Mein fast grosser Grossvater - Jacob Stickelberger - E-Book

Mein fast grosser Grossvater E-Book

Jacob Stickelberger

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Beschreibung

Jacob Stickelberger erzählt als zweitgeborener Enkel «von meiner in frühester Kinderzeit tiefen und lebensprägenden Freundschaft mit meinem nicht ganz einfachen Grossvater und Patriarchen». Mit dabei ist die sich um Opapa herumscharende Familie aus fröhlich-wunderlichen Individuen, nämlich Onkel, Tanten und deren Kinder, welche alle unerschöpfliche Quelle für Anekdoten sind. Der kleine Jacob trottet schon früh tagein und tagaus neben Opapa einher, um sich von dessen immenser und selbst für Erwachsene verblüffender Phantasie bezaubern zu lassen. ‹Mein fast grosser Grossvater› handelt vom heute vergessenen Schriftsteller Emanuel Stickelberger, Sohn eines Bankdirektors und Besitzer einer Chemiefabrik, der aber seine Familie und die Öffentlichkeit mit den Fabrikangelegenheiten möglichst nicht behelligen wollte. Denn Opapa wollte nur eines sein, nämlich nichts anderes als ein Dichter, dessen einzige Welt die Bücher sind. Eine ungewöhnliche Familiengeschichte aus dem Schweizer Grossbürgertum. Kenntnisreich und Erheiternd. «Man möchte einen Grossvater haben, wie ihn Jacob Stickelberger beschreibt. Und vor allem: Man möchte ihn so beschreiben können.» Charles Lewinsky

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Seitenzahl: 123

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Über das Buch

Jacob Stickelberger erzählt als zweitgeborener Enkel «von meiner in frühester Kinderzeit tiefen und lebensprägenden Freundschaft mit meinem nicht ganz einfachen Grossvater und Patriarchen». Mit dabei ist die sich um Opapa herumscharende Familie aus fröhlich-wunderlichen Individuen, nämlich Onkel, Tanten und deren Kinder, welche alle unerschöpfliche Quelle für Anekdoten sind. Der kleine Jacob trottet schon früh tagein und tagaus neben Opapa einher, um sich von dessen immenser und selbst für Erwachsene verblüffender Phantasie bezaubern zu lassen.

‹Mein fast grosser Grossvater› han-delt vom heute vergessenen Schriftsteller Emanuel Stickelberger, Sohn eines Bankdirektors und Besitzer einer Chemiefabrik, der aber seine Familie und die Öffentlichkeit mit den Fabrikangelegenheiten möglichst nicht behelligen wollte. Denn Opapa wollte nur eines sein, nämlich nichts anderes als ein Dichter, dessen einzige Welt die Bücher sind. Eine ungewöhnliche Familiengeschichte aus dem Schweizer Grossbürgertum. Kenntnisreich und erheiternd.

JACOB STICKELBERGER

MEIN FAST GROSSER GROSSVATER

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2018 Zytglogge Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Coverfoto: Privatarchiv

e-Book: mbassador GmbH, Basel

Epub: 978-3-7296-2244-9

Mobi: 978-3-7296-2245-6

www.zytglogge.ch

Jacob Stickelberger

Mein fastgrosserGrossvater

Roman

Inhalt

Die Widmung

Im Höchhus

Das trauliche Bild

Die Sommerresidenz

Der Aufstieg zum Türmchen

Zorngüggel

Nicht nur mein Grossvater

Schritt um Schritt zum Zwinglibänkli

SOLI DEO GLORIA

Die Durrers, die Odermatts, die Christens

«Ebba sibezg»

Robinson und Freitag am Aabach

Beelindeli und Pupukatepitel tauchen auf

Die Christens vom Unterhaus

Das reformierte Tischgebet …

… und das katholische

Beim Melken

Schuim

Opapa im Stall

Das Znacht oder die heilige Tafel

Gisa – oder «Jedes Tierle hat sine Würmli»

Die Höchhusküche

Opapa kocht

Und die Mutter blicket stumm

Schlipfer, das baselstädtische Gewächs

Gänsliwy

Die Respektsperson

Das Gehzuruh

Der schmutzende Enkel

Basel

Opapa und sechs Schwestern

Der verschämte Fabrikant

Heirat mit etwas Rechtem

Ida, wenn ich an dich denke

Omamas Beruf

Omama lernt betten

Carl Spitteler

Basel ehrt den Dichter

Der sechszigste Geburtstag

Ein «richtiger Basler»?

