Milchsuppe und Malzkaffee - Heinrich Maurer - E-Book

Milchsuppe und Malzkaffee E-Book

Heinrich Maurer

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Beschreibung

Von schwierigen Zeiten und starken Frauen - Lebendige Schilderung des bäuerlichen Dorflebens von den 50er- bis in die 70er-Jahre - Eine bewegende Lebensgeschichte sehr authentisch erzählt Für den Handwerkersohn Leo aus einem kleinen Dorf im Süddeutschen ist nichts vom Wirtschaftswunder zu spüren. Früh stirbt seine Mutter und immer ist das Geld knapp. Seine einziger Lichtblick ist die Ausbildung zum Lehrer auf dem Aufbaugymnasium - doch diese Chance ist mit Schulden bezahlt. Immer plagt ihn die Angst zu Versagen. Seine Familie zerbricht und er wird in den Schwarzwald versetzt, wo er unerwartet Liebe und Heimat findet.

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Seitenzahl: 473

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Heinrich Maurer

Milchsuppe und Malzkaffee

Ein Dorfjunge findet seinen Weg

Haupttitel

Heinrich Maurer (*1939) ist auf dem elterlichen Bauernhof nahe Schwäbisch Hall aufgewachsen und war dreizehn Jahre als Landwirt tätig. Nach seinem Studium des Landbaus arbeitete er als Redakteur landwirtschaftlicher Fachzeitschriften und war bis 2004 Chefredakteur beim Württembergischen Wochenblatt in Stuttgart. Er ist außerdem Fachbuchautor und sein Roman­debüt »Wer Korn klaut muss gehen« im Jahr 2008 war ein voller Erfolg.

Autor

Haupttitel

Autor

Ein trauriger Herbst

Die neue Mutter

Karl geht

Was wird aus Leo?

Freundschaften

Wieder allein

Karl macht Karriere

Die Schulden beim Müller

Friedrichs Unglück

Die engen Grenzen

Fast am Ziel

Kleinbergheim

Des Schreiners letztes Möbelstück

Die neue Zukunft

Franziska

Enttäuschung

Wie geht es daheim weiter?

Christine

Acht Hände können mehr als sechs

Holz auf dem Greuthof

Weihnachten

Gehen oder bleiben?

Epilog

Bildquelle

Impressum

Ein trauriger Herbst

Ein markerschütternder Schrei drang aus der Schlafstube im Obergeschoss des alten Handwerkerhauses. Der zehnjährige Bub, der vor der Türe stehen geblieben war, schrak zurück, hielt sich die Ohren zu und stürzte zu seinen zwei jüngeren Brüdern, die am Abgang der Treppe gewartet hatten. Alle drei starrten angstvoll zur Türe, hinter der sich die kranke Mutter in ihrem Bett aufbäumte und von zwei Nachbarinnen nur mit Mühe am Aufstehen gehindert werden konnte. Als sich Martha Schildweg schließlich erschöpft in das zerwühlte, schweißnasse Kissen zurückfallen ließ, öffnete eine der beiden Frauen die Kammertür, rief den Zehnjährigen zu sich und schob ihn vor sich ans Krankenbett.

Leonhard, den alle nur Leo nannten, war der Liebling der Mutter, ihr Zuckerschneck, ihr Goldstück. Vielleicht konnte er sie in ihrem Fieberwahn beruhigen und trösten.

Aber Martha erkannte ihren Zweitältesten nicht. Mit einem wilden Blick aus weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an, verzerrte ihr Gesicht zu einer grässlichen Fratze, schrie dann erneut wie ein Tier und warf den von wirrem, verschwitztem Haar umsäumten Kopf zur Seite. Leo wich erschrocken und verängstigt zurück, rannte aus der Stube und ohne auf seine Brüder zu achten die Treppe hinunter und aus dem Haus. Als der Vater mit seinem ältesten Sohn, dem zwölfjährigen Karl, und der neun Jahre alten Tochter Luise vom Friedhof heimkam, wo er vor zwei Tagen sein neugeborenes, lebensunfähiges sechstes Kind beerdigt hatte, fand er nur die beiden Buben Willi und Emil. Sie hatten sich unter der Küchenbank verkrochen und weinten heftig. Von Leo, der auf die kleinen Geschwister aufpassen sollte, war nichts zu sehen.

Auch am Abend, als seine Frau in einen unruhigen Schlaf gefallen war und Gottfried Schildweg notdürftig das Vieh versorgt hatte, fehlte Leo noch immer. Trotz aller Sorge um ihn ärgerte Gottfried sich auch über seinen Sohn. Leo war ein Träumer. Immer wieder entzog er sich selbstvergessen den ihm aufgegebenen Pflichten, zu denen das Holzholen, das Wasserschöpfen am Dorfbrunnen und das Kinderhüten gehörten und versteckte sich stattdessen in der Scheune oder im Schuppen, um dort seinen Fantasien nachzuhängen. Doch Karl und Luise hatten ihn auch dort nicht finden können.

Als die Krankenwärterin mit ernstem Gesicht von dem Erlebnis des Buben im Krankenzimmer berichtete und angstvoll sagte: »Er wird sich doch nichts angetan haben?«, erschrak Gottfried. Er musste seinen Sohn suchen. Während Luise den jüngeren Geschwistern das Nachtessen richtete, nahm er die zwei Stalllaternen vom Haken in der Waschküche, zündete sie an, leuchtete mit Karl in der schon dunkel gewordenen Augustnacht alle Fußwege des Dorfes aus und fragte die wenigen Bewohner, die noch unterwegs oder in den düster beleuchteten Ställen tätig waren, nach Leo. Niemand hatte ihn gesehen, doch einige erboten sich, mit zu suchen. Vom Küchenfenster aus sahen die zurückgebliebenen Kinder Luise, Willi und Emil die Laternenlichter, die sich vom Dorf aus über die Wiesen und hinunter zu dem von niederem Gebüsch und hohen Erlen gesäumten Bachlauf bewegten. Das Lichtergewimmel kam ihnen vor wie das Tanzen der Glühwürmchen in einer warmen Sommernacht.

Erst ein gutes Stück vom Dorf entfernt, unter der steinernen Brücke, über die das schmale Sträßchen zu den Äckern am Hang und zu den Bauernhöfen auf der Hochebene führte, fanden sie Leo. Weinend war er den Bach entlanggeirrt und hatte sich, von den Rufen der Suchenden aufgeschreckt, tief unter dem Brückenbogen verkrochen. Als ihm einer der Männer mit erhobener Laterne ins Gesicht leuchtete, verschränkte der Bub angstvoll die Arme vor dem Gesicht. Nach einem kurzen Moment der Erleichterung gewann der Zorn über das Verhalten seines Sohnes bei Gottfried Schildweg die Oberhand. Er zerrte Leo unter der Brücke hervor und holte zum Schlag aus. Ein Nachbar hielt ihn zurück.

»Lass ihn, Gottfried«, sagte er, »er ist ein guter Bub und hängt doch so an seiner Mutter, sei froh, dass wir ihn gefunden haben.«

An der Hand seines älteren Bruders, einige Schritte hinter dem Vater, kehrte Leo in das Elternhaus zurück. Sie sprachen kein Wort, nur hin und wieder schüttelte ein kurzes, heftiges Schluchzen den schmalen Körper des Buben. Ohne den Vater noch einmal anzusehen und ohne Nachtessen ging er sofort in die Schlafkammer, wo die jüngeren Brüder bereits zur Ruhe gegangen waren. Leo ließ die kurze Hose fallen, zog das kurze Leibchen mit den daran festgeknöpften langen Strümpfen aus und schlüpfte in Unterhemd und Unterhose ins Bett.

Karl war hinter ihm in die Schlafstube gekommen. Erst jetzt traute er sich, den Bruder anzusprechen. »Was ist denn passiert?«, fragte er flüsternd.

»Die Mutter hat so geschrien, wie wenn sie der Teufel wär. Da hab ich so Angst bekommen«, flüsterte Leo zurück.

»Nein, nein«, versuchte Karl den Bruder zu trösten, »das ist nur die Krankheit, morgen geht es ihr vielleicht schon wieder besser.«

Doch noch in derselben Nacht starb Martha Schildweg. Der noch spät aus dem acht Kilometer entfernten Städtchen gekommene Doktor hatte ihr nur noch ein starkes Beruhigungsmittel geben können. Trotzdem wurde sie immer wieder von heftigen Fieberkrämpfen geschüttelt, bis sie im Morgengrauen der Tod erlöste, und ihr Gesicht wieder den sanften Ausdruck annahm, den Gottfried ebenso wie ihre ruhige, sanfte Art so geliebt hatte. Schluchzend und von Sorge und Schlaflosigkeit erschöpft, warf er sich über die Tote und richtete sich erst wieder auf, als ihn die Nachbarin fest an der Schulter fasste.

