Meine Leidenschaft ist das Herz - Roland Hetzer - E-Book

Meine Leidenschaft ist das Herz E-Book

Roland Hetzer

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Beschreibung

Wäre es nach seinem Vater gegangen, wäre er Eisenbahner geworden. Aber Roland Hetzer, der 1946 aus dem Sudetenland als Flüchtlingskind nach Augsburg kam, hatte andere Pläne. Er wollte Medizin studieren und Arzt werden. Sein besonderes Interesse galt der Herzchirurgie. An einem Julitag im Jahr 1983 erreichte den Facharzt für Chirurgie beim Eintreffen in seiner Klinik die Nachricht, dass nach dem Unfalltod eines 15-jährigen Mädchens ein Spenderherz eingetroffen sei. Auch einen Empfänger gibt es bereits. Hetzer handelt sofort – und transplantiert sein erstes Herz. Und begibt sich damit in Deutschland auf eine »terra incognita«, die vor ihm nur wenige betreten hatten. In der Folge wurde er zu einem der größten Pioniere der Herzchirurgie weltweit. Ab 1985 baute er als ärztlicher Direktor das Herzzentrum Berlin auf. Wurde schnell zu einer Anlaufstelle der Prominenten. War der berühmte nordkoreanische Patient tatsächlich Kim Jong? Er schweigt. Wichtiger ist ihm, von seinem Engagement beim Aufbau einer Herzchirurgie in Sarajevo nach dem Bosnienkrieg zu berichten. Von seinem Engagement für Gender-Medizin. Von Herztransplantationen bei Kindern. Von seiner ersten erfolgreichen Transplantation eines Kunstherzens. Lauter Pioniertaten.

Eine Autobiographie, die gleichzeitig eine Geschichte der Herzchirurgie in Deutschland ist, vor allem aber die Geschichte eines mutigen Arztes, der neue Maßstäbe in der Medizin setzte.

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Seitenzahl: 274

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Professor Roland Hetzer gemeinsam mit Professor Christiaan Barnard, der am 3. Dezember 1967 die erste Herztransplantation im Groote Schuur Hospital in Kapstadt durchführte

Foto: privat

Titel

Prof. Dr. med. Roland Hetzer

Meine Leidenschaft ist das Herz

Erinnerungen eines Pioniers der Herzchirurgie

Unter Mitarbeit von Regina Carstensen

Herausgegeben von Friedrich-Karl Sandmann

Insel Verlag

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Prolog – Ein neues Herz

1Aus dem Sudetenland in die Augsburger Pathologie

2Wer etwas werden will, der muss in Amerika gewesen sein

3Einsame Spitze und unmündige Patienten

4Bypass-Operationen statt Herztransplantationen

5Ein Zentrum in Insellage

6Probeläufe mit Personalmangel

7Das künstliche Herz

8Medizin als politisches Geschäft

9Hilfe für Nordkorea und Sarajevo

10Kämpfe nach dem Mauerfall

11Boris Jelzin wünscht Stammzellen

12Der Umgang mit dem Tod muss gelernt sein

13Pumpen für Säuglinge

14Wenn Chirurgen sich weigern, mit Kathetern im Herzen zu operieren

15Laser, Roboter und andere Irrwege

16Frauen haben andere Herzen als Männer – aber beide oft keinen Organspendeausweis

Epilog – Bloß kein Sauerbruch sein

Dank

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Prolog – Ein neues Herz

Der Brustkorb liegt offen vor uns, blutgefüllte Schläuche führen hinein. Zweiundzwanzig Augenpaare schauen gebannt auf das, was sie im großen Operationssaal der Klinik für Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover gleich zu sehen hoffen. Einzig Dagmar Schaps, die Anästhesistin, schaut konzentriert auf die Monitore, die die Vitalfunktionen des Patienten überwachen, die Blutdruckwerte, das Elektrokardiogramm, das Auskunft über die Herztätigkeit gibt. Und sie hat die Herz-Lungen-Maschine im Blick. Sie hat vor wenigen Minuten die Arbeit des Herzens übernommen. Bis auf die Geräusche der Maschine herrscht atemlose Stille.

Das Team hat diesen Vorgang oft geprobt und trainiert. Monatelang. Vier von uns waren in Stanford gewesen, im Medical Center, dem Mekka der Herztransplantationen, darunter mein Assistenzarzt Dr. Henning Warnecke, der sich gerade im Nebensaal um das Spenderherz gekümmert hat. Unsere Blicke treffen sich, wir scheinen beide dasselbe zu denken. Bislang ist alles überraschend gut gelaufen. Ich habe jetzt das Herz des Patienten entfernt. Das, was man wirklich entfernt, sind die Herzkammern, und die Vorhöfe werden zur Hälfte abgetrennt. Zurück bleiben die Hinterwände der Vorhöfe, in die die Hohlvenen und die Lungenvenen einmünden. Auch die Lungenschlagader und die Aorta habe ich oberhalb der Kammern durchtrennt. Bis dahin war alles nur Routine. Das Entscheidende liegt noch vor uns.

Die Uhr an der Wand zeigt halb neun abends. Vor eineinhalb Stunden haben wir angefangen.

Noch am Morgen wusste ich nicht, dass es heute passieren würde. Wie jeden Tag hatte ich mich auch an diesem 21. Juli 1983 auf den Weg in die Klinik gemacht, war ungeachtet des herrlichen Sommerwetters meinen OP-Plan für die nächsten Stunden im Kopf durchgegangen, dachte an meinen Chef Hans Georg Borst, der sich in seinem Landhäuschen in Österreich von einer Knieoperation erholte. An der Pforte traf ich auf Christoph Brölsch. Er arbeitet unter Rudolf Pichlmayr, dem Spezialisten in unserem Haus, wenn es um die Transplantation von Nieren und der Leber geht.

