Mein Freund Pax - Sara Pennypacker - E-Book

Mein Freund Pax E-Book

Sara Pennypacker

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Beschreibung

Peter hat den Fuchswelpen Pax vor dem sicheren Tod gerettet und aufgezogen – seitdem sind die beiden unzertrennlich. Peter und Pax verstehen sich ohne Worte, und nur zusammen fühlen sie sich ganz. Aber dann kommt der Krieg und reißt die beiden auseinander. Zwischen ihnen liegen Hunderte von Kilometern und warten tausend Gefahren, doch von ihrer Sehnsucht getrieben, kennen die beiden nur einen Gedanken: den anderen wiederzufinden … Sara Pennypacker und Jon Klassen haben eine berührend-poetische Freundschaftsgeschichte geschaffen, die gleichzeitig ein Plädoyer für Menschlichkeit in Zeiten des Krieges ist. Mit zwölf schwarz-weiß Illustrationen von Jon Klassen. Die Presse über das Buch: »Was dieses Buch so einzigartig macht, ist die Qualität von Pennypackers Prosa – und die Kraft der Liebe zwischen Pax und Peter, der sich kein Leser entziehen kann.« New York Times »›Mein Freund Pax‹ ist ganz einfach ein Meisterwerk.« Katherine Applegate, Autorin »›Mein Freund Pax‹ ist wie Pax selbst – teilweise wild, aber im Ganzen wunderschön.« New York Times »Ergreifend und poetisch.« Kirkus Reviews »Ein Kinderbuch, das alle Voraussetzungen erfüllt, um ein echter Klassiker zu werden.« Publisher's Weekly »Ein überragendes Werk, das von allen gelesen und besprochen werden sollte: Kindern wie Erwachsenen.« School Library Journal

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Seitenzahl: 286

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Sara Pennypacker

Mein Freund Pax

Aus dem Amerikanischen von Birgitt Kollmann

Mit Illustrationen von Jon Klassen

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Inhalt

Anmerkungen der AutorinWidmungMottoKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Dank

Anmerkung der Autorin

Füchse kommunizieren über ein vielschichtiges System aus Lauten, Gestik, Mimik und Geruch. Die kursiv geschriebenen Wörter im Text sind der Versuch, diese ausdrucksvolle Sprache für uns Menschen zu übersetzen.

 

Anmerkung der Übersetzerin

Die englischen Namen der Füchse wurden in der Übersetzung beibehalten. Da es sich um sprechende Namen handelt, also um solche, die etwas über ihren Träger aussagen, mag vorab jedoch eine Erklärung angebracht sein.

Bristle bedeutet Borste, to bristle bezeichnet das Aufrichten der Nacken- oder Rückenhaare als Imponier- oder Drohgebärde.

Ein runt ist der Kleinste und Schwächste eines Wurfs, ein sogenannter Kümmerling.

Der alte Fuchs heißt Gray nach seinem ergrauten Fell.

Für meinen Agenten Steve Malk, der »Pax« sagte

S. P.

 

Es geschieht vielleicht nicht hier und nicht jetzt,

aber das heißt nicht, dass es gar nicht geschieht.

Der Fuchs spürte noch vor dem Jungen, dass der Wagen langsamer wurde. Durch die gepolsterten Ballen seiner Pfoten, über die empfindsamen Tasthaare, mit dem ganzen Rückgrat nahm er wie immer alles als Erster wahr. Die Vibrationen sagten ihm außerdem, dass die Straße unter ihnen rauer wurde. Er reckte sich auf dem Schoß seines Jungen und nahm Witterung auf. Verschiedene Duftstränge drangen durchs Fenster herein und verrieten ihm, dass sie sich nun in einem Waldgebiet bewegten. Die scharfen Gerüche der Tannen – Holz, Rinde, Zapfen und Nadeln – durchschnitten die Luft wie Messerklingen, doch daneben nahm der Fuchs auch sanftere Anklänge wahr, Spuren von Klee, wildem Knoblauch und Farn sowie von hundert Dingen, die ihm nie zuvor begegnet waren, die aber einen grünen, durchdringenden Geruch absonderten.

Nun spürte auch der Junge etwas. Er zog sein Tier dichter an sich und umfasste seinen Baseballhandschuh noch fester. Die Anspannung des Jungen überraschte den Fuchs. Die wenigen Male, die sie zuvor zusammen im Auto gesessen hatten, war der Junge ganz ruhig gewesen oder sogar voller Vorfreude. Obwohl er den Ledergeruch hasste, grub der Fuchs seine Schnauze in den Handschuh – denn immer, wenn er das machte, lachte der Junge, schloss den Handschuh um den Kopf seines Tieres und tat so, als würde er mit ihm kämpfen. So könnte er seinen Jungen ablenken, vermutete der Fuchs.

Doch heute zog der Junge ihn nur zu sich hoch und vergrub das Gesicht tief in der weißen Halskrause seines Tieres.

Da merkte der Fuchs, dass der Junge weinte. Um ganz sicher zu sein, drehte er sich um und sah ihm ins Gesicht. Doch, wirklich, er weinte, aber ohne jedes Geräusch. Das hatte der Fuchs noch nie erlebt. Es war sehr lange her, dass der Junge zuletzt geweint hatte, doch der Fuchs erinnerte sich: Zuerst war immer ein lautes Aufheulen gekommen – wohl um die Aufmerksamkeit auf dieses seltsame Geschehen zu lenken, bei dem salziges Wasser aus den Augen strömte.