»Komm, Gottfried«, sagte sie, »jetzt hat sie’s hinter sich, sei froh, dass sie nicht länger hat leiden müssen.«

Die neue Mutter

Für die Schildwegkinder brach eine freudlose Zeit an. Martha hatte die Geldsorgen, die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges besonders schwer auf der Familie lasteten, stets mit ihrem fröhlichen, unbekümmerten Wesen überdeckt. Wenn sie gemeinsam das aus den Abfällen der Schreinerwerkstatt und dem zugeteilten Gemeindeanteil stammende Brennholz aufschichteten, im Frühsommer auf dem Rübenacker das Unkraut aushackten und im Herbst Kartoffeln und Obst aufsammelten, lehrte die Mutter sie die alten Kinderlieder. Dann war der verträumte Leo ihr eifrigster Schüler. Wenn die Mutter abends vor dem Zubettgehen in dem traurig schönen »Heidschi Bumbeidschi« den Vers sang: »Aber Heidschi Bumbeidschi, schlaf süße, die Engelein lasse di grüsse, sie lassn di grüssn und lassn di fragn, ob sie des kla Büble umanander solln tragn«, dann wünschte sich Leo so sehr, selbst so ein Engelein zu werden, wenn da nur nicht das Sterben und das finstere Grabloch wäre.

Der Bub hatte die musikalische Ader der Mutter geerbt und konnte lange vor den Geschwistern jede Melodie nachsingen. Und als er den Vater zum ersten Mal in die Dorfkirche begleitete und das Orgelspiel einsetzte, schien es ihm, als kämen die brausenden Töne durch die gewölbte Kirchendecke direkt vom Himmel und könnten nur von Engeln selbst gemacht worden sein. Erst viele Wochen später, als er sich getraute, in der Kirche umherzuschauen, entdeckte er am Orgelpult den jungen Lehrer, der im Takt der Töne den Kopf hob und senkte. Enttäuscht wurde ihm klar, dass die Musik nicht von Engeln, sondern von einem Menschen gemacht wurde.

Gottfried Schildweg war ein wenig geschäftstüchtiger Handwerker. In seiner Werkstatt verzettelte er sich an besonderen, kunstvoll verzierten Möbelstücken, deren Wert die Dörfler nicht zu schätzen wussten. Darüber ließ er manche von der Kundschaft als eilig bezeichnete Reparatur der gebräuchlichen kunstlosen Einrichtungsgegenstände liegen. Er klammerte sich an das seltene Lob, das die gelegentlich in seiner Werkstatt auftauchenden Kaufleute aus der Stadt seinen Einzelstücken spendeten, und fühlte sich ihnen zugehörig, ohne mit den seltenen Verkäufen die ewige Geldnot beseitigen zu können.

Schon immer hatte der Dorfschreiner davon geträumt, irgendwann zu jenen Handwerkern zu gehören, von denen die Bürgerhäuser der Städte prachtvoll ausgestattet wurden. Wenn er in seiner kleinen Werkstatt die vom vielen Aufziehen und Schließen beschädigten Schubladen der alten Bauernmöbel neu zusammenleimte, dann straffte er hin und wieder den schmerzenden Rücken, sah gedankenverloren in den Obstgarten hinaus und stellte sich vor, sonntags an den ärmlich gekleideten Kleinbauern vorbei als einer der Ersten in die Kirche zu gehen und von allen achtsam gegrüßt zu werden. Dann würde er auch dem Kirchenvorstand und dem Gemeinderat angehören und könnte endlich die kleine Landwirtschaft abwerfen, von der er nichts verstand, die ihm lästig war und die er am liebsten der Frau und den Kindern überließ. Er hasste es, auf dem dampfenden Misthaufen den Wagen zu beladen und ihn dann mit den zwei störrischen Kühen auf die meilenweit entfernten Äcker auf der Ebene zu fahren. Es war ihm ein Gräuel, in der Sommerhitze mit der Sense Getreide zu mähen und dabei immer hinter den Nachbarn zurückzubleiben, denen diese Arbeit wie von selbst von der Hand zu gehen schien.

Nun aber war seine Martha tot, die ihm so viel Arbeit abgenommen und ihm mit ihrer unbekümmerten Art über manchen Ärger hinweggeholfen hatte, die mit der Milch der Kühe, dem Fleisch vom sorgsam gemästeten Schwein, den mit viel Mühe angebauten Kartoffeln und dem Gemüse aus dem Garten die Familie ernährt und mit dem Verkauf von Butter und Eiern manche Geldnot gemindert hatte. Was sollte jetzt nur werden?

Die Verwandten vermittelten als Haushälterin eine unverheiratete ältere Frau, deren Familie froh war, die lästige Tante aus dem Haus zu haben. Dieser Sophie, die es gewohnt war, die Tage mit ein wenig Gartenarbeit, etwas Mithilfe in der Küche, im Stall und auf dem Feld zuzubringen, und lieber mit den Nachbarinnen tratschte, als eine neue Arbeit anzufangen, wuchs die neue Aufgabe schnell über den Kopf. Morgens mussten die drei großen Kinder Karl, Luise und Leo oft hungrig in die Schule gehen, weil Sophie mit dem Melken nicht fertig geworden war und die für das Morgenessen benötigte Milch fehlte. Die beiden Kleinen, Willi und Emil, spielten noch am Mittag mit ungewaschenen Gesichtern und den in der Nacht getragenen Kleidern im Hof und oft hörten die Nachbarn die keifende Stimme der Haushälterin und das Weinen der Kinder. Als Gottfried den Niedergang des Hauswesens nicht mehr ertrug und laut wurde, kündigte Sophie den Dienst. Sie sagte, sie wolle eine Verwandte im Nachbardorf besuchen, und kam nicht wieder. Ein Schulbub holte ihre wenigen Habseligkeiten.

Nachdem auch eine von Gottfried eilig herbeigeholte junge Magd bald an der dreifachen Aufgabe in der Küche, dem Stall und auf dem Acker gescheitert war, fuhr an einem Spätherbsttag Verwandtschaft der verstorbenen Martha in einer respektablen Bauernkutsche in den Hof der Schreinerei. Gottfried hatte mit der Hilfe einer Nachbarin das Haus geputzt und Werkstatt und Stall aufgeräumt. Den Kindern, die sich sauber kleiden mussten, schärfte er ein, still in der Schlafstube zu warten, bis er sie holen würde. Durch das kleine Fenster zum Hof sahen Karl, Luise und Leo, hinter dem Vorhang versteckt, wie dem noblen Gefährt zwei dunkel gekleidete Frauen und ein großer hagerer Mann entstiegen und vom Vater fast überschwänglich begrüßt wurden. Durch die dünnen Dielen der Stubendecke hörten die Kinder die etwas stockende Stimme des Vaters, den tiefen Bass des unbekannten Mannes und dazwischen das kurze, helle Lachen einer Frau. Flach auf dem Boden liegend versuchte Leo vergeblich, durch eine Dielenritze etwas von dem Besuch zu erspähen, hatte der Vater am Morgen doch angekündigt, dass heute vielleicht eine neue Mutter käme.

Die beiden großen Buben hielt es nicht länger. Karl und Leo schlichen die Treppe hinab und vor die verschlossene Türe der Wohnstube. Abwechselnd spähten sie durch das Schlüsselloch. An der schmalen Seite des Tisches saß der fremde Mann, hatte die Unterarme auf die Tischplatte gelegt, die Hände ineinander verschränkt und redete mit dem Vater, der kurze, aufgeregte Antworten gab. An der Fensterseite saßen die beiden Frauen. Die eine hatte ein breites Gesicht mit etwas wulstigen Lippen und dunklen, von starken Brauen überwölbten Augen, die ihr zusammen mit dem dunklen Haar einen finsteren Ausdruck verliehen. Die andere, etwas jüngere, hatte ein schmales Gesicht, blonde, lockige Haare und zeigte eine freundliche Miene. Sie gefiel Leo.

»Ist die rechts die neue Mutter?«, flüsterte er.

Karl schüttelte den Kopf. »Nein, die links soll zu uns kommen.«

Leo war enttäuscht. »Aber warum die?«, fragte er und richtete sich auf, »die andere ist doch viel schöner.«

»Die ist doch schon verheiratet«, gab Karl zurück.

