Mein Leben als Zucchini - Gilles Paris - E-Book

Mein Leben als Zucchini E-Book

Gilles Paris

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Buch zum gleichnamigen Animationsfilm

Nicht jeder hat das Glück, ein Waisenkind zu sein!

Zu diesem Schluss kommt der kleine Icare, Spitzname Zucchini, als er nach dem tragischen Tod seiner Mutter in ein Waisenhaus eingewiesen wird - denn hier kann er zum ersten Mal nach Herzenslust leben. Zucchinis Glück scheint vollkommen, als die grünäugige Camille ins Waisenhaus kommt. Doch die Glücksfee hält noch ein letztes Geschenk bereit...

Gilles Paris‘ einfühlsam aus der Sicht eines Neunjährigen erzählter Roman ist eine wunderbare Liebeserklärung an die Kinder – an ihre unsentimental klare Weltsicht, ihren geradlinigen Mut und ihre Bereitschaft vorbehaltlos zu lieben. Eine Geschichte voller Poesie, fein changierend zwischen lebensklugem Humor, Nachdenklichkeit und Situationskomik und Hoffnung. Dieses lebenskluge Buch erinnert daran, wie großmütig und nachsichtig die Kinder dieser Welt mit den Erwachsenen sind.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 308

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gilles Paris

Roman

Aus dem Französischen von Melanie Walz

Knaus

Die Originalausgabe erschien 2002unter dem Titel »Autobiographie d’une Courgette«bei Plon, Paris.

Die deutsche Erstausgabe erschien 2004 und hatte den Titel Autobiographie einer Pflaume, denn das idiomatische Pendant zur französischen courgette ist im Deutschen die Pflaume oder auch die Gurke. Um keine Verwirrung zu stiften, orientiert sich die Neuauflage aber an der Wortwahl der Verfilmung des Romans, nämlich Zucchini statt Pflaume.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage Copyright © 2002 by Plon Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004, 2017 by Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka Umschlagmotiv: Ma vie de Courgette Filmartwork © Rita Productions/ Blue Spirit Productions / Gebeka Films / KNM Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-21576-7V001www.knaus-verlag.de

Widmung

Für Laurent C.

Hauptteil

Seit ich denken kann, will ich den Himmel umbringen wegen Mama, weil sie immer sagt: »Der Himmel, mein Kleiner, der ist so groß, damit wir nie vergessen, wie klein unsereins daneben ist.«

»Das Leben, das ist in seinen schlimmsten Momenten wie der graue Himmel, mit diesen bescheuerten Wolken, die nur Pech auf unsereins pinkeln.«

»Die Männer stecken alle mit dem Kopf in den Wolken. Sollen sie doch dort bleiben, so wie dein Vater, dieser Idiot, der mit einer Pute auf Weltreise gegangen ist.«

Manchmal redet Mama richtigen Blödsinn.

Als mein Papa weggegangen ist, war ich noch klein, aber ich kann mir nicht vorstellen, warum er beim Nachbarn eine Pute geklaut haben soll, um damit auf Weltreise zu gehen. Puten sind dumm: Wenn ich ihnen Bier ins Futter gieße, trinken sie es, und hinterher torkeln sie bis zur Mauer, wo sie umkippen.

Mama kann nichts dafür, wenn sie solchen Unsinn redet. Das kommt von den vielen Bierchen, die sie beim Fernsehen trinkt.

Und dann schimpft sie auf den Himmel, und ich kriege eine Abreibung, die sich gewaschen hat, obwohl ich gar nichts angestellt habe.

Und ich denke mir, dass der Himmel und die Abreibung irgendwie zusammengehören.

Wenn ich den Himmel umbringe, dann muss Mama sich nicht mehr aufregen, und ich kann in Ruhe fernsehen und kriege keine Abreibung, die sich gewaschen hat.

Heute ist Mittwoch und schulfrei.

Die Lehrerin nennt das den »Sonntag der Kinder«.

Ich gehe lieber in die Schule. Mama sieht fern, und ich würde gern mit Grégory schussern, aber Grégory wohnt weit weg und darf nicht mehr bei uns schlafen, seit unsere Mamas wegen dem Ball und dem kaputten Fenster Streit hatten. Mama hat am Telefon gesagt, Grégory wäre ein »Tunichtgut«, und dann hat sie »dreckige Schlampe« gesagt und aufgelegt, weil die andere Dame gebrüllt hat: »Immer noch besser als eine Säuferin!«

Ich sage zu Mama: »Komm mit mir schussern«, und Mama sagt zum Fernseher: »Pass auf, er ist hinter dir, gleich schießt er«, und deshalb sage ich es noch mal, und Mama sagt zum Fernseher: »So ein Idiot, nicht zu fassen«, und ich weiß nicht, ob ich der Idiot bin oder ob es der Monsieur ist, der umgelegt wurde, obwohl Mama ihn gewarnt hatte.

Ich gehe nach oben in mein Zimmer und schaue aus dem Fenster dem Sohn vom Nachbarn zu, der nie jemanden zum Spielen braucht. Er klettert auf ein Schwein, als wäre es ein Esel, und lacht ganz für sich allein. Und weil ich traurig bin, gehe ich in Mamas Zimmer, wo das Bett nicht gemacht ist und die Kleider auf dem Boden liegen. Ich mache das Bett und muss auf einen Stuhl klettern, damit ich ihre Sachen auf den Berg schmutzige Wäsche legen kann, und dann weiß ich nicht, was ich tun soll, und deshalb krame ich ein bisschen herum, und in einer Kommodenschublade finde ich unter den ungebügelten Hemden einen Revolver.