Am «Daig» knapp vorbei

Zigarre contra Zigarette

Beim Kaiser Wilhelm II.

Die Häuser

Der Gälägälä …

Söhne und Töchter

Die Kummerbuben

Emanuel 8. Rudolf Stickelberger, der Erstgeborene

Prenez la porte!

Schwiegertochter Nummer eins Verena Schädelin

Der blöde Dr. h.c.

Die Halsbandaffäre

Dietegen Stickelberger, der Zweitgeborene

Schwiegertochter Nummer zwei Cécile Krummenacker

Am Sterbebett

Bei Tante Cécile in Tägerwilen

Der getadelte Grossvater

Die Freudenmädchen

Esther Stickelbeger

Schwiegersohn Nummer eins Otto Isler

Die Isler-Enkel

Unbotmässige Enkelin

Der interfamiliäre Wettkampf

Die Tischrede des Onkels

Hauptmann Isler

Rosmarie Stickelberger

Schwiegersohn Nummer zwei Christoph Vischer

Die Vischer-Enkel

Ueli und Theodora

Regierungsrat Vischer

Am Bodensee

Das Uttwiler Schlössli

Das Buch

Die Bibliothek

Weihnacht in Uttwil

Heiliger Sankt Fiat

Der pastorale Autonarr

Fatales Nachspiel

Die Ankunft

Im Vorweihnachtszimmer

Das passende Lied

Die Weihnachtsgans

Der vormittägliche Spaziergang

Der ruhebedürftige Wein

Die Bläterchen

Bis zur perfekten Trinkreife

Im Hörnli

Friedhof an bester Lage

Die Abdankung

Der Weg zum Grab

Verdrängte Gegenwart, gelebte Vergangenheit

Bumperlibum aberdran

Ein Franken dreissig

Anhang

Die Widmung

 

So pflegte unser Grossvater Emanuel Stickelberger, also unser Opapa, seinen Nachkommen Bücher zu verschenken. Dabei war der beschenkte Hans Emanuel 9. primär sein damals 14-jähriger erstgeborener Enkel und sekundär mein älterer Bruder. Das ihm gewidmete Buch muss später irgendeinmal bei mir gelandet sein; wie und warum weiss ich nicht. Jedenfalls dümpelte es auf einem vergessenen Gestell über Jahrzehnte hinweg still unter seinesgleichen vergilbend vor sich hin, bis ich mich entschloss, das Gestell endlich einmal und deshalb angewidert zu entrümpeln oder pfleglicher, die Bücher zu entsorgen.

Dabei ist jedem Ordnungsanfall eigen, dass knapp vor der Bücherverbrennung begonnen wird, im Wegwerfgut zum ersten Mal so richtig aufmerksam und bewusst zu kramen oder zu lesen. Jetzt plötzlich wird alles hoch interessant. So der «Globi im Urwald» oder das «Rösslein Hü» oder «Pimpampönchen, Pumpernikel, Pipeling» mit Untertitel «Drei Negerlein in Klapperdorf» oder ein in braunes Leinen gebundenes Buch, das mir vertraut gediegen vorkommt. Darum Buchdeckel auf, und es erscheint die zierlich von Hand geschriebene grossväterliche Widmung, siehe vorherige Seite, was fatale Folgen hat, nämlich: Ich fange an zu schreiben.

Zu meiner Rechtfertigung: Lies noch einmal die Widmung, halte inne, und es beginnt dir aufzufallen, dass das Buch nicht einfach einem Emanuel, sondern einem solchen mit der Nummer neun zugedacht ist, wobei nicht etwa ein Grossvater signiert, sondern der «Verfasser », welcher Emanuel der Siebente war. Wohl, da steckt einiges dahinter, wovon ich, selber tief ins grossväterliche Alter gerutscht, ein bisschen erzählen möchte.

Was für ein Grossvater, unser Opapa!

Im Höchhus

 

Das trauliche Bild

Zuerst das Bild des Malers Burkhard Mangold. Er muss es wohl, während im Ausland der Zweite Weltkrieg tobte, ziemlich genau um den Zeitpunkt meines Geburtstages herum (11. November 1940) gemalt haben. Herr Mangold war der liebe Mann mit dem freundlichen Gesicht und Opapas eigentlich einzig wirklich echter und ungefähr gleichaltriger Freund, was mir erst im fortgeschrittenen Enkelalter bewusst wurde. Offensichtlich gemäss Bild wurde ich nicht nur in eine Familienidylle hineingeboren, sondern in einer einigermassen solchen Umgebung verbrachte ich auch meine Kindheit. Ein zünftiger Buchschreiber von heute wäre von Berufs wegen verpflichtet, einen derart herben Schicksalsschlag bitter zu beklagen. Da ich kein zünftiger Buchschreiber bin, hadere ich nicht.