Als das Gespräch in der Wohnstube beendet schien, schlichen die Brüder schnell wieder die Treppe hinauf zu den Geschwistern.

Kurz darauf wurden sie vom Vater heruntergerufen und dem Besuch vorgestellt. Nacheinander gaben sie dem großen Mann, den der Vater als Onkel Albert vorstellte, und den beiden Tanten Klara und Anne die Hand.

»So, da seid ihr ja alle fünf«, sagte Anne, die schöne, lächelnd und strich den Kindern über die Köpfe.

»Seid ihr auch immer brav und helft dem Vater?«, fragte Klara und Leo erschrak über ihre tiefe Stimme.

Klara war die Schwester von Onkel Albert. Sie war mit einem Bauern aus einem Nachbardorf verlobt gewesen, der aber kurz vor der Ehe, als für die Braut schon das Hochzeitskleid genäht war, das Fest absagte. Noch während der Verlobungszeit hatte er ein heimliches Liebesverhältnis mit einer Kleinbauerntochter angefangen, deren Schwangerschaft schließlich nicht mehr zu verleugnen war. Er stand zu dieser Vaterschaft und heiratete die andere, was in der ganzen Umgegend für viel Aufsehen und Gerede sorgte. Klara blieb tief verletzt zurück. Nie mehr sollte sie ein Mann so demütigen dürfen! Dieser feste Wille und der Groll gruben sich in ihr Gesicht, machten es hart und kalt. Ihr Bruder Albert schien froh zu sein, dass der verwitwete Schreiner sie zur Frau nehmen wollte. Auf seinem Hof war mit ihr und ihrer zänkischen Art kein Auskommen mehr gewesen.

Die Hochzeit, bei der die Braut in einem schwarzen statt im üblichen weißen Kleid und ohne Schleier neben Gottfried Schildweg in der Kirche stand, war, wie die Kinder später sagten, gar kein richtiges Fest. Nach dem Kirchgang kam die engere Verwandtschaft zum Essen im Schreinerhaus zusammen, wo die Nachbarin Klößchensuppe und Schweinebraten mit Nudeln gekocht hatte. Das Brautpaar redete wenig miteinander und auch kaum mit den Gästen. Gottfried ärgerte sich über den Schwager Albert, der ihm immer wieder seine Missbilligung deutlich machte. Der Bauer fühlte sich mit seinem großen Hof recht erhaben über den neuen Schwager, dessen kümmerliches Anwesen deutlich genug die wirtschaftliche Enge vor Augen führte. Noch vor dem Essen hatte ihm Gottfried in seiner Werkstatt einen neuen Schreibtisch aus Kirschbaumholz gezeigt, an dem er seit Wochen arbeitete und der mit seinen vielen seitlichen Schubladen und den kleinen aufgesetzten Schubfächern durchaus etwas Besonderes war. Albert hatte beifällig genickt, dann aber, als Gottfried zugeben musste, dafür noch keinen Käufer zu haben, nur geringschätzig gelacht.

Auch das finstere Gesicht der neuen Schreinersfrau hellte sich an diesem Tag, der eigentlich ein Freudentag sein sollte, kaum auf. Nur hin und wieder war ihre raue, tiefe Stimme zu hören.

Die Schildwegkinder saßen zusammen mit den beiden Söhnen und der Tochter von Albert und Anne an einem zweiten, kleineren Tisch. Auch hier herrschte keine fröhliche Stimmung. Die drei Kinder führten sich ähnlich überheblich auf wie ihr Vater, und Luise schämte sich für ihr altes, inzwischen fast zu klein gewordenes Sonntagskleid, in dem sie sich neben der neuen Base so ärmlich vorkam.

Schon am Hochzeitsabend kehrte der Alltag zurück. Noch bevor der Novembertag dunkel wurde, waren die Gäste wieder abgefahren. Obwohl Gottfried seine neue Frau davon abhalten wollte, hatte Klara bald darauf ihr schwarzes Festtagskleid ausgezogen und gegen die Alltagskluft getauscht. Sie hatte sich vorgenommen, die heruntergekommene kleine Landwirtschaft wieder in die Höhe zu bringen und wollte sofort damit anfangen. Die Nachbarin, die angeboten hatte, am Hochzeitstag auch die Stallarbeit zu übernehmen, schickte sie barsch nach Hause und ging stattdessen selbst in den Stall, um die beiden Kühe zu melken. Den Kindern hatte sie mit herrischer Stimme eigene Aufgaben zugeteilt: Luise musste die Tische abräumen und das Geschirr spülen, Leo Holz aus dem Schuppen holen.

Weil es nur im Haus eine eigene Wasserleitung gab, musste Karl für das Vieh Wasser vom Dorfbrunnen holen und schämte sich, als ihm dabei ein Schulkamerad begegnete und lachend fragte: »Ist eure Hochzeit denn schon vorbei?«

Auch Gottfried hatte sich einen Neuanfang und neue lichte Tage versprochen. Seine Erwartungen wurden ebenso enttäuscht wie die der Kinder. Er fütterte die Tiere und karrte ihren Mist aus dem Stall. Dabei hörte er immer wieder seine neue Frau mit den Kühen schelten, die bei der neuen Melkerin unruhig wurden.

Im Schreinerhaus herrschte von nun an ein anderer Ton. Wo früher die fröhliche Stimme Marthas zu hören war, die den Kindern Geschichten aus der eigenen Jugend erzählt hatte, die sich von den Kindern aus der Schule berichten ließ und die Kleinen die alten Kinderlieder lehrte, herrschte jetzt die harte Stimme von Klara. Kamen Karl, Luise und Leo von der Schule, wurde ihnen sofort eine Arbeit in Haus, Stall oder Scheune angewiesen, die sie bis zum Abend erledigen mussten. Luise musste in der Küche helfen, die kleinen Geschwister, die gerne beim Vater in der Werkstatt spielten, ins Haus holen, ihre Nasen putzen und Gesichter waschen. Karl und Leo mussten in der Scheune das Futter für die Rinder aus Heu und Stroh herrichten, Futterrüben aus dem dunklen Scheunenkeller tragen und für den Stall eimerweise Wasser vom Dorfbrunnen holen.

Als Karl und Leo eines Nachmittags in der Scheune das Heu aus dem dicht gelagerten Stapel zerrten und mit Getreidespreu und Stroh vermischten, stützen sie sich hin und wieder auf ihre Gabeln und sprachen leise über ihr neues Los.

»Die andern dürfen spielen, nur wir müssen immerzu schaffen«, jammerte Leo. »Ständig kommandiert die Klara uns herum. Wenn doch die Mutter noch da wär …« Er ließ den Kopf sinken.

»Wenn ich aus der Schule bin, dann geh ich gleich fort«, pflichtete Karl ihm bei.

Leo hob den Kopf. »Dann will ich auch nicht mehr daheimbleiben.«

Nebenan ging die Scheunentüre. Sofort verstummten die beiden Buben und fassten ihre Gabeln.

»Wie weit seid ihr?«, rief Klara mit unverkennbarem Unmut in der Stimme zu ihnen herüber. »Ihr müsst nachher dem Vater helfen und einen Schrank wegbringen, also macht endlich vorwärts.«

Karl blickte finster zur Scheunentenne. »Wir sind gleich fertig«, antwortete er.

Schweigend machten sie sich wieder an die Arbeit.

Auch für Gottfried Schildweg wurde das Leben nicht einfacher. Er war zwar froh, dass im Haus wieder Ordnung herrschte, jeden Tag ein anständiges Essen auf dem Tisch stand und die Kinder sauber angezogen zur Schule gingen. Doch die vertraulichen Gespräche beim Essen, am Abend in der Stube und vor dem Zubettgehen gab es nicht mehr. Gottfried war kein großer Redner, in die Gespräche anderer mischte er sich selten ein. Aber er war ein guter Zuhörer. Früher hatte er Martha und den Kindern oft am Abend berichtet, was am Sonntag nach der Kirche oder später im Wirtshaus gesprochen wurde. Martha hatte ihm stets aufmerksam zugehört und ihn als Mann und als Handwerker immer geachtet, auch wenn sie mit seinen Geldgeschäften oft unzufrieden war. Kam sie in die Werkstatt, dann bewunderte sie seine aufwendig hergestellten Stücke, obwohl sie später darüber seufzte, dass sich dafür lange keine Käufer fanden.

