschlafen, ähnlich wie Amelie. Die zwei haben es gut, dachte ich gähnend und drehte mich zum Kühlschrank, um die Milch herauszuholen.

Ich schmunzelte, als mein Blick beim Öffnen der Tür auf den Magneten fiel, den Amelie mir geschenkt hatte. »First Coffee – then the World« stand dort in hübschen Lettern. Für den Part, die Welt zu erobern, war definitiv Amelie zuständig, was wohl auch dazu beitrug, dass sie ihre Regelstudienzeit bereits um drei Semester überschritten hatte. Manchmal wünschte ich mir, ich hätte mich nach dem Abitur ebenfalls für ein Studium entschieden. Aber für diese Welt voller partywütiger Studenten hatte ich mich nach dem Schulabschluss nicht bereit gefühlt. Nach dem Tod meines Vaters hatte ich mich jahrelang zurückgezogen, war nicht mit meinen Klassenkameraden auf die ersten Partys gegangen und hatte keine ersten Küsse erlebt. Und als ich in der Oberstufe endlich bereit war, mein Schneckenhaus einzumotten, und annahm, nun würde die gute Zeit beginnen, brach Michael mir das Herz. Danach hatte ich die Mauern um mich herum ganz schnell wieder hochgezogen. Die Ausbildungsstelle im Büro, die ich nach dem Abi antrat, hatte mir ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Keine wilden Erstsemester-Partys oder durchfeierte Nächte im Wohnheim. Niemand, der mich für langweilig hielt.

Das schwarze Gold verströmte seinen wohltuenden Duft, als es in die Kanne floss, und vertrieb die Gedanken an jene trübe Zeit. Das war alles lange her. Ich nahm eine Tasse aus dem Regal und schenkte mir ein. Danach setzte ich mich an den Tisch. Unsere Küche war nicht groß, aber für Amelie und mich reichte es. Wenn Tommek zu Besuch war, stellten wir einen Klappstuhl dazu. Während ich in meinen Becher blies, betrat jemand die Küche. Da Amelie selten vor zehn Uhr aufstand, vermutete ich, dass es Tommek war, und murmelte, ohne aufzuschauen: »Kaffee ist in der Maschine.« Anschließend nahm ich einen großen Schluck. Hm, das tat gut.

»Oh – vielen Dank«, antwortete eine dunkle Stimme, die nicht zu Tommek gehörte.

Noch mit der Tasse an den Lippen hob ich verwundert den Blick und prustete sogleich den ganzen Schluck quer über den Tisch. Ein Mann stand vor mir – breit grinsend und … nackt! Und es war tatsächlich nicht Tommek. Hastig schirmte ich meine Augen mit einer Hand ab.

»Hier«, sagte der Typ amüsiert. Zögerlich löste ich meinen Blick von der Tischplatte und heftete ihn in sein Gesicht, um ja nicht wieder zu seinem Intimbereich abzurutschen. Er hielt mir den Lappen aus der Spüle entgegen, und ganz automatisch senkte sich mein Blick erst zum Lappen in seiner Hand und dann zu … O Mann, das war zu viel für diese Uhrzeit! Mit glühenden Wangen riss ich ihm das Tuch aus der Hand und presste ein »Danke« hervor, während ich den Tisch sauber wischte. »Und – äh, würde es dir was ausmachen, dich anzuziehen? Ist schließlich unhygienisch in der Küche.« Unbestimmt wedelte ich mit dem Spültuch in Richtung seines Unterleibs.

»Unhygienisch?«, wiederholte er lachend. »Das hat noch keine Frau zu mir gesagt.«

»Ist es aber«, entgegnete ich entschieden, obwohl mir klar war, dass das irgendwie dämlich klang, aber wie gesagt, vor dem ersten Kaffee, von dem ich ja eben einen beachtlichen Teil auf dem Tisch verteilt hatte, war mein Gehirn noch nicht auf Zack. Und ein fremder Kerl ohne Klamotten war zudem nicht unbedingt förderlich für die Formulierung sinnhafter Sätze.

»Na gut«, sagte ebendieser nackte Mann, der offenbar keinerlei Schamgefühl besaß. Er stellte seine Kaffeetasse an das gegenüberliegende Tischende und verließ den Raum.

Mit offenem Mund starrte ich ihm hinterher. Von seinem braunen Haar glitt mein Blick über den muskulösen Rücken bis zu seinem wohlgeformten Po. Dabei tauchte unwillkürlich der blauäugige Typ aus meinem Traum wieder in meinem Kopf auf. Sina, schalt ich mich. Reiß dich zusammen!

Mit dem restlichen Kaffee flüchtete ich in mein Zimmer, bevor Amelies Eroberung zurückkam. Nun spielte es keine Rolle mehr, ob er etwas anhatte – bei seinem Anblick würde ich ständig seinen nackten Körper vor mir sehen. Stöhnend versuchte ich, das Bild aus meinem Kopf zu vertreiben.

Was war da nur schon wieder los? Ich hatte angenommen, mit Amelie und Tommek war momentan alles in Ordnung? Die beiden liebten und stritten sich gleichermaßen heftig, weswegen es des Öfteren zu kurzzeitigen Trennungen kam. Aber so schlecht sie miteinander konnten, so wenig hielten sie es ohneeinander aus. Und in der Regel tröstete sich Amelie auch nicht einfach mit einem anderen Typen.

Als ich ins Bad ging, nahm ich vorsorglich alle Klamotten mit und achtete darauf, die Tür sorgsam zu verriegeln. Nicht, dass Mister Naked noch in den Genuss meiner entblößten Kehrseite kam.

Eine knappe Stunde später betrat ich die Verwaltung des Getränkegroßhandels, in dem ich seit drei Jahren als Assistentin der Geschäftsführung angestellt war.

Wie üblich war ich die Erste und genoss die Minuten der Stille, in der das Büro noch im Halbschlaf lag. Während der Computer hochfuhr, schrieb ich Amelie eine Nachricht.

Was war das für ein Typ, der heute Morgen NACKT in unserer Küche stand? Was ist mit Tommek???

»Guten Morgen«, flötete Dagmar, als sie um kurz nach halb neun das Büro betrat. Nach mir begrüßte sie ihre Grünpflanzen, die sie wie Kinder hegte, und die für einen Hauch von Urwald in unserem Büro sorgten. Erst um kurz nach neun, als ich bereits fünf Angebote versendet hatte, setzte sie sich mir gegenüber und fuhr ihren PC hoch.

