Mein Herz in deiner Hand - Magurno Nadine - E-Book

Mein Herz in deiner Hand E-Book

Magurno Nadine

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Beschreibung

Jede Lüge wird irgendwann aufgedeckt. Die Wahrheit tut weh, mehr als sie wahrscheinlich sollte. Aber wir waren echt. Sind es immer noch. Und werden es immer sein. Nach einem Schicksalsschlag lebt Ruby mit ihrer kleinen Tochter im Haus ihres Schwiegervaters. Durch einen Zufall lernt sie den mehr als sympathischen AJ Di Marco kennen und verliebt sich vom ersten Augenblick an in ihn. Doch ihre Liebe ist von dunklen Wolken durchzogen, denn ihr Schwiegervater ist nicht der, der er zu sein scheint. Kann eine frische Liebe solch grosse Hürden überwinden? Oder ist alles zum Scheitern verurteilt? Was ist echt und was nicht? Fragen, die alles zu zerstören drohen.

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Für alle, die jemals unglücklich verliebt waren Es gibt sie noch…die Hoffnung

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Ruby

AJ

Ruby

AJ

Ruby

AJ

Ruby

AJ

Ruby

AJ

Ruby

AJ

Ruby

AJ

Ruby

AJ

Ruby

AJ

Ruby

AJ

Ruby

AJ

Ruby

AJ

Ruby

Epilog

Prolog

Ruby

Die ersten Sonnenstrahlen schleichen sich durch die Jalousien und kitzeln mich aus dem Schlaf. Meine Arme recken sich nach oben und ich strecke mich einmal richtig durch, bis es knackst. Oh, tut das gut. Mit noch geschlossenen Augen drehe ich mich auf die linke Seite und lasse meine Hände über die Bettdecke gleiten. Doch leider finde ich nicht das, was ich eigentlich suche. Die Seite von Ryan ist leer und auch schon kalt. Meine Augen öffnen sich und ich schiele zu seinem Kopfkissen rüber. Darauf liegen eine rote Rose und ein kleiner Zettel.

Guten Morgen wunderschöne verlobte. Mittagessen bei Spencers. Bis später ich Liebe dich. XXX Ryan.

Gott, er ist so süss. Während ich der Duft der Rose inhaliere, gleitet mein Blick über den Diamantring, den er mir gestern angesteckt hat. Sein Antrag war wie im Märchenbuch.

Wir hatten sturmfrei und er hat den gesamten Weg die Treppe hinauf bis hier in sein Zimmer im ersten Stock mit Rosenblättern geschmückt. Als ich der Spur gefolgt bin, kniete er hier auf dem Boden und offenbarte mir den schönsten Ring, den ich je gesehen habe. Einer atemberaubenden Liebeserklärung folgte dann die grosse Frage und ich habe ihm unter Tränen mit einem Ja geantwortet. Ich bin so unendlich glücklich. Ryan und ich sind jetzt seit drei Jahren zusammen und ein Tag war schöner als der andere. Wir haben uns am Seattle Central College kennengelernt. Am ersten Tag meines Studiums bin ich fast zu spät zur ersten Vorlesung gekommen. Als ich um eine Ecke sprintete, knallte ich in Ryan. Und tja, was soll ich sagen, es war Liebe auf den ersten Blick. Seit diesem Augenblick sind wir unzertrennlich.

Da meine Eltern in New York leben, wohnte ich lange Zeit in einer kleinen Studentenbude, die ich mir mit zwei anderen Mädchen teilte. Das wurde Ryan aber mit der Zeit dann doch zu eng und ich bin kurzerhand zu ihm gezogen. Seine Mutter Elsa starb vor zwei Jahren an Krebs und seitdem wohnt er mit seinem Vater allein in dieser Riesenvilla. Ich würde es vor Ryan nie zugeben, aber es ist tatsächlich schon einmal passiert, dass ich mich verlaufen habe. Ich glaube, hier gibt es mehr Zimmer als in einem Studentenwohnheim. Echt krass. Sein Dad hat seine eigene Firma und Ryan arbeitet darauf hin, das alles einmal zu übernehmen. Ich bin so unendlich stolz auf ihn.

Ich lege die Rose und den Zettel zur Seite und mache schnell das Bett. Da ich eine ziemliche Langschläferin bin und ich heute keine Vorlesung habe, ist es schon fast Mittag. Um Ryan noch rechtzeitig zu treffen, muss ich mich jetzt aber beeilen. Schnell streiche ich das Laken glatt und stolpere noch etwas verschlafen ins angrenzende Bad. Meine roten Haare stehen in alle Richtungen ab und ich versuche sie mit einem Haargummi zu bändigen. Nach mehreren gescheiterten Versuchen belasse ich es dann bei einem unordentlichen Dutt. Ich sollte mir wirklich mal die Haare schneiden lassen. Im Eiltempo habe ich mir die Zähne geputzt und leichtes Make-Up aufgelegt. Zurück im Zimmer ziehe ich mir ein weisses Shirt über und eine schwarze Leggings. Da der Kleine oder die Kleine in den letzten Wochen einen gewaltigen Sprung hingelegt hat, kann ich schon jetzt keine normalen Hosen mehr tragen. Die Schwangerschaft kam für uns beide völlig überraschend. Wir haben jedes Mal verhütet, aber bei diesem einen Mal scheint wohl das Kondom gerissen zu sein. Wir haben früh übers Heiraten und Kinderkriegen gesprochen und für uns war immer klar, dass wir beides wollten. Nun passiert alles halt ein bisschen früher als geplant. Aber wir freuen uns sehr über unser kleines Wunder. Sanft streiche ich über meinen Babybauch und kann ein Lächeln nicht unterdrücken. Es fühlt sich alles so richtig und einfach nur fantastisch an.