Seit Klara im Haus war, erzählte Gottfried immer weniger. Seine neue Frau kannte die Dorfbewohner nicht, von denen er sprach, und zeigte auch keinerlei Interesse. An seiner Arbeit in der Werkstatt war für sie nur wichtig, wie damit Geld zu verdienen war. Für die Kostbarkeit seiner Stücke hatte sie keinen Blick, und als eine schöne Kommode lange stehen geblieben war, sagte sie nur spöttisch: »Mit dem Holz hätten wir lange schüren können.«

Wenn früher Kundschaft aus der Stadt gekommen war, hatte Martha sie stets bewirtet. Klara nahm sich dafür keine Zeit, und als sich Gottfried darüber beklagte, antwortete sie nur: »Die wollen sich hier bloß satt essen und kaufen dann doch nichts.«

Klaras Interesse galt allein der Landwirtschaft. Darüber sprach sie gerne und ausführlich, aber dafür hatte wiederum Gottfried nicht viel übrig. Anfangs hatte er sich noch bemüht, Interesse zu zeigen, aber später hörte er immer weniger zu, wenn Klara stolz vom Hof des Bruders erzählte, wie dort dies und jenes getan wurde, wie groß die Ernten, wie reichlich die Milch und wie fett die Schweine waren. Immer schwang in diesen Berichten auch eine Missbilligung der einfachen Verhältnisse hier im Tal mit, wo man nur mit Kühen kutschierte und nebenher Handwerker oder Tagelöhner sein musste, um leben zu können.

Still litten auch die kleinen Buben Willi und Emil. Die neue Mutter sorgte zwar dafür, dass sie immer zu essen und saubere Kleidung hatten, aber nie wurden sie liebevoll auf den Schoß genommen oder getröstet, wenn sie sich beim Spielen wehgetan hatten. Klara versorgte sie, wie man den Tieren im Stall genug Futter und eine trockene Streu gibt. Manchmal weinten sie sich am Abend in den Schlaf, und wenn Klara sie dann verständnislos fragte, was sie denn hätten, konnten sie es ihr nicht sagen. Als der dreijährige Emil aus Kummer und Not wieder in die Hose und ins Bett machte, reagierte sie erbost und zerrte ihn in die Küche, um ihn dort mit kaltem Wasser zu waschen.

Kaum war im März der Schnee von Wiesen und Äckern getaut, trieb es Klara hinaus. Gottfried musste mit ihr am Sonntag alle Grundstücke aufsuchen, auch die kilometerweit entfernten Äcker auf der Ebene. Seine neue Frau hatte Einiges daran auszusetzen. Dass ein Feld noch die Stoppeln der vorjährigen Getreideernte zeigte, war ihr vollkommen unverständlich. »Mein Gott«, entrüstete sie sich, »warum hast du im Herbst nicht geackert? Man kann doch die Äcker nicht einfach liegen lassen. Was sollen wir denn jetzt im Frühjahr damit anfangen?«

Gottfried versuchte sich vor seiner Frau zu rechtfertigen: »Du weißt doch, wie es bei uns war. Erst ist das Kind gestorben und dann die Martha. Wie hätt ich das denn alles schaffen sollen?«

Klara schüttelte den Kopf. »Aber du hast doch eine Haushälterin und eine Magd gehabt und die großen Kinder hätten auch viel mehr machen können. Jetzt kann ich sehen, wie ich mit dieser Wirtschaft fertig werde!«

Schweigend senkte Gottfried den Kopf.

Schon am nächsten Tag musste er die Kühe anspannen und mit dem verspäteten Pflügen beginnen. Klara führte die Tiere am Halfter und zerrte sie, wenn sie vor Erschöpfung stehen bleiben wollten, unter Schimpfworten unnachgiebig vorwärts.

»Was für eine elende Schinderei«, zeterte sie, als die Kühe einfach nicht mehr weiterwollten. »Bei meinem Bruder mit seinen Gäulen hätt es so was nicht gegeben!«

Gottfried wollte ihr antworten: »Dann geh halt wieder zu deinen Gäulen«, aber er war zu erschöpft um zu streiten und blieb lieber still.

Am Nachmittag wollte Gottfried in seine Werkstatt. Er habe dringende Reparaturen zu erledigen und Karl müsse ihm helfen. Jetzt musste Leo mit aufs Feld und die Kühe führen, während Klara hinter dem Pflug ging. Die Tiere waren müde und blieben immer öfter stehen. Leo, der nach dem Vormittag in der Schule ebenfalls müde war, trieb sie nur halbherzig an. Nun ließ die neue Mutter ihren Zorn nicht mehr nur an den Tieren, sondern auch an dem Buben aus: »Ihr seid alle gleich«, schimpfte sie, »mit euch kommt man doch zu nichts. Hätt ich das nur vorher gewusst.«

Leo blickte finster zurück, der Hass in ihm wuchs.

Am Abend, als die Kinder schon im Bett waren, redete Klara so lang auf Gottfried ein, bis er sich bereiterklärte, am nächsten Tag zum Müller zu gehen und ihn zu bitten, mit seinen Pferden die Äcker fertigzupflügen. Dafür gab ihm der Schreiner den Schreibtisch, den er eigentlich in der Stadt teuer verkaufen wollte. Der Müller wollte das kostbare Stück zunächst nicht annehmen, aber Gottfried wollte nicht in seiner Schuld stehen.

Nach dem harten Winter lockten die ersten warmen Sonnenstrahlen die Dorfkinder unwiderstehlich nach draußen. In allen Gassen in den Höfen und auf dem Kirchplatz tobten sie herum. Eines Abends war auch Leo dabei und spielte mit den Nachbarskindern Fangen und Verstecken. Dass er eigentlich Wasser holen und die Kleinen heimbringen sollte, hatte er ganz vergessen. Erst als Karl gelaufen kam und berichtete, dass daheim die Kühe vor Durst brüllten und beim Melken unruhig waren, beeilte er sich, das Versäumte nachzuholen. Im Stall wurde er von der verärgerten Klara am Ohr genommen und durch den Stallgang gezogen. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst gleich wieder da sein!«, schrie sie ihn an. »Mach, dass du ins Haus kommst.«

Weinend rannte Leo aus dem Stall, aber nicht ins Haus, sondern in den Schuppen. In seinem schon oft aufgesuchten Versteck ließ er den Tränen freien Lauf. Er kauerte sich hinter die aufgestapelten Bretter und träumte davon, wie schön es gewesen war, als die Mutter noch lebte.

Als es Zeit für das Nachtessen wurde, wusste niemand, wo Leo war. Gottfried, der sich noch gut an den Abend vor Marthas Tod erinnerte, machte sich selbst auf die Suche. In den Gärten und den schmalen Fußwegen dazwischen rief er nach dem Sohn.

Sein Rufen schreckte Leo im Schuppen auf. Schnell kroch er aus seinem Versteck und wollte zum Haus, aber Gottfried entdeckte ihn. In seinem Ärger packte er den Sohn am Arm. »Was fällt dir ein, so einfach zu verschwinden? Warum bist du nur so ein ungezogenes Kind, niemand hat dir doch etwas getan!«

Trotzig erwiderte Leo: »Die Klara hat mir so weh getan, dabei ist sie doch gar nicht meine Mutter.«

»Doch, sie ist jetzt deine Mutter und du musst ihr folgen«, erwiderte Gottfried matt. Auch er hätte sich so gerne seine Martha zurückgewünscht.

Die Geldschwierigkeiten der Familie Schildweg besserten sich nicht. Gottfried hatte gehofft, die neue Frau, die von einem großen Bauernhof kam, werde nicht nur eine Aussteuer aus Wäsche, Kleidung und Einrichtung, sondern auch ein ordentliches Stück Geld mitbringen. Als er damals mit ihrem Bruder die Heirat abmachte, hatte der noch großspurig dahergeredet. Die Klara bringe eine Aussteuer mit, aber keine Möbel. »Ich kann doch in ein Schreinerhaus keine fremden Möbel stellen!«, hatte er gelacht und dröhnend hinzugefügt: »Das wär ja grad so, als würd ich einem Müller Mehl bringen.«

Als Gottfried schüchtern etwas von Geld murmelte, entgegnete der zukünftige Schwager: »Jaja, sie kriegt was, aber jetzt ist es gerade etwas schwierig. Die Viehpreise sind schlecht, und dann ist mir vor ein paar Wochen ein Gaul kaputtgegangen. Und für die Klara brauch ich eine neue Magd, und du weißt ja, was die Dienstboten heutzutag verlangen.« Eine Summe hatte er für das Heiratsgut nicht genannt, und Gottfried wagte auch nicht, danach zu fragen.