Den restlichen Vormittag schrieb ich Rechnungen, und Dagmar buchte Belege auf die entsprechenden Konten. Da der Getränkehandel Hoyer eine kleine Firma war, hörte sich meine Jobbeschreibung aufregender an, als sie war. Im Grunde war es meine Aufgabe, Herrn Hoyer zu entlasten. Bevor ich hier angefangen hatte, hatte er alle Angebote und Rechnungen selbst geschrieben. Manchmal fragte ich mich, was er mittlerweile den ganzen Tag in seinem Büro machte, außer ab und an Mitarbeitergespräche zu führen oder neue Lieferantenbedingungen auszuhandeln.

In der Mittagspause hörte ich mir wie üblich Dagmars Diätfrust an, während sie einen Schoko-Sahne-Joghurt leer löffelte. Dagmar war Mitte fünfzig und ein wenig fülliger, was ihr mal mehr, mal weniger zu schaffen machte. Seit über fünfzehn Jahren arbeitete sie für den Getränkegroßhandel und Herrn Hoyer und kümmerte sich in erster Linie um die Buchhaltung. Keine Ahnung, wie es früher war, aber seit ich hier angefangen hatte, focht sie einen Kampf mit ihrem Gewicht aus, schlingerte von einer Diät zur nächsten und ebenso von einem Jo-Jo-Effekt zum nächsten. Anfänglich hatte ich noch mit ihr diskutiert, wie schädlich Diäten für den Stoffwechsel wären, aber ich bezweifelte, dass sie mir jemals zugehört hatte. Zudem fand ich, sie hatte eine schöne, frauliche Figur, weshalb ich nie verstand, warum sie sich ständig in einem Ringkampf mit ihrem Gewicht befand. Wenn meine Mutter mir auch nicht viele alltagstaugliche Weisheiten für das Leben mitgegeben hatte, dann doch eine gesunde Einstellung zum Essen und zu meinem Körper.

Dennoch hatte ich über die letzten Jahre mit Dagmar gelitten und war unfreiwillig zu einer Diät-Expertin mutiert. Ich hatte dem Wiegen bei den WeightWatchers entgegengefiebert, den Geruch von Kohlsuppe ertragen und Kohlenhydrate als Werk des Teufels verschrien, dabei wusste ich nicht einmal wirklich, was Kohlenhydrate waren. Seit dem letzten Jahr war die Stoffwechselkur angesagt. Während Dagmar versucht hatte, sich an einem grausamen Essensplan zu halten, hatte ich meiner Mutter erneut im Stillen gedankt. Ich aß gern, und mein Po und mein Busen waren etwas üppiger als bei den Frauen, die mir von Zeitschriftencovern und aus Werbefilmen entgegenlächelten, aber im Großen und Ganzen mochte ich meinen Körper und hielt mein Gewicht recht konstant. Es gab nur eine Phase in meinem Leben, in der ich mir mit Frustessen ein paar zusätzliche Kilos angefuttert hatte, bis meine Hosen kniffen: in der zwölften Klasse, nachdem Michael Eberdinger mich abserviert hatte.

Um kurz nach siebzehn Uhr schloss ich die Programme auf meinem Computer und war froh, den Arbeitstag hinter mir zu haben. So stolz ich anfänglich auf meine neue Anstellung als Assistentin der Geschäftsführung gewesen war, verspürte ich in letzter Zeit hin und wieder Erleichterung, wenn der Tag im Büro vorbei war. Ich griff nach meinem Handy, um es in meiner Handtasche zu verstauen. Auf dem Display wurde eine Nachricht von Amelie angezeigt.

Bring Wein und was zu essen mit – heute ist Mädelsabend!

Kapitel 2

Nach einem Zwischenstopp im Supermarkt steckte ich den Schlüssel in das Schloss unserer Wohnungstür, aber ehe ich ihn umdrehen konnte, riss Amelie sie von innen auf.

»Da bist du ja endlich!« Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Knoten auf dem Kopf gebunden, aus dem sich bereits einige Strähnen gelöst hatten. Die Leggings samt des XXL-Shirts, das sie trug, ließen mich vermuten, dass sie unsere Wohnung heute noch nicht verlassen hatte.

»Ich verhungere«, verkündete sie, während sie mir die Tüte aus der Hand nahm. Ich verkniff mir, sie darauf hinzuweisen, dass ich den ganzen Tag bei der Arbeit gewesen war und sie auch selbst hätte einkaufen gehen können. Amelie war eben Amelie: chaotisch, flatterhaft, aber auch lebenslustig und voller positiver Energie. Manchmal beneidete ich sie um ihren Hunger auf das Leben. Aber sie würde ebenso wenig zu einem verantwortungsvollen Menschen werden, wie Dagmar aufhören würde, Schokopuddings zu essen.

Als ich mir das Zimmer in der Wohnung vor vier Jahren angesehen hatte, waren wir uns sofort sympathisch gewesen, trotz unserer sehr unterschiedlichen Charaktere. Zu der Zeit hatte ich meine Ausbildung bereits ein Jahr lang abgeschlossen, arbeitete aber noch in meinem Ausbildungsbetrieb – einem Baustoffhandel, der mich in eine feste Anstellung übernommen hatte. Nach einem Jahr mit vollem Gehalt hatte ich genügend Geld angespart, um mein eigenes Leben zu beginnen. Ohne meine Mutter. Außerdem hatte sie mir gar keine Wahl gelassen, weil sie beschloss, nach Ibiza auszuwandern und unsere Wohnung an ein Ehepaar aus ihrem Meditationskurs unterzuvermieten. Da ich mir meine Mitbewohner lieber selbst aussuchen wollte und befürchtete, dass die zwei noch größere Esoterik-Freaks waren als meine Mutter, hatte ich mich auf die Suche nach einer kleinen Wohnung oder einem WG-Zimmer gemacht und war letztlich bei Amelie gelandet.

Zwei Jahre nach meinem Auszug war meine Mutter aus Spanien zurückgekehrt, zusammen mit ihrem fünfzehn Jahre jüngeren Liebhaber Toni. Da war ich erst recht erleichtert, meine eigenen vier Wände zu haben.

In unserem kleinen Flur streifte ich mir meine Schuhe von den Füßen und folgte Amelie in die Küche, wo ich mich auf einen der Stühle setzte, während Amelie anfing, die Zwiebeln kleinzuschneiden. So lief das bei uns: Ich ging arbeiten, einkaufen und backte hin und wieder eine Torte, sie kochte für uns und sorgte dafür, dass ich auch mal rauskam. Wenn sie zwischen schlafen, Partys und ihren Reisen noch Zeit hatte, besuchte sie Vorlesungen an der Uni in Hannover. Was aber eher selten vorkam. Sie war das Nesthäkchen einer Ärztefamilie, und der verstorbene Großvater sorgte auch nach seinem Ableben mit einer monatlichen Überweisung dafür, dass sich Amelies Kasse nie leerte. Tauschen wollte ich trotzdem nicht mit ihr, ihre Eltern schienen so sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt zu sein, dass sie im letzten Jahr sogar Amelies Geburtstag vergessen und sich erst einen Tag später gemeldet hatten. Und auch wenn Amelie sich bemühte, sich darüber gleichgültig zu zeigen, gelang ihr das nicht immer.