Der Fuchs leckte dem Jungen übers Gesicht, doch das verwirrte ihn nur noch mehr: Zwar kamen Tränen aus den Augen des Jungen, doch es roch nirgends nach Blut. Besorgt, dass ihm trotz seines ausgeprägten Geruchssinns eine Verletzung entgangen sein könnte, befreite der Fuchs sich aus den Armen seines Menschen, um ihn genauer zu betrachten. Nein, da war nirgendwo Blut. Nicht einmal ein blauer Fleck war zu sehen, und anders als früher einmal schien auch kein Knochen gebrochen, denn der Fuchs witterte kein austretendes Mark.

Der Wagen bog nach rechts ab, wobei der Koffer auf der Rückbank verrutschte. Am Geruch erkannte der Fuchs, dass darin außer den Kleidern des Jungen auch die Dinge waren, die dieser am häufigsten in die Hand nahm: das Foto, das sonst oben auf seiner Kommode stand, und einige Sachen, die normalerweise in der untersten Schublade versteckt waren. Der Fuchs nagte an einer Ecke des Koffers, in der Hoffnung, ein Loch hineinzubekommen. Dann könnte auch der Junge mit seinem schwachen Geruchssinn den Duft seiner Lieblingssachen aufnehmen und wäre getröstet. Doch genau in diesem Moment wurde der Wagen erneut langsamer; jetzt holperte er nur noch vorwärts. Der Junge sank nach vorn und legte den Kopf in beide Hände.

Das Herz des Fuchses schlug schneller, und die buschigen Haare an seinem Schwanz richteten sich auf. Seine Kehle brannte von dem Geruch nach verkohltem Metall, der von der neuen Kleidung des Vaters ausging. Er sprang ans Fenster und kratzte daran. Wenn er das zu Hause tat, schob der Junge manchmal eine ganz ähnliche Wand aus Glas wie diese hoch, und dann ging es dem Fuchs gleich besser.

Doch dieses Mal zog der Junge ihn nur auf seinen Schoß zurück und redete flehentlich auf seinen Vater ein. Der Fuchs hatte die Bedeutung vieler Menschenwörter gelernt, und eins von diesen hörte er jetzt: »NEIN.« Dieses »Nein« kam oft zusammen mit einem der zwei Namen, die der Fuchs kannte, seinem eigenen oder dem des Jungen. Er horchte aufmerksam, doch heute war da nur dieses »Nein«, das in flehendem Ton immer wieder an den Vater gerichtet war.

Mit einem letzten Rucken kam der Wagen nun endgültig zum Stehen und neigte sich leicht nach rechts. Eine Staubwolke stieg auf der anderen Seite der Scheibe auf. Der Vater langte über die Rücklehne nach hinten, und mit sanfter Stimme, die so gar nicht zu seinem harten Lügengeruch passte, sagte er etwas zu seinem Sohn. Dann packte er den Fuchs im Nacken.

Der Junge ließ ihn gewähren, und so setzte sich auch der Fuchs nicht zur Wehr. Schlaff und verletzlich hing er im Griff des Mannes, obwohl er jetzt genug Angst verspürte, um zu beißen. Doch an diesem Tag wollte er seine Menschen nicht verärgern. Der Vater öffnete die Autotür und ging, den Fuchs immer noch im Genick gepackt, mit großen Schritten über Schotter und Grasflecken in Richtung Waldrand. Der Junge stieg aus und folgte.

Der Vater setzte den Fuchs endlich am Boden ab, und das Tier sprang schnell davon, um außer Reichweite des Mannes zu sein. Dann richtete er den Blick fest auf seine beiden Menschen und stellte überrascht fest, dass beide inzwischen fast gleich groß waren. In letzter Zeit war der Junge sehr gewachsen.

Der Vater zeigte zum Wald hinüber. Der Junge sah seinen Vater lange an, und wieder liefen ihm Tränen aus den Augen. Dann trocknete er sich das Gesicht mit dem Ausschnitt seines T-Shirts und nickte. Schließlich griff er in eine Tasche seiner Jeans und zog einen alten Plastiksoldaten hervor, das Lieblingsspielzeug des Fuchses.

Sofort ging der Fuchs in Habachtstellung und wartete auf den Beginn des vertrauten Spiels, bei dem der Junge das Spielzeug weit von sich warf und der Fuchs es aufspürte, wovon der Junge jedes Mal aufs Neue beeindruckt schien. Der Fuchs nahm das Spielzeug dann auf und hielt es so lange im Maul, bis der Junge kam und es ihm wieder wegnahm, um es ein weiteres Mal zu werfen.

Und tatsächlich, der Junge hob den Arm mit dem Spielzeugsoldaten und schleuderte die Figur in den Wald. Sie waren also wirklich nur zum Spielen hergekommen! Der Fuchs war so erleichtert, dass er achtlos wurde. Ohne wie sonst einen Blick zurück zu seinen Menschen zu werfen, sprang er in Richtung Wald. Hätte er sich noch einmal umgeschaut, hätte der Fuchs gesehen, wie der Junge sich von seinem Vater losriss und die Hände vors Gesicht hielt. Dann hätte er sofort kehrtgemacht. Was auch immer der Junge brauchen mochte – Schutz, Ablenkung, Zärtlichkeit –, er hätte es ihm geboten.