Da die kleine Landwirtschaft nicht alles hergab, was die Familie zum Leben brauchte, musste im Dorfladen dies und jenes zugekauft werden. Seit Martha gestorben war und er sich weniger um sein Handwerk kümmern konnte, musste Gottfried dort immer wieder anschreiben lassen. Die Besitzerin, eine runde, gemütliche Frau, wusste um die schwierigen Verhältnisse und ließ das zu. Gottfried wollte nicht, dass Klara von seinen Schulden erfuhr, und schickte deshalb immer die großen Kinder zum Einkaufen. Heimlich hatte er ihnen eingeschärft, der Stiefmutter nichts vom Anschreiben zu erzählen.

Es ging nicht lange gut. Als eines Morgens die großen Kinder in der Schule waren und die kleinen beim Vater in der Werkstatt, wollte Klara selbst zum Einkaufen gehen. Gottfried wehrte ab: »Lass das doch die Kinder machen, wenn sie nachher heimkommen.«

Doch wie immer, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sich Klara nicht abhalten, und ging ins Dorf. Als sie bezahlen wollte, merkte Klara, dass sie ihren Geldbeutel vergessen hatte.

»Das macht doch nichts«, sagte die Ladnerin, »schreiben wir’s halt an.« Sie griff nach ihrem rot eingeschlagenen Buch.

Klara wurde misstrauisch: »Haben wir denn schon öfter anschreiben lassen?«

Die Frau schlug im Buch nach und Klara, die sich neugierig über die Ladentheke beugte, entdeckte die lange Zahlenreihe. »Mein Gott«, rief sie entsetzt, »das ist ja recht viel, so geht das doch nicht.«

»Ist doch nicht so schlimm«, sagte die Frau begütigend. »Der Gottfried hat sonst immer alles bezahlt, aber er hat es doch wirklich schwer gehabt in der letzten Zeit.«

Klara schüttelte den Kopf. »Nein, nein, so geht das nicht weiter. Ich hol jetzt gleich das Geld, so etwas gibt’s bei mir nicht.«

Aufgebracht riss sie daheim die Werkstatttüre auf. »Also nein«, rief sie Gottfried entgegen, »so geht das nicht! Wie steht man denn vor den Leuten da? Wieso gibst du den Kindern zum Einkaufen kein Geld mit?«

Der Schreiner legte den Hobel weg. »Ganz einfach«, antwortete er resigniert, »weil ich kein Geld hab. Im letzten halben Jahr ist ja fast nichts reingekommen. Die Kunden zahlen schlecht, und der schöne Schreibtisch, den ich verkaufen wollte, der steht jetzt beim Müller.«

»Herrgott noch mal«, rief Klara zornig, »wo bin ich da bloß hin gekommen: nichts im Stall, nichts auf den Äckern und nichts in der Kasse. Ein schöner Hausvater bist du mir.«

Jetzt wurde auch Gottfried wütend: »Und du, du kannst nur schimpfen. Du weißt doch, was hier die letzte Zeit los war. Zwei Beerdigungen zahlen, Geld für Dienstboten ausgeben und immer weniger einnehmen. Und wo ist dein Geld? Dein Bruder hat mir als Heiratsgut Geld versprochen – wo ist es denn?«

Klara stemmte die Arme in die Hüften. »Aha, jetzt geht’s gegen mich. Ich sag dir eins: Jetzt gleich geh ich in den Laden und bezahl die Schulden von meinem Geld. Aber das muss aufhören, dass du’s nur weißt.«

Bevor Gottfried etwas entgegnen konnte, drehte sie sich um und schlug die Werkstatttüre hinter sich zu.

Im Sommer wurde es besser. Mit unnachgiebigem Willen bestellte Klara die Äcker. Dort stand das Getreide dann auch viel schöner als früher und der Kleeacker lieferte den Tieren gutes Futter. Die Kühe dankten es mit viel Milch. Die Schreinerin, wie Klara inzwischen von allen genannt wurde, konnte an die Molkerei liefern und hatte jeden Monat ein ordentliches Milchgeld. Auch der Feldertrag konnte sich sehen lassen. Stolz zeigte Klara ihrem Mann am Sonntag die kerzengerade gezogenen Kartoffel- und Rübenreihen, in denen kein Unkraut wuchs. Gottfried war froh, dass er die Sorge um die Landwirtschaft los war.

Aber die Kinder murrten. Schon im Frühjahr hatten sie mit Klara die Steine von den Äckern lesen, im April Kartoffeln legen, im Mai die Rüben vereinzeln und immer wieder Unkraut aushacken müssen. Als die anderen Kinder in den Juniferien schon am Vormittag in dem kleinen Fluss planschten, mussten Karl und Leo mit dem Kuhfuhrwerk auf den Kleeacker oder die Baumwiesen fahren, wo Klara das Grünfutter für den Tag gemäht hatte.

Bei der Heuernte stand Klara auf dem Wagen, Gottfried reichte ihr das Heu mit der langen Gabel und sie stapelte es zu einer exakt rechteckigen Ladung. Die Kinder hatten ihre eigenen Aufgaben. Luise hatte auf die Kleinen aufzupassen, die auf der Wiese spielten. Leo musste die Kühe am Halfter nehmen, immer wieder ein Stück vorfahren und die blutgierigen Bremsen abwehren, von denen auch er immer wieder gestochen wurde. Karl musste mit dem hölzernen Rechen nachrechen. Kein Halm durfte auf der Wiese liegen bleiben.

Am Abend waren alle müde. Nur Klara schienen die Hitze und die Arbeit nichts auszumachen. Sie stemmte die Arme in die Hüften und betrachtete stolz den vollen Wagen. »Na bitte«, sagte sie hochmütig, »kann ein Mann vielleicht besser laden?«

Gottfried schüttelte nur stumm den Kopf, und die Kinder schauten ohne Regung zu Boden. Früher war das Heumachen lustiger gewesen. Freilich hatten Vater und Mutter von der gleichen Wiese nur einen Wagen geholt, während es jetzt zwei waren. Aber was kümmerte die Kinder der bessere Ertrag?

Auch bei der Getreideernte übernahm Klara das Kommando. Anfänglich überließ sie Gottfried die Sense mit dem stoffbezogenen Bügel, aber der Schreiner war ein schlechter Mäher. Immer wieder hielt er inne, um den schmerzenden Rücken aufzurichten und sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.

Klara, die hinter ihm die Halme mit der Sichel aufnahm und zu Garben ablegte, konnte nach einiger Zeit nicht mehr an sich halten. »So kommen wir nicht vorwärts«, sagte sie schroff, »ich steh die ganze Zeit nur rum, heut Mittag mäh ich.«

Für Gottfried war das eine Demütigung: Sollte er etwa hinter seiner Frau die Weiberarbeit machen? Zum Glück kam am Mittag ein Nachbar, dem die Sense zerbrochen war und der sie sofort repariert haben wollte. So hatte er einen Grund, sich in seine Werkstatt zurückzuziehen.

Während Klara am Nachmittag wie ein Mann die Sense schwang, musste Karl mit der Sichel die Halme aufnehmen und Leo die Strohbänder legen, mit denen die Garben später gebunden wurden. Die beiden kamen ihrer neuen Mutter nicht nach.

»Was ist mit euch?«, rief sie nach einiger Zeit. »Ihr seid ja so langsam wie euer Vater!«

Die beiden entgegneten nichts, sondern arbeiteten stumm weiter.

»Wenn ich aus der Schule komm, geh ich weg«, sagte Karl halblaut zum Bruder.

»Und ich geh schon vorher«, fügte Leo trotzig hinzu.

Karl geht

Über die Frage, was aus den beiden älteren Söhnen einmal werden sollte, kam es im Schreinerhaus immer wieder zu Auseinandersetzungen. Karl wurde bald vierzehn und kam dann aus der Schule.

Klara hätte den Buben gerne zu ihrem Bruder auf den Hof gegeben. »Dort lernt er, was zu einem richtigen Bauern gehört«, sagte sie.

Für Karl war das eine fürchterliche Vorstellung. Er konnte den großkotzigen Onkel nicht leiden, und die neue Mutter hatte ihm das Bauerngeschäft längst gründlich verleidet. »Ich will aber kein Bauer werden«, sagte er und sah zu Boden.

»Dann musst du halt auch ein Schreiner werden«, höhnte Klara, »da verdient man ja so gut.«

Gottfried wurde wütend: »Jaja«, gab er zurück, »und die Bauern, die reden viel vom großen Geld, haben aber anscheinend auch keins.« Er hätte seinen Ältesten schon gern zu einem Schreiner gemacht, der einmal sein Handwerk weiterführen könnte.