»Und was war das jetzt für ein Typ heute Morgen?«, hakte ich nach, weil ich darauf noch keine Antwort von ihr erhalten hatte.

Sie zuckte mit den Schultern, während sie Tomatenmark mit allerlei Gewürzen verrührte und eine Auflaufform bereitstellte.

»Tommek und ich haben uns getrennt.«

»Das wievielte Mal in diesem Jahr ist es?«, neckte ich sie. »Das dritte oder vierte?«

Sie drehte sich um und hob drohend das lange Messer, ihre Mundwinkel zuckten dabei nach oben, um in der nächsten Sekunde wieder nach unten zu sinken.

»Dieses Mal ist es endgültig.«

Auch diesen Satz hörte ich nicht zum ersten Mal, aber sie schaute derart niedergeschlagen drein, dass auch mein Lächeln sich auflöste. Der Typ heute Morgen hatte mich schon das Schlimmste vermuten lassen.

»Ich glaube, es ist an der Zeit, nach vorn zu blicken«, sagte sie in einem Ton, als müsse sie sich selbst davon überzeugen. »Das mit uns hat keine Zukunft. Immer dieses Gestreite.« Eine Träne kullerte über ihre Wange, die sie schnell mit dem Handrücken fortwischte.

»Die Zwiebeln«, erklärte sie, und widmete sich weiter der Zubereitung des Auflaufs.

»Hm«, machte ich nachdenklich. Wenn die beiden eine ihrer guten Phasen hatten, war es schwer vorstellbar, dass sie nicht füreinander bestimmt waren. Da war immer so ein Knistern zwischen ihnen, das einem fast greifbar erschien.

»Worum ging es denn dieses Mal?«

Sie stieß einen verächtlichen Laut aus. »Er hat sich mit dieser Sarah getroffen und behauptet, nur um für die Uni zu lernen. Aber warum hat er es mir dann verschwiegen? Dann treffen wir die blöde Kuh in der Mensa, und sie säuselt: ›Tommi, das Lernen hat mir so viel gebracht, ich habe Statistik endlich verstanden. Du kannst es besser als jeder Prof erklären.‹ Dabei hat sie ihm über den Arm gestrichen und mit ihren falschen Wimpern geklimpert. Und was macht Tommek? Grinst dümmlich und lässt es sich gefallen, während ich daneben stehe und nicht wegschauen kann, wie bei einem Verkehrsunfall.«

Mit zu viel Druck würfelte Amelie die Champignons auf dem gläsernen Schneidebrett. Die Klinge des Messers verursachte ein knirschendes Geräusch auf dem Glas, und ich rieb über die Gänsehaut auf meinem Arm, die sich daraufhin gebildet hatte.

»Danach folgte ein Wort dem anderen, und es ist irgendwie … eskaliert.«

Amelie reagierte gern mal impulsiv, dennoch verwunderte mich ihre heftige Reaktion darauf.

»Hast du ihn denn gefragt, warum er es dir nicht erzählt hat?«

»Tsss, was sollte er da schon sagen? Es geht hier auch ums Prinzip, verstehst du?«

So ganz verstand ich es nicht.

»Dann hast du auch aus Prinzip gleich einen anderen Kerl abgeschleppt?«, fragte ich zweifelnd.

Sie zuckte mit ihren zarten Schultern und schniefte auf.

»Tommek soll bloß nicht denken, dass er mir noch wichtig ist! Aber keine Sorge, mit dem Typen gestern lief überhaupt nichts. Der war zu betrunken und ist in dem Moment eingeschlafen, als sein Kopf das Kissen berührt hat.«

»Nachdem er sich nackt ausgezogen hat?«

»Ja.« Sie schaute mich lächelnd über die Schulter hinweg an, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht.

Meine Mitbewohnerin derart niedergeschlagen zu sehen, versetzte mir einen Stich, und ich verkniff mir weiteres Nachstochern.

»Was hältst du davon, wenn wir am Wochenende etwas gemeinsam unternehmen? Wir könnten in die Stadt fahren und ausgiebig shoppen«, versuchte ich stattdessen, sie aufzumuntern. Obwohl ich mich nach einem Shoppingtag mit Amelie stets fühlte, als hätte ich den Iron Man auf Hawaii absolviert. »Oder ich backe mal wieder die Apfelsinentorte nach dem Rezept meiner Mutter«, machte ich noch einen anderen Vorschlag. Das Kochen überließ ich zwar nur allzu gern Amelie, aber backen hatte mir schon immer Spaß gebracht, was wohl daran lag, dass dies eine der wenigen Mutter-Kind-Traditionen war, die meine Mutter gepflegt hatte. Amelie liebte meine Torten, und bei Herzschmerz war eine Extraportion Süßes einfach nötig. Womöglich würden sich die Wogen zwischen den beiden nach ein paar Tagen Abstand ganz von allein glätten.

Amelie stülpte den Deckel auf die Auflaufform und wirbelte regelrecht zu mir herum. »Ich habe mir etwas viel Besseres überlegt.« Verschwunden war jegliche Traurigkeit aus ihrem Gesicht.

»Oookay«, entgegnete ich gedehnt. Amelies Vorhaben fanden für gewöhnlich weit außerhalb meiner Komfortzone statt, die zugegebenermaßen nicht sehr weitläufig war, aber das war ein anderes Thema. Ihre Worte lösten sofort leichtes Unwohlsein in mir aus.

»Brauche ich Wein für deinen Vorschlag?«

»Ach du …« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, ehe sie den Auflauf in den Ofen schob. Dann schnappte sie sich die Weinflasche mit zwei Gläsern und nahm mir gegenüber Platz. Verschwörerisch beugte sie sich über den Tisch zu mir herüber. »Ich schätze, du brauchst dafür eine Menge Wein.«

»Das geht nicht«, sagte ich zehn Minuten später. Damit ich mir genügend Argumente gegen dieses Vorhaben zurechtlegen konnte, nahm ich erstmal einige Schlucke Wein, um Zeit zu schinden. Amelie musterte mich dabei amüsiert. Sie kannte mich einfach zu gut.

»Dann leg mal los mit deiner Argumentation gegen einen Sommer auf Sylt.«

Ich verdrehte die Augen und stellte mein Glas ab, das sie mir sofort wieder auffüllte.