Stattdessen war er dem Spielzeug auf der Spur. Dieses Mal war es schwieriger zu finden als sonst; der Wald war voll von so vielen anderen, frischeren Gerüchen. Aber nur ein bisschen schwieriger – schließlich haftete der Geruch des Jungen auch an seinem Spielzeug. Und diesen Geruch würde er überall aufspüren.

Der Spielzeugsoldat lag mit dem Gesicht nach unten an der knorrigen Wurzel eines Walnussbaums, gerade so, als hätte er sich voller Verzweiflung zu Boden gestürzt. Sein Gewehr, das er stets unermüdlich ans Gesicht drückte, steckte bis zum Schaft in welkem Laub. Mit der Schnauze legte der Fuchs die Figur frei, dann nahm er sie zwischen die Zähne und richtete sich hoch auf, damit sein Junge ihn auch finden konnte. Die einzige Bewegung im stillen Wald waren die Streifen von Sonnenlicht, die wie grünes Glas durch das Laubdach fielen. Der Fuchs reckte sich höher. Von seinem Jungen war nichts zu sehen. Pax wurde unruhig, ein feines Kribbeln lief ihm über den Rücken. Er ließ das Spielzeug fallen und bellte. Keine Antwort. Er bellte noch einmal, und wieder war da nur diese Stille. Wenn dies ein neues Spiel sein sollte, so gefiel es ihm nicht.

Er hob den Plastiksoldaten wieder auf und lief den Weg zurück, den er gekommen war. Gerade als er aus dem Wald trat, flog ein Eichelhäher laut schreiend heran, und der Fuchs erstarrte. Er fühlte sich hin- und hergerissen.

Sein Junge wartete auf ihn, um mit dem Spiel weiterzumachen. Andererseits – Vögel! Stunde um Stunde hatte er sie von seinem Gehege aus beobachtet, hatte ihnen zugesehen, wie sie furchtlos den Himmel durchschnitten, nicht anders als die Blitze an Sommerabenden, und stets war ein Beben durch seinen Körper gegangen. Jedes Mal war er aufs Neue gebannt von dieser Freiheit des Fliegens.

Wieder rief der Eichelhäher, dieses Mal schon tiefer im Wald, und dieses Mal antwortete ihm ein ganzer Chor von Stimmen. Einen kurzen Moment noch zögerte der Fuchs und spähte zwischen den Bäumen hindurch nach einem erneuten Aufblitzen des leuchtend blauen Keils im Gefieder.

Auf einmal hörte er hinter sich, wie erst eine Tür zuschlug und dann noch eine. Ohne auf die Dornen zu achten, die an seinem Fell rissen, stürmte der Fuchs los, doch als er hörte, wie der Motor laut aufheulte, kam er schlitternd am Straßenrand zum Stehen.

Sein Junge rollte das Fenster hinunter und streckte beide Arme nach dem Fuchs aus. Der Wagen raste davon, Schottersteinchen flogen seitlich auf, der Vater brüllte den Namen des Jungen – »Peter!« –, und der Junge brüllte den einzigen anderen Namen, den der Fuchs kannte.

»Pax!«

»Es gab also jede Menge davon.«

Peter merkte selbst, wie blöd er sich anhörte, doch er konnte nicht anders: Er musste es noch einmal sagen. »Jede Menge.« Mit den Fingern durchkämmte er den Inhalt der zerbeulten Keksdose. Plastiksoldaten zuhauf lagen darin, einer wie der andere aussehend und stets das Gewehr ans olivfarbene Gesicht gepresst, nur in unterschiedlichen Posen: stehend, kniend oder robbend. »Ich dachte immer, er hätte bloß den einen gehabt.«

»Ach was, ständig trat man auf einen. Er muss Hunderte davon gehabt haben. Eine ganze Armee.« Der Großvater lachte über seinen eigenen Witz. Peter nicht. Er wandte den Kopf zum Fenster und sah angestrengt in den Garten hinterm Haus, als hätte in der einbrechenden Dunkelheit gerade etwas seine Aufmerksamkeit erregt. Er hob eine Hand und strich sich mit den Knöcheln übers Kinn. Mit derselben Bewegung, mit der sein Vater sich über die Bartstoppeln strich, wischte er sich immer wieder verstohlen die Tränen weg, die ihm plötzlich übers Gesicht liefen. Er war doch keine Heulsuse!

Welchen Grund gab es überhaupt für Tränen? Peter war zwölf und hatte seit Jahren nicht mehr geweint, nicht einmal, als er beim Baseball mit der bloßen Hand Josh Hourihans Pop Fly gefangen und sich den Daumen gebrochen hatte. Das hatte höllisch weh getan, trotzdem hatte er gegen den Schmerz angeflucht, während er neben seinem Trainer im Krankenhaus aufs Röntgen gewartet hatte. Ein Mann weinte nicht! Aber heute war es ihm gleich zweimal passiert.

Peter nahm einen Soldaten aus der Dose. Seine Gedanken gingen zurück zu dem Tag, an dem er genau so einen im Schreibtisch seines Vaters entdeckt hatte. »Was ist das denn?«, hatte er gefragt und das Spielzeug hochgehalten.