Ich ziehe mir Ballerinas über und schnappe mir mein Handy und die Handtasche. Das Restaurant, in dem wir uns treffen, ist nur ein paar Gehminuten von hier entfernt, weshalb ich gut zu Fuss gehen kann. Als ich die Treppe nach unten gehe, höre ich den Radio aus der Küche. Wie es aussieht, ist sein Vater von seiner Geschäftsreise wieder zurück. Henry Donovan ist ein mächtiger und einschüchternder Mann. Er ist Anfang sechzig, hat graues Haar und einen dazu passenden Schnauzer. Manchmal erinnert er mich an den Monopoly Mann. Nur ein bisschen dicker und weniger lustig. An Henry Donovan ist nämlich nichts lustig. Ich glaube, in all der Zeit, in der ich schon hier wohne, habe ich ihn nie lächeln gesehen. Naja, bis auf das eine Mal, als wir ihm gesagt haben, dass er Opa wird. Da haben die Mundwinkel ein bisschen gezuckt. Aber das wars auch schon. Er hat Ryan auf die Schultern geklopft, mich angestarrt und ein Gut gemacht Sohn gebrummelt. Die Blicke, die er mir ab und zu zuwirft, lassen mich jedes Mal erschaudern. Keine Ahnung, was in seinem Kopf vorgeht, aber es scheint nie etwas Gutes zu sein.

Genau wie jetzt. Ich trete durch die offene Türe in die Küche. Henry sitzt an der Theke und schlürft an seinem Kaffee, während er durch die Financial Times blättert. Als ich nähertrete und mir aus dem Kühlschrank eine Wasserflasche hole, hebt er den Blick und begrüsst mich mit einem stummen Nicken. Aber statt, dass er sich wieder seiner Zeitung widmet, lässt er seine braunen Augen über meinen ganzen Körper gleitet. Gerade bereue ich meine Outfitwahl zutiefst. Ich wünsche mich in eine weite Jogginghose und in ein noch weiteres Shirt. «Ich treffe mich nachher mit Ryan. Soll ich noch was fürs Abendessen besorgen?», frage ich ihn und hoffe, dass ich damit seine Aufmerksamkeit von meinen Brüsten weglenken kann. Tatsächlich scheint ihn meine Stimme aus irgendeiner kranken Fantasie befördert zu haben und er sieht mir endlich wieder in die Augen. «Ich bin fürs Essen nicht da. Ich habe noch einen Termin.», meint er dann und vertieft sich wieder in seine Zeitung. Komischer Kauz. Ich ziehe die Schultern nach oben und verabschiede mich dann von ihm.

Nach nicht mal zehn Minuten habe ich das Spencers erreicht und suche mir einen freien Platz. Wie immer um die Mittagszeit ist es sehr gut besucht, aber ich finde einen Tisch am Fenster und lasse mich auf einen der beiden Stühle nieder. «Was kann ich Ihnen bringen?», fragt mich die Bedienung und hält ihren Stift schon bereit. «Ich warte noch auf jemanden. Aber bringen Sie mir doch bitte schon einen Tee.» Schnell kritzelt sie alles auf ihren Block und huscht auch schon wieder davon. Ich surfe auf ein paar Babyseiten im Internet umher und bestelle sogar schon ein paar Sachen, bei denen ich einfach nicht widerstehen kann. «Du siehst wunderschön aus.» Ryans Stimme lässt mich aufschrecken und ich fasse mir an mein schneller pochendes Herz. Grinsend sehe ich zu ihm auf und schiebe das Handy zurück in meine Tasche. So elegant wie es mein grosser Bauch zulässt, erhebe ich mich und schlinge meine Arme um seinen Hals. Gott, er riecht so verdammt gut. «Hey Baby.», sanft küsse ich ihn auf die Lippen und auch er schlingt jetzt seine Arme um meine Taille, während er sich zu mir runterbeugt und meinen Kuss erwidert.

Erst durch ein lautes Räuspern lösen wir uns voneinander und starren beide die Kellnerin an. «Sorry, ich wollte nicht stören.» Bei der fehlenden Motivation in ihrer Stimme und in ihren Augen kann ich mir vorstellen, dass unsere kleine Kussszene wohl das Highlight ihres ganzen Tages war. «Entschuldigung.», sagt Ryan und lässt dann von mir ab, um sich auf den Stuhl gegenüber niederzulassen. Ich tue es ihm gleich und setze mich auch wieder hin.

Nachdem wir uns ein paar Burger mit Pommes bestellt haben, ziehe ich mein Handy wieder hervor und Ryan und ich schauen uns das letzte Ultraschallvideo zusammen an. Es ist faszinierend ihn dabei zu beobachten, wie er unserem Kind dabei zusieht, wie es Purzelbäume in meinem Bauch schlägt. Seine braunen Augen strahlen voller Glück.

Auch seine Haare sind braun und ein paar lose Strähnen fallen ihm ins Gesicht. Er sieht verdammt gut aus. Sein markantes Gesicht verzieht sich zu einem weiteren Grinsen. Ich liebe es, wenn er lächelt. «Mein Gott. Wie klein es noch ist. Wahnsinn.», raunt er dann und fährt mit seinem Finger über mein Handgelenk. Eine Gänsehaut erfasst mich. «Beim nächsten Ultraschall wissen wir endlich, was es wird.», freue ich mich und unsere Finger verhaken sich ineinander. Wir küssen uns noch einmal ganz fest und ich kriege einfach nie genug von ihm.

«Wie war dein Tag bisher?», will ich von ihm wissen und er erzählt mir von seinem neuesten Kurs und wie sehr ihn sein neuer Prof nervt. Ich liebe es, ihm zuzuhören und wie er von seinem Studium erzählt. Er ist mit vollem Herzblut dabei und das merkt man in jedem seiner Worte. «Aber ich habe noch andere Neuigkeiten.», unterbricht er dann plötzlich seinen Redeschwall und holt die Tageszeitung hervor. Er blättert ein paar Seiten durch und hält mir dann die Anzeige vor die Nase. Es ist tatsächlich eine Wohnungsanzeige und so wie der Beschrieb lautet, wäre sie einfach perfekt für uns. Sie hat zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer mit offener Küche, ein Bad und sogar einen Balkon. Und das Beste, sie liegt in Campusnähe und wäre sogar bezahlbar. Sobald unser Baby nämlich auf der Welt ist, mache ich eine Pause vom Studium und will mich ganz auf unser Kind konzentrieren. Zwar würden wir in dieser Zeit von Ryans Erspartem leben, aber uns ist es lieber so, als unser Kind in der Riesenvilla aufzuziehen. Wir waren uns schnell einig, dass wir was Eigenes haben wollen. Auf eigenen Beinen stehen und eine eigene Familie gründen. Und nun scheint unser Traum in greifbarer Nähe zu sein.