Das Bild entstand in der Wohnstube vom Höchhus in Wolfenschiessen. Zu sehen ist darauf natürlich zuerst einmal der damals 56-jährige Opapa (Emanuel 7.), beginnend vom Kopf her abwärts mit vollem grauweissem Haar, Zwicker, Krawattenknopf mit Perle, Gilet, Zigarre, Buch, Siegelring mit Familienwappen am linken kleinen Finger und gerade noch ein bisschen mehr abwärts zuletzt die goldene Uhrenkette, welche unsichtbar an einer geheimnisvollen goldenen Taschenuhr mit Stoppmechanismus im Gilettäschchen endet, angeblich eine Zauberuhr, deren Funktion mir Opapa auf flehentliche Bitten hin mit immer noch abenteuerlicheren Erklärungen und damit immer noch geheimnisvoller machte.

Weiter geht’s im Bild links herum mit den vier Kindern, die bezogen auf mich waren: Tante Esthi (Esther Ita) mit Handorgel, sitzend auf einer anmutig geschnitzten Stabelle mit den Initialen BM (Burkhard Mangold). Dann der Aktivdienst leistende Papi in Hauptmannsuniform (mein Vater bzw. Emanuel 8. Rudolf), der als Pfarrer Feldprediger war und deshalb nie auch nur an einem einzigen Tag eine Offiziersschule besuchen musste, worauf mich Mami später etwas boshaft hinwies und damit meinen Vater ein klein wenig kränkte. Es folgt der hinteren Reihe den Butzenscheiben entlang der Soldat Onkel Dieti, (Ernst Dietegen), der mein Götti war und welchem ich angeblich wie gespeut geglichen haben soll, dann die stickende Tante Muggi (Rosmarie), dann mit Spielzeug der erste Enkel (Hans Emanuel 9.) bzw. mein Bruder Eichhorn oder Eichi, dann Omama mit den schweren roten Haaren. Dann die Schwiegertochter bzw. meine Mutter, für alle Cousinen und Cousins die berühmte Tante Vreni. Das leicht rosige Etwas auf ihrem Schoss schliesslich ist der Enkel Nummer zwei und als solcher also ich.

Die Sommerresidenz

Das Höchhus war sozusagen die Sommerresidenz eines Dichterfürsten. Opapa hat mit Erfolg alles daran gesetzt, sich als solchen fühlen und geben zu können. Er hat in seinen besten Jahren tatsächlich als Dichterfürst gegolten, oder sagen wir, emel irgendwie so etwas in dieser Richtung. Das zeigt sich schon darin, dass er sich nicht wie Hermann Hesse einfach ein trauliches Haus irgendwo im schönen Tessin gepostet und zur Sommerresidenz gemacht hat. Zu diesem Behuf kam für ihn nur das schwer geschichtsträchtige Höchhus am regnerischen Schattenhang im bergbäuerlich tief katholisch-nidwaldischen Wolfenschiessen in Frage. Das Höchhus hat er, so ist mir, in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gekauft. Damals war Opapa bereits Vater von vier Kindern. Er lebte in der Historie. Sie war seine Leidenschaft. Davon zeugen seine Bücher, was da vor allem die gesammelten Werke sind, bestehend aus zwölf in gediegenem Leinen gebundenen Bänden, erschienen im Verlag Huber & Co. Aktiengesellschaft Frauenfeld. Einer dieser Bände heisst «ZWINGLI» und ist wie andere auch ein historischer Roman. Das Werk also, welches seinem lieben Grosssohn Hans Emanuel 9. Stickelberger «vom Verfasser» gewidmet wurde. Nun aber drohte Zwingli, von mir verbrannt zu werden. Siehe oben «Die Widmung».

Der Aufstieg zum Türmchen

Das Höchhus ist ein heute fast halbes Jahrtausend altes damaliges Herrschaftshaus aus Holz, zuoberst vervollständigt mit einem markanten Türmchen samt Glocke. Diese musste von mir als Noch-Knäblein ab und zu dringend wieder einmal geläutet werden, was für mich so etwas wie eine Reise in den Himmel unter Inkaufnahme gewaltiger Abenteuer war. Anfänglich wagte ich diese hausinterne Erkundungstour nur in Begleitung Erwachsener und nur mit Picknicksäcklein zwecks Stärkung während der gebotenen Zwischenhalte.