Das finde ich superklasse, und ich denke mir: Damit gehe ich im Garten spielen. Ich gehe nach draußen, als wäre nichts weiter, den Revolver in meiner Hose versteckt.

Mama schaut sowieso nicht her, sondern sagt zum Fernseher: »Von dem Mädchen lässt du besser die Finger, mein Freund!«

Als ich draußen bin, muss ich mir mit dem Zielen keine Mühe geben. Der Himmel ist groß.

Ich schieße und falle um.

Ich stehe auf und schieße noch mal und falle wieder um.

Mama kommt aus dem Haus. Wegen ihrem kaputten Bein hinkt sie, und sie schreit: »Was soll der Blödsinn?«, und sie sieht mich mit dem Revolver in der Hand und schreit mich an: »Was habe ich bloß angestellt, dass der liebe Gott mich mit so einer Zucchini von Kind gestraft hat? Du bist so blöd wie dein Vater! Gib das sofort her, du kleines Arschloch!«

Und sie versucht, mir den Revolver aus den Händen zu reißen.

Ich sage: »Das ist doch alles deinetwegen, damit du mich nicht mehr anschreist«, und ich lasse den Revolver nicht los, und Mama fällt auf den Rücken.

Sie schreit: »Sauerei!« und hält sich das kaputte Bein, und ich sage: »Tut dir was weh?«, und sie tritt mit dem anderen Bein nach mir, mit dem, das schlenkert, und sie schreit: »Gib das sofort her, ich sage es nicht zweimal!«, und ich sage: »Du hast es aber schon zweimal gesagt«, und ich gebe den Revolver nicht her, und sie beißt mir in die Hand, und ich lasse ihn trotzdem nicht los, und der Schuss geht los, und Mama taumelt und fällt hin.

Ich bleibe lange im Gras liegen und schaue den Wolken nach. Ich suche den Kopf von meinem Vater, damit er mir sagt, was ich tun soll.

Ich habe den Himmel nicht umgebracht.

Nur die Wolken kaputtgemacht, die nichts als Pech pissen, aber vielleicht ist es auch Papa, der mir Tränen schickt, um das Blut von Mamas Morgenmantel abzuwaschen.

Zuerst denke ich, dass sie schläft oder sich schlafend stellt, um mich zu veralbern, obwohl sie so was nie tut und seit ihrem Unfall erst recht nicht.

Ich schüttle sie ein bisschen.

Sie sieht aus wie eine ganz weiche Stoffpuppe, und ihre Augen sind weit aufgerissen. Ich muss an die Fernsehkrimis denken, in denen dauernd Frauen umgebracht werden und hinterher aussehen wie ganz weiche Stoffpuppen, und ich denke mir: Das ist es, ich habe Mama umgebracht.

In diesen Filmen weiß man nie, was mit den Stoffpuppen passiert, und deshalb warte ich ab, und es wird Nacht, und ich habe irre Hunger und gehe ins Haus, um ein Brot mit Mayonnaise zu essen, und danach traue ich mich nicht wieder nach draußen.

Ich muss an die lebenden Toten denken, die aus dem Grab aufstehen und einen mit Äxten und mit raushängenden Augen erschrecken.

Und ich steige auf den Speicher, wo Mama mich ganz sicher nicht suchen kann wegen ihrem steifen Bein.

Ich esse die Äpfel: Ich traue mich nicht, damit Fußball zu spielen.

Und ich schlafe ein.

Als ich die Augen aufmache, ist Krach im ganzen Haus, und ich fürchte mich vor den lebendenToten und vor den ganz weichen Stoffpuppen, die mich beim Vornamen rufen.

Außer der Lehrerin sagt kein Mensch Icare zu mir.

Ich heiße bei allen Zucchini.

Und dann geht die Speichertür auf, und ich sehe einen Monsieur, den ich nicht kenne und der nicht wie ein lebender Toter aussieht, aber manchmal sind diese Leute ganz schön raffiniert und verkleiden sich als normale Lebende, so wie in dem Film Die Körperfresser, und ich schmeiße mit allen Äpfeln, die ich zu fassen bekomme, und der Monsieur fällt hin.

Danach erkenne ich den Sohn vom Nachbarn, der mit lauter Gendarmen reinkommt.

Einer von ihnen sagt: »Vorsicht, Äpfel!«, und rutscht aus, während der Sohn vom Nachbarn sich über den Monsieur beugt und schreit: »Du hast meinen Papa umgebracht!«, und ein anderer Gendarm sagt: »Nein, dein Papa ist nur ohnmächtig«, und der Papa steht auf, und das ganze Trüppchen kommt auf mich zu, und ich denke mir: Das ist das Ende vom Film.

Ich halte mir die Hände vor das Gesicht und warte auf eine Abreibung, die sich gewaschen hat, und ich spüre, dass man mir den Kopf streichelt, und ich schiele durch die Finger, und der Papa hockt neben mir auf den Fersen und sagt zu mir: »Hast du den Mann gesehen, der das getan hat, mein Junge?«

Alle Gendarmen schauen mich an, und der Sohn vom Nachbarn schaut mich auch an.

Die ganzen Blicke machen mir ein bisschen Angst, und ich zittere und höre eine laute Stimme, die sagt: »Lassen Sie mich mit dem Jungen allein, Sie sehen doch, dass er unter Schock steht.«

Alle gehen raus außer dem Gendarm mit der lauten Stimme, der sich auf den Boden setzt und die Äpfel mit der Hand wegschiebt.

Unter seinem Hemd lugt ein dicker weißer Bauch hervor.