»Falls es dir in den letzten Jahren nicht aufgefallen sein sollte: Ich arbeite. Und diesen Samstag schon losfahren? Das ist viel zu kurzfristig!«

»Ja, ist mir aufgefallen – du opferst dich auf. Seit wir uns kennen, hast du im Sommer niemals länger Urlaub gehabt als eine Woche. Und seit du für den Getränkehandel arbeitest, gar nicht mehr. Damit diese Dagmar ihren wuchtigen Hintern nach Gran Canaria schaffen und dein Chef mit seiner gekauften Thai-Frau ihre Familie besuchen kann. Außerdem hast du ab nächsten Montag zwei Wochen Urlaub eingetragen, und ich finde, es ist an der Zeit, den auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen.«

»Die ist nicht gekauft – sie haben sich im Urlaub kennengelernt. Und mein Chef kann ja nichts dafür, wenn da ständig irgendein Familienfest stattfindet oder ein neuer König gekrönt wird«, verteidigte ich Herrn Hoyer automatisch. Woraufhin Amelie wie üblich vielsagend eine Augenbraue hob.

»Moment mal – woher weißt du überhaupt, dass ich ab Montag Urlaub habe? Hast du in meinen Kalender geguckt?« Etwas erschrocken stellte ich fest, dass mir selbst entfallen war, dass mein Sommerurlaub kurz bevorstand. Ehrlich gesagt, hatte ich diesen Urlaub Anfang des Jahres lediglich angemeldet, weil alle Angestellten mindestens zwei Wochen fest verplanen mussten. Deswegen trug ich ihn jedes Jahr irgendwo ein. Meistens änderte sich da eh noch einiges, und ich verschob ihn auf die weniger beliebten Monate. Anfänglich hatte ich mich als die Neue in der Firma dazu verpflichtet gefühlt, und ohne Familie und Kinder war ich zudem flexibler als meine Kollegen – obwohl Dagmar auch keine Kinder hatte, aber »flexibel« war eben nicht ihr zweiter Vorname.

»Das habe ich nicht, ich habe mir die Daten gemerkt, als du im Januar gejammert hast, dass du Urlaub eintragen musst und wir mit Dartpfeilen auf den Kalender geworfen haben, um das Datum zu bestimmen.«

Ich schmunzelte beim Gedanken an diesen Abend.

»Wie kommst du überhaupt auf Sylt?«, lenkte ich das Gespräch auf das Wesentliche zurück. Normalerweise steuerte Amelie mit Vorliebe Ziele außerhalb Europas an.

Sie zuckte mit den Schultern. »Da lief heute Nachmittag eine Reportage im Fernsehen. Mir war gar nicht bewusst, wie schön es dort ist.« Nun nahm sie einen Schluck Wein. »Es heißt, die Insel sei die Hamptons von Deutschland, inklusive vieler reicher, gutaussehender Typen.«

»Die Insel der Reichen und Schönen«, murmelte ich. »Darum geht es dir also. Ach, Amelie!« Ich kicherte.

»Für die richtigen Hamptons fehlt mir zurzeit das nötige Geld, aber für Sylt reicht es gerade noch.« Begeistert erzählte sie von Klubs und Strandlokalen, bis die Eieruhr verkündete, dass unser Essen fertig war.

Amelie stand auf, um die Auflaufform aus dem Ofen zu holen. Ich nahm zwei Teller und Besteck aus dem Schrank. Willi Wonka streckte sich genüsslich in seinem Käfig.

»Guten Morgen, Schlafmütze«, begrüßte ich ihn und steckte ihm einen Drops, der nach Himbeerjoghurt schmecken sollte, durch die Gitterstäbe.

»Wir können auch gar nicht beide fahren, denn wer kümmert sich dann um Willi?«

»Eine Urlaubsbetreuung für einen Hamster zu finden, kann ja nicht so schwer sein.« Amelie verdrehte lachend die Augen. Für sie war das Glas immer halb voll, während ich bereits befürchtete zu verdursten, sobald ich den ersten Schluck getrunken hatte. Aber das Leben hatte mich früh gelehrt, dass man sich des Bodens unter den Füßen niemals zu sicher sein sollte. Umso härter prallte man am Ende auf.

Sie lud uns eine Portion des herrlich duftenden Auflaufs auf die Teller, und wir aßen eine Zeitlang schweigend.

Bis Amelie ihr Handy hervorholte.

»Ich habe mir ein paar Dinge notiert, die ich dort auf jeden Fall machen möchte.«

»Dann lass mal hören.« Amelie legte für jede ihrer Reisen Listen an. Auch ich hatte Freude daran gefunden, mir im Vorfeld gemeinsam mit ihr zu überlegen, welchen Berg sie besteigen sollte, an welchem Strand sie schwimmen sollte und welche Sehenswürdigkeit sie auf keinen Fall verpassen durfte. Obwohl später nur Amelie diese Dinge erlebte, fühlte es sich dadurch an, als wäre ich zumindest ein kleiner Teil davon.

Sie räusperte sich bedeutungsvoll.

»Ins Strandlokal Sansibar gehen – einen Millionär kennenlernen. Im Klub Pony eine Nacht durchtanzen und dort einen Millionär kennenlernen. Sex am nördlichsten Punkt Deutschlands, Surfstunden, eine Affäre mit dem Surflehrer …«

»Hör auf«, befahl ich lachend. »Was willst du mit zwei Millionären und einem Surflehrer?« Der Wein zeigte bereits seine Wirkung, und ich kicherte schon wieder.

»Einen für dich, einen für mich, und den Surflehrer für den Spaß«, entgegnete sie leichthin.

»Du bist verrückt, und außerdem: Ich komme nicht mit«, erinnerte ich sie und versuchte dabei, möglichst unnachgiebig dreinzuschauen. Es schien ihr wirklich ernst damit, Tommek schnellstmöglich zu vergessen.

»Sina, bitte!«

Ich ignorierte ihr Flehen, schob meinen Teller zur Seite und nahm den Schreibblock vom Kühlschrank. Ganz oben auf die Seite schrieb ich: Amelies Meer-Momente, dann googelte ich Sylt und Ausflugstipps. Das Ablenkungsmanöver funktionierte.

Amelie entkorkte die zweite Flasche Wein, ehe sie ebenfalls den Internetbrowser ihres Handys öffnete.

Zunächst warfen wir alles Mögliche in den Raum, wogen ab, was es wert war, auf die Liste zu kommen.

Ein Picknick am nördlichsten Punkt Deutschlands war einer meiner liebsten Vorschläge und definitiv besser als Amelies Idee zum nördlichsten Punkt der Insel. Zwar handelte es sich um Amelies Liste, aber später würde sie mir danken, wenn sie außer Millionären noch andere Sehenswürdigkeiten der Insel erkundet hatte.