Zuerst also links die Aussentreppe hinauf, dann hörbar den Riegel schiebend hinein in den nachtdunkeln Höchhusgang, vorbei an den Wohnstuben und der gigantischen Küche mit den mächtigen Holzöfen, wo Gisa kochte und die Mädchen dirigierte, jetzt die Treppe hinauf zum oberen Durchgang im ersten Stock, vorbei am Bade-, Himmelbett-, Kinder- und Opapa-Arbeitszimmer mit den Büchern, alles nach seinen Zigarren, nach vierhundertjährigem Holz und etwas Feuchtigkeit riechend, denn eben, in Wolfenschiessen landregnet’s oft, sehr oft, das heisst: grosso modo eigentlich immer; nur zeitweilig unterbrochen von Wolkenbrüchen. Doch Regen hin oder her. Wer im Höchhus auch nur eine einzige Nacht bei offenem und immer ein ganz klein wenig klirrenden Butzenscheiben-Fensterchen durchschläft, nimmt die Gerüche, das Klirren der Butzen und das unaufhörliche Rauschen des ganz nahe im Tal unten fliessenden Schlaf und Trost bringenden Aabaches für die Ewigkeit mit nach Hause.

Dann geht’s scharf eng rechts ein unfallträchtig steil-enges Treppchen hinauf, vorbei am Gästezimmer für Einsiedler, direkt hinein in den hoch gewölbten Rittersaal mit den Wappenscheiben und den in den Ecken rostenden, allerdings unechten Morgensternen und Hellebarden. Türe hinter dem Rücken zu, es hallt feierlich und ungewollt flüsterst du nur noch. Zugegeben, im fortgeschrittenen Kindesalter entwürdigten Seppli Christen und ich den Rittersaal hin und wieder, indem wir als geschichtsbewusste Knaben darin Schlacht bei Sempach spielten, was örtlich und atmosphärisch nahelag, zumal uns Hellebarden und Morgensterne zur freien Verfügung standen.

«Rittersaal» ist übrigens nicht eine grossväterlich eitle Erfindung, sondern der Raum war das immer schon, das heisst schon ab 1586, in welchem Jahr der Staatsmann, Gegenreformator und Ritter Melchior Lussy das Höchhus baute; für die Nidwaldner das Hechhuis, wobei ein echter Ritter schon von Amtes wegen verpflichtet ist, in einem Haus mit Rittersaal zu wohnen.

Weiter geht die Reise nach oben, wo wir nach Verlassen des Rittersaals ins finstere Reich der Fledermäuse aufsteigen. Jetzt wird’s echt gruselig unheimlich. Der Schutz der begleitenden Erwachsenen, in welchen ich mich von Aufstiegsbeginn an begeben habe, wird definitiv sinnvoll, und bald traue ich meinen sich angstvoll ans Dunkel gewöhnenden Augen nicht. Hart über mir pfeil-, ja lichtgeschwind schwarze Fluggerätchen, totenstill mit- und gegeneinander hin und her und her und hin, ab und auf und auf und ab, alle notabene ohne Taschenlämpchen und doch, nie auch nur eine einzige Kollision. Ohne verlässliche Verkehrsregelung eigentlich unmöglich so etwas. Dabei hatte ich, daran erinnere ich mich noch sehr genau, weniger Angst vor als vielmehr Mitleid mit den wahrhaftig flatterhaften kleinen Ungetümen. Ich war überzeugt, dass deren unablässiges Hin-und-her-Schiessen nur so etwas wie Langeweile oder Verzweiflung in der Gefangenschaft sein konnte, ähnlich wie bei den in Käfigen hin und her tigernden Tigern. Man müsse die nach so langer Zeit in Dunkelheit zweifellos nach Sonne dürstenden Tierchen nur frische Luft und Licht schnappen und fliegen lassen. Dann sei es mit ihrem tristen Dasein vorbei. Ich habe mich später belehren lassen, dass von einer solchen Methode aus tierschützerischen Gründen besser abzusehen sei. Sie von einem lustigeren Leben zu überzeugen bringe nichts.