»Wie alt bist du, Icare?«

Ich zähle an den Fingern ab, wie die Lehrerin es mir beigebracht hat, und sage: »Neun Jahre.«

Er holt ein kleines Heft aus der Tasche und schreibt etwas rein. Dann wird seine laute Stimme ganz leise, und er fragt mich, was passiert ist, und ich erzähle ihm von den lebenden Toten und den Puppen aus Stoff, die ganz weich sind, und von den Körperfressern, die sich als Menschen verkleiden.

Der Gendarm kratzt sich am Kopf, nachdem er seine Kappe verschoben hat, und sagt mir, dass er Raymond heißt und dass ich ihn so nennen kann.

»In Ordnung«, antworte ich, »aber du musst Zucchini zu mir sagen.«

Er sagt gar nichts und dann ganz leise (so leise, dass ich ihn bitten muss, die Frage zu wiederholen): »Und wie ist das mit deiner Mama passiert?«

»Ach, das war wegen dem Himmel.«

Der Gendarm schaut seine dreckverschmierten Schuhe an und sagt mit ganz komischer Stimme: »Wegen dem Himmel?«

Und ich erzähle ihm von meinem Papa, der mit dem Kopf in den Wolken steckt, und von seinem Renault 404, der sich um die alte Eiche gewickelt und dabei Mamas Bein kaputtgemacht hat, und von dem Monsieur, der jeden Monat für Lebensmittel und Kleider in meiner Größe Geld geschickt hat.

»Und wo ist dein Papa?«, fragt Raymond.

»Mein Papa ist mit einer Pute auf Weltreise gegangen.«

»Armer Junge«, sagt der Gendarm und streichelt mir den Kopf, und mir ist ganz komisch zumute, weil alle Leute mir den Kopf streicheln, und ich trete einen Schritt zurück.

»Und deine Mama, war die nett zu dir?«, fragt der Monsieur, der seine Kappe absetzt, und die Haare darunter sind ganz verklebt, und vorne sieht man die Kerbe vom Hutrand an der Stirn.

»Na ja, sie macht cooles Kartoffelpüree, und manchmal haben wir was zu lachen.«

»Und wenn ihr nichts zu lachen habt?«

Ich überlege und sage: »Wenn ich auf den Speicher gehe?«

»Ja, wenn du auf den Speicher gehst.«

»Das ist, wenn ich eine Dummheit gemacht habe und keine Abreibung will, die sich gewaschen hat, wo ich mir hinterher die Backen reiben muss, weil man jeden einzelnen Finger sieht, aber mit dem steifen Bein hat sie keine Chance.«

»Und was war deine letzte Dummheit?«

»Ööh, meine letzte Dummheit, ich glaube, das war gestern, als ich mit dem Revolver gespielt habe.«

»So ein Revolver ist kein Spielzeug, mein Junge.«

»Aber ich wollte nicht allein schussern, und Mama hat vor dem Fernseher gesessen, und Grégory darf nicht mehr zu Besuch kommen, und ich hatte sonst nichts zu spielen, weil ich nicht wie der Sohn vom Nachbarn mit den Schweinen sprechen kann.«

»Schon gut, und wo hast du diesen Revolver gefunden?«, fragt mich Raymond, der sich am Kopf kratzt, und ich denke mir, dass er vielleicht Läuse hat oder so was Ähnliches.

»In Mamas Zimmer.«

»Und hat deine Mama dir oft erlaubt, mit dem Revolver zu spielen?«

»Nein. Ich wusste gar nicht, dass sie einen hat.«

Ich traue mich nicht zu sagen, dass ich geschnüffelt habe.

Raymond kaut an seinem Bleistift wie an einem Kräuterstängel.

»Und was ist dann passiert?«

»Ich bin mit dem Revolver nach draußen gegangen und habe damit gespielt.«

»So was ist kein Spielzeug.«

»Das hast du schon mal gesagt, Monsieur. Wenn du da gewesen wärst, hätten wir schussern können.«

»Ich habe doch gesagt, du sollst Raymond zu mir sagen. Na gut, hast du mit dem Revolver geschossen?«

»Ja, weil ich den Himmel umbringen wollte.«

»Du wolltest den Himmel umbringen?«

»Ja, den Himmel, weil dieWolken nichts als Pech auf uns pinkeln und Mama hinterher viele Bierchen trinkt und die ganze Zeit schreit und mir Backpfeifen und Abreibungen verpasst, dass man auf meinen Backen und Pobacken jeden einzelnen Finger sieht.«

»Deine Mama hat dich geschlagen?«

»Normalerweise wenn ich eine Dummheit mache, aber manchmal wegen nichts und wieder nichts, so wie ihr Geschrei, und dann gehe ich auf den Speicher und schlafe bei den Äpfeln.«

Raymond macht sich in seinem kleinen Heft irgendwelche Notizen und zeigt dabei die Zunge, und darüber muss ich lachen.

»Was findest du so komisch, mein Junge?«, fragt mich Raymond mit seiner lauten Stimme.

»Du lässt die Zunge raushängen wie der dicke Marcel, wenn er abschreiben muss, was die Lehrerin vorgeschrieben hat.«

Der Gendarm lächelt und kratzt sich wieder am Kopf, und ich frage ihn, ob er Läuse hat, und er antwortet mir, als würde er schlecht hören: »Und hast du auch auf deine Mama geschossen?«

»Das war keine Absicht. Sie wollte mir den Revolver wegnehmen. Sie war sehr wütend und hat gesagt, ich wäre so blöd wie mein Papa, und dann ist der Schuss von allein losgegangen.«

Ich gebe mir keine Mühe, dieTränen runterzuschlucken, die mich auf einmal in der Kehle kitzeln; sie quellen mir aus den Augen, und ich kann nichts mehr sehen.