«Was meinst du?», man kann seine Ungeduld schon fast greifen. «Die müssen wir uns ansehen. Unbedingt.», bestimme ich dann und könnte vor Freude in die Luft springen. «Ich hatte gehofft, dass du das sagst Baby.» Ryan grinst mich an und drückt dann seine Lippen auf meine. Es ist alles perfekt. Wir lassen uns unser Essen einpacken, da Ryan auch schon wieder zur Uni muss. Er verspricht, dass er nach der Schule bei der Telefonnummer, die auf dem Inserat notiert ist, anrufen und um einen Besichtigungstermin bitten wird. Hand in Hand treten wir aus dem Restaurant. Die Tüte mit den Resten lasse ich in meiner grossen Handtasche verschwinden. Ich begleite Ryan bis zur nächsten Hausecke, wo wir uns dann verabschieden «Bis später meine Süsse.» Er drückt mir nochmal einen zärtlichen Kuss auf den Mund und streicht mit seiner Hand über meine Kugel. «Ich vermisse euch schon jetzt.», flüstert er an meinen Lippen, während ich lächle. «Ich liebe dich.», hauche ich zurück und mein Herz hämmert wie ein Presslufthammer. Auch nach so langer Zeit macht er mich immer noch nervös.

Nach gefühlten Stunden verabschieden wir uns voneinander und er geht Richtung Innenstadt davon.

Die Sonne scheint auf meinen Kopf und ich fühle mich innerlich, wie auch äusserlich wohlig warm. Mein Leben könnte gerade nicht besser laufen. Gedankenverloren streiche ich mir über meinen Bauch und denke schon über einen passenden Namen nach. Da wir bald wissen, was es wird, können wir unsere Wunschliste, die locker mehrere Seiten lang ist, endlich ein bisschen eingrenzen. Gerade laufe ich an einem Kinderbekleidungsgeschäft vorbei und kann meine Beine nicht davon abhalten, dass sie kehrt machen und durch die Eingangstüre treten. Sofort fühle ich mich wie in einem hellblauen / pinkfarbenen Watteball gefangen. Überall lachen mich kleine Teddys oder Puppen an. Kinderwagen in diversen Ausführungen, Formen und Farben stehen in Reih und Glied. Kinder rennen in den Fluren hin und her und werden von ihren sichtlich gestressten Müttern gejagt. Ich muss grinsen. Das alles kommt auch bald auf uns zu. Meine Finger gleiten durch die Kleider, die auf den Stangen aufgehängt sind. Wie klein die Pullis und Bodys sind. Ich kann mir noch gar nicht vorstellen, dass da ein kleiner Mensch reinpassen soll.

Mit einer vollbepackten Tasche trete ich dann tatsächlich eine Stunde später wieder auf die Strasse. Die Sachen waren einfach zu niedlich. Ich konnte sie nicht dort zurücklassen.

Ein Body hat die Aufschrift DAD IS THE BEST. Ryan wird sich sicher freuen. Ich kann es kaum erwarten ihm die Sachen heute Abend zu zeigen. Fröhlich pfeife ich irgendeine Melodie vor mich hin und spaziere weiter durch die Stadt, als mein Handy anfängt zu klingeln. Da ich meine halbe Welt und das Mittagessen in dieser Tasche gebunkert habe, dauert es einen Moment, bis ich es finde und den Anruf schwer atmend entgegennehmen kann.

«Hallo?», sage ich in den Hörer und weiche einigen entgegenkommenden Passanten aus. «Ruby?» Es ist die Stimme von Henry. Seit wann ruft er mich an? Und woher hat er bloss meine Nummer? «Ja.», gebe ich daher ein bisschen schüchtern als Antwort. «Ryan hatte einen Unfall. Er ist im UW Medical. Bist du in der Nähe?» Abrupt bleibe ich stehen und ein paar Leute müssen sich fluchend an mir vorbeischieben, damit sie nicht mit mir kollidieren.

«Was?» Ich glaube ich habe mich gerade verhört. Das kann nicht sein. Ryan war ja gerade noch bei mir und jetzt in der Uni. «Er kann keinen Unfall haben.», gebe ich an und schüttle den Kopf. Das ist nicht möglich. Das kann nicht möglich sein. Nein. «Du musst herkommen Ruby. Schnell.» Dann höre ich nur noch, dass die Leitung getrennt wird. Ist das jetzt sein Ernst? Er kann doch nicht einfach so auflegen!

Seine Worte haben sich in mein Hirn gebrannt und ich renne durch die Strassen von Seattle. Dass ich dabei meine Handtasche und die Tasche mit den Babysachen einfach liegenlasse, bemerke ich nur am Rande. Ohne Gepäck bin ich viel schneller und wenn ich die Panik in Henrys Stimme richtig gedeutet habe, dann muss alles, was jetzt passiert, verdammt schnell gehen. Deshalb renne ich, wie ich noch nie in meinem Leben gerannt bin. Mein Puls rast, meine Beine brennen und mein Atem geht bereits rasselnd. Ryan. Oh Gott Ryan. Ich komme. Halte durch Baby.

Es dauert geschlagene fünfzehn Minuten, bis ich endlich das UW Medical erreiche. Fünfzehn Minuten, in denen ich mir jedes Szenario ausgemalt habe, das möglich sein könnte. Von einer leichten Schramme bis...darüber will ich eigentlich nicht nachdenken. Das wird nicht passieren. Das kann nicht passieren. Nein. Die Türen zur Notaufnahme öffnen sich automatisch, sobald ich durch den Sensor renne. Patienten, Ärzte, Krankenschwestern, alles ist vorhanden. Aber ich sehe Ryan nirgendwo. Panisch blicke ich mich auf der Station um und bin kurz davor seinen Namen zu schreien.

«Ruby!» Henry steht plötzlich neben mir und sein Gesicht scheint sämtliche Farbe verloren zu haben. Seine braunen Augen, die denen seines Sohnes so sehr ähneln sind blutunterlaufen und feucht. Was ist hier los? «Henry...» Meine Stimme bricht.

Ich sehe die Panik, die ihn gerade wieder überfällt und er fängt an zu schluchzen. Henry schluchzt. Oh Gott. Das ist definitiv kein gutes Zeichen. Das ist ein verdammt beschissenes Zeichen. Wortlos nimmt er mich in seine Arme und drückt mich an seine Brust.

«Er ist tot.» Er weint und seine Tränen laufen in meine Haare. «Gott, er ist tot.» Sanft löse ich mich aus seinem Klammergriff und schaue zu ihm auf. «Nein.», ich schüttle den Kopf. «Das kann nicht...nein...» Doch die Wahrheit ist in seinen Augen geschrieben. Es stimmt. Es ist real.