Nachdem sich die Ängstlichkeit gemässigt hat und du nur noch wegen jeder zweiten Fledermaus erschrickst, erkennst du plötzlich doch noch so etwas wie einen lichten Spalt. An diesen tappst du herzklopfend heran und siehe, oder richtiger fühle da, eine Türe. Wir öffnen sie nicht. Ich verrate nur, dass sich dahinter das letzte Gästezimmer verbirgt, reserviert für Gespenster- und Vampirforscher, welche weder je aufs WC noch sich waschen müssen.

Nochmals zusammenreissen und du mühst dich tapfer auf etwas eindeutig Holztreppenartigem nochmals hoch, nochmals Blick gegen oben und es wird endlich z’grächtem Licht. Jetzt schöpfst du Kraft und Hoffnung, dass doch noch alles gut wird. Und wirklich, du stehst direkt unter dem Türmchen. Es gilt nur noch, zum letzten Mal, Achtung Vorsicht, das Leiterchen von brüchiger Sprosse zu brüchiger Sprosse emporzuhangeln, schaust geblendeten Auges hinab ins jetzt weit darunter liegende Engelbergertal und es überkommt dich eine wärmende Stölzi, nämlich den berühmten Sieg über deinen inneren Schweinehund errungen zu haben. He ja, du hast das Höchhus bis zum Gipfel erklommen, welches Ereignis du nicht für dich allein behältst, sondern du ziehst am vor dir baumelnden Strick, das Glöcklein läutet hell und klar und laut, wie das allen Glöcklein eigen ist, und ganz Wolfenschiessen weiss, dass du’s auf gut Germanisch geschafft hast.

Zorngüggel

Ich war sehr viel in Wolfenschiessen; vor allem monatelang anno 1945 als noch nicht einmal Fünfjähriger, was für mich in diesem Alter ein halbes Leben war. Warum ich so oft und so lang bei Opapa abgeladen wurde, weiss ich nicht. Wohl deshalb, weil Mami, wohlgemerkt eine liebende, fröhliche, witzige Mutter und Bernerin, dennoch mindestens täglich einmal die Stunde meiner Geburt verwünscht haben muss. Das ist verzeihlich, weil ich im Unterschied zum stets verantwortungsbewussten, ruhigen, schönen und bei allen Tanten beliebten Stammhalter und älteren Bruder Hans Emanuel 9. pflegte, ein mitunter lästiges Kind und nach Mamis Qualifikation ein «Schreihals» und «Zorngüggel» zu sein. Eine bevorzugte und am Ende des Tages von meiner Mutter vielfach geseufzte Wahrheit war darum: «Kinder am Abend, erquickend und labend». Nach meinen jeweiligen Heimkehrten aus den Ferien – ich wurde immer irgendwohin weggegeben – hat sie mich allerdings, das dann auch wieder, stürmisch und zärtlich umarmend empfangen, als sei das der Glückstag ihres Lebens. Auch mich machte solches glücklich, aber als im Tiefsten sehr feinfühliger Knabe wiederum nachdenklich, denn ich war überzeugt, dass Mami, was in solchen Fällen bei Müttern üblich ist, unter meinen Abwesenheiten andauernd schwer gelitten haben musste und deshalb unreparierbaren psychischen Schaden nahm, für welchen ich doch sozusagen verantwortlich zeichnete.

Nicht nur mein Grossvater

Doch mein Schreihals-Dasein, die Verwünschung meiner Geburt und meine Nichtteilhabe an der mütterlichen Abendruhe hin oder her: Ich hatte ein wunderbares und glückliches Zuhause bei den Eltern. Aber mindestens, ich wiederhole, wirklich mindestens ebenso wunderbar und glücklich hatte ich es bei Opapa in Wolfenschiessen. Er war nicht nur mein Grossvater, sondern mein grosser Freund. Ich begleitete ihn trippelnd tagein tagaus, wann immer er das wünschte. Und das wünschte er immer! Fast ununterbrochen war ich bei und mit ihm, vorausgesetzt natürlich, ich war nicht gerade mit Seppli Christen vom Unterhaus beim gemeinsamen Schlacht-bei-Sempach-Üben im Rittersaal oder im Stall.

Am Morgen im Höchhus nach dem Aufstehen will und darf ich obligatorisch dabei sein, wenn Opapa sich mit Schaum «baseent», was nach meiner damaligen Kindersprache heisst, rasiert. Zum beidseits höchsten Vergnügen schäumt Opapa dabei nicht nur sich selber, sondern immer auch mich ein bisschen mit ein.

Schritt um Schritt zum Zwinglibänkli