Er grinste und sagte: »Schon gehört? Bei uns gibt es ein Spenderherz für eine Herztransplantation. Ihr habt doch seit Langem vor, eine Herztransplantation zu wagen. Willst du’s machen? Die Chance ist jetzt da.«

»Ich weiß nicht so recht«, antwortete ich zögernd, völlig überrascht über diese Möglichkeit, die sich mir da gerade auftat. »Borst wollte den ersten Eingriff vornehmen. Da will ich nicht dazwischenfunken.«

»Aber er ist nun mal nicht da. Denk daran, nicht jeden Tag haben wir ein Spenderherz zur Verfügung. Spender und Empfänger im selben Krankenhaus. Es muss nicht weit transportiert werden, nur von einem OP-Saal zum nächsten, besser geht’s doch gar nicht.«

»Na ja«, stotterte ich. »Das ist schon wahr. Aber ich muss mir erst einmal den Spender anschauen. Es muss passen.«

»Na, dann komm mit. Es ist übrigens eine Spenderin. Ein junges Mädchen, fünfzehn Jahre alt. Hatte einen schweren Verkehrsunfall. Schreckliche Sache.«

»Der Hirntod ist schon festgestellt worden?«, fragte ich nach, um ganz sicherzugehen.

»Also, das ist das Erste, was wir tun. Nulllinie im EEG. Sämtlicher Ausfall aller Steuerungsfunktionen des Gehirns. Glaubst du etwa, wir gehen damit verantwortungslos um?«

Natürlich glaubte ich das nicht.

Kurz danach hatte ich mir die junge Frau in der Pichlmayr-Abteilung angeschaut. Da lag sie. Viel zu früh war sie gestorben, was mussten ihre Angehörigen durchmachen, ihre Eltern, womöglich hatte sie Geschwister. Immerhin, so erfuhr ich noch, Vater und Mutter hatten zugestimmt, dass wir die Organe ihrer Tochter entnehmen durften. Das Mädchen hatte noch keinen Organspendeausweis (überhaupt besitzen bis heute viel zu wenige Menschen einen).

Bei einer Transplantation ist immer einer der Beteiligten ein Toter, dachte ich und: In der Vergangenheit waren es oft zwei gewesen, der Spender und der Empfänger. Die Patienten, die ein neues Herz empfangen hatten, starben oft kurze Zeit nach dem Eingriff. Anfangs scheiterten viele Fälle sogar schon gleich zu Beginn der Operation. Aber man hatte dazugelernt, und in Stanford waren seitdem strenge Kriterien entwickelt worden. Inzwischen lebten 50 Prozent der Operierten länger als fünf Jahre. Doch es mussten einfach noch mehr werden – vor allem sollte heute nicht ein weiterer tragischer Fall hinzukommen, am Tag meiner ersten Herztransplantation.

Nachdem ich das Zimmer des jungen Mädchens verlassen hatte, rief ich meinen Assistenzarzt an. »Warnecke, bei Pichlmayr in der Klinik gibt es ein Spenderherz.«

»Haben wir denn dafür einen geeigneten Empfänger?«, fragte Dr. Warnecke, sofort hellwach.

»Ich habe an Stephanus Göppert gedacht. Ich weiß, er erfüllt nicht alle Auswahlkriterien. Er ist voroperiert, sein Herz weist Verwachsungen auf, die müssen erst einmal gelöst werden, bevor man das Herz entnehmen kann. Eine Bypass-OP hat er schon hinter sich. Aber immerhin ist er nicht über fünfzig …« Nach den Stanford-Kriterien sollten die Patienten, bei denen man vorhatte, ein Herz zu transplantieren, möglichst unter fünfzig sein. Eine Festlegung.

»Nun, aber neunundvierzig, nicht weit davon entfernt«, warf Warnecke ein. Zu Recht, und er kannte den Patienten.

»Sicher, das stimmt. Aber wer ein Herz transplantiert bekommt – das ist immer der letzte Ausweg –, da sind die Bedingungen nie ideal.«

»Auch wieder wahr, und er hat eine schwere Herzinsuffizienz, die mit Medikamenten kaum noch beherrschbar ist. Er braucht dringend ein neues Herz. Haben Sie den Patienten gestern gesehen?«

»Ja, da war er aber so eingeschränkt, dass er nur langsam gehen konnte und bei der geringsten Belastung schwere Luftnot bekam. Wir wissen beide, ohne eine Transplantation stirbt er. Und das schon sehr bald.«

»Unabhängig davon – ist der Spender überhaupt ideal? Ein junges Mädchen hat in der Regel ein kleines Herz, und daher ist es vielleicht nicht in der Lage, einen großen Kreislauf zu unterhalten.«

Wieder ein berechtigter Einwand. Eigentlich. »Ich habe mir das Herz genau angeschaut, es müsste trotzdem klappen. Außerdem stimmt die Blutgruppe überein. Stellen Sie sich jedenfalls mal darauf ein, dass wir womöglich operieren werden.«

»Alles klar.«

Anschließend rief ich meinen Chef in Österreich an und schilderte ihm die Situation.

»Aber wir sollten noch warten!«, war sein Kommentar. Kein weiteres Wort.