»Ist schon gut, mein Kleiner, ganz ruhig, da, nimm mein Taschentuch.«

Und ich reibe mir die Augen mit dem Taschentuch, und weil meine Nase voll ist, schnäuze ich mich auch.

»Hast du Verwandte, mein Junge?«

»Nein, niemanden außer Mama.«

Und ich gebe ihm sein Taschentuch zurück, das er einsteckt.

»Gut, dann kommst du mit mir auf die Gendarmerie, und dann wenden wir uns an den Jugendrichter.«

»Ist das der Monsieur, der mit dem Hammer klopft und die Bösewichter ins Gefängnis schickt?«

»Du bist kein Bösewicht, mein Junge, und du bist zu klein, um ins Gefängnis zu kommen. Der Richter wird dich in ein Haus schicken, wo andere Kinder sind.«

»Und Mama, kommt die auch?«

Raymond kratzt sich am Kopf und sagt: »Deine Mama wird immer in deinen Gedanken und in deinem Herzen sein, mein Kleiner, aber sie ist nicht mehr bei uns.«

»Ist sie in die Stadt gefahren?«

»Nein, mein Kleiner, sie ist im Himmel, bei den Engeln.«

»Nein«, sage ich. »Sie ist nicht bei den Engeln, sie ist bei Papa.«

Als wir auf die Gendarmerie kommen, sagt ein Gendarm lachend: »Na, Raymond, hast du einen Assistenten mitgebracht?«, und Raymond schaut ihn an, und der Gendarm schaut seine Schuhe an.

Ich setze mich in sein Büro, und der Gendarm, der nicht lacht, bringt mir Kakao in einem Plastikbecher und bleibt bei mir, während Raymond in dem Büro nebenan telefoniert, und fragt mich, was ich angestellt habe, und ich sage, dass ich nicht den Himmel, sondern Mama mit dem Revolver erwischt habe, und der Gendarm starrt mich mit offenem Mund an, bis Raymond wiederkommt.

»Dugommier, pass auf, dass du dir nicht den Kiefer ausrenkst! Nicht dass du Maulsperre bekommst. Hol mir lieber einen Kaffee.«

Dann wendet er sich an mich. »So, mein Kleiner, ich habe mit dem Jugendrichter gesprochen, und ich bringe dich nach Fontainebleau in ein Heim, wo ein Platz frei ist. Dem Richter wirst du später vorgeführt.«

»Was ist ein Heim?«

»Das ist ein großes Haus mit vielen Kindern und mit Heimbetreuern, die sich um dich kümmern.«

»Was sind Heimwehstreuer?«

»Ein Heimbetreuer ist ein Monsieur oder eine Dame, die sich um dich kümmern.«

»Und verpassen die Heimwehstreuer einem eine Abreibung?«

»Nein, und sie schreien einen auch nicht an, solange du ihnen nicht das Leben zur Hölle machst, aber wie ein Schreihals kommst du mir nicht vor, mein Kleiner.«

Ich spüre, wie es in meinem Hals kitzelt, und ich schlucke meine Tränen runter.

Ich schlenkere mit den Beinen auf dem viel zu hohen Stuhl und halte den Plastikbecher zwischen den Händen; er ist immer noch warm, und die Wärme an den Fingern tut mir gut, genau wie die Stimme von dem dicken Mann, der sich mir gegenüber rittlings auf seinen Stuhl setzt.

Der Gendarm ist schlecht rasiert; er hat lauter Haare am Halsansatz und solche, die ihm aus den Ohren stehen. Er hat Schwitzflecken unter den Armen und Schweiß auf der Stirn und über der Oberlippe, und manchmal geraten ihm die Tröpfchen in den Mund, ohne dass er es merkt.

»Bleibst du bei mir in dem großen Haus?«, frage ich vorsichtig.

»Nein, Icare, das kann ich nicht.«

»Okay, wann fahren wir?«

»Wir fahren jetzt«, sagt Raymond und steht auf.

Er ruft nach Dugommier, der uns die ganze Zeit vom Nebenbüro aus angeglotzt hat.

»Du kümmerst dich um die Angelegenheit Merlin; ich komme später am Nachmittag zurück.«

Und Dugommier fragt mich, ob ich noch mehr Kakao haben möchte, und ich sage ja, und Raymond sagt: »Keine Zeit«, und ich fange zu heulen an, und Raymond geht den Kakao holen.

Ich trinke ihn in kleinen Schlucken mit den Tränen, die reinfallen, und dann fahren wir.

Auf der Autobahn macht Raymond das Radio an, und Céline Dion singt, und ich denke an Mama, die dieses Lied immer singt, wenn sie die Wiesenblumen in eine Vase stellt. Mein Bauch meldet sich von alleine, und ich sage: »Ich habe Hunger.«

Wir halten am Mac Do, und ich bestelle einen Cheeseburger und eine Cola, und Raymond nimmt das Gleiche.

»Mach dir keine Sorgen, mein Junge, es wird alles gut«, sagt Raymond.

Und ich muss wegen der Cola rülpsen, und darüber muss Raymond lachen.

»Weißt du«, sage ich zu dem netten Gendarmen, »du kannst ruhig Zucchini zu mir sagen. Das habe ich dir vorhin gesagt, aber du hast es nicht gehört. Icare sagt nur die Lehrerin zu mir, und manchmal tue ich dann so, als wäre ich gar nicht gemeint.«

»Hat deine Mama dich Zucchini genannt?«

»Ja, genau wie meine Freunde.«

Und wir fahren wieder auf die Autobahn, und ich schaue die Bäume und Häuser an, und Raymond schaut sich in den kleinen Spiegeln an, wenn er andere Autos überholt, die noch langsamer fahren als wir, und dann fährt sein Auto von der Autobahn, um auf den kleinen Landstraßen weiterzufahren.