Auf Surfstunden bestand Amelie weiterhin, ebenfalls auf eine durchtanzte Nacht im Pony. Ich ergänzte: einen Bernstein finden.

Als die zweite Flasche Wein leer war, wurden unsere Vorschläge absurder. Im Nachhinein konnte ich nicht mehr sagen, wer den Einfall hatte, aber er landete auf der Liste: Einen Mann kennenlernen, dessen Lieblingstier ein Hamster ist. Schmunzelnd legte ich den Stift beiseite.

»Es ist schon nach Mitternacht, und ich muss morgen zur Arbeit.« Gähnend streckte ich mich.

»Bitte überlege dir, ob du nicht doch mitkommen möchtest.«

»Vier Wochen – das ist fast mein kompletter Jahresurlaub, außerdem habe ich nur zwei eingetragen.«

»Du könntest für ein oder zwei Wochen mitkommen, mit dem Zug von Hannover fährt man lediglich ein paar Stunden.«

»Aber Willi Wonka«, warf ich ein. »Außerdem hätte ich das früher mit Herrn Hoyer und Dagmar absprechen müssen.«

»Wer eine Ausrede sucht, der findet auch eine. Du bittest schließlich nicht spontan um Urlaub, du hast ihn bereits vor Monaten eingetragen. Irgendwann bist du alt und grau und wirst denken: Wäre ich doch nur damals mit Amelie einen Sommer lang nach Sylt gefahren.«

»Gute Nacht, du verrücktes Huhn.«

»Gute Nacht, du Spießerin.«

Lächelnd umarmten wir uns.

Kapitel 3

Nach deutlich zu wenig Schlaf erreichte ich am nächsten Morgen später als üblich und mit leicht flauem Magen das Verwaltungsgebäude des Getränkegroßhandels. Dagmar kam nur wenige Minuten nach mir.

»Morgen«, begrüßte ich sie.

»Guten Morgen.« Sie stellte ihre Tasche an ihrem Platz ab. »Kannst du dich wieder um die Blumen kümmern, wenn ich im Urlaub bin?«, fragte sie und wischte die Blätter einer Orchidee sauber, die sie von ihrem Herrmann zum diesjährigen Valentinstag geschenkt bekommen hatte.

»Ab nächster Woche habe ich ja erstmal zwei Wochen«, erinnerte ich sie. Wenn ich mich nicht täuschte, verlor Dagmars vom Solarium gebräunte Haut etwas an Farbe, ehe sie mit der Sprühflasche die Blätter befeuchtete.

»Und den willst du tatsächlich nehmen?« Skepsis mit einem Hauch Panik wehten in ihrer Frage zu mir herüber.

»Weiß ich noch nicht«, murmelte ich, während ich auf meinen Bildschirm starrte und darauf wartete, dass das Programm sich öffnete. Währenddessen tauchten Bruchstücke meines gestrigen Traumes auf. Erneut war darin der blauäugige Typ vorgekommen, dieses Mal in Form von Amelies Surflehrer, nur dass ich plötzlich an ihrer Stelle gewesen war. Ich schüttelte den Gedanken ab. Aber weitere Bilder drängten sich in meinen Kopf, von den weißen Stränden Sylts, den reetgedeckten Häuschen, den Strandkörben mit ihren blau-weiß gestreiften Polstern … Die entsprangen nicht meiner Fantasie, sondern stammten von der gestrigen Recherche für Amelies Liste, und sie hatten sich offenbar bei mir eingebrannt.

»Vielleicht fahre ich für ein oder zwei Wochen nach Sylt«, hörte ich mich sagen, und erschrak beinahe über meine eigenen Worte.

»Du?«, entfuhr es Dagmar, die ihre Blumenpflege beendet und mit einem Pudding an ihrem Tisch mir gegenüber Platz genommen hatte. Sie schien über diese Aussage ebenso überrascht zu sein wie ich selbst. Der Wein von gestern musste wohl noch nachwirken und mir den Verstand vernebeln.

»Ja, warum denn nicht?«, grummelte ich dennoch zurück.

Auf einmal wurmte mich der Umstand, dass es schien, als dächten alle, ich hätte kein Leben außerhalb der Firma.

»Aber du fährst doch nie weg! Und es ist dir immer egal, wann du deinen Urlaub nehmen kannst. Den meisten nimmst du ja nicht einmal«, bestätigte Dagmar diese Vermutung und löffelte hektischer als sonst ihren Schokosahnepudding leer. »Also, ich und der Herrmann, wir haben unseren Urlaub bereits im letzten Jahr gebucht. Dreieinhalb Wochen Gran Canaria. Da gibt es einen Friseursalon … die schneiden mir immer so super die Haare. Diese beiden Schwulen, kennst du die aus dem Fernsehen? Von den Auswanderern? Die sind echt nett.«

Ich betrachtete ihre schwarz gefärbten Haare, die ihr Gesicht bis zum Kinn umrahmten.

»Klingt prima«, entgegnete ich lediglich und widmete mich dann dem Angebot für ein Festival am Maschsee. Verdrossen gab ich die verschiedenen Positionen in das Dokument ein. Nachdem ich es fertiggestellt und per Mail versendet hatte, schrieb ich das nächste.

Der Vormittag verging, aber in mir grollte es unterschwellig weiter. Ich war ein eher bodenständiger Mensch und mochte nicht gerade für meine Abenteuerlust bekannt sein, was aber nicht bedeutete, dass ich niemals in den Urlaub fahren wollte.

Hielten mich sogar hier alle für derart langweilig und berechenbar? Und wenn schon! Es war eine positive Eigenschaft, beständig zu sein.

In der Beziehung meiner Eltern hatte mein Vater stets diesen Part übernommen, und meine Mutter war für die verrückten Dinge zuständig gewesen. Nach seinem Tod vor vierzehn Jahren hatte mir diese Beständigkeit gefehlt. Und meine Mutter hatte mit ihm ihren kostbaren Anker verloren. Das erste Jahr nach seinem Tod hatte sie kaum das Haus verlassen, danach fing sie an, sich von einem Abenteuer ins nächste zu stürzen. Manchmal waren das Affären mit Männern, die sie mehr schlecht als recht vor mir zu verheimlichen versuchte, und manchmal waren es verrückte Kunstprojekte, bei denen sie ihr Atelier tagelang nicht verließ. Dabei war sie immer auf der Suche nach Halt gewesen, ohne zu verstehen, dass sie den nur bei sich selbst finden konnte – fast so wie Amelie, wenn sie sich mal wieder von Tommek getrennt hatte. Ich hingegen hatte dadurch früh gelernt, mir selbst eine Stütze zu sein und meiner Mutter gleich mit. Ich war zu einem Anker geworden, der so fest im Boden feststeckte, dass er Schwierigkeiten hatte, sich auch nur einen Zentimeter vor- oder zurückzubewegen und sich von vertrauten Angewohnheiten zu lösen.