Aber auch das wollte Karl nicht. Er wollte lieber ein Kaufmann werden. Auch dem Lehrer war aufgefallen, dass Karl ein guter Rechner war, und so hatte er dem Schreiner ein halbes Jahr vor der Schulentlassung empfohlen, seinen Ältesten in eine Kaufmannslehre zu schicken. Bei seinen Stadtkunden, die gelegentlich kamen, erkundigte sich Gottfried Schildweg nach Lehrstellen. Ein Eisenwarenhändler war bereit, Karl nach einer Probezeit aufzunehmen. Der rotgesichtige, stiernackige Mann, der im Winter mit einem pelzbesetzten Mantel und einem runden Hut in die Schreinerwerkstatt kam, nahm den Buben in Augenschein.

»Soso«, sagte er mit seiner lauten Stimme und legte Karl die schwere Hand auf die Schulter, »du willst also ein Kaufmann werden. Hast wohl den Spruch gehört ›Lieber fingerlang handeln als armlang schaffen‹?« Dabei lachte er dröhnend.

Karl bekam einen roten Kopf und sagte nichts. Er musste sein Schulzeugnis zeigen und der Mann nickte beifällig. Am 1. April des Folgejahres sollte Karl bei ihm als Lehrling eintreten. »Lehrgeld will ich keins«, sagte der Kaufmann zu Gottfried, »aber du musst mir den gleichen Schreibtisch machen, wie ihn der Müller bekommen hat.«

Karl war glücklich. Endlich konnte er dem Kommando und der ständigen Nörgelei der neuen Mutter entkommen. Endlich musste er nicht mehr jeden Tag die schweren Wassereimer schleppen, Mist aus dem Stall karren und die störrischen Kühe am Halfter zerren.

Kurz nach der Abmachung war er mit dem Vater im Geschäft seines neuen Lehrherrn und staunte über den großen Laden, die lange Theke und die hohen Regale mit den vielen Fächern für Nägel, Schrauben und Beschläge. Daheim erzählte er Leo davon. Karl sah sich schon in einem hellgrauen Arbeitsmantel hinter der Theke stehen und den Kunden die verlangten Waren hinlegen und an der verzierten Registrierkasse mit der großen Kurbel das Geld kassieren. Er würde in dem großen Haus an der Hauptstraße wohnen und käme nur noch zum Sonntag heim.

Leo konnte sich nicht mitfreuen. »Dann bin ich hier ganz allein«, jammerte er. »Dann muss ich noch mehr schaffen und mich noch mehr kommandieren lassen.«

»Du darfst dir nur nicht alles gefallen lassen«, versuchte Karl, ihm Mut zu machen. »Und wenn ich heimkomm, dann helf ich dir schon.«

Dass Lehrjahre keine Herrenjahre sind, bekam Karl schnell zu spüren. Anstatt hinter der Ladentheke zu stehen, musste er früh um fünf aufstehen, noch vor dem Morgenessen der Küchenmagd Holz aus dem Schuppen hinten im Hof holen, die Asche aus dem großen Herd hinuntertragen und, solange es noch kühl war, den großen Ofen im Laden anheizen. Nach dem Morgenessen mit einem zweiten, älteren Lehrling, den beiden Lagerarbeitern und dem Hausmädchen galt es, in dem zugigen Schuppen Eisenteile zu sortieren, in schweren Körben ins Lager zu tragen und den Lageristen beim Aufbewahren zu helfen. Zwischendurch musste er für den Lehrherrn oder seine Frau Botengänge erledigen, wobei er sich anfänglich in den engen Gassen der Stadt oft verirrte. Weil er sich niemanden zu fragen traute, kam er einmal zu spät in das Geschäft zurück und wurde vom Meister grob ausgeschimpft und vom Ladengehilfen für seine Ungeschicklichkeit verspottet. Als er ein anderes Mal die Adresse verwechselte und ein Paket falsch zustellte, das dann mit einer Beschwerde zurückkam, gab ihm der Lehrherr mit den Worten »Kannst du Bauerndepp nicht besser aufpassen?« eine schallende Ohrfeige.

Am Abend kam er oft todmüde auf seine Stube, wo er sich mit dem zweiten Lehrling ein hartes Bett teilte. Der schikanierte ihn; er freute sich, dass er jetzt jemanden hatte, den er so treten konnte, wie er vorher selbst getreten worden war.

Oft sehnte sich Karl nach dem Vater und den Geschwistern. Wenn er am Samstagabend nach fast zweistündigem Fußmarsch heimkam, wollte er nicht über seinen Kummer reden und gab auf die Fragen nach seinem Tagesablauf nur knappe Antworten.

Dem Vater entging jedoch nicht, wie mager und blass sein Ältester geworden war. Er dachte an seine eigene schwere Lehrzeit in einem fremden Haus. Bevor Karl am Sonntagabend wieder ging, richtete er ihm in der Küche ein Esspaket mit Wurst, einem Viertellaib Brot und einem breiten Streifen Rauchfleisch. Als Klara dazukam und protestierte, der Bub werde doch in der Stadt gut verköstigt, erwiderte er nur: »Du bist wohl noch nie in fremden Häusern gewesen und weißt nicht, wie es dort zugeht. Schau doch den Buben an, wie mager er geworden ist!«

Leo musste nun allein oder zusammen mit Luise die lauten Befehle von Klara ausführen. Nun hatte er die schweren Arbeiten wie das Ausmisten oder das Aufladen des schweren Grünfutters zu erledigen, die vorher Karl übernommen hatte. Er war öfter allein als früher und flüchtete sich häufig in seine Traumwelt. So auch einmal, als er mit den Kühen auf eine entfernte Baumwiese fahren musste, auf die Klara zum Grasmähen vorausgegangen war. Die Kühe kannten den Weg, Leo ließ sie trotten und träumte vor sich hin.

Plötzlich gab es einen Ruck und er schreckte auf. Vom saftigen Grün angezogen waren die Kühe vom Weg zu einem Kleeacker abgebogen. Dabei hatte der Wagen einen Baum gestreift und war hängen geblieben. Eine der Stützen für das Seitenbrett war abgebrochen. Das Brett hatte keinen Halt mehr und lag auf dem Boden.

Hilflos stand Leo daneben. Wie sollte er das bloß dem Vater und Klara erklären? »Hätt ich doch besser aufgepasst«, jammerte der Bub und fing an zu weinen.

Jemand kam den Weg entlang. Es war der Nachbar Fritz, der Leo damals unter der Brücke vor dem Vater in Schutz genommen hatte. »Na Leo«, sagte er, »was ist denn passiert?«

Leo wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah hilfesuchend zu dem Mann auf. »Die Kühe sind einfach vom Weg runter und dann ist der Wagen hängen geblieben.«

Der Nachbar besah sich den Schaden: »So kannst du nicht weiterfahren«, sagte er ruhig, »aber ich glaub, wir kriegen das schon wieder hin.« Mit seiner Hacke klopfte er den Rest der Stütze aus dem Zapfenloch und steckte sie dann mit dem umgedrehten dünneren Teil wieder hinein. »So«, sagte er und legte dem immer noch leise schluchzenden Buben die Hand auf die Schulter, »jetzt kannst du wieder weiterfahren. Dein Vater wird das dann schon wieder richten.«

Als Leo verspätet auf der Baumwiese ankam, war Klara längst mit dem Mähen fertig. »Warum kommst du so spät?«, rief sie ärgerlich. »Wo hast du dich wieder rumgetrieben?«

»Die Kühe sind heut so langsam«, log Leo, »und dann kam auch noch der Fritz und wollte was wissen.«

»Ach der«, Klara machte eine wegwerfende Handbewegung, »der hat immer Zeit zum Schwätzen.«

Leo nahm schnell die Gabel vom Wagen und lud Gras auf. Die Stiefmutter sollte die beschädigte Stelle nicht sehen und sie bemerkte auch nichts.

Daheim, als er den Wagen vor dem Stalleingang abgeladen hatte, ging Leo in die Werkstatt zum Vater und beichtete kleinlaut den Schaden. Oft ärgerte sich Gottfried, wenn die Kinder etwas angestellt hatten. Aber da er wusste, wie sehr Leo nach dem Weggang von Karl unter Klara zu leiden hatte, war er gegenüber seinem Zweitgeborenen nachsichtig. Gemeinsam gingen sie zum Wagen. Gottfried staunte über die gelungene Reparatur. »Hast du das selber gemacht?«, fragte er.

»Nein«, gestand Leo, »der Fritz ist gekommen und hat mir geholfen.«

»Hast du es der Mutter gesagt?«, fragte der Schreiner weiter.