Peters Vater hatte hinübergelangt und die Figur in die Hand genommen. »Hm«, machte er, und seine Miene wurde weicher. »Das war mein liebstes Spielzeug, als ich ein Junge war. Lang, lang ist’s her.«

»Kann ich es haben?«

Sein Vater hatte ihm den Soldaten wieder zugeworfen. »Klar.«

Peter hatte ihn so auf die Fensterbank neben seinem Bett gestellt, dass das kleine Plastikgewehr kämpferisch nach draußen gerichtet war. Doch es hatte keine Stunde gedauert, bis Pax sich die Figur geschnappt hatte. Peter hatte lachen müssen – Pax wollte das Spielzeug unbedingt haben, gerade so wie er selbst kurz zuvor.

Er ließ die Plastikfigur zurück in die Blechdose fallen und wollte gerade den Deckel wieder schließen, als sein Blick auf die Ecke eines vergilbten Fotos fiel, die unter all den Soldaten hervorblitzte.

Peter zog das Bild heraus. Das war doch sein Vater, mit vielleicht zehn oder elf! Er hatte den Arm um einen Hund gelegt, der wie eine Mischung aus einem Collie und ungefähr hundert anderen Rassen aussah. Wie ein guter Hund jedenfalls, fand Peter. Auf alle Fälle wie einer, von dem man seinem Sohn eigentlich erzählen würde. »Ich wusste gar nicht, dass Dad einen Hund hatte«, sagte Peter und hielt seinem Großvater das Foto hin.

»Duke. Das blödeste Vieh aller Zeiten, lief einem ständig vor den Füßen rum.« Der Alte sah sich das Bild genauer an und blickte dann zu Peter hinüber, so als fiele ihm etwas zum ersten Mal auf. »Du hast die gleichen schwarzen Haare wie dein Vater.« Er strich sich über den grauen, flusigen Haarkranz. »Solche hatte ich auch mal, früher. Und siehst du, wie mager er war, genau wie du und ich, und die gleichen Segelohren hatte er auch. Tja, die Männer in unserer Familie – der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, oder?«

»Nein.« Peter zwang sich zu einem kleinen Lächeln, aber es hielt nicht lange an. Lief einem ständig vor den Füßen rum. Ähnliches hatte sein Vater über Pax gesagt: »Es geht nicht, dass dieser Fuchs ihm ständig vor den Füßen rumwuselt. Dein Großvater ist nicht mehr so beweglich wie früher. Sieh du auch zu, dass du ihm nicht im Weg stehst. Er ist es nicht gewöhnt, ein Kind um sich zu haben.«

»So war das«, fuhr der Großvater jetzt fort. »Es gab Krieg, und ich hab unserem Land gedient. So wie mein Vater vor mir und wie dein Vater jetzt. Die Pflicht ruft, und in dieser Familie stellt man sich ihr. Ja, ja, bei uns fällt der Apfel wirklich nicht weit vom Stamm.« Er reichte Peter das Foto zurück. »Dein Vater und dieser Hund. Unzertrennlich waren die beiden. Hatte ich schon fast vergessen.«

Peter legte das Foto zurück, schloss den Deckel fest und schob die Dose zurück unters Bett, wo er sie gefunden hatte. Dann schaute er wieder aus dem Fenster. Ein Gespräch über Haustiere konnte er jetzt nicht riskieren. Über Pflichterfüllung wollte er auch nichts hören, und schon gar nichts über Äpfel, die von irgendwelchen Bäumen fielen. »Um wie viel Uhr fängt die Schule hier an?«, fragte er, ohne sich umzudrehen.

»Um acht. Du sollst zeitig da sein, haben sie gesagt, und dich der Klassenlehrerin vorstellen. Einer Mrs Mirez. Oder Ramirez … So ähnlich jedenfalls. Ich hab dir ein paar Schulsachen besorgt.« Der Alte wies mit dem Kopf hinüber zu einem Spiralblock, einer zerdellten Trinkflasche und einem Bündel Bleistiftstummel mit einem breiten Gummi darum.

Peter ging zum Schreibtisch und packte alles in seinen Rucksack. »Danke. Wie komme ich da hin? Mit dem Bus oder zu Fuß?«

»Zu Fuß. Dein Vater war auf derselben Schule, und er ist immer gelaufen. Du gehst immer die Ash Street entlang und biegst ganz am Ende in die School Street, dann siehst du’s schon, ist ein großes Backsteingebäude. School Street – kapiert? Geh um halb acht los, dann hast du Zeit genug.«

Peter nickte. Er wollte jetzt gern allein sein. »Okay, ich wär so weit. Ich geh dann mal ins Bett.«

»Gut«, antwortete der Großvater und machte sich nicht die Mühe, seine Erleichterung zu verbergen. Er ging hinaus und zog die Tür fest hinter sich zu, so als wollte er sagen: Dieses Zimmer kannst du haben, aber der Rest des Hauses gehört nur mir.

Peter lauschte den sich entfernenden Schritten des Großvaters. Bald darauf hörte er das Klappern von Geschirr im Spülbecken. Er sah den Großvater vor sich in der engen Küche, in der sie schweigend ihren Eintopf gegessen hatten, und in der es so beißend nach gebratenen Zwiebeln roch, dass Peter sich vorstellte, dieser Geruch müsse den Großvater dereinst überleben. Selbst nach hundert Jahren und einem ganzen Dutzend scheuernder Familien nach ihm würde dieser bittere Geruch vermutlich noch in der Luft hängen.