Gut, dachte ich, dann eben nicht. Natürlich wollte er die erste Herztransplantation in Norddeutschland höchstpersönlich machen – insgesamt gab es bislang zwölf solcher Eingriffe in Deutschland, alle vorgenommen in München, zwei am dortigen Deutschen Herzzentrum, zehn am Universitätsklinikum Großhadern. Ich konnte ihn verstehen, schließlich würde der Eingriff für großes Aufsehen sorgen, und bei solch spektakulären Fällen drehte sich am Ende alles um den Chirurgen. Das wäre dann ich. Ohne noch weiter zu argumentieren, fing ich eine andere Operation an, mein OP-Plan hatte sich sowieso verschoben.

Wenige Stunden später jedoch wollte Hans Georg Borst mich sprechen. Er verlangte nähere Informationen, und ich gab sie ihm, verwies darauf, dass es kaum eine geeignetere Gelegenheit geben würde, außerdem wären wir bestens vorbereitet. Am Ende des Gesprächs gab er seine Einwilligung, meinte: »Na, dann versuch es. Good luck!«

»Wahrscheinlich geht Borst davon aus, dass es eh schiefgeht«, sagte ich zu Warnecke, als ich ihm erklärte, dass wir nun doch das Okay von unserem Chef hätten.

Stephanus Göppert, der Patient, wurde einbestellt und auf die Transplantation vorbereitet. Schon vor einiger Zeit hatten wir mit ihm über ein neues Herz gesprochen. Er wusste, was ihn erwartete, was alles an Komplikationen auftreten konnte, bis hin zu der Tatsache, dass sein Körper das fremde Herz womöglich abstoßen würde. Das größte Risiko dabei. Und dass diese Transplantation nicht nur eine große körperliche, sondern auch eine enorme psychische Belastung darstellte. Er hatte sich alles ruhig angehört, dann gesagt: »Angesichts meines düsteren Schicksals bin ich damit völlig einverstanden.«

Und nun liegt Stephanus Göppert bei uns auf dem Tisch – bereit für ein Weiterleben. Im OP-Raum nebenan wartet sein neues Herz auf ihn. Ich gehe hinüber in den Saal und entnehme das von Warnecke vorbereitete Herz des hirntoten Mädchens, nachdem ich es mit einer kalten, wässrigen Lösung stillgelegt habe. Jetzt muss alles schnell gehen, denn ab diesem Augenblick ist das Spenderherz nicht mehr durchblutet. Eilig mache ich mich auf den Weg rüber in den Empfänger-Operationssaal. Doch bevor ich beginne, das Herz einzunähen, halte ich eine Sekunde inne. Ich denke nicht an den Patienten, nicht an das, was passieren könnte, sondern einzig an das, was ich technisch zu tun habe. Ich lege das Herz in den leeren Brustkorb ein. Das Einnähen erfolgt ebenfalls nach Stanford-Vorgaben: erst linker Vorhof, dann rechter Vorhof, danach die Pulmonalarterie, zuletzt die Aorta, mit fortlaufender feiner Naht. Nach und nach fügen sich alte und neue Strukturen zusammen. Eigentlich eine verhältnismäßig einfache Sache, aber mit dieser Aussage hatte ich mir keine Freunde gemacht. Gerade ältere Chirurgen, die großen Respekt vor einer Herztransplantation hatten, haben mich oft genug zurechtgewiesen: »Sei still, sag das nicht so laut.« Sie wussten, dass in der Frühphase der Herztransplantationen die Versuche vielfach an operationstechnischen Problemen gescheitert waren.

Nun nähe ich Schrittmacherdrähte aufs transplantierte Herz, sie sollen den Start im anderen Körper stimulieren. Bei eventuell später auftretenden Herzrhythmusstörungen sind sie eine weitere Vorsichtsmaßnahme, um dem neuen Herzen einen gewissen Rhythmus aufzuzwingen.

Das Herz ist von Nerven durchzogen, sie haben einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Organ. Vor allem ist es mit dem autonomen Nervensystem verbunden, dem sympathischen Nervensystem (Sympathikus) sowie dem parasympathischen Nervensystem (Parasympathikus). Wird etwa der Sympathikus stimuliert, weil der Patient sich aufregt, sich freut oder wütend ist, dann schlägt das Herz auch schneller, alles übermittelt von Nerven, die wir nicht kontrollieren können, deshalb »autonom«. Unabhängig davon ist das Herz (wie überhaupt der gesamte Kreislauf) auch stimulierbar durch Hormone, etwa Adrenalin oder Noradrenalin, die in verschiedenen Teilen des Körpers, vor allem aber im Nebennierenmark gebildet werden. Nur: Die Stimulation über die Nerven ist eine schnellere als die über Hormone. Doch bei einer Herztransplantation werden die Nervenfasern komplett durchtrennt, auch wachsen sie nicht wieder nach. Man hat mehrmals eine nervale Überbrückung versucht, sodass Impulse vom Empfänger aus auf das transplantierte Herz stattfinden können, aber bisher ist es nicht gelungen. Wo die Durchtrennungslinien sind und später die Nähte der Vereinigung mit dem neuen Herzen, da entstehen Narben, und über diese Barriere führt kein Nerv hinweg.