Leo schüttelte den Kopf. »Sie hat auch nichts gemerkt.«

»Dann lassen wir es auch dabei«, beschloss Gottfried.

Am Nachmittag, als Klara mit den Kindern auf dem Rübenfeld war, fertigte der Schreiner eine neue Stütze.

Am meisten und am längsten litt der kleine Emil unter der neuen Mutter. Ihre herrische und lieblose Art machte ihn zu einem schreckhaften Angstbündel. Weit mehr als seinen Geschwistern setzten dem jüngsten der Schildwegkinder ihr Spott und ihre Schläge zu.

Wohl sah Gottfried, wie die Kinder litten, aber er fand nicht die Kraft, ihnen beizustehen. Wuchsen ihm die beruflichen Misserfolge, die Existenznot und der Ärger über seine neue Frau über den Kopf, dann ließ er im Gegenteil seinen Unmut selbst an ihnen aus. Oft genug stimmte er dann schon bei den kleinen Verfehlungen in die Schimpftiraden seiner Frau ein und erhob manches Mal die Hand gegen die Kinder. Hinterher tat es ihm dann leid und er versuchte wieder, ein guter Vater zu sein, doch das alte Familienglück konnte er nicht wiederherstellen.

Für Leo und Luise wurde die Schule ein Ort der Erholung. Beiden fiel das Lernen leicht. Im Gegensatz zu Klara, die nie ein Wort der Anerkennung für ihre Stiefkinder fand, sparte der Lehrer nicht mit Lob.

Luise war in ihrer stillen Art bei den anderen Mädchen wohlgelitten. In den kurzen Arbeitspausen, die ihr die Stiefmutter ließ, half sie anderen bereitwillig bei den Hausaufgaben und in der Schule ließ sie ihre Nebensitzerinnen beim Diktat und den Klassenarbeiten abschreiben. Bei den Handarbeiten, dem Häkeln, Stricken und Nähen, war sie geschickt und wurde von der Lehrerin gelobt. Sie träumte davon, später einmal Näherin zu werden.

Leo war anders, sprunghaft in seinem Wesen. Mal träumerisch in sich versunken, dann bei den Spielkameraden wieder laut, aufbrausend und altklug. Im Inneren unsicher und ängstlich, tat er sich schwer, Freunde zu finden. Wenn andere Buben sich mutig auf das Wehr der Mühle trauten, um von dort mit einem Kopfsprung in die tieferen Stellen des Flusses zu tauchen, blieb er im flachen Wasser oder am Ufer oder gab an, dem Vater in der Werkstatt oder der Mutter im Stall helfen zu müssen. Stattdessen saß er dann wieder in seinem Schuppenversteck und träumte von einem besseren Leben.

An einem solchen Tag, als Leo sich wieder einmal hinter dem Bretterstapel verkrochen hatte, ging knarrend die Schuppentüre. Es war der Vater. Er suchte nach einem geeigneten Holz für einen beschädigten Tisch. Der Bub duckte sich tief in sein Versteck und wagte nicht zu atmen. Endlich hatte der Vater ein geeignetes Brett gefunden, zog es mühsam aus dem Stapel und verließ den Schuppen. Draußen war die laute, ärgerliche Stimme der Stiefmutter zu hören. Ob er den Leo gesehen habe, fragte sie ihren Mann. Der nichtsnutzige Bub sei wieder einmal verschwunden. Es sei längst Zeit fürs Wasserholen. »Du musst ihn endlich einmal schärfer anfassen«, sagte sie, »sonst wird aus dem Kerl nie etwas.«

Als Klara und Gottfried endlich in der Werkstatt und im Haus verschwunden waren, verließ Leo den Schuppen. Durch den Obstgarten schlich er zur Scheune und von dort in den Stall. So leise wie möglich nahm er die beiden Wassereimer, stellte sie in den flachen Handkarren, fasste die kurze Deichsel und bog mit dem Gefährt ungesehen um die Hausecke Richtung Brunnen.

Dort waren einige Kinder und Frauen ebenfalls beim Wasserholen. Schweigend tauchte Leo den Eimer in den Brunnentrog und zog ihn gefüllt wieder heraus. Dabei stieß er an den Trogrand, Wasser schwappte aus dem Eimer und einer Nachbarin, die gerade in der Nähe stand, über die Füße. »Kannst du nicht aufpassen«, fuhr sie ihn an, »jetzt bin ich patschnass.«

Aber Leo hatte es eilig. Ohne eine Reaktion stellte er den Eimer auf seinen Karren.

»He, ich red mit dir«, empörte sich die Frau und zog ihn schmerzhaft am Ohr. »Kannst du dich nicht wenigstens entschuldigen?!«

Vor Schmerz riss Leo den Kopf zurück, stolperte dabei über den gut gefüllten Eimer und warf ihn um. Ein zweiter Wasserschwall schwappte der Nachbarin über die Füße. Einige der Umstehenden lachten, was die Bäuerin noch wütender machte. Bevor sich Leo versah, hatte er eine schallende Ohrfeige im Gesicht. Um ihn herum wurde noch mehr gelacht.

Vor Schmerz und Wut über die Demütigung stiegen Leo Tränen in die Augen. Er packte die Karrendeichsel und rannte mit klappernden Eimern heim.

Vor der Scheunentüre stand die Stiefmutter mit dem Melkeimer in der Hand.

»Da bist du ja endlich«, empfing sie ihn. »Aber wo hast du das Wasser?« Leo gab keine Antwort. Er wollte sich an ihr vorbeidrücken, aber Klara packte ihn fest am Arm: »Kannst du mir keine Antwort geben?«, schrie sie ihn an.

Im Stall hörte Gottfried die laute Stimme seiner Frau. Mit ärgerlicher Miene kam er aus der Tür, um nachzusehen.

»Da hast du deinen fleißigen Sohn«, schrie Klara ihm entgegen. »Er hat wieder irgendetwas angestellt, und wenn ich ihn frag, gibt er keine Antwort.«

Gottfried stellte sich vor Leo: »Was ist und warum kommst du ohne Wasser heim?«

Noch bevor Leo antworten konnte, kam die Nachbarin vom Brunnen in den Hof. »Einen feinen Sohn hast du, Gottfried«, rief sie, »schüttet der mir doch zweimal Wasser über die Füße und kann sich nicht mal entschuldigen.« Sie zeigte auf ihren nassen Rocksaum: »Schau nur, wie ich ausseh.«

Der Schreiner verlor die Beherrschung. Wütend riss er Leo am Arm und schlug mit der anderen Hand auf ihn ein. »Jetzt reicht es mir! Mit dir muss man sich vor allen Leuten schämen. Sofort entschuldigst du dich!«

Leo hatte die Arme schützend über den Kopf gehoben, um die schlimmsten Schläge abzuhalten. Trotzdem trafen ihn die prasselnden Hiebe. Laut heulte er auf.

Das wurde selbst der verärgerten Bäuerin zu viel. »Komm Gottfried«, wiegelte sie ab, »so schlimm ist es auch nicht.«

Der Schreiner hielt inne und richtete sich auf: »Das bei dir, Nachbarin, das muss er wieder gutmachen.« Er zog Leo, der mit gesenktem Kopf und schluchzend neben ihm stand, am Arm. »Sofort gehst du mit der Base zum Brunnen und hilfst ihr beim Wasserholen.«

Leo hörte auf zu weinen. Mit einem schrägen, hasserfüllten Blick sah er zum Vater auf und nickte. Ohne noch etwas zu sagen, ging er mit dem Handwagen zum Brunnen.

Die Bäuerin folgte ihm. »Komm, Leo«, sagte sie begütigend, »das hab ich doch nicht gewollt. Du brauchst mir nicht zu helfen. Bring du nur dein eigenes Wasser heim.«

Wortlos füllte er seine beiden Wassereimer, stellte sie auf den Handkarren und zog davon.

Als er das Wasser daheim in den Stall tragen wollte, kam ihm der Vater entgegen. Ohne etwas zu sagen, nahm er beide Eimer, trug sie in den Stall und goss den Inhalt in den vorher gesäuberten Futtertrog. Gierig schlürften die beiden Kühe das Wasser. Nur kurz sah Gottfried seinen Sohn an. »Du kannst ins Haus gehen. Ich mach im Stall allein fertig.« Er hätte die harten Schläge gern wieder zurückgenommen.

Als Leo in die Küche kam, stand Klara am Spülstein und säuberte das Melkgeschirr. »So«, empfing sie den Buben, »hast du jetzt endlich Wasser geholt und das mit der Nachbarin wieder gutgemacht? Geh und wasch dir die Hände, wenn der Vater kommt, wird gegessen. Auch wenn du heut eigentlich kein Nachtessen verdient hast.« Luise, die Geschirr abgetrocknet hatte, deckte den Tisch.