Als könne sie meine Gedanken lesen, klingelte das Telefon, und die Nummer meiner Mutter erschien auf dem Display.

»Hallo, Mama, ich bin in der Arbeit.«

»Ich weiß, mein Apfelsinchen«, flötete sie in den Hörer. Diesen Spitznamen benutzte sie ständig. Ich tat meist so, als nervte mich das, aber eigentlich mochte ich es, denn mein Vater hatte mich früher oft so genannt. Zu gern hatte ich als Kind der Geschichte meiner Namensfindung gelauscht. Wie meine Eltern kurz vor meiner Geburt in Spanien Urlaub gemacht und die köstlichsten Apfelsinen gegessen hatten, die sie je gekostet hatten. Saftig und süß, bei denen man die Sonne in jedem Bissen schmeckte. Von einem Baum direkt vor ihrer gemieteten Finca. Da hatten sie beschlossen, mich Sina zu nennen, im Wunsch, dass mein Leben immer nach Sonne schmecken würde. Die Ableitung von diesen Apfelsinen zu Sina war in meinen Augen zwar etwas weit hergeholt, aber ich freute mich, dass es eine Geschichte rund um meine Namensfindung gab, und war insgeheim froh, dass sie mich nicht direkt Apfelsine oder Orange genannt hatten. Meiner Mutter wäre es durchaus zuzutrauen gewesen.

»Ich wollte dich zum Mittagessen einladen, der Toni kocht heute seine berühmte Paella«, riss meine Mutter mich aus meinen Gedanken. Sie kicherte, und ich hörte Tonis dunkle Stimme im Hintergrund. Toni, der meiner Mutter vor zwei Jahren von Ibiza hierher gefolgt war, war im Vergleich zu ihren früheren Liebhabern ganz in Ordnung, auch wenn mich der Altersunterschied anfänglich irritiert hatte und ich von Zeit zu Zeit an der Ernsthaftigkeit seiner Absichten zweifelte. Immerhin war er beträchtlich jünger als sie. Aber solange meine Mutter ihm keine Kontovollmacht ausstellte oder ihn heiraten wollte, würde sich der Schaden am Ende auf ihr gebrochenes Herz beschränken. Und da dieses seit dem Tod meines Vaters nie wieder ganz geheilt war, wäre es für sie nur ein altbekannter Schmerz. Das mochte zynisch klingen, aber meine Mutter all die Jahre herumirren zu sehen, wie eine Feder im Wind, war zunächst erschütternd gewesen. Doch irgendwann war es zu meiner Normalität geworden.

Seufzend antwortete ich: »Ich bin in dreißig Minuten da.«

Denn nichtsdestotrotz liebte ich meine Mutter, und ich war bereits zwei Wochen nicht mehr bei ihr zu Besuch gewesen. Meinem kleinen Kater vom gestrigen Wein würde ein deftiges Essen guttun, außerdem hatte ich keine Lust mehr, noch länger in Dagmars betretenes Gesicht zu sehen. Damit bezweckte sie nur, dass ich nachfragte, warum sie ein Problem damit hatte, wenn ich meinen Urlaub wie geplant nahm. Dementsprechend reagierte sie, als sie bemerkte, dass ich nach meiner Tasche griff.

»Wohin gehst du?«

»Ich mache Mittagspause.«

»Und den Urlaub, den willst du wirklich nehmen?«, fragte sie beiläufig. Eine Spur zu beiläufig.

»Keine Ahnung«, entgegnete ich genervt. Amelie hatte recht, ich bat schließlich nicht spontan um Urlaub, sondern wollte lediglich meinen bereits genehmigten. Das konnte Dagmar doch egal sein, oder hatte sie etwa Angst davor, hier allein die Stellung halten zu müssen? Manchmal nervte mich die völlige Abwesenheit ihrer Arbeitsmoral ziemlich, obwohl ich gerade selbst Erleichterung verspürte, das Büro verlassen zu können.

»Hola«, begrüßte Toni mich an der Wohnungstür.

»Hallo, Toni.«

»Hola, Apfelsinchen!«, rief meine Mutter, die in einer wehenden Tunika auf mich zugeschwebt kam.

»Hallo, Mama.«

»Komm, setzen wir uns. Toni kommt bestens ohne uns in der Küche zurecht, und wir zwei können mal wieder richtig schön quatschen.« Sie schob mich zum Esszimmertisch und nahm mir meine Tasche aus der Hand. Dann setzte sie sich mir gegenüber und sah mich freudestrahlend an. Ich wusste, dass dies, zumindest teilweise, eine Fassade war und sie tief in ihrem Inneren ein gebrochener Mensch. Zu oft hatte ich diese andere Seite an ihr gesehen, sodass mich ihre Fröhlichkeit nicht blenden konnte. Womöglich war das neben der Erfahrung mit Michael ein Grund dafür, dass die Schmetterlinge in meinem Bauch verlernt hatten zu fliegen.

»Was gibt es Neues bei dir? Hast du jemanden kennengelernt? Bei deinem Aussehen kannst du dich vor Verehrern bestimmt gar nicht retten.«

Manchmal war die Intuition meiner Mutter beängstigend. Ich seufzte. Mütter mussten einen wohl so sehen. Obwohl mein Äußeres wahrscheinlich sogar das Aufregendste an mir war. Von meinem Vater hatte ich das braune Haar und die rehbraunen Augen geerbt. Von meiner Mutter das herzförmige Gesicht und die kurvige Figur. Oftmals dachten die Leute, ich käme aus Spanien oder anderen südländischen Gefilden. Doch spätestens mein Name – Sina Reichert ließ diese Illusion platzen. Und auch mein Charakter war nicht gerade der einer heißblütigen Latina.

»Nein, Mama, da gibt es niemanden.«

Verständnislos sah sie mich an, als könne sie diesen Umstand nicht begreifen. Zugegeben, manchmal fragte ich mich auch, woran es lag, dass niemand kam, um mich aus meinem Dornröschenschlaf zu wecken. Gleich würde meine Mutter wieder fragen, ob ich denn nach all den Jahren immer noch nicht über diesen Michel hinweg sei, woraufhin ich sie stets korrigierte und sagte: Michael. Er hieß Michael. Um das zu vermeiden, lenkte ich ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema. »Amelie und Tommek haben sich getrennt.«

»Ach, wie schade, ich verspüre stets so eine starke Verbindung zwischen den beiden.«

»Sie plant, ein paar Wochen nach Sylt zu fahren, um etwas Abstand zu bekommen.«

»Toll, Sylt ist großartig und kunterbunt.«

»Sie möchte, dass ich sie begleite.«

Die Augen meiner Mutter leuchteten auf, und ihr Lächeln wurde noch herzlicher. Aber dann empfing sie wohl meine Schwingungen zu diesem Plan, denn ihre Brauen zogen sich sorgenvoll zusammen.