Mit Stephanus Göppert habe ich vor dem Eingriff darüber gesprochen: »Die Stimulation Ihres transplantierten Herzens erfolgt nicht mehr über Nerven, sondern nur über Hormone. Haben Sie eine anstrengende Sache vor sich, müssen Sie wissen, dass die Ausschüttung von Adrenalin länger dauert. Sie tun gut daran, sich mental darauf vorzubereiten, sich quasi langsam warmzulaufen, bis Sie die volle Wirkung der Hormone zu spüren bekommen. Und gleichermaßen ist es auch umgekehrt: Verringert sich die Ausschüttung der Hormone, dauert es dennoch eine gewisse Zeit, bis die Wirkung abklingt. Plötzliches Aufstehen nach dem Aufwachen – da kann es passieren, dass Ihnen schwindlig wird. Sie haben dann nicht lange genug gewartet, bis Ihr Adrenalin Herz und Kreislauf ausreichend stimuliert hat. Sie können sogar in Ohnmacht fallen, eine Synkope erleiden, wenn Sie sich ohne Vorbereitung anstrengen.« Ich sagte ihm noch, weil er es wissen wollte, dass Nerven und Hormone ansonsten von der Funktion her gleich sind. Der Körper stellt sich darauf ein, denn er erhält so oder so ein Feedback über die Funktion des Herzens. Natürlich verändert der Körper bei einer rein hormonellen Stimulation auch sein Hormonbild. Sein Körpergedächtnis. Er weiß recht bald: »Hoppla, ich muss in dieser Situation mehr oder früher Hormone ausschütten.« Er ist da sehr lernfähig.

Während ich die letzten Stiche mache, denke ich noch: Das Herz hat eine besondere Rolle, weil es ständig in Bewegung ist, ganz im Gegensatz zu den anderen Organen. Und es ist auch nicht durch den Willen des Trägers zu beeinflussen. Niemand kann sagen: »Herz, jetzt schlag mal ein bisschen schneller.« Das tut es nur, wenn eine Belastung da ist. Oder Kummer oder Freude. Das Herz spiegelt die Situationen wider, in denen sich ein Mensch befindet. Es ist so etwas wie ein zweites Ego – ob man will oder nicht. Daher sind die Hemmungen vor einer Transplantation eines Herzens oder die Vorstellung eines künstlichen Herzens nachvollziehbar. Seit alters her wurde das Herz als eigenes Wesen angesehen.

Der letzte Stich ist gemacht. Fertig.

Und nun?

Das Herz muss durchblutet werden. Dafür löse ich die Klemme an der Hauptschlagader. Wenn das Blut in den Koronarkreislauf einströmt und sich das vorher kalte, reglose Herz rot färbt, beginnen langsam Bewegungen, die zu Kammerflimmern führen können. Ein Elektroschock bringt meist schnell einen geordneten Rhythmus, dann wird das Herz nach und nach mit Blut belastet, bis es schließlich ohne die Herz-Lungen-Maschine auskommt.

Dagmar Schaps nickt mir zu. Es hat geklappt. Das neue Herz schlägt im normalen Sinusrhythmus. Große Erleichterung. Bei allen. Spürbar.

»Wir können den Patienten von der Herz-Lungen-Maschine nehmen und zunähen«, sage ich mit leicht rauer Stimme. »Er wird nur noch künstlich beatmet. Morgen sehen wir weiter.«

Erneut blicke ich zur Uhr hinüber. Nicht mal drei Stunden sind vergangen. Es war wirklich keine komplizierte, auch keine lange Operation, die tatsächlich kritischen Phasen einer Herztransplantation kommen erst noch. Wird das neue Organ auf Dauer angenommen? Wird es abgestoßen? Im Moment kann ich nur hoffen. Aber morgen ist morgen. In diesen Minuten bin ich unendlich glücklich.

»Ich danke euch allen«, sage ich zu meinem Team. »Nach München nun Hannover. Ein Anfang ist gemacht.«

1Aus dem Sudetenland in die Augsburger Pathologie

Herzchirurg hatte ich gar nicht werden wollen. Urologe, das hatte ich mir in den Kopf gesetzt. Warum auch immer, denn aus meiner Familie hatte keiner Ahnung, was ein Medizinstudium beinhaltete, ich selbst war nie krank gewesen, hatte nie in einem Krankenhaus gelegen. Mein Vater hatte seinen – einen anderen – Plan mit mir gehabt: höhere Laufbahn bei der Bundesbahn. Verständlich, er war Eisenbahner.

Zur Welt kam ich am 17. Januar 1944 im Erzgebirge, nördlich von Karlsbad, nicht weit von der tschechisch-sächsischen Grenze entfernt. Neuhammer (heute Nové Hamry) ist mein Geburtsort. Ich stamme also aus Böhmen, dem einstigen Sudetenland. Das Erzgebirge war seit dem Mittelalter eine Bergbauregion, aber meine Großeltern betrieben Landwirtschaft, einer einen Viehhandel, und beide Großväter waren zudem Soldaten der österreich-ungarischen Monarchie im Ersten Weltkrieg gewesen, denn Böhmen gehörte zum Habsburgerreich. Erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Tschechoslowakei gegründet, wobei ihre deutschsprachigen Bewohner die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe bildeten, sie lebten überwiegend in den gebirgigen Randgebieten.