Wir kommen unter einer Brücke durch, und ich sehe einen Fluss, und Raymond fährt langsamer und sagt: »Es ist nicht mehr weit.«

Ich schaue auf das graue Wasser, als er sagt: »Wir sind da, mein Junge. Was für eine Hütte! Da wirst du dich fühlen wie der Mops im Bohnenstroh.«

Und er steigt mit meinem Koffer aus dem Wagen, und ich bleibe sitzen, weil ich keine Lust habe, mich wie der Mops im Bohnenstroh zu fühlen.

Die Hütte ist ein Schloss wie im Film.

Eine Dame mit weißen Haaren und im roten Kleid kommt die Treppe herunter und spricht mit dem Gendarmen, der meinen Koffer in der Hand hält, und sie sehen zu mir und kommen auf das Auto zu.

Die Dame in Rot neigt den Kopf und sagt lächelnd: »Komm, Icare, ich zeige dir dein neues Zuhause«, und ich reiße mich los und steige aus und halte den Blick auf den Kies gerichtet.

»Ich bin Madame Papineau«, sagt die Dame mit den weißen Haaren. »Aber du darfst Geneviève zu mir sagen.«

Ich rühre mich nicht vom Fleck.

Ich höre Raymond mit seiner lauten Stimme sagen: »Sag der Dame guten Tag, Zucchini«, und ich sage: »Guten Tag« zum Kies und denke dabei: »Ganz schön komisch, dass lauter Leute, die einen gar nicht kennen, wollen, dass man sie mit dem Vornamen anspricht.«

»Gut, dann mache ich mich auf den Weg«, sagt der Gendarm. »Die Arbeit wartet.«

Und er stellt den Koffer auf der Treppe ab und fasst mich am Kinn.

»Sei brav, Zucchinichen.«

Und er streichelt mir den Kopf, und ich lasse mir den Kopf streicheln, und dann sage ich: »Geh nicht weg, Raymond!«, und packe seine riesengroße Hand mit meiner Hand und halte sie an mein Gesicht.

»Ich komme dich bald besuchen, mein Kleiner«, sagt der Gendarm; behutsam zieht er seine Hand zurück und steckt sie in die Tasche, als nähme er meine Berührung mit.

Dann gibt er mir einen Kuss auf die Stirn und sagt, während er sich aufrichtet: »Was für ein Elend mit diesen Geschichten«, und er steigt in sein Auto.

»Sei ein braver Junge. Auf Wiedersehen, Madame.«

Die Dame mit der Brille sagt: »Auf Wiedersehen, Monsieur, und vielen Dank.«

Und das Auto mit der blauen Konservenbüchse obendrauf entfernt sich im Rückwärtsgang.

Und mich kitzelt es im Hals.

Und die Dame nimmt den Koffer und dreht sich zu mir um.

»Komm, Icare, du hast sicher Hunger.«

Und ich sage nein, und sie legt mir die Hand auf die Schulter, und wir steigen die Treppe hinauf.

Seit fast drei Monaten macht Ahmed ins Bett und will jeden Morgen von Rosy wissen, ob sein Papa ihn besuchen kommt.

Simon, der immer über alles Bescheid weiß, sagt, dass Ahmeds Papa an dem Tag kommen wird, an dem er aus dem Gefängnis ausbricht, und Rosy schaut ihn mit ihren großen Augen an, und Simon hält die Luft an und verlangt von Rosy, dass sie ihm die Schnürsenkel seiner Turnschuhe zubindet, die immer runterhängen.

Rosy sagt: »Vor mir brauchst du dich nicht aufzuplustern.«

Ahmed, Simon und ich wohnen im selben Zimmer.

In der ersten Nacht hat Simon zu mir gesagt, ich wäre für mindestens drei Jahre dran, und ich wäre gut beraten, ihm beim Frühstück die Brote zu schmieren, weil er mir sonst das Leben zur Hölle machen würde.

So ist er immer, »plustert sich auf«, renommiert vor den anderen, aber wenn man ein bisschen lauter wird, dann ist er sofort ganz zahm.

Am ersten Morgen habe ich ihm das Brot geschmiert und habe es ihm dann ins Gesicht gedrückt, und er hat mich an den Haaren gepackt und ich ihn auch, und Rosy hat uns getrennt mit ihren großen Augen und ihrem: »Hier macht ihr das nicht, oder ihr werdet beide bestraft«, und Ahmed hat geheult, weil er immer denkt, er hätte etwas angestellt, und ab und zu nutzen Simon und ich das aus und verpetzen ihn, auch wenn er es gar nicht war.

Seit der Sache mit dem Brot lässt Simon mich in Ruhe, und ich mache ihm einen Doppelknoten in seine Schnürsenkel, wie ich es von Mama gelernt habe, und abends muss Rosy den Knoten lösen, weil Simon, wenn er dürfte, mit seinen Turnschuhen ins Bett gehen würde in dem Haus, das er unter uns den Knast nennt.

Wir anderen nennen es das Heim, und Madame Papineau, die Leiterin oder Direktorin, hört das gar nicht gern. Sie zieht »Gästehaus« oder »Les Fontaines« vor.

Wenn man eine Dummheit macht, wird man bestraft. So etwas nennt sich Arbeit für das Gemeinwohl.