Der Großvater schlurfte durch den Flur und ging in sein Schlafzimmer. Peter hörte noch, wie er den Fernseher anmachte und so leise stellte, dass von der aufgeregten Stimme des Nachrichtensprechers kaum etwas zu ihm herüberdrang. Erst dann streifte Peter seine Turnschuhe mit den Zehen ab und legte sich auf das schmale Bett.

Ein halbes Jahr lang, vielleicht sogar länger, sollte er also hier beim Großvater leben, der immer so wirkte, als könnte er jeden Moment aus der Haut fahren. »Worauf hat er eigentlich so eine Wut?«, hatte Peter seinen Vater vor Jahren einmal gefragt.

»Auf alles. Auf das Leben«, hatte der Vater geantwortet. »Ist schlimmer geworden, nachdem deine Großmutter gestorben ist.«

Als seine eigene Mutter gestorben war, hatte Peter angefangen, seinen Vater besorgt zu beobachten. Zuerst war da nur dieses erschreckende Schweigen, doch nach und nach verhärtete sich seine Miene, so dass ständig Ärger zu drohen schien, und die seitlich herabhängenden Hände waren stets zu Fäusten geballt, so als wartete der Vater nur ungeduldig auf einen Grund, losschlagen zu können.

Peter lernte bald, dem Vater diesen Grund nicht zu bieten. Lernte, ihm aus dem Weg zu gehen.

Peter öffnete das Fenster über dem Bett. Der Geruch von Zwiebeln und abgestandenem Fett schien sogar aus den Wänden und dem Bett zu dringen.

Kalt blies der Aprilwind herein. Außer in seinem Gehege war Pax noch nie allein im Freien gewesen. Peter versuchte, das letzte Bild, das er von seinem Fuchs vor Augen hatte, zu vergessen. Bestimmt war er dem Wagen nicht lange gefolgt. Andererseits war die Vorstellung, wie Pax sich verwirrt auf den Schotter sinken ließ, nur noch schlimmer.

Jetzt regte sich die Angst in Peter. Den ganzen Tag über, während der langen Fahrt hierher, hatte er sie in sich gespürt. Immer schon waren seine Ängste ihm wie eine Schlange vorgekommen, die zusammengerollt in ihm lauerte, jederzeit bereit, sich an seinem Rückgrat hochzuschlängeln mit dem vertrauten höhnischen Zischen. Du bist nicht, wo du sein solltest. Etwas Schlimmes wird geschehen, weil du nicht da bist, wo du sein solltest.

Er drehte sich auf den Bauch, zog die Keksdose unter dem Bett hervor und fischte noch einmal das Foto heraus, auf dem sein Vater so entspannt einen Arm um den schwarzweißen Hund legte. Als hätte er sich keine Sekunde lang Sorgen gemacht, er könnte ihn je verlieren.

Unzertrennlich. Peter war es nicht entgangen, mit welchem Stolz in der Stimme der Großvater das gesagt hatte. Natürlich war er stolz gewesen: Er hatte einen Sohn großgezogen, der wusste, was Treue und Verantwortung bedeuteten. Der wusste, dass ein Kind und sein Haustier unzertrennlich zu sein hatten. Unzertrennlich. Mit einem Mal erschien Peter dieses Wort wie eine Anklage. Er und Pax … was waren sie? Zertrennlich?

Nein, das waren sie nicht. Im Gegenteil, manchmal hatte Peter sogar das verrückte Gefühl, mit Pax zu verschmelzen. Begonnen hatte das, als Pax zum ersten Mal mit ins Freie durfte. Der Welpe hatte einen Vogel entdeckt, an der Leine gezerrt und wie elektrisiert gezittert. Damals hatte Peter den Vogel mit Pax’ Augen gesehen – den pfeilschnellen, an ein Wunder grenzenden Flug, diese ungeheure Freiheit und diese unglaubliche Geschwindigkeit. Er hatte gespürt, wie ihm Schauder über die Haut liefen, wie er am ganzen Körper zitterte und wie ihm die Schultern brannten, als sehnten sie sich nach Flügeln.

An diesem Nachmittag war es wieder passiert. Es hatte sich angefühlt, als wäre er selbst derjenige, der allein zurückgelassen wurde, während das Auto davonbrauste. Panik hatte ihn ergriffen, und sein Herz hatte schneller geschlagen.

Wieder brannten Tränen in Peters Augen, und genervt wischte er sie mit der flachen Hand weg. Es sei richtig, was sie taten, hatte der Vater gesagt. »Es gibt Krieg. Da müssen alle Opfer bringen. Meine Pflicht ist es, dem Land als Soldat zu dienen. Deine ist es, von hier wegzugehen.«

Natürlich hatte er mehr oder weniger damit gerechnet. Schon zwei seiner Freunde und ihre Familien hatten gleich bei den ersten Evakuierungsgerüchten das Nötigste zusammengepackt und die Stadt verlassen. Womit Peter nicht gerechnet hatte, war das andere. Der schlimmste Teil. »Was diesen Fuchs angeht … Wird sowieso Zeit, dass der zurück in die Wildnis kommt.«

In diesem Moment heulte ein Kojote, so laut, dass Peter im Bett hochfuhr. Ein zweiter antwortete, dann ein dritter. Der Junge richtete sich auf und knallte das Fenster zu, doch es war schon zu spät. Ihr Gekläff und Geheul und das, was sie bedeuteten, steckten bereits in seinem Kopf fest.