Es gab damals die Idee eines mehrsprachigen, dennoch einheitlichen Staats, und die Tschechen hatten sich bei dieser Vorstellung die Schweiz als Vorbild genommen. Sie setzte sich nicht durch. Besonders während der Weltwirtschaftskrise gab es verstärkt Spannungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, so fühlte sich die deutschsprachige Bevölkerung auf die eine oder andere Weise, etwa durch feindliche Aktionen und wirtschaftliche Benachteiligungen, bedroht. Als Hitler tönte, er wolle die Tschechoslowakei angreifen, wolle Krieg, kam es im Herbst 1938 zum Münchner Abkommen, einem Vertrag, der Hitler erlaubte, das Sudetenland zu besetzen. Dieser Grundkonflikt spiegelte sich auch in unserer Familie wider, mein Vater, Alois Hetzer, war jemand, der eher versöhnlich auf die Tschechen zuging. Er hatte eine kaufmännische Lehre gemacht, arbeitete danach im Eisenhandel, und in der Weltwirtschaftskrise Ende der Zwanzigerjahre hatte er sich freiwillig zum tschechischen Militär gemeldet, als Langzeitsoldat; stationiert war er in Prag. Die Familie meiner Mutter war mehr deutsch orientiert und hing dann auch der Partei von Konrad Henlein an, der Sudetendeutschen Heimatfront, und nachdem im November 1938 Hitler das Sudetenland übernommen hatte, wurde Henlein, der enge Kontakte zu den Nationalsozialisten hielt, Gauleiter im Sudetengau.

Trotz dieser politischen Differenzen hatten meine Eltern 1941 geheiratet. Nach seiner Zeit als Soldat kehrte mein Vater nach Hause zurück, nach Herscheditz, dem heutigen Herstošice, einem Ort auf halber Strecke zwischen Prag und Karlsbad, und zur Reichsbahn. Als Reichsbahner wurde er in den Ort versetzt, in dem meine Mutter lebte, nach Neuhammer. Mein Vater wurde noch im Jahr der Hochzeit als Reichsbahnbeamter nach Russland geschickt. Wegen seiner tschechischen Militärvergangenheit hielt man ihn wohl nicht für so zuverlässig, um dem Heer zu dienen. Glück für ihn, denn so stiegen seine Chancen, den Krieg zu überleben.

Edvard Beneš, ehemaliger und auch späterer tschechoslowakischer Präsident, arbeitete vom Londoner Exil aus an einer Wiedererrichtung seines Landes, und nach dem Zweiten Weltkrieg erließ er Dekrete, die zu wilden Pogromen und Vertreibungen der Deutschen aus der Tschechoslowakei führten. Darunter litt auch die gesamte Familie meines Vaters, die in ein Lager kam. Schließlich gehörte sie mit zu den Ersten, die nach Westen ausgewiesen wurden, ein Teil nach Bayern, ein Teil nach Groß-Hessen, in die amerikanische Besatzungszone. Meine Eltern und ich wurden Ende 1946 ausgesiedelt. Die tschechische Vergangenheit meines Vaters (und seine Tätigkeit bei der Bahn) hatte immerhin noch den Vorteil gehabt, dass man ihm einen Viehwaggon bereitstellte, sodass meine Eltern ihre Möbel mitnehmen konnten; viele andere waren komplett enteignet worden. In meiner Wohnung in Berlin habe ich nach dem Tod meiner Mutter Anna aus ihrem Haus das komplette Küchenensemble, mit dem sie ausgesiedelt war, übernommen, einschließlich einem Spültisch – so lebe ich nun darin mit meinen ganz eigenen Erinnerungen.

Die Möbel und anderen Habseligkeiten wurden in Augsburg erst einmal untergestellt, wir selbst kamen in einer ehemaligen Textilfabrik unter, nun umgewandelt in ein Flüchtlingslager. Eine riesige Halle, mit Hunderten von Menschen, die sich mithilfe von Decken kleine Nischen einrichteten, um eine gewisse Privatsphäre zu haben, wenn man denn davon überhaupt reden konnte. Nach einem halben Jahr wurden wir dann in einem Dorf auf einem Bauernhof einquartiert, im schwäbischen Ottmarshausen bei Augsburg, denn in den ausgebombten Städten war kein Platz. Viele Bauern aus der Umgebung mussten Räume hergeben für die Flüchtlinge, worüber sie meist alles andere als glücklich waren. Der Bauer, zu dem wir kamen, wusste nichts von uns, er selbst befand sich in russischer Kriegsgefangenschaft und kehrte erst später aus ihr zurück. Als er uns auf seinem Hof vorfand, zeigte er sich auch nicht gerade erfreut.

Anfangs arbeitete mein Vater für die Amerikaner in Augsburg, und während dieser Zeit passierte er noch mehrmals die Grenze von Sachsen zur Tschechoslowakei, um verschiedene Dinge aus unserer ehemaligen Wohnung herauszuholen, etwa eine Nähmaschine, einen Fotoapparat, das Radio. Bei einem dieser Ausflüge wurde er festgenommen, denn er betrat unerlaubt das sowjetische Besatzungsgebiet. Schon wegen der dort vorhandenen Uranvorkommen wurde dort stark kontrolliert. Ein erheblicher Teil des Urans, das die Sowjets für ihre Atombombe brauchten, stammte damals aus dem Erzgebirge zwischen Sachsen und Böhmen. Da es nicht genügend Freiwillige gab, wurden schon im September 1945 geeignete Bergleute unter Druck rekrutiert. Zwangsweise schickten die sowjetischen Besatzer die Leute in die Stollen, um schnellstmöglich eine nennenswerte Uranproduktion in Gang zu bringen. Ein dunkles Kapitel der Geschichte, noch immer.