Man muss welkes Laub unter den Bäumen aufsammeln oder Wäsche aufräumen, und die Megastrafe, die besteht darin, die Treppe zu bohnern, die voll mit Staub ist, und zwar beide Etagen.

Morgens weckt uns Rosy um sieben Uhr mit ihren Küssen und lässt uns dann noch fünf Minuten im Dunkeln weiterschlafen und macht das Licht an, und wir ziehen uns leise die Sachen an, die wir am Abend vorher rausgelegt haben, damit wir die Kleinen nicht wecken, die eine halbe Stunde länger schlafen dürfen. Rosy wechselt Ahmeds Bettwäsche, und Ahmed schnieft, und danach frühstücken wir in unserer Küche, wo schon alles vorbereitet ist. Es riecht nach Kakao und getoastetem Brot, und wir müssen nur noch Butter und Marmelade drauftun.

Julien, ein dicker Blonder, den alle Jujube nennen, isst Müsli mit Milch aus einer großen Schüssel, weil seine Mama auf einer Postkarte aus Peru geschrieben hat, dass das »gesund« ist. Seitdem hat sie nichts mehr von sich hören lassen, und Jujube hat die Karte immer in der Tasche, zusammen mit seinen Plätzchen, eine ganz verknitterte und verfleckte Postkarte, auf der nichts mehr zu entziffern ist.

Simon sagt, dass Peru für Jujubes Mama gesund sein mag, aber nicht für Jujube, der dauernd auf der Krankenstation ist, weil er Bauchweh oder Kopfschmerzen oder Herzbeschwerden hat, und manchmal macht Rosy ihm ein Pflaster um den Finger, und dann geht es Jujube sofort besser, und er zeigt uns seinen kranken Finger, an dem er gar nichts hat.

Nach dem Frühstück helfen wir Rosy beim Aufräumen, alle bis auf Alice, der die langen braunen Haare ins Gesicht hängen und der immer eine Schüssel oder ein Glas aus den Fingern gleitet, und danach bleibt sie stocksteif stehen, und Rosy sagt: »Ist doch nicht schlimm, mein Herz«, und Alice hält sich die Arme vors Gesicht, als hätte sie Angst, dass Rosy sie schlägt.

Beim Frühstück sitzt Alice oft bei Rosy auf dem Schoß und lutscht Daumen, und mehr als das und ihre langen braunen Haare, die ihr Gesicht verdecken, sieht man nicht. Reden tut sie nicht viel, und Simon sagt, dass ihre Mama viel trinkt und ihr Papa auch und dass sie von ihnen verprügelt worden ist und an der Heizung festgebunden, und ich denke mir, dass ihr Papa sicher ein Frauenmörder ist, der Blondinen umlegt, so wie im Fernsehen.

Danach waschen wir uns, und Rosy kontrolliert, ob wir uns wirklich die Zähne geputzt haben, und Simon muss sich oft von ihr ins Badezimmer zurückbegleiten lassen, weil er die Dusche angemacht hat, ohne sich drunterzustellen. Er schreit wie am Spieß, wenn Rosy ihn von Kopf bis Fuß einseift.

Danach gehen wir in unsere Zimmer zurück, um unsere Hausaufgaben durchzusehen, und manchmal steckt Rosy den Kopf zur Tür herein, um nachzusehen, ob wir auch keine Kissenschlachten veranstalten oder Ähnliches, was »Treppendienst« bedeuten würde.

Und dann ist es Zeit, den Schulbus zu nehmen, der unten auf uns wartet. Rosy kontrolliert, ob wir auch alle unseren Schulranzen mithaben, und sie nimmt uns in die Arme und drückt uns an ihren dicken Busen und überlässt uns Pauline, und wir traben die Treppe hinunter, und Gérard begrüßt uns, wenn wir in seinen Bus steigen.

Pauline zählt an den Fingern ab, ob wir alle da sind, und setzt sich neben Gérard, den sie immer wieder ansieht, aber Gérard lässt das kalt, und er singt die Lieder von Julien Clerc und Henri Salvador mit, die er auswendig kann.

Pauline und Rosy können sich nicht besonders gut leiden.

Man muss nur sehen, wie Rosy schaut, wenn Pauline eine Zigarette raucht mit ihrem rot angemalten Mund und ihren hübschen Lackschuhen, mit denen sie die Zigarette austritt, wenn wir alle in den Bus steigen.

Rosy schaut sie an, als würde sie Pauline mit ihren Blicken ausziehen, und Pauline zieht an ihrer Zigarette und kreuzt die nackten Beine und sagt: »Hallo, Rosy«, und Rosy tut so, als hätte sie nichts gehört.

Einmal verspätet sich Simon wegen seinem Schulranzen, und er hört, wie Rosy (hinter Paulines Rücken) brummt: »Dreckiges kleines Flittchen«, und seitdem nennen wir sie unter uns »dreckiges kleines Flittchen« und müssen furchtbar lachen.

Ich sitze gern mit Simon hinten im Bus.

Ahmed sitzt immer hinter Gérard, und niemand will neben ihm sitzen, weil er dauernd heult und schnieft.

Jujube sitzt auch ganz allein mit seinem Pflaster um den Finger, das er Pauline zeigt, und Pauline sagt: »Oh! Das sieht aber böse aus!«, und vor lauter Begeisterung, dass man sich für ihn interessiert, isst der dicke Jujube ein Plätzchen, das er aus der Tasche holt.

Alice sitzt in der Mitte neben Béatrice, einem kleinen schwarzen Mädchen mit rosa Brille und den Fingern in der Nase, die sie hinterher in den Mund steckt.