Peter hatte zwei sehr schlimme Erinnerungen im Zusammenhang mit seiner Mutter, neben den vielen guten, die er immer wieder hervorholte, um sich zu trösten (auch wenn er fürchtete, sie könnten verblassen, wenn er sie zu oft ans Licht holte). Eigentlich hatte er die beiden schlimmen Erinnerungen tief in seinem Inneren vergraben, und er tat auch alles dafür, dass sie dort blieben. Doch das Bellen der Kojoten grub sich in seinen Kopf und holte eine dieser Erinnerungen wieder hervor.

Er musste so um die fünf gewesen sein, als er seine Mutter einmal ganz entsetzt neben einem Beet tiefroter Tulpen fand. Die eine Hälfte stand in Reih und Glied, die übrigen lagen zertreten über den Boden verteilt.

»Das war ein Kaninchen. So ein kleiner Teufel! Findet Tulpenstiele wohl besonders lecker.«

Am Abend hatte Peter seinem Vater geholfen, eine Falle aufzustellen. »Aber wir tun ihm nicht weh, oder?«, hatte er ängstlich gefragt.

»Keine Sorge, wir fangen es nur ein. Dann fahren wir mit ihm in den nächsten Ort und lassen es da frei. Soll es doch die Tulpen von anderen Leuten fressen!«

Peter hatte eine Möhre als Köder in die Falle gelegt und seinen Vater gebeten, ihn im Garten schlafen zu lassen, damit er Wache halten könne. Der Vater hatte nein gesagt, ihm aber geholfen, den Wecker zu stellen, damit Peter am nächsten Morgen noch vor den anderen aufwachen würde. Beim ersten Weckerläuten rannte Peter ins Zimmer seiner Mutter, um sie an der Hand in den Garten zu führen und ihr die Überraschung zu zeigen.

Die Falle lag auf der Seite, am Grunde eines frisch gegrabenen Kraters, der mindestens fünf Fuß breit war. In der Falle lag ein winziges Kaninchen, tot. Der kleine Körper wies keinerlei Verletzungen auf, doch der Käfig war zerkratzt und zerdellt. Ringsumher war der Boden aufgewühlt.

»Kojoten«, sagte der Vater, als er zu ihnen trat. »Sie müssen das Tier zu Tode erschreckt haben, als sie versuchten, in den Käfig zu gelangen. Und keiner von uns ist wach geworden!«

Peters Mutter hatte die Falle geöffnet, die leblose kleine Gestalt herausgenommen und an ihr Gesicht gedrückt. »Es waren doch bloß Tulpen. Nur ein paar Tulpen.«

Peter nahm die Möhre, deren eines Ende angeknabbert war, und warf sie so weit weg, wie er konnte. Die Mutter legte ihm das Kaninchen in die gewölbten Hände und ging eine Schaufel holen. Mit einem Finger strich Peter dem toten Tier über die Ohren, die wie junge Farnwedel vom Kopf abstanden, liebkoste die winzigen Pfoten und das seidige Fell im Nacken, das noch feucht war von den Tränen der Mutter.

Als sie zurückkam, strich sie ihm übers Gesicht, das vor Scham brannte. »Schon gut, du konntest es nicht wissen.«

Aber nichts war gut. Noch lange danach, wann immer Peter die Augen schloss, hatte er Kojoten gesehen. Die Klauen, mit denen sie die Erde aufwühlten, die schnappenden Mäuler. Und er hatte sich selbst dort gesehen, wo er in jener Nacht hätte sein sollen: im Garten, bei der Nachtwache. Immer wieder sah er sich selbst, wie er tat, was er hätte tun sollen – aus dem Schlafsack kriechen, einen Stein suchen und ihn auf die Kojoten schleudern. Er sah sie vor sich, wie sie flohen, und er sah sich selbst, wie er die Falle öffnete und das Kaninchen freiließ.

Bei dieser Erinnerung schlug die Angstschlange so heftig zu, dass es Peter den Atem verschlug. In der Nacht, als die Kojoten das Kaninchen töteten, war er nicht gewesen, wo er hätte sein sollen, und jetzt war er es wieder nicht.

Er schnappte nach Luft, um seine Lungen zu füllen, und setzte sich kerzengerade auf. Er riss das Foto mittendurch, einmal und noch einmal, und warf die Schnipsel unters Bett.

Pax zu verlassen war eindeutig nicht richtig gewesen.

Peter sprang auf – er hatte schon zu viel Zeit verloren. Er kramte seine Cargos, ein langärmeliges Camouflage-T-Shirt und einen Fleece-Pulli aus dem Koffer, dazu eine Ersatzgarnitur Unterwäsche und Socken. Eilig stopfte er alles in seinen Rucksack; nur den Pulli band er sich um die Taille. Was noch? Taschenmesser in die Jeanstasche. Portemonnaie. Einen Moment lang schwankte Peter zwischen seinen Wanderstiefeln und den Turnschuhen, dann entschied er sich für die Stiefel, zog sie aber nicht gleich an.