Ich bemerke zu spät, dass meine Knie nachgeben und ich hart auf dem Krankenhausboden aufkomme. Mein Leben bricht in zwei und ich kann nichts dagegen unternehmen. Alles wovon ich geträumt habe, alles, was mich ausgemacht hat, ist weg. Es ist vorbei. Ich liege hier in den Trümmern meines Daseins und kriege keine Luft mehr. Ich schlage um mich. Ich schreie und ich weine. Ich weine und mein Herz zerreisst in tausend Stücke. Und ich schreie weiter, bis meine Lungen brennen und ich nur noch die Dunkelheit um mich wahrnehme.

Ruby

7 Jahre später

«Mommy!» Bevor ich meine Arme rechtzeitig heben kann, springt mein kleiner Wirbelwind schon auf mein Bett und fängt an mich abzuknutschen. Ihre langen Haare liegen wie ein roter Vorhang über uns und kitzeln mir den letzten Schlaf weg. «Hallo mein Sonnenschein.», begrüsse ich meine Tochter und fange auch an sie zu knutschen. Ich streiche ihr ihre Haare hinter die Ohren. «Hast du gut geschlafen?», will ich von ihr wissen und sie rutscht von meinem Schoss. Meine Blase ist ihr dafür mehr als dankbar. «Jepp.», meint sie und fängt an meine Haare zu flechten. Wir haben genau dasselbe Rot und auch fast dieselbe Länge. «Miss Davis hat meine Sachen schon gepackt und Opa ist auch schon startklar.» Ich schiele auf den Wecker. Es ist gerade mal sieben Uhr morgens und das an einem Samstag. «Warum seid ihr denn jetzt schon fertig? Es ist gerade mal sieben.», jammere ich und vergrabe mein Gesicht im Kopfkissen. Ich bin hundemüde und könnte locker noch ein paar Stunden einfach liegenbleiben, aber meine Kleine hat da andere Pläne.

«Komm schon Mommy!» Susanna rüttelt an meinen Schultern und ist dabei nicht gerade zimperlich. Mein Körper schüttelt sich hin und her und ich jammere noch mehr. «Ich will aber nicht.», schmolle ich wie ein Kleinkind und kann dann doch das Lachen nicht zurückhalten. Susanna krabbelt auf meinen Rücken und legt sich auf mich. «Ich habe vorhin mit Miss Davis Kaffee gemacht.» Und das ist das Zauberwort, das ich gerade dringend benötige. Ich liebe Kaffee über alles. Vor allem, wenn noch ein Schluck Milch drin Platz hat. «Okay überredet. Ich komme runter.», gebe ich mich dann geschlagen und Susanna steigt von mir runter. «Gib mir eine halbe Stunde okay?», frage ich sie und sie nickt mir euphorisch zu, bevor sie sich so schnell verzieht, wie sie aufgetaucht ist. Ich liebe sie so abgöttisch, dass ich ihr die frühe Weckstunde sofort verzeihe. Sie ist alles, was ich habe. Nach dem Tod von Ryan war es nicht einfach, aber ich glaube, dass ich mich als alleinerziehende Mutter nicht allzu schlecht geschlagen habe. Dieses Jahr hat sie mit der Schule angefangen und bis jetzt habe ich noch keinen Grund zur Sorge bekommen. Sie bringt gute Noten nach Hause, hat Freundinnen und auch ihre Lehrer sind von ihr begeistert.

Ein bisschen schwerfällig steige ich dann doch aus dem Bett und gehe in das angrenzende Bad. Früher hat das Zimmer Ryan gehört und ich habe hier mit ihm gewohnt.

Nach dem Autounfall von vor sieben Jahren hatte ich nicht mehr die Möglichkeit eine eigene Wohnung zu bekommen. Durch die Schwangerschaft und den Uniunterbruch, habe ich gar nichts verdient. Deshalb hat mir Henry erlaubt, bei ihm in der Villa zu leben und seine Enkeltochter hier grosszuziehen. Damals nahm ich dieses Angebot mit Handkuss entgegen. Heute würde ich wahrscheinlich lieber unter einer Brücke hausen und mich von Ratten ernähren, aber das ist ein anderes Thema. Henry ist ein grossartiger Grossvater und vergöttert Susanna fast so sehr wie ich. Er liest ihr jeden Wunsch von den Augen ab und lässt immer alles sofort für sie liegen. Sie könnte es nicht besser treffen. Um ihr diese unbeschwerte Kindheit weiterhin zu ermöglichen, habe ich mich meinem Schicksal auch ergeben. Ich würde alles für sie tun. Alles.

Ich wasche die letzten Seifenreste aus meinen Haaren und lasse alles den Abfluss herunterlaufen. Als Susanna noch ein Baby war, habe ich sie hier im grossen Bad in einem der beiden Spülbecken gebadet. Sie liebte das Wasser so sehr, dass es jedes Mal eine kleine Überschwemmung gab, weil sie so doll mit ihren kleinen Ärmchen gerudert hat. Heute hat sie ihr eigenes Zimmer mit eigenem Bad. Ab und zu darf ich ihr noch die Haare waschen oder sie frisieren. Aber meine Kleine wird langsam gross und für meinen Geschmack will sie schon zu viel alleine machen. Ich bin eine Glucke.

Und ja, ich stehe auch dazu. Das grosse Badetuch schlinge ich um meinen nassen Körper und meine Haare binde ich in einem Frottiertuch nach oben. Ein leichtes Make Up wird aufgetragen und ich föhne mir meine langen Haare trocken und lasse sie in leichten Wellen offen über meinen Rücken fallen. Ich ziehe mir eine Jeans und ein Shirt über und gehe dann nach unten in die Küche.