Nachdem man meinen Vater also auf seinen illegalen Touren erwischt hatte, kam er ins Gefängnis nach Zwickau. Unter großen Mühen versuchte meine Mutter herauszufinden, wo ihr Mann steckte. Immerhin war er nicht nach Hause gekommen, da musste etwas passiert sein. Als sie es dann in Erfahrung gebracht hatte, machte sie sich auf den Weg in die sowjetische Besatzungszone. In Nürnberg übernachtete sie im Bahnhof, weil erst am nächsten Tag ein Zug weiterfuhr, wo man ihr aber das Geld stahl. Sie musste noch einmal umkehren, sich neues Geld holen und einen zweiten Anlauf starten. Dieses Mal schaffte sie es bis nach Zwickau. Im Gefängnis konnte sie mit dem zuständigen russischen Offizier reden, der ihr aber nur lapidar erklärte: »Ihren Mann können Sie vergessen, er kommt für zwanzig Jahre nach Sibirien.« Sie zuckte zusammen, das war eine Ansage. Niedergeschlagen kehrte sie nach Ottmarshausen zurück.

Erstaunlich war dann aber, dass mein Vater eines Tages, nach nur wenigen Monaten, plötzlich wieder vor unserer Tür stand; ohne Ankündigung hatte man ihn entlassen. Angst um ihn hatte ich nicht gehabt, ich war drei oder vier Jahre alt, für mich war er einfach nicht da. Als Kind empfindet man nicht so wie als Erwachsener. Ich ging nach der Ernte mit meiner Mutter auf die Felder, um eine Nachlese zu machen. Wir sammelten die übrig gebliebenen Ähren vom Boden auf, taten sie in einen Sack und gingen damit zu einer Mühle, wo wir mit vielen anderen anstehen mussten, die ähnlich wie wir für das gesammelte Getreide eine entsprechende Menge Mehl bekommen wollten, um damit Brot zu backen und den Hunger zu stillen. Alles zu Fuß. Das war der Alltag, der uns bestimmte.

Die Aufnahme in Ottmarshausen von den Einheimischen konnte wahrlich nicht als freundlich bezeichnet werden. Der katholische Pfarrer predigte von der Kanzel gegen die Flüchtlinge, die Worte, die er benutzte, waren einem Christenmenschen kaum angemessen. Das hatte auch ich verstanden, so jung ich noch war. Aufgeweckt, fantasievoll und vor allem vorlaut, musste ich es ihm heimzahlen. Eines Tages stand ich auf der Dorfstraße, an den Füßen trug ich halbhohe Schnürstiefel, einer der beiden Schuhe war nicht ordentlich geschnürt, einige Reihen waren aufgegangen, das Schuhbändle hing lose herab. In diesem Moment kam der Pfarrer vorbei, eine perfekte Gelegenheit, und wohlerzogen sagte ich: »Gelobt sei Jesus Christus, Herr Pfarrer.« Aber dabei beließ ich es nicht, sondern fuhr fort: »Herr Pfarrer, machen Sie mir doch mal bitte das Schuhbändle zu. Ich kann das noch nicht.« Kleine Lüge. Unter Ächzen bückte sich der alte Pfarrer, kniete nieder, um mir den Schuh zuzubinden. Nächstenliebe und Hilfe war ja gefordert. Eine Nachbarin, die diese Szene beobachtet hatte, rannte augenblicklich zu meiner Mutter und rief: »Frau Hetzer, Frau Hetzer, was glauben Sie, was der Roland gemacht hat? Er hat Hochwürden gebeten, ihm die Schuhe zuzubinden!«

Meinem Vater war es schließlich gelungen, bei der Reichsbahn, später dann bei der Bundesbahn eine Anstellung zu finden. So hatten wir ein gesichertes Einkommen, das nicht übermäßig hoch war, aber immerhin. Wir konnten den Bauernhof verlassen und zogen in ein Dorf weiter, nach Aystetten, wo wir eine kleine Wohnung mieteten, die aus zwei Zimmern, einer Küche und einem Bad bestand, das wir uns mit der benachbarten Familie teilten. Ursprünglich war es eine größere Wohnung gewesen, die man wegen der Not an Unterkünften aufgeteilt hatte. In Aystetten, das zum Kreis Augsburg gehört, wurde ich eingeschult, drei Jahrgänge wurden in einer Klasse unterrichtet. Ich verlebte dort eine glückliche Kindheit. Noch immer fahre ich gern dorthin. Meine Eltern sind dort begraben. Als ich neun Jahre alt war, ging mein Vater zu unserem Hauptlehrer und sagte: »Ich möchte meinen Sohn auf die höhere Schule in Augsburg schicken.« Der Lehrer sah meinen Vater eindringlich an, schließlich schüttelte er den Kopf: »Das hat keinen Zweck, Herr Hetzer, die Kinder kommen alle wieder zurück. Völlig sinnlos ist das. Die Einzigen, die diese Schule geschafft haben, das waren meine Kinder gewesen.«

Davon ließ sich mein Vater nicht beirren, dann sollte ich eben der Einzige sein, der es neben den Lehrerskindern packte. Punkt. Aus. Jeden Tag fuhr ich eine halbe Stunde mit dem Zug von Aystetten nach Augsburg, dann musste ich noch ein Stückchen bis zur Schule laufen. 1954 betrat ich die Oberrealschule zum ersten Mal, später umbenannt in Holbein-Gymnasium, ein mathematisch-naturwissenschaftliches Gymnasium. Damals die größte Knabenschule in Bayern, es gab sechs erste Klassen, drei vormittags und drei nachmittags. Insgesamt gingen 1800 Schüler dort zur Schule, als ich 1963, nach neun Jahren, mein Abitur machte. Alle hatten darauf gewartet, dass ich wieder in die Volksschule nach Aystetten zurückkehrte, aber nein, ausgerechnet das Flüchtlingskind hatte das Gymnasium geschafft. Und dass ich eines war, hatte ich weiterhin zu spüren bekommen.