»Du willst nicht mitfahren«, schlussfolgerte sie.

»Das ist viel zu kurzfristig, ich bräuchte mehr Zeit, um das vorzubereiten, und Willi Wonka …«

Über den Tisch hinweg ergriff sie meine Hand. »Ich glaube, das wäre genau das Richtige für dich, Apfelsinchen. Du bist so gefangen in deinem Alltag, und das Leben – nun, es findet nicht in diesem Getränkemarkt statt, du bist so jung …« Sie redete, als wäre es eine Tragödie, einen festen Job zu haben und keinerlei Ausschweifungen nachzugehen.

»Aber vielleicht bin ich zufrieden mit meinem Leben! Wo kämen wir denn hin, wenn jeder so flatterhaft wäre wie du und Amelie? Ihr braucht Menschen wie mich, wie Papa. Andere Mütter wären stolz darauf, wenn ihre Tochter einen Job als Assistentin der Geschäftsführung hätte.« Ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet und drückte schmerzvoll gegen meine Rachen. Was war nur los mit mir? Sonst reagierte ich nie derart impulsiv. »Tut mir leid, ich …«

»Ist schon in Ordnung.« Sie drückte meine Hand. »Ich bin unglaublich stolz auf dich. Außerdem bin ich mir durchaus bewusst, dass ich dir nach dem Tod deines Vaters nicht die Mutter war, die du gebraucht hättest. Dieser Umstand hat dich viel zu schnell erwachsen werden lassen und deine Erinnerung an deinen Vater etwas verzerrt. Er war nicht immer so brav und bieder, wie du dich an ihn erinnerst. Wusstest du, dass er den Plan hatte, seinen Job an den Nagel zu hängen und mit uns ein Jahr im Camper durch Europa zu fahren? Die Kündigung lag schon bereit, aber dann … dann kam die Diagnose.« Der Ausdruck in ihren Augen änderte sich, als tauche sie in die vergangene Zeit ab. »Und dein Vater war es, der mich dazu ermutigt hat, meine künstlerischen Ambitionen zu verfolgen und meine Bilder und Skulpturen zum Verkauf anzubieten. Ohne ihn hätte ich mich das nie getraut.« Wie immer, wenn sie von ihm sprach, legte sich eine drückende Stimmung über uns, und ich hatte das Gefühl, es fiel mir schwerer zu atmen. Ich spürte, wie sehr sie ihn vermisste, und es erinnerte mich daran, wie sehr er auch mir fehlte.

»Nein, das wusste ich nicht«, antwortete ich, überrascht von ihren Worten. Ich benötigte einen Moment, um das Gesagte einzuordnen.

Sie seufzte. »Wir reden viel zu selten über ihn.«

»Weil es uns beide immer traurig macht.«

Sie betrachtete mich mit einer nachdenklichen Miene. »Aber auf eine gute Art und Weise. Es sind glückliche Erinnerungen. Wenn uns etwas traurig macht, zeigt es nur, wie groß dessen Bedeutung für uns war. Was für ein großes Geschenk es war, dass dein Vater zu unserem Leben gehörte.«

Sie stand auf und ging zu der Anrichte hinüber, eine Weile kramte sie darin herum, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. »Hier – das ist ein Foto von dem alten VW-Bulli, mit dem wir die Reise machen wollten. Dein Vater hat ihn ganz allein umgebaut, er plante es schon seit Jahren, wir wollten dich von der Schule beurlauben lassen und dich selbst unterrichten. Das ist zwar in Deutschland nicht erlaubt, aber dein Vater war nahezu versessen darauf, eine Lösung dafür zu finden.« Sie lächelte und reichte mir mit feucht glänzenden Augen das Foto. Es war bereits vergilbt, aber es zeigte meinen Vater vor einem grün-weißen VW-Bus. Behutsam strich ich über sein Gesicht.

»Behalte es«, sagte sie.

»Warum wusste ich nichts von dem Bulli?«

»Dein Vater wollte dich damit überraschen und hat immer spätabends daran gewerkelt. In einer gemieteten Garage. Ein Jahr nach seinem Tod habe ich ihn verkauft, weil er mich an zu viel erinnert hat, was mir fehlt. Heute wünsche ich mir manchmal, ich hätte ihn behalten.«

Das war doch verrückt! Wie hatte es mir entgehen können? Als mein Vater starb, war ich zwölf Jahre alt, noch keine Jugendliche, aber auch kein kleines Kind mehr. Aber an vieles aus jener Zeit erinnerte ich mich nur noch verschwommen, als hätte mein Unterbewusstsein zum Schutz einen Schleier über die Erinnerungen gelegt.

Toni kam mit einer großen Pfanne ins Wohnzimmer und platzierte sie mitten auf dem Tisch. Seine Paella konnte sich wirklich sehen lassen, und mein Magen knurrte ganz automatisch beim Duft des Essens.

Kurz sahen meine Mutter und ich uns in die Augen, und sie strich mir über den Arm. »Von nun an schwelgen wir öfter in guten Erinnerungen, Apfelsinchen.«

Ich nickte und drängte die Tränen zurück, ehe ich mich Toni zuwendete. »Sind da etwa auch Calamari drin?«

»Si, si – natürlich.« Er lud mir meinen Teller randvoll.

Kapitel 4

»Sina, gut, dass du kommst«, begrüßte Amelie mich freudestrahlend, als ich am Abend nach Hause kam. Sie saß mit ihrem Laptop an unserem Küchentisch. »Ich bin fertig mit der Planung, es ist alles gebucht«, verkündete sie, und ihre Euphorie wirbelte regelrecht zu mir herüber.

»Wirklich alles?«, hakte ich nach.

»Jip, ich habe eine Bombenunterkunft gefunden. Ein richtig schönes Häuschen, das bezahlbar ist, ein absoluter Glücksgriff. Und das in der Hochsaison! Deswegen habe ich gleich zugeschlagen und auch schon bezahlt, bevor uns jemand zuvorkommt. Und Frau Tammsen aus der Wohnung unter uns würde Willi Wonka nehmen.«

»Das klingt gut, an Frau Tammsen hätte ich gar nicht gedacht, die würde sich sicherlich über die Gesellschaft von Willi freuen.«

»Das Einzige, was noch fehlt, ist deine Antwort.« Erwartungsvoll sah Amelie mich an.