Miss Davis wurde als Nanny eingestellt als Susanna ein Jahr alt war. Henry hat darauf bestanden, damit ich mein Studium beenden konnte. Da sie eine so hervorragende Arbeit geleistet hat, hat sie Henry auch weiter beschäftigt. Jetzt ist sie unsere Haushälterin und Nanny zugleich. Sie ist unsere Perle und mein kleiner Mutterersatz, wenn meine eigene gerade keine Zeit hat. «Guten Morgen Kathrin.», begrüsse ich sie, als ich um die Ecke komme und sie mit der Kaffeemaschine zugange ist. «Guten Morgen Ruby. Hast du gut geschlafen?» Kathrin Davis ist etwas über fünfzig Jahre alt, aber sie sieht immer noch hinreissend aus mit ihren braunen Haaren, die mit grauen Strähnen durchzogen sind und ihren grünen Augen, die mich jeden Tag mit einer Wärme umhüllen. Heute trägt sie einen Dutt und ihre übliche Haushälterinnenkleidung bestehend aus einem schwarzen Kleid, dazu passenden Pumps und einer weissen Schürze. Ich glaube in all den Jahren, in denen ich sie bereits kenne, habe ich nie etwas anderes an ihr gesehen. Wahrscheinlich würde ich sie mit anderen Klamotten gar nicht erkennen. Eher würde ich sie für ein Einbrecher halten, der gerade eine grosse Tasse mit Kaffee auffüllt und mir entgegenhält.

«Es hätten ein paar Stunden mehr sein können.», gebe ich zu und lasse mich auf den Barhocker ihr gegenüber sinken. Immer wieder plagen mich Alpträume und deshalb zögere ich den Schlaf so lange hinaus, bis ich keine Kraft mehr habe und mir die Augen einfach zufallen. Kathrin setzt sich und hält meine Hand. «Das wird schon wieder Liebes.» Das sagt sie jedes Mal und irgendwann werde ich ihr vielleicht auch glauben können. Susanna gesellt sich zu uns und füllt sich eine Schüssel mit ihrem Lieblingsmüsli auf. Fruit Loops. Bäh! Keine Ahnung wie sie so einen Müll in sich reinschaufeln kann. Schon nur der Anblick der bunten Ringe löst bei mir ein komisches Gefühl im Magen aus. Während wir unser unterschiedliches Frühstück geniessen, reden wir über die Schule, ihre neue beste Freundin Camilla und ihren Ausflug mit ihrem Opa. Henry hat morgen einen Termin auf Mercer Island. Da Susanna gerade auch Schulferien hat, fand er es eine tolle Idee sie einfach mitzunehmen und ein paar Tage mit ihr zu verbringen. Sie war natürlich gleich Feuer und Flamme. Nichts auf der Welt könnte sie von ihrem Grossvater fernhalten. Für die paar Tage habe ich auch Kathrin freigegeben.

Sie soll sich ein bisschen erholen und ich freue mich auch, dass ich ein bisschen für mich allein sein kann. Das kommt sehr selten vor, da das Haus immer voller Leben ist. Wenn nicht durch uns, dann sicher durch die vielen Besucher und Geschäftspartner von Henry. Die gehen hier auch laufend ein und aus.

«Da sind ja meine Mädels.» Gott, seine Stimme jagt mir immer noch eine verfluchte Gänsehaut über den ganzen Körper. Das wird sich wahrscheinlich niemals ändern. Henry Donovan hat sich in den letzten Jahren ein bisschen gehen lassen. Sein Bauch, der vorher nur ein Stück hervorstand, ist jetzt zu einer mittelgrossen Wampe gewachsen. Zu seinem Schnauzer hat sich jetzt ein Bart gesellt und seine frühere weisse Haarpracht hat er komplett abrasiert. Er sieht wie eine düstere Version vom Weihnachtsmann aus. Fehlen nur die Glocke und die rosa Wangen. Heute trägt er einen dunkelblauen Armani Anzug, der natürlich massgeschneidert wurde. Dazu schwarze Lackschuhe und eine passende Krawatte. Kathrin giesst ihm eine Tasse Kaffee ein.

Als er sich zwischen mich und Susanna setzt, nimmt er auch noch einen Muffin aus der Gebäckdose. Einen Kuss drückt er ihr auf den Kopf und beisst dann genüsslich in das Süssgebäck. Das Schmatzen und Runterschlucken verderben mir den ganzen Appetit. Ich beobachte ihn dabei und begreife immer noch nicht, wie anders Ryan war.

Das Einzige, dass diese beiden Männer gemeinsam hatten, sind die Augen. Die haben dieselbe Farbe und dieselbe Form. Mehr Gemeinsamkeiten kann ich leider nicht erkennen. «Also, die Koffer sind gepackt und der Fahrer sollte in ungefähr zehn Minuten hier sein.», meint Kathrin und wischt sich die Hände an einem Handtuch ab. «Wenn ihr mich dann nicht mehr braucht, mache ich für heute Feierabend.» Natürlich hat sie vor der Abreise und ihren wohlverdienten Ferien alles organisiert, was noch auf dem Plan stand. Sie ist eine so gute Seele. Henry spült den letzten Bissen mit seinem Kaffee herunter. «Geniess deine Ferien Kathrin. Danke für alles.» Er lächelt sie breit an und ich könnte glatt für einen Moment vergessen, was für ein Widerling er eigentlich ist. Susanna umarmt Kathrin zur Verabschiedung und zieht sich dann ins Badezimmer zurück, um sich die Hände und den Mund zu waschen. Ich tue es ihr gleich und nehme unsere Super-Nanny/Haushälterin in die Arme. «Erhol dich gut und lass die Seele baumeln.» Sie drückt mich fest an sich. «Du auch Ruby. Zieh um die Häuser, mach Party und angle dir einen heissen Kerl.» Kathrin lacht, aber mir ist gar nicht danach zumute. Während Susanna mit Henry ein paar Tage weg ist und ich das Haus für mich habe, wollte ich mir ein paar Tage mit meiner besten Freundin gönnen und eigentlich genau das tun, was sie mir gerade vorgeschlagen hat.

Henry hinter mir räuspert sich. Leider hat er alles gehört und gestern Abend hat er mir deutlich zu verstehen gegeben, was passiert, wenn ich jemanden mit nach Hause nehmen sollte.