Zu Hause sprachen wir immer noch im Erzgebirger Dialekt, und auch ständig über die Heimat, womit meine Eltern das Sudetenland meinten. Mein Vater machte sich von Jahr zu Jahr immer weniger Illusionen, dass er einmal in diese zurückkehren konnte, anders dagegen meine Mutter. Vor ihrer Ehe war sie ein Jahr lang im Reichsarbeitsdienst in Hessen gewesen und dort im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie indoktriniert worden. Mein Vater dagegen war der Meinung, all das wäre nicht passiert, »wenn nicht die Deutschen gekommen wären«. Es war eine ambivalente Situation, die nun doch eine Rolle spielte und zu Hause zu Spannungen führte, zumindest zu Diskussionen. Meine Eltern fragten sich: »Was wird aus uns? Bleiben wir hier? Kommen wir jemals wieder zurück?« Die Hoffnung, dass sie wieder in ihr früheres Leben zurückgehen können, haben die Sudetendeutschen zwanzig, dreißig Jahre lang gepflegt. Das war auch der Grund für die Bildung der Sudetendeutschen Landsmannschaft, die dann als neofaschistisch und revanchistisch gerügt wurde. Manche Politiker jedenfalls, später auch Erika Steinbach, die spätere Präsidentin des Vertriebenenbunds, schürten die Hoffnung, dass alles revidiert werden könne und wir wieder nach Hause kämen. Es war ja undenkbar, dass man die Heimat verlor. Das dachte auch meine Mutter, mein Vater war da anders.

Als ich siebzehn war, mich hatten immer Physik und Chemie interessiert, überlegte ich, was ich einmal studieren könnte. Denn es war klar, dass ich unbedingt studieren wollte.

»Weißt du schon, was du mal studieren wirst?«, fragte ich meinen Freund Dieter Soller.

»Sicher. Medizin«, erklärte er voller Überzeugung.

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte ich. »Aber eigentlich ist das ja ideal, wenn ich es recht bedenke, weil dieses Studium alle naturwissenschaftlichen Fächer vereint, und außerdem habe ich da mit Menschen zu tun.«

Und so beschloss ich, Medizin zu studieren. Der Gedanke faszinierte mich, und weil er so neu war, ging ich nach der Schule, in meiner Freizeit, in die Staats- und Stadtbibliothek Augsburg und wälzte alte Folianten über Physiologie und Anatomie, Seite für Seite. Verstand, wie die Organe zusammenwirkten, wie sie aufgebaut waren, wie alles im Grunde ablief. Dieter Soller wurde später Veterinärmediziner.

Damals konnte man sich noch an allen Hochschulen einzeln bewerben, es gab noch keine zentrale Vermittlungsstelle. Mit sechzehn hatte ich mit einem anderen Freund, Jochen Schörner, eine längere Fahrradtour nach Paris gemacht. Und ich weiß noch, als Erstes habe ich dann nach Paris geschrieben, an die Sorbonne, weil ich es in Paris so toll gefunden hatte und an der Universität schon im Mittelalter Medizin gelehrt wurde. Meine Hand zitterte, als ich den Brief aus Frankreich öffnete, der eines Tages in unserem Briefkasten lag. Wie würde die Nachricht ausfallen? Tatsächlich hatte man mich angenommen. Das war schon ganz schön aufregend. Entschieden habe ich mich dann erst einmal für ein Studium in Mainz. Paris war toll, aber ich konnte mir das nicht leisten, die Miete für ein Studentenzimmer war einfach zu hoch. Aber ein tolles Gefühl war es trotzdem.

Natürlich hätte ich auch an die Universität München gehen können, aber ich wollte mich von der Familie lösen, und Mainz war günstig, weil in der Nähe der Stadt, im Rheingau, ein ganzer Clan meines Vaters lebte, der dorthin ausgesiedelt worden war. Da konnte ich unterschlüpfen. Tägliche Zugfahrten war ich aus der Schulzeit gewohnt, nun pendelte ich von Geisenheim nach Wiesbaden, wo ich umsteigen musste, um nach Mainz zu kommen. Später am Tag ging es auf die gleiche Weise wieder zurück zu meinen Verwandten. Hin und her. Zwei Semester habe ich an der Uni Mainz absolviert und dort ein sehr gutes Vorphysikum gemacht, bei dem ich in den Fächern Chemie, Physik, Zoologie und Botanik geprüft worden war.

Da das Klagen meiner Eltern: »Wann kommst du denn wieder nach Hause?«, nicht aufhörte, schrieb ich mich an der Uni München ein, nicht zuletzt weil die Medizin dort einen hervorragenden Ruf besaß. Mit stolzgeschwellter Brust wandte ich mich an den damaligen Professor für Anatomie, Titus von Lanz, und zeigte ihm meine Prüfungsergebnisse aus dem Vorphysikum. Rasch warf er einen Blick darauf und sagte schließlich: »Das ist ja schön, wenn wir gute Leute bekommen, aber wir wollen erst mal sehen, ob Sie unseren Ansprüchen in München genügen.« Und so musste ich kurzfristig eine Aufnahmeprüfung machen, in Anatomie, und zwar in einer Sparte, die ich bis dahin noch nicht gehabt hatte: »Anatomie 1. Bewegungsapparat«. Doch auch diese Prüfung wurde zu keinem Hindernis.