Ich setzte mich auf den freien Stuhl ihr gegenüber und schaute ihr ein paar Sekunden mit ernstem Gesichtsausdruck in die Augen, ehe ich meinen Mundwinkeln erlaubte, sich nach oben zu biegen. »Ich komme mit. Aber nur für zwei Wochen!«

»Waaas? Wie cool – Sina, du glaubst gar nicht, wie ich mich freue!« Sie stürzte auf mich zu und schlang ihre Arme um meinen Hals. »Du wirst es nicht bereuen, das wird die Reise unseres Lebens!«

Den ganzen Nachmittag waren mir die Worte meiner Mutter nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Mein Vater hatte eine einjährige Auszeit im Camper mit Mama und mir geplant. Das hätte ich niemals gedacht, in meiner Erinnerung war er stets derjenige gewesen, der meine Mutter von allzu verrückten Taten abgehalten hatte, der täglich von acht bis siebzehn Uhr arbeiten gegangen war. Als Abteilungsleiter in jenem Baustoffhandel, in dem ich später meine Ausbildung gemacht hatte. Die Tatsache, dass auch er außerhalb dieses Lebens verrückte Träume hegte, ermutigte mich, mich auf das Abenteuer Sylt einzulassen. Das Foto von meinem Vater und dem VW-Bulli brannte wie ein Beweis dafür in meiner Tasche. Und es war schließlich nur Sylt, nicht Chile, Taiwan oder Südafrika, um nur einige der letzten Destinationen von Amelie aufzuzählen. Zu was für einer Person hätte ich mich wohl entwickelt, wenn die Krankheit nicht die Pläne meiner Eltern durchkreuzt hätte?

»Samstag geht es los«, verkündete Amelie.

Ich holte tief Luft. In meinem Magen rumorte eine Mischung aus Aufregung und Angst, aber auch Vorfreude mischte sich darunter. Ich freute mich darauf, in einem Strandkorb zu sitzen und auf die Wellen zu schauen. Wann war ich eigentlich das letzte Mal am Meer gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern. War es bei der Klassenfahrt nach Holland?

Am Donnerstag im Büro erzählte ich Dagmar von meinen Urlaubsplänen.

»Reicht nicht auch eine Woche?«, maulte sie.

»Warum denn? Ihr wollt doch erst im August auf die Kanaren, oder? Bis dahin bin ich wieder zurück.«

»Ja, schon. Aber die Tochter meiner Cousine heiratet nächste Woche, da wollte ich ins Rheinland fahren.«

»Tut mir leid, dieses Jahr kann ich meinen Urlaub nicht verschieben.«

Kurz überlegte ich, ihr mal gehörig den Kopf zu waschen, entschied dann aber, nachher einfach einen ihrer heißgeliebten Schokopuddings zu essen. Das würde sie weitaus härter treffen.

Da Dagmar nichts mehr erwiderte, ging ich davon aus, dass die Sache damit geklärt war.

Bereits um sechzehn Uhr verließ sie das Büro und murmelte etwas davon, sie würde morgen früher kommen. Die verbleibende Zeit bis zu meinem Feierabend nutzte ich, um in aller Ruhe zwei ihrer Puddings zu essen. Sie waren äußerst lecker, und ich konnte nach dem ersten einfach nicht aufhören. Ein bisschen verstand ich nun Dagmars Vorliebe für diese Kalorienbomben.

Tatsächlich stand Dagmars Tasche bereits an ihrem Schreibtisch, als ich am Freitagmorgen ins Büro kam. Auch Herr Hoyer war schon da, aus seinem Büro drang Stimmengemurmel.

Ich begann, alle Vorgänge auf meinem Schreibtisch abzuarbeiten, damit Dagmar in den nächsten zwei Wochen nicht zu viel Extraarbeit haben würde. Kurz zuckte ich zusammen, als sie nicht wie vermutet aus Richtung der Küche kam, sondern aus dem Büro vom Chef. Eine böse Vorahnung beschlich mich, die sich verstärkte, weil Dagmar es vermied, mir in die Augen zu schauen, als sie »Guten Morgen« nuschelte. Danach begann sie, ebenfalls sehr untypisch für sie, sich voller Eifer dem Stapel Rechnungen auf ihrem Schreibtisch zu widmen und diese zu buchen. Noch ehe ich meine Gedanken zu ihrem Verhalten zu Ende sortieren konnte, dröhnte die Stimme von Herrn Hoyer durch den Flur. »Frau Reichert, in mein Büro!«

»Hat er schlechte Laune?«, fragte ich Dagmar.

»Hm?«, gab sie sich ahnungslos. »Nicht, dass ich wüsste.« Sie sah dabei nicht mal von ihrem Bildschirm auf.

Mit klopfendem Herzen machte ich mich auf den Weg zu meinem Chef.

»Guten Morgen.« Ich setzte mein schönstes Lächeln für ihn auf, was er aber nicht erwiderte. Vielmehr seufzte er laut und schob mir meinen Urlaubsantrag über den Schreibtisch zu.

»Können sie sich nicht besser mit Frau Schuster abstimmen? Es kann ja nicht so schwer sein, nicht für dieselbe Zeit Urlaub einzureichen.«

Ich kräuselte meine Stirn. »Aber ich habe den Urlaub bereits im Januar eingetragen.«

»Das weiß ich, aber manchmal muss man flexibel sein. Frau Schuster hat mir eben einen zwanzigminütigen Vortrag gehalten, wie wichtig diese Hochzeit für sie sei, auf die sie nächste Woche muss. Können Sie nicht später Urlaub nehmen?«

»Wann denn? Den kompletten August hat Dagmar ja ebenfalls Urlaub, und davor haben Sie zehn Tage.«

»Wie wäre es mit zwei Wochen im Herbst? Sonst war es Ihnen doch auch immer egal.«

Die Gedanken wuselten kreuz und quer durch meinen Kopf. Dass er mich mit zwei Wochen im Herbst abspeisen wollte, traf mich wirklich. Schließlich riss ich mir hier seit fast drei Jahren den Arsch für ihn auf. Dabei fühlte ich mich oftmals als das Mädchen für alles, obwohl in meinem Vertrag Assistentin der Geschäftsführung stand. So hatte ich mir das damals nicht vorgestellt! Schließlich war ich vom Baustoffhandel weggegangen, um mich in Bezug auf den Job weiterzuentwickeln und nicht der Depp vom Dienst zu werden. Und jetzt sollte ich meine Pläne canceln, nur weil Dagmar lauter jammern konnte? Oder der Chef mit ihrem Mann einmal wöchentlich Skat spielte?

»Ich habe bereits Pläne.«