Ich löse mich aus ihren Armen und blicke über die Schulter. Sein kalter Blick durchbohrt meine Augen und ich schwöre bei Gott, wenn er könnte, würde er mich hier auf der Stelle erdolchen. «Ich sehe mal nach Susanna.» Schnell laufe ich aus der Küche und lasse die beiden allein zurück. Ich habe noch keine Ahnung wie ich es anstellen soll, aber die nächsten Tage bedeuten für mich die pure Freiheit und ich werde den Teufel tun und diese tatenlos an mir vorbeiziehen lassen. Ich muss einfach verdammt vorsichtig sein. «Kannst du mir mal mit der Jacke helfen Mommy?» Meine kleine Prinzessin fuchteln wild mit ihren Armen hin und her. Ihre langen Haare haben sich in den Knöpfen ihrer neuen Jeansjacke verheddert. Es sieht aus, als wäre sie ein Octopus auf einer Technoparty. Lachend gehe ich zu ihr rüber und versuche die roten Strähnen aus ihrer Falle zu befreien. «Halt still, sonst wird das nichts.», versuche ich sie zu beruhigen und sie hält ihre Arme endlich still. Nach ein paar gezielten Handgriffen habe ich ihre Mähne befreit, ihre Jeansjacke gerichtet und wieder eine ordentliche Frisur gezaubert. Mom life! Aber ich würde es für nichts in der Welt austauschen. Von draussen hören wir eine Hupe. «Der Fahrer ist da.», kommt es von hinten und Henry holt sich seine Jacke von der Garderobe. Susanna hüpft aufgeregt auf und ab. «Das wird soooo cool!», lacht sie und klatscht in die Hände. Ich ziehe sie nochmal in eine feste Umarmung und drücke ihr einen dicken Schmatzer auf die Wange. «Sei brav meine Süsse. Ich hab dich lieb.», hauche ich und sie küsst mich zurück. «Bis in einer Woche Mommy.», schreit sie noch durch den Flur, während sie aus der Haustüre stürmt. Gott, diese Energie. Eine Hand legt sich auf meinen unteren Rücken und ich zucke zusammen. Wie jedes Mal bemerkt er es natürlich und sieht schmunzelnd zu mir runter. «Sei unbesorgt Ruby. Susanna wird eine gute Zeit haben.», versichert er mir und kommt um mich herum, ohne dabei seine Hand von meinem Körper zu nehmen. Schwer liegt sie jetzt auf meiner Taille und ich spanne mich automatisch an. Um ihm mein Zittern nicht zu zeigen, verschränke ich die Arme vor meiner Brust. Sei stark Ruby. Einen sanften Kuss haucht er mir auf die Wange, dann berühren seine Lippen mein Ohr. «Tu nichts, was ich nicht auch tun würde. Sei brav kleine Ruby.» Der drohende Unterton in seiner Stimme ist kaum überhörbar. Mit einem überheblichen Grinsen geht er davon und folgt Susanna zum Auto.

Kathrin hat über die Uber App einen Fahrer für diesen Ausflug organisiert. Natürlich musste es ein A-Klasse Wagen sein. Etwas anderes als Luxus würde für Henry Donovan gar nicht in Frage kommen.

Er selbst besitzt fünf davon. Warum ein Mensch fünf Autos braucht, weiss ich noch bis heute nicht. Aber egal. Ich lehne mich an den Türrahmen und sehe dem Wagen zu, wie er auf dem Vorplatz wendet und die lange Strecke zurück zur Hauptstrasse auf sich nimmt. Donovan Manor umfasst mehrere Hektar. Vor dem Haupthaus dient ein grosser Kiesplatz als Einfahrt. Daneben befindet sich die Garage mit all den Luxuskarossen. Das Haus selbst bietet auf zwei Stockwerken eine grosse Küche, die mit dem Wohnzimmer verbunden ist. Vier Schlafzimmer und drei Bäder. Dazu gehören eine Bibliothek, ein Büro, ein Freizeitraum und ein Fitnessstudio. Neben dem Büro befindet sich sogar ein kleiner Konferenzraum für interne Meetings. Durch das Wohnzimmer gelangt man in den Garten und den Poolbereich. Neben der Bibliothek ist das mein Lieblingsort. Ich liebe es stundenlang im Wasser zu sein und meine Bahnen zu ziehen. Der Garten ist gepflegt und voller Blumen. Alle Farben, die im Haus zu fehlen scheinen, sind hier versammelt. Es ist ein Palast, aber die meiste Zeit über fühle ich mich wie in einem Käfig. Sobald das Auto nicht mehr in Sichtweite ist, gehe ich zurück ins Haus und bevor ich mein innerer Schweinehund doch noch aufs Sofa zerrt und ich den ganzen Tag mit Netflix verbringe, gehe ich nach oben in mein Zimmer und ziehe mir einen Sport BH und die dazu passenden Shorts über.

Meine Haare binde ich zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen und schlüpfe in meine Sneakers. Es wird Zeit, dass ich mich wieder mal um mich selbst kümmere. Bald beginne ich meine neue Arbeit und bevor ich mich wieder ins Berufsleben stürze, sollte doch noch ein bisschen Ruby-Zeit möglich sein.

Während ich mit schnellen Schritten die Treppe runterlaufe, wähle ich auf meinem Handy die Nummer meiner besten Freundin Steph. Nach dem zweiten Klingeln geht sie ran. «ENDLICH STURMFREI!!!!!», schreit sie in den Hörer und ich muss mein Handy gefühlte Kilometer von mir weghalten, damit ich keinen Tinnitus kriege. Ich gehe um die Ecke den Gang entlang. «Sie sind gerade mal knappe zehn Minuten weg Steph.», gebe ich zu Bedenken, aber ihr ist das egal. «Scheiss drauf. Baby, wir müssen feiern! Du weisst, ich liebe Susanna, als wäre sie meine eigene Tochter, aber du meine Hübsche, brauchst jetzt etwas anderes als immer nur Mama zu sein.» Womit sie auch recht hat. Auch wenn Kathrin mir mit Susanna immer eine tolle Hilfe war und auch immer noch ist, habe ich selten mehr als ein oder zwei Stunden Zeit für mich genommen. Als Susanna alt genug war, habe ich wieder angefangen zu studieren und meinen Abschluss im Marketing gemacht. Danach hatte ich aus anderen Gründen keine freie Minute mehr für mich. Aber jetzt. Jetzt habe ich eine ganze Woche.