Er ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen in der Hoffnung, eine Taschenlampe oder sonstige Campingausrüstung zu entdecken. Sein Vater hatte zwar als Junge in diesem Zimmer gewohnt, aber offenbar hatte der Großvater bis auf die wenigen Bücher auf einem Bord alle Habseligkeiten des Sohnes weggeräumt. Die Keksdose hatte er dabei wohl übersehen, jedenfalls schien er überrascht, als Peter sie ihm brachte.

Der Junge strich mit dem Finger über die Buchrücken.

Ein Straßenatlas! Er zog ihn heraus, erstaunt über sein Glück, und blätterte rasch die Seiten durch, bis er auf die Karte stieß mit der Strecke, die er heute mit dem Vater zurückgelegt hatte. »Du bist doch gerade mal dreihundert Kilometer entfernt«, hatte der Vater auf der Fahrt mehrmals gesagt in dem Versuch, das Schweigen zwischen ihnen zu brechen. »Sobald ich einen freien Tag habe, komm ich.« Doch das würde nie passieren, so viel war Peter schon klar. Im Krieg gibt es keine freien Tage.

Abgesehen davon war der Vater nicht der, den er jetzt schon vermisste.

Auf einmal fiel dem Jungen etwas auf, was ihm bisher entgangen war: Die Schnellstraße wand sich um eine lange Kette von Gebirgsausläufern. Wenn er direkt über die Berge ginge statt außen herum, würde er viel Zeit gewinnen. Außerdem verringerte er so das Risiko, geschnappt zu werden. Schon wollte er die Seite ausreißen, da fiel ihm ein, dass er dem Großvater unmöglich einen so eindeutigen Hinweis hinterlassen konnte. Also prägte er sich die Karte aufmerksam ein und stellte den Atlas zurück ins Regal.

Dreihundert Kilometer. Es sah so aus, als könnte er durch die Abkürzung rund ein Drittel davon einsparen. Blieben also noch zweihundert. Wenn er mindestens dreißig Kilometer am Tag lief, konnte er es in einer Woche oder womöglich in noch kürzerer Zeit schaffen.

Sie hatten Pax oben an der Zufahrt zu einer verlassenen Seilfabrik zurückgelassen. Peter hatte auf dieser Stelle bestanden, weil sie von Wäldern und Wiesen umgeben war und kaum je befahren wurde – schließlich hatte Pax ja überhaupt keine Erfahrung im Straßenverkehr. Dorthin würde Peter zurückgehen, und dort würde Pax auf ihn warten, in einer Woche. Was einem zahmen Fuchs in sieben Tagen alles zustoßen mochte, stellte Peter sich lieber nicht vor. Nein, nein, Pax würde am Straßenrand warten, genau da, wo sie ihn zurückgelassen hatten. Er würde Hunger haben, sicher, und auch verängstigt sein, aber davon abgesehen würde es ihm gutgehen. Peter würde ihn mit nach Hause nehmen, und da würden sie dann bleiben. Sollten sie doch versuchen, ihn noch einmal von dort wegzubringen! Nein, dieses Mal tat er das Richtige.

Pax und er. Unzertrennlich.

Peter schaute sich noch ein letztes Mal im Zimmer um und unterdrückte den Drang, sofort loszurennen. Er konnte es sich nicht leisten, irgendetwas zu übersehen. Das Bett! Er schlug die Decke zurück, zerknitterte das Laken und drückte das Kissen ein, so dass es aussah, als hätte jemand dort geschlafen. Aus seinem Koffer nahm er noch das Foto seiner Mutter, das an ihrem letzten Geburtstag aufgenommen worden war und immer auf seiner Kommode gestanden hatte. In der Hand hielt sie den Drachen, den Peter für sie gebastelt hatte, und sie lächelte, als hätte sie nie ein schöneres Geschenk bekommen. Peter steckte es in den Rucksack.

Dann zog er die Dinge hervor, die ihr gehörten und die er zu Hause in der untersten Schublade verwahrt hatte. Ihre Gartenhandschuhe, an denen noch die Erde hing, die sie zuletzt berührt hatte; eine Schachtel ihres Lieblingstees, dessen Pfefferminzaroma schon lange verflogen war; die dicken rotweißgestreiften Kniestrümpfe, die sie im Winter immer getragen hatte. Er berührte all diese Dinge noch einmal und wünschte, er könnte sie zurück nach Hause bringen, wohin sie gehörten. Dann wählte er den kleinsten Gegenstand aus, den er noch von ihr besaß: ein goldenes Armband mit emailliertem Phönix-Glücksbringer, das sie täglich getragen hatte, und legte es in seinen Rucksack, gleich neben das Foto.

Sein allerletzter Kontrollblick blieb an seinem Baseball und dem Handschuh hängen. Peter ging hinüber zur Kommode und stopfte beides in den Rucksack. Sie wogen ja nicht viel, und zu Hause würde er sie brauchen. Außerdem ging es ihm einfach besser, wenn er sie um sich hatte. Dann öffnete er leise die Tür und schlich in die Küche.