Und so fuhr ich, das Eisenbahnerkind, nun jeden Tag im Zug von Neusäß nach München, über viele Jahre hinweg. Die Fahrt dauerte eine gute Stunde, ähnlich lang wie die Strecke Geisenheim–Mainz. Es waren wirklich viele Stunden, die ich im Zug verbrachte, sowohl als Schüler als auch als Student. Aber das war in Ordnung, das ließ sich problemlos machen, es gab genügend Bücher, die ich unterwegs lesen konnte. Und die medizinischen Institute in München lagen südlich des Hauptbahnhofs, in der Pettenkoferstraße, da konnte ich zu Fuß hingehen.

In München machte ich dann das Physikum und 1969 auch das Staatsexamen, gleichzeitig promovierte ich. Im letzten Semester hatte ich meine Doktorarbeit verfasst zu einem Thema aus der Radiologie. Damals wurde eine Methode eingeführt, mit der man die Durchblutung im Gehirn messen konnte, indem man radioaktive Substanzen in die Halsschlagader injizierte. Ende der Sechzigerjahre war das ein ganz neues Verfahren gewesen, das man heute so aber nicht mehr durchführen könnte, da man Patienten nicht so ohne Weiteres in die Halsschlagader stechen darf, um eine radioaktive Substanz zu spritzen. Mitte der Sechzigerjahre war so etwas durchaus noch möglich. Diese Doktorarbeit hatte mir großen Spaß bereitet und wurde auch gut bewertet.

Aber ich entschied mich nicht für die Radiologie oder Anatomie, sondern für die Urologie. Wie das kam? Noch vor dem Vorphysikum, also im ersten und zweiten Semester, musste jeder Medizinstudent ein Krankenpflegepraktikum absolvieren. Acht Wochen lang. Dafür hatte ich mir die Kinderklinik in Augsburg ausgesucht. Von zu Hause aus radelte ich dorthin und zog mir einen weißen Kittel an. Obwohl ich nur Student im Erstsemester war, nahm man mich mit ins Kasino zum Essen. Ich hatte bislang nur von Offizierskasinos gehört, die Speise- und Aufenthaltsräume militärischen Führungspersonals, aber in den Kliniken gab es damals Kasinos für Ärzte. Auf diese Weise geriet ich in die »erste Gesellschaft« hinein. Schweigend saß ich neben Oberärzten und beobachtete, wie sie sich untereinander verhielten, wie sie über Patienten sprachen, über das, was sie in ihrer Freizeit erlebt hatten. Zum einen fühlte ich mich geschmeichelt, als Studienanfänger zur Ärzteschaft gezählt zu werden. Andererseits, der Ton und das ganze Gehabe im Ärztekasino – es kam mir so vor, als sei ich tatsächlich bei Offizieren gelandet. Etwas schnoddrig und mit derben Witzen. Insofern war ich überrascht, ich hatte mir eine andere Vorstellung von diesem Berufsstand gemacht, aber ich dachte, dass ich mich an die Umgebung gewöhnen müsste. Eine gute Einstellung, wie ich fand.

Während dieser Zeit musste ein Mädchen zu einem niedergelassenen Urologen in Augsburg gebracht werden, zu einer speziellen Untersuchung, bei der ein dünner Katheter durch die Blase in den Harnleiter, also zwischen Niere und Blase, hochgeschoben wird, um dann eine Röntgenuntersuchung des Harnleiters und des Nierenbeckens zu ermöglichen. Dieses retrograde Pyelogramm konnte man in der Klinik nicht durchführen, auch nirgendwo sonst, außer bei diesem niedergelassenen Urologen. Mir hatte man die Aufgabe übertragen, das Mädchen zu begleiten. Und da saßen wir beide dann in der Urologen-Praxis, nicht weit vom Roten Tor entfernt, dem wichtigsten Tor der alten Reichsstadt Augsburg, und während der Untersuchung begann der Arzt, Dr. Gerd Pirner, sich nach mir zu erkundigen.

»Ach, Sie sind Student, interessant. Wenn Sie wollen, dann kommen Sie doch mal zu mir. Ich kann immer neugierige Leute gebrauchen.«

Nach dem ersten Semester und meinem Pflegepraktikum erinnerte ich mich an dieses Gespräch, suchte diesen Urologen auf und sagte zu ihm: »Jetzt bin ich da! Also, jetzt würde ich ganz gerne bei Ihnen zuschauen.«

Im ersten Moment sah er mich verwundert an, anscheinend hatte er das damalige Angebot längst vergessen, doch schließlich grinste er breit. »Na, dann herzlich willkommen.«

Ich interessierte mich für alles, für das, was die Sprechstundenhilfen taten, für die Administration einer Praxis, ich lernte bei dem Urologen das Röntgen und wie die Bilder in der Dunkelkammer entwickelt wurden. Und als nach kurzer Zeit eine der Sprechstundenhilfen Urlaub hatte, fragte mich der Urologe, ob ich Lust hätte, diese Mitarbeiterin zu vertreten. »Klar, mache ich gerne.« Und so rutschte ich in dieses Gebiet hinein. In dem Haus gab es noch einen weiteren Urologen, Dr. Anton Tullius, und die beiden Ärzte hatten nicht nur ihre Praxis, sondern auch Belegbetten in einer Klinik, es war das einzige urologische Krankenhaus zwischen Ulm und München. Das Krankenhaus gibt es heute nicht mehr, damals war es aber eine wichtige Schwerpunktklinik.

»Du kannst auch bei mir mit in der Klinik arbeiten«, wurde mir schließlich angeboten. Es wurde immer besser, und ich lernte jeden Tag dazu und begann, nachts als Hilfspfleger in der Klinik Dienste zu verrichten.