«Also was ist der Plan?», will ich von ihr wissen. Im Fitnessraum stelle ich das Handy auf Lautsprecher und fange mit ein paar Aufwärmübungen an, bevor ich meine halbe Stunde auf dem Rad antrete. «Da die nächste Woche ganz im Zeichen von Ruby Saunders steht, machen wir alles, was dein Herz und vor allem deine Muschi begehrt.» Ich lache auf. «Steph! Halt die Klappe!» Ihr Lachen dröhnt durch den Hörer. «Ach komm schon Ruby. Wir wissen beide, dass da unten in den letzten Jahren nicht viel gelaufen ist. Und da Susanna nicht da ist, kannst du mal wieder die Sau rauslassen.» Meine Freundin ist ein richtiges Partygirl und lässt selten bis nie eine Gelegenheit aus, um zu feiern oder einen Typen aufzureissen. Ich dagegen bin wohl der ruhende Pol von uns beiden. «Heute Abend ziehst du was super Heisses über und holst die nuttigsten Schuhe aus deinem Schrank, die du finden kannst.», fordert sie weiter und ich schüttle weiterhin meinen Kopf. Als ob ich irgendetwas Nuttiges besitzen würde. «Ich hole dich gegen neun ab und dann feiern wir die ganze Nacht, bis du nicht mehr stehen kannst und dich von einem superheissen Typen nach Hause bringen lässt.» Mein Gott, sie hat definitiv alles schon geplant. «Dir ist aber schon klar, dass sich hinter jedem heissen Typen auch ein Serienkiller verbergen könnte?», muss ich wieder intervenieren und erhalte ein genervtes Schnauben. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie auch noch ihre Augen rollt. «Girls just wanna have fun Ruby. Lass dich mal gehen. Bis später." Und schon hat sie aufgelegt. Na dann.

Während laute Musik durch die Boxen dröhnt, verlängere ich mein eigentliches Sportprogramm um eine volle Stunde. Meine Muskeln brennen, meine Haare sind schweissnass und mein Puls rast. Es fühlt sich befreiend an, wenn man seinen Körper an die Grenzen treibt. Ich mache die letzten Schritte auf dem Laufband und wische danach alles wieder sauber. Obwohl Henry das Studio nie benutzt, ist er sehr penibel, was Sauberkeit anbelangt. Das war er schon immer. Immer wenn ich Ryan besucht habe, mussten meine Schuhe im Schrank verschwinden. Henry kriegte fast immer einen Herzinfarkt, wenn meine Schuhe unordentlich auf dem Boden lagen. Seither habe ich es mir angewöhnt, meine Sachen nur in meinem Zimmer aufzubewahren und sonst nirgendwo. Sogar Bücher, die ich in der Bibliothek lese, stelle ich wieder zurück an ihren Platz, damit ja keine leere Stelle im Regal vorzufinden ist. Gerade komme ich durch meine Zimmertüre als mein Handy eine eingehende Nachricht anzeigt. Sie ist von Henry. Er hat mir ein Bild von Susanna geschickt, wie sie ein Eis isst und in die Kamera grinst.

Sie sind gut angekommen. Ich schreibe, dass ich ihnen einen schönen Aufenthalt wünsche und lege das Handy dann auf mein Bett.

Im begehbaren Kleiderschrank wusle ich mich durch all meine Klamotten. Ernüchternd muss ich feststellen, dass ich die letzten Jahre echt zu viel Zeit zu Hause hinter meinen Lehrbüchern verbracht habe. Ich besitze locker zwanzig Pullis, Schlabberpullis wohlbemerkt. Nicht die Sorte, die nach sexy schreit. Jeans sind auch zu Genüge vorhanden und ein paar Tops. Für in den Ferien steht wohl auch noch ein Shoppingtrip an, denn für meinen nächsten Job kann ich schlecht in Baggypants und Crop-Top auftauchen. Nachdem ich den halben Schrank neu umgeräumt habe, finde endlich was, das passen könnte. Zwar habe ich es gekauft, als ich noch nicht schwanger war, aber es sollte eigentlich noch passen. Es ist ein schlichtes schwarzes Kleid, das ziemlich eng anliegt und knapp in der Mitte der Oberschenkel endet. Da es keine Ärmel hat ziehe ich mir noch eine Jeans Jacke über. Meine Haare lasse ich in grossen Wellen einfach offen fallen, das Make-Up darf ein bisschen gewagter sein mit ein paar Smokey Eyes und rotem Lippenstift. Als ich das Endergebnis im grossen Spiegel betrachte, bin ich mehr als zufrieden damit. Mein Portemonnaie und das Handy lege ich in die Clutch und mache mich dann auf die Suche nach ein paar passenden Schuhen. Naja, auch hier ist die Auswahl sehr begrenzt.

Neben meinen unzähligen Sneakers besitze ich gerade mal ein Paar High Heels. Gott, auch Schuhe muss ich mir diese Woche besorgen. Da wird meine Kreditkarte wohl glühen. Ich hole die Schuhe aus der Kiste und streife sie über. Zu meiner grossen Überraschung sind sie sogar bequem und ich fühle mich extrem wohl in meinem Outfit. Hoffentlich wird es Steph genau so sehen. Und als ob sie meine Gedanken lesen könnte, klingelt es auch schon an der Haustüre. Ein bisschen nervös bin ich ja schon. Keine Ahnung, was mich heute Abend alles erwartet, ich war schon so lange nicht mehr aus. Aber wie meinte Steph heute:

Girls just wanna have fun!

AJ

Wir starren uns an. Seine blauen Augen fixieren meine braunen. Keiner von uns will heute nachgeben oder dem anderen etwas schenken. Es ist ein Spiel, das aber nur einer gewinnen kann. Und der Verlierer bin leider meistens ich. «Bello. Wir haben darüber geredet.», appelliere ich und hoffe, dass er sich erinnert. «Wenn du hier bist, dann machen wir solche Sachen nicht, hai capito?» Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, sein Blick wird düsterer. Oh nein, bitte nicht. «Komm schon Kleiner. Ich dachte wir wären Freunde.» Aber ich rede mich hier dumm und dämlich. Er wird nicht nachgeben. Er zieht sein Ding durch. Jedes verdammte Mal!

Als sich sein Gesicht dann anfängt rot zu verfärben, gebe ich auf und gehe ein paar Schritte zurück. Nur zur Sicherheit. Man weiss ja nie, ob so ein kleines Ding doch mal explodieren könnte. «Was tust du da?» Silver, die Verlobte meines besten Freundes stellt sich neben mich und wir starren beide nach unten. «Er tut es schon wieder.», jammere ich drauflos. Verwirrt sieht sie mich an. «Was meinst du?», fragt sie und ich zweifle gerade an ihrer Auffassungsgabe. «Die Windel! Er füllt sie schon wieder! Jedes Mal, wenn ich ihn gefüttert habe, dauert es keine zwei Sekunden und er schiesst seine Ladung ab!», frustriert fahre ich mir durch die Haare und bemerke erst zu spät, dass ich mir dadurch die Frisur versaue. «Gott du bist so eine Heulsuse.» Silver holt ihren Sohn aus dem Sitz und geht mit ihm ins Bad. Ich liebe mein Patenkind abgöttisch und ich mache auch jeden Spass mit, aber auch ich kenne meine Grenzen. Und die liegen ganz klar bei einer verdammt vollen Windel. «Sie hat Recht. Du bist echt ein Riesenweichei.», spottet jetzt mein bester Freund Jackson.