Er stellte den Rucksack auf den Eichentisch und begann, im matten Schein der Lampe über dem Herd, Vorräte einzupacken: eine Tüte Rosinen, ein Päckchen Cracker, ein halbleeres Glas Erdnussbutter. Für Erdnussbutter würde Pax aus jedem Versteck kommen. Aus dem Kühlschrank nahm Peter noch ein paar einzeln verpackte Käsestangen und zwei Apfelsinen. Er füllte seine Trinkflasche mit Wasser und kramte in den Schubladen, bis er Streichhölzer fand, die er in Alufolie wickelte. Unter dem Spülbecken machte er noch zwei Glücksfunde: eine Rolle Isolierband und eine Schachtel mit reißfesten Müllsäcken. Eine richtige Plastikplane wäre besser gewesen, aber er war schon dankbar für die Säcke. Zwei davon steckte er ein, dann zog er den Reißverschluss seines Rucksacks zu.

Als Letztes riss er ein Blatt vom Block neben dem Telefon und fing an zu schreiben: LIEBER GROSSVATER! Er schaute die Worte an, und sie kamen ihm vor wie aus einer fremden Sprache. Er zerknüllte das Blatt und begann mit einer neuen Nachricht: BIN SCHON FRÜH LOS. WOLLTE RECHTZEITIG IN DER SCHULE SEIN. BIS HEUTE ABEND. Wieder starrte er auf das Blatt und fragte sich, ob seine Worte so schuldbewusst klangen, wie er sich fühlte. Schließlich fügte er noch hinzu: DANKE FÜR ALLES – PETER. Er beschwerte das Papier mit dem Salzstreuer und ging leise aus dem Haus.

Auf dem gepflasterten Weg zog er seinen Pulli über, dann bückte er sich, um die Stiefel anzuziehen. Nachdem er den Rucksack aufgesetzt hatte, nahm er sich noch einen Moment Zeit, um Abschied zu nehmen. Er drehte sich um. Das Haus schien ihm kleiner als bei seiner Ankunft, so als würde es bereits jetzt zurücksinken in die Vergangenheit. Am Horizont trieben einzelne Wolken dahin, der Halbmond am Himmel warf Licht auf Peters Weg.

Pax hatte Hunger, und kalt war ihm auch. Aber geweckt hatte ihn das Gefühl, Deckung suchen zu müssen. Er blinzelte und wich instinktiv zurück. Doch was sich eben noch wie die vertrauten Wände seines Geheges angefühlt hatte, gab nach und brach mit scharfem Knacken durch. Pax drehte sich um und fand sich umgeben von den verholzten Stielen der Seidenpflanzen, zwischen die er sich Stunden zuvor gezwängt hatte.

Er bellte, um nach Peter zu rufen, erinnerte sich jedoch gleich wieder: Sein Junge war fort.

Pax war es nicht gewohnt, allein zu sein. Zur Welt gekommen war er in einem wuselnden Wurf aus vier Welpen, doch sein Vater war verschwunden, noch bevor die Jungen auch nur seinen Geruch kannten. Bald darauf war auch die Mutter eines Morgens nicht mehr zurückgekommen. Einer nach dem anderen waren seine Brüder und die Schwester gestorben, und nur sein eigener Herzschlag war in dem kalten Bau übrig geblieben, bis Peter den Welpen herausgeholt hatte.

Seitdem lief Pax, wenn der Junge nicht zu Hause war, bis zu dessen Rückkehr unablässig in seinem Gehege auf und ab. Nachts winselte er, bis sie ihn ins Haus ließen, wo er dem Atem seines Menschen lauschen konnte.

Pax liebte seinen Jungen, doch vor allem fühlte er sich verantwortlich für ihn, für seinen Schutz, und wenn er diese Aufgabe nicht erfüllen konnte, litt er.

Jetzt schüttelte er sich den nächtlichen Regen vom Rücken und ging, ohne erst die steifen Muskeln zu dehnen, zur Straße, um die Witterung des Jungen aufzunehmen.

Er fand sie nicht, der nächtliche Wind hatte sämtliche Spuren verweht. Doch unter den Hunderten von anderen Gerüchen, die der Morgenwind ihm zutrug, war einer, der ihn an seinen Jungen erinnerte: der von Eicheln. Wie oft hatte Peter sich beide Hände mit Eicheln gefüllt, die er dann über Pax’ Rücken ausstreute. Lachend hatte er zugesehen, wie der Fuchs sie abschüttelte und dann die Kappen knackte, um an die Frucht zu kommen. Der vertraute Geruch kam Pax nun wie ein Versprechen vor, und so ging er näher heran.

Die Eicheln lagen um den Stumpf einer vom Blitz gefällten Eiche herum, mehrere weite Sprünge nördlich von der Stelle, an der Pax seinen Jungen zuletzt gesehen hatte. Er biss ein paar Kappen auf, doch die Früchte darunter waren verschrumpelt und muffig. Schließlich ließ er sich auf dem umgestürzten Baumstamm nieder und lauschte angestrengt, ob von der Straße irgendein Geräusch zu hören war.

Während er wartete, leckte er sein Fell trocken und sauber und fand Trost in den Spuren von Peters Geruch, die noch immer daran hafteten. Anschließend wandte er sich seinen Vorderpfoten zu und säuberte hingebungsvoll die vielen Risse in den Ballen.

Wann immer Pax bisher unruhig geworden war, hatte er begonnen, am Boden seines Geheges zu scharren. Obwohl er sich an dem harten Beton jedes Mal die Ballen aufgerissen hatte, war der Drang einfach zu stark gewesen. Während der vergangenen Woche hatte er fast täglich gescharrt.