Die Brüder Chafouin, Antoine und Boris, sitzen zwei Reihen hinter den Mädchen. Sie sind unzertrennlich und haben sich immer eine Menge zu erzählen.

Simon sagt, dass sie Waisen sind, seit sie ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall verloren haben, und ich habe ihn gefragt, was Waisen sind, und Simon hat geantwortet, dass es Kinder sind, die niemanden mehr haben, der sie liebt, und ich habe gesagt, dass Rosy uns alle liebt, und Simon hat gesagt: »Das ist nicht dasselbe«, und ich habe gesagt: »Ist es doch«, und Simon hat zu mir gesagt, ich wäre ein Arschloch, und ich habe ihn an den Haaren gepackt, und Simon hat geschrien, und Pauline hat uns getrennt, und am Abend gab es für uns beide »Treppendienst«.

Wenn Simon unterwegs einschläft, höre ich manchmal den Brüdern Chafouin bei ihrem Wörterbuchspiel zu.

Boris sagt komische Wörter wie »Anorexie«, »Hämorrhoiden« oder »Epilepsie«, und Antoine antwortet mit »Rachitis«, »Hypochonder« oder »Paraplegie«. Und ich verstehe nur Bahnhof.

Oder Boris setzt sich einen Helm auf die Ohren und singt so laut wie Gérard, nur dass es andere Lieder sind, und Pauline zieht ihm den Helm ab, den sie ihm später in der Schule zurückgibt, und Boris ist sauer und sagt: »Dreckiges kleines Flittchen«, und darüber müssen wir lachen, und Boris lacht mit und ist nicht mehr sauer.

Und wenn die Brüder Chafouin sich nicht unterhalten, dann nähen sie mit dicken bunten Fäden, die sie in ein Pferd stechen, das über ein Hindernis springt, oder in einen Rosenstrauß, und ich muss an die Wiesenblumen denken, die ich für Mama pflücke, wenn ich eine Dummheit gemacht habe.

Einmal wollte Gérard einer Katze auf dem Weg ausweichen und hat das Lenkrad herumgerissen, und wir sind von den Sitzen gepurzelt, auch die Brüder Chafouin, und ihre Nadel hat ihnen in den Finger gestochen statt in das Pferd oder den Rosenstrauß, und sie haben nicht geweint.

Ich habe gesehen, wie sie die Nadel rausgezogen und am Finger gelutscht haben, bis kein Blut mehr kam, während Pauline nachgeschaut hat, ob sich niemand verletzt hat, aber es ging allen gut bis auf Jujube, der behauptet hat, er hätte sich den Fuß gebrochen, und er hat geheult, und Pauline hat ihm den Fuß massiert, der kein bisschen gebrochen war, und Simon hat gesagt: »Damit will er sich nur wichtig machen.«

Und dann fährt Gérards Bus in einen Park, und wir sind bei der Schule angekommen, direkt neben einem großen Haus mit grauen Fensterläden, in dem andere Kinder nachts schlafen.

Man sollte meinen, man wäre im Land der Kinder, die niemanden mehr haben, der sie lieb hat.

Der Lehrer heißt Monsieur Paul, und er ist sehr nett zu uns. Er bringt uns die französische Erdkunde mit großen Karten bei, die er an die Tafel hängt, und es fällt mir nicht leicht zu begreifen, wie die ganzen Häuser der Leute darauf unterkommen sollen.

Ich habe gefragt, wo der Fluss ist, weil ich an Raymond dachte, der mich jeden Sonntag besuchen kommt, und Monsieur Paul hat mir eine Art Schlange gezeigt, die von der »großen Stadt« abzweigt und »in die Arme anderer Flüsse einmündet«.

Monsieur Paul redet manchmal richtigen Blödsinn; Flüsse haben keine Arme. Warum nicht gleich Augen oder einen Mund?

Wenn wir nicht gerade Erdkunde lernen, erzählt Monsieur Paul uns die Geschichte der Cromagnon-Menschen, der Leute, die vor uns da waren. Sie haben wie Affen ausgesehen, und sie haben das Feuer erfunden, indem sie Steine aneinanderrieben. Sie haben alle zusammen in Höhlen gelebt und Tierfelle angehabt, und gegessen haben sie Tiere, die sie mit selbst gebastelten Waffen gejagt haben wie ihren Bogen aus einem Stück Baum und einer Liane, mit denen sie Pfeile aus spitzem Stein abgeschossen haben.

Ich habe Monsieur Paul gefragt, ob Tarzan ein Cromagnon-Mensch war, und die ganze Klasse hat gelacht, und ich bin ganz rot geworden und habe die Antwort von Monsieur Paul gar nicht gehört und habe keine Fragen mehr gestellt.

Simon wollte wissen, ob die Cromagnon-Menschen sich gewaschen haben oder nicht, und der Lehrer hat gesagt, dass es damals noch keine Seife gab und keine Duschen oder Badewannen und dass die Cromagnon-Menschen sich gewaschen haben, wenn sie zufällig ins Wasser fielen, und Simon hat laut gesagt: »Die Seife ist von den Eltern erfunden worden, um ihre Kinder zu ärgern«, und alle haben gelacht, sogar Monsieur Paul.

Béatrice, die kleine Schwarze, hat ihre Nasenpopel gegessen, und Monsieur Paul hat sie gefragt, ob sie seinen Finger auch noch haben will, und sie hat gesagt: »Nein danke.«

Alice hat am Daumen gelutscht, die Haare im Gesicht, und Monsieur Paul hat ihr die Haare mit einem Gummiband hinter den Ohren festgemacht, und Alice hat es zugelassen und hat dabei gezittert.