Er und Silver leben gemeinsam mit ihrem Sohn Sean in Los Angeles. Silver arbeitet als Kunstlehrerin an der UCLA und Jackson hat eine eigene Praxis. Er ist unser kleiner Psychodoc und macht seinen Job verdammt gut. So gut sogar, dass die beiden vor ein paar Monaten eine Eigentumswohnung gekauft haben. Nachdem ich mein Studium in Ingenieurwissenschaften an der UCLA beendet habe, konnte ich meinen Traumjob hier in Seattle ergattern. Meine Eltern sind fast durchgedreht, als ich ihnen verkündet habe, dass ich ausziehen würde. Ich bin Einzelkind, habe bei meinem Papa viele Male für einen roten Kopf gesorgt und meine Mama ist eine typische Italo-Mama. Sie verwöhnt mich nach Strich und Faden und wenn es nach ihr gegangen wäre, würde ich noch mit vierzig zu Hause leben. Auch wenn ich ihre Hausmannskost vermisse, würde ich mein Leben, wie es jetzt ist, nicht mehr eintauschen. Mein Job erfüllt mich mehr als genug, ich habe meine eigene Clique hier und meine Junggesellenbude ist ein richtiger Frauenmagnet. Was will man mehr?

Ich setze mich neben Jackson. Sie sind für das Wochenende hierher geflogen, damit wir ein bisschen Zeit miteinander verbringen können und Sean nicht vergisst, wer der coolste Patenonkel ist. «Wenn du das so siehst, warum bist du dann nicht sofort aufgesprungen, um deinem Sohn die Todeswindel auszuziehen?», frage ich ihn grinsend, weil ich haargenau weiss, dass ihm jede noch so blöde Ausrede recht ist, um genau das nicht zu tun. Er zieht gleichgültig die Schultern nach oben. «Ich hatte noch keinen Kaffee. Und wenn ich den nicht hatte, dann schlägt mir alles auf den Magen weisst du.» Meine Güte, er wird dabei nicht mal rot. Dass Silver ihm das so einfach durchgehen lässt, ist mir ein Rätsel. Aber was solls. Ist ja nicht mein Leben. Deswegen lasse ich das Thema sein. «Also, habt ihr jetzt einen Termin für die grosse Sause? Ich will endlich deinen Junggesellenabschied organisieren.» Lächelnd reibe ich meine Hände gegeneinander. Das wird der Wahnsinn. Eine Nacht, die niemand von uns so schnell vergessen wird. Ich habe da schon einige Ideen im Kopf, die nicht allzu jugendfrei sein werden. «Keine Stripperinnen.», kommt es von der Küche. «Gott Silver du bist so eine Spiesserin geworden.». meckere ich sie an und Jackson lacht nur.

Er steht voll unter dem Pantoffel. Dafür beneide ich ihn kein bisschen. Er erhebt sich, geht auf Silver zu und drückt ihr einen Kuss auf den schwarzen Haarschopf. «Keine Sorge Baby, die Einzige, die für mich strippen darf, bist du.», versichert er ihr während ich laute Würggeräusche von mir gebe. Die zwei sind zusammen kaum auszuhalten. Damit mein Patenkind nicht zu viel von der Freakshow mitbekommt, gehe ich Jackson schnell hinterher, schnappe mir den Kleinen aus Silvers Armen und verdecke ihm die Augen. «Diese Scheisse musst du dir nicht antun Champ. Komm, lass uns in den Park gehen.» Die beiden anderen lachen und ich gehe mit Sean davon zur Garderobe, um ihm seine Jacke und die kleinen Turnschuhe anzuziehen. «Da Da.», blabbert Sean und hält mir einen der Schuhe hin. «Danke kleiner Mann.» Es ist echt verrückt, wie schnell er wächst. Vor einem halben Jahr haben wir seinen ersten Geburtstag gefeiert. Natürlich mit einer Riesenparty und mehr Geschenken, als er überhaupt gebrauchen konnte. Dabei hatte er den meisten Spass mit dem Geschenkpapier.

«Ich hole den Wagen.», meint Jackson und geht hinter mir zur Haustüre hinaus. Schon seit sie hier aufgetaucht sind, scheint er angespannter zu sein als sonst. «Alles okay mit ihm?», frage ich deshalb Silver, die sich gerade ihre Converse überstülpt. Auch sie scheint mehr in Gedanken zu sein als üblich. «Hm, naja, vielleicht wäre es gut, wenn ihr beide heute Abend ein bisschen unter euch wärt», schlägt sie vor. «Ich denke er redet eher mit dir, wenn ich nicht dabei bin.» Normalerweise redet er mit Silver über alles. Es wundert mich, dass es etwas geben könnte, dass er nicht mit ihr teilt. Die beiden verbindet eine lange Geschichte mit vielen Tiefen und Tränen, aber das ist ein anderes Thema. Ich nehme mir ihren Vorschlag zu Herzen und versichere ihr, dass ich heute Abend ein bisschen mit ihm um die Häuser ziehe und sehe, was ich machen kann. «Du bist ein Schatz, danke dir.» Silver umarmt mich fest und wir gehen gemeinsam nach unten in die Tiefgarage.

«Was willst du trinken?», frage ich Jackson und hole bereits mein Portemonnaie hervor. Nach unserem Ausflug zum Park, haben sich Silver und Sean auf ihr Hotelzimmer zurückgezogen und ich ziehe jetzt mit Jackson um die Häuser, um ihm ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. «Eine Cola.», bestellt er und während er eine Sitzgelegenheit sucht, schlängle ich mir einen Weg durch die Menschenmenge. Zwar ist die STANGE BAR immer gut besucht, aber heute scheint echt die Hölle los zu sein. Ein paar bekannten Gesichtern nicke ich zu oder klatsche mich ab. Als ich es endlich bis zur Bar geschafft habe, strecke ich meine Hand aus, um den Barkeeper auf mich aufmerksam zu machen.