Wir haben zwei verängstigte schwarze Augen zu sehen bekommen, einen kleinen Mund ohne Lippen, eine Stupsnase und ganz viele Sommersprossen.

Monsieur Paul hat gesagt: »Jetzt kannst du die Tafel besser sehen«, und Alice hat mit dem Kopf genickt und dabei das Gesicht hinter den Armen versteckt, und der Lehrer hat sich an sein Pult gesetzt, und Alice ist aus dem Klassenzimmer gelaufen, und Monsieur Paul ist hinterhergelaufen und hat sie gesucht.

Als sie wiedergekommen sind, hat Monsieur Paul eine Hand auf ihrer Schulter gehabt.

Wir anderen waren auf unsere Pulte geklettert und haben so getan, als wären wir Cromagnon-Menschen, und haben »Onga, onga« gerufen, und die laute Stimme von Monsieur Paul hat uns von unseren Bergen runtergeholt, nur Simon nicht, der immer noch »Onga, onga« gerufen hat, bis Monsieur Paul ihn am Ohr gezogen und in die Ecke gestellt hat, wo er bis zur Pause mit den Händen auf dem Rücken stehen musste, ohne sich zu rühren.

Wenn es klingelt, klatscht der Lehrer in die Hände und schickt uns alle nach draußen, und das ist viel Arbeit, weil es immer welche gibt, die bei Monsieur Paul bleiben wollen, statt in die Pause zu gehen, aber von uns aus dem Heim ist keiner dabei.

Der dicke Jujube sagt, er hätte Herzbeschwerden oder Bauchschmerzen, und geht auf die Krankenstation, wo man seine Herzbeschwerden oder Bauchschmerzen mit einem Pflaster um den Finger behandelt, und er zeigt uns seinen Finger, aber Simon und mich lässt das kalt, und wir spielen mit den Brüdern Chafouin und mit Ahmed Schussern oder Fangen.

Wir mischen uns nicht unter die anderen Kinder, und wir können ihnen nur raten, nicht mit dem Finger auf uns zu zeigen, denn das letzte Mal hat sogar Béatrice, die kleine Schwarze, die Finger aus der Nase genommen, um dem Jungen, der sich über uns lustig machen wollte, die Augen auszukratzen. Und wir anderen haben nach ihm getreten, sogar Alice, nur dass sie das Gummiband von Monsieur Paul nicht mehr um die Haare hatte und den dicken Jujube getreten hat, der sofort lauter geplärrt hat als der Junge auf dem Boden.

Die Mama von dem Jungen hat bei Monsieur Paul vorgesprochen, und der Lehrer hat uns nach dem Unterricht dabehalten und hat gesagt, dass wir so etwas nicht wieder tun dürfen, und wir haben gesagt: »Jawohl, Monsieur Paul«, und dabei haben wir die Finger auf dem Rücken gekreuzt.

In der Klasse gibt es jede Menge Kinder, die nicht im Heim wohnen, aber sie machen uns keinen Ärger.

Oder wie Simon sagt: »Sie beäugen uns, als wären wir Wölfe.«

An demTag, als Béatrice ihre Finger aus der Nase genommen hat, habe ich Simon, der alles weiß, gefragt, warum Béatrice im Heim wohnt.

Simon hat gesagt: »Weil der Papa von Béatrice an seiner Tochter rumgeknutscht hat, aber er hätte besser an seiner Frau rumgeknutscht, die hat nämlich die Gendarmen geholt, und seitdem ist der Papa von Béatrice im Gefängnis wie der Papa von Ahmed.«

Ich habe gefragt: »Was heißt rumgeknutscht?«, und Simon hat geantwortet: »Na ja, wenn man mit der Zunge rumspielt«, und manchmal frage ich mich, wie es kommt, dass Simon so viele Sachen weiß.

Mittags essen wir in der Kantine des großen Hauses mit den grauen Fensterläden zusammen mit allen Kindern aus allen Klassen, und das sind sehr viele Kinder. Der Lehrer und Pauline sitzen bei den Erwachsenen, und Pauline schaut Monsieur Paul an, und Monsieur Paul lässt das kalt, er schaut uns an, die Kinder aus dem Heim.

Béatrice, die kleine Schwarze, isst hauptsächlich mit den Fingern, die sie zu diesem Anlass aus der Nase nimmt, und manchmal kommt Monsieur Paul zu uns an den Tisch und wischt Béatrice die Finger mit der verfleckten Serviette ab und gibt ihr eine Gabel in die Hand, und Béatrice schaut sich darin an, als wäre die Gabel ein Spiegel. Und wenn Monsieur Paul woanders hinschaut, lässt Béatrice die Gabel fallen und isst das Kartoffelpüree mit den Fingern, und Monsieur Paul lässt sie in Ruhe, weil Boris und Antoine ihre Erbsen mit dem Löffel zu den Kindern am Nebentisch werfen, die das Gleiche tun. Oder weil Alice nichts essen will.

Der dicke Jujube hat immer als Erster den Teller leer, und manchmal streitet er mit Ahmed um den Teller von Alice, und beide ziehen amTeller, bis der Inhalt auf demTisch landet und Pauline sagt: »Diese Kinder sind noch mein Tod«, und auf den Lippen von Boris sind die Worte »dreckiges kleines Flittchen« zu lesen, und wir müssen lachen.

Nachmittags bringt Monsieur Paul uns bei, wie man ein Haus baut. Es riecht nach Leim und nach Holz, und der dicke Jujube sagt, dass ihm davon schlecht wird, und wir anderen sagen: »Jujube, du nervst.«