»Ich hab keinen Hunger«, sagte Leo kurz. Immer noch steckte ihm das Weinen im Hals, aber er schluckte es tapfer hinunter. Vor der Stiefmutter wollte er keine Schwäche zeigen. »Mir tut der Kopf so weh, ich geh gleich in die Kammer.«

Klara nickte. »Das glaub ich, dass dir der Kopf weh tut, aber daran bist du selber schuld.«

In der Schlafkammer warf Leo sich in den Kleidern aufs Bett, drückte das Gesicht ins Kissen und ließ den Tränen freien Lauf. Das Schluchzen schüttelte den mageren Körper. Niemand liebte ihn! Seine Mutter war tot und der Vater schlug ihn wegen der kleinsten Kleinigkeit. Dabei wäre das alles gar nicht passiert, wenn er nicht solche Angst vor der Stiefmutter haben müsste.

Von unten hörte er plötzlich Schritte. Der Vater kam mit seinen schweren Stiefeln die Treppe herauf. Als er in die Kammer trat, stellte sich Leo schlafend.

»Leo, warum kommst du nicht zum Essen?«, fragte Gottfried halblaut. Der Sohn reagierte nicht. Vorsichtig fasste ihn der Vater an der Schulter. »Komm, du musst doch Hunger haben, wir warten auf dich. Es wird alles wieder gut. Du musst halt der Mutter besser gehorchen.«

Leo drehte sich ruckartig um. »Sie ist nicht meine Mutter!«, sagte er trotzig mit tränenverschmiertem Gesicht. Dann warf er sich wieder in das Kissen und schluchzte erneut.

»Doch, sie ist jetzt deine Mutter«, entgegnete der Vater mit neuem Ärger in der Stimme. »Wenn du das nicht einsehen willst, dann bleibst du am besten gleich im Bett.« Er schlug die Kammertüre hinter sich zu. Eigentlich hatte er mit dem Sohn wieder alles gutmachen wollen. Aber es schien, als könnte nichts mehr gut werden.

Als die Tränen endlich versiegt waren, zog sich Leo aus und legte sich unter die Decke. Gleich mussten die Brüder Willi und Emil kommen. Er wollte nicht zeigen, dass er geweint hatte.

Als die beiden leise die Kammertür öffneten, stellte Leo sich schlafend. Auch als der sechsjährige Willi schüchtern fragte: »Leo, tut dir der Kopf immer noch weh?«, gab er keine Antwort.

Noch lange lag Leo wach. Seine Verzweiflung und das Gefühl, von niemandem geliebt zu werden, wichen einem entschlossenen, finsteren Zorn. In seinem Kopf wechselten die abenteuerlichsten Fluchtpläne. Mit solch finsteren Gedanken schlief er schließlich ein.

Am nächsten Morgen weckte ihn Luise: »Komm Leo, wir müssen in die Schule.« Mühsam erhob sich der Bub. Die Sonne schien durch das kleine Dachfenster und zauberte auf dem Dielenboden seltsame Schattenspiele. »Heut Mittag dürfen wir mit dem Vater in die Stadt«, plauderte die Schwester weiter, »er muss den Schreibtisch hinbringen und dann besuchen wir den Karl. Komm, zieh dich schnell an, das Morgenessen steht auf dem Tisch.«

In der Küche saßen die beiden Brüder schon vor ihrer Milchsuppe. Leo setzte sich wortlos zu ihnen. Die Stiefmutter und der Vater waren wie jeden Morgen noch im Stall. Luise schöpfte vorsichtig die Milchsuppe in den tiefen irdenen Teller und goss den Malzkaffee in die Tasse, auf der das vom vielen Abwaschen ausgebleichte Bild einer Katze zu sehen war. Leo löffelte stumm seine Suppe und die Brüder schwatzten von der Fahrt in die Stadt.

Als die Kinder sich auf den Weg zur Schule machten, kam der Vater über den Hof. »Leo«, sagte er zu seinem Sohn und legte ihm die Hand auf die Schulter, »du musst mir heut Mittag helfen, den schweren Schreibtisch auf den Wagen zu heben und in der Stadt wieder abzuladen, allein schaff ich das nicht.«

Leo nickte stumm. Die Nacht hatte seinen Zorn auf den Vater ausgelöscht. Gottfried Schildweg zog ihn kurz an sich und strich ihm leicht über den Kopf. Das hatte der Vater zuletzt nicht oft getan. Glücklich blickte Leo zu ihm auf.

Noch vor dem Mittagessen sollte der neue Schreibtisch für den Eisenwarenhändler auf den großen vierrädrigen Handwagen mit der ebenen Pritsche und der kurzen Deichsel aufgeladen werden. Als sie das auf Holzböcke abgestellte Möbelstück betrachteten, wiegte Gottfried bedenklich den Kopf. »Meinst du, wir zwei schaffen das, oder sollen wir doch lieber den Fritz holen?«

Leo fühlte sich herausgefordert: »Das kann ich schon«, sagte er mit einem Kopfnicken. Er wollte dem Vater zeigen, dass er stark genug war.

Gottfried hatte für das Aufladen bereits zwei Bretter bereitgelegt. Er hob den schweren Tisch jeweils an einer Seite an, während Leo die Bretter unterschob. Auf dieser Unterlage ruckten Vater und Sohn die schwere Last Stück um Stück auf den Wagen. Als sie fertig waren, nahm Gottfried die Mütze ab und trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Leo stand mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht daneben. »Ich hab nicht geglaubt, dass du das kannst«, sagte der Vater und klopfte seinem Sohn auf die Schulter. »Vielleicht wirst du doch mal ein Schreiner.«

Leo zuckte mit den Schultern. »Ich komm ja erst im nächsten Jahr aus der Schule«, sagte er. Er wollte die Entscheidung hinauszögern.

Beim Mittagessen wollte Klara nicht zulassen, dass Luise in das Städtchen mitging. Sie müsse ihr daheim in der Küche und dann im Garten helfen. »Ihr wollt spazieren fahren und ich soll mir daheim den Buckel krumm arbeiten, das tät euch so gefallen.«

Luise, die schon ihr gutes Kleid angezogen hatte, fing an zu weinen.

»Nichts da«, fuhr Gottfried auf, »Luise kommt mit! Willst du dem Kind jede Freude nehmen? Sie kann dir morgen wieder im Garten helfen.«

Der Ausflug wurde für die Kinder ein Fest. Der Vater und Leo zogen den Handwagen und die anderen drei trabten fröhlich nebenher. Die Dörfler, die ihnen begegneten, wunderten sich. So gut aufgelegt hatten sie den Schreiner und seine Kinder schon lange nicht mehr gesehen.

Als der Wagen die schmalen, steingepflasterten Gassen des Städtchens entlangrumpelte und ihnen die vielen fremden Menschen entgegenkamen, hielten sich Luise und die kleinen Brüder furchtsam nahe beim Vater. Aber Leo bewunderte diese neue Welt. Er staunte über die vornehm gekleideten Bürgerfrauen, die ihnen allein oder am Arm ihres Mannes entgegenkamen. Dass die Männer beim Grüßen kurz den Hut lüpften, das hatte er daheim noch nie gesehen.

Eine Gruppe älterer Schulkinder kam ihnen entgegen. Die Buben hatten sauber gebügelte kurze Hosen und dunkle Jacken an, auf deren Kragen das helle Hemd ausgelegt war. Sie trugen blankgeputzte dunkle Schuhe und weiße Kniestrümpfe. So vornehm waren die Dorfkinder nicht mal am Sonntag angezogen. Die Schüler hatten auch keine Schulranzen auf dem Rücken, sondern trugen braune Ledertaschen, wie sie daheim nur der Bürgermeister und der Ratschreiber hatten.

Im Hof der Eisenwarenhandlung kam einer der Lagerarbeiter aus dem offenen Schuppen. Ihm sagte Gottfried Schildweg, dass er den vom Chef bestellten Schreibtisch bringe und dass im Übrigen der Lehrling Karl sein Sohn sei.

»Soso«, erwiderte der Arbeiter und gab dem Schreiner die Hand, »da wird sich der Karl aber freuen. Und ihr«, fuhr er an die Kinder gewandt fort, »ihr seid wohl seine Geschwister und habt heut mit dürfen.« Die Kleinen nickten, aber Leo verzog keine Miene. Der Mann verschwand durch eine Hintertür in das große Haus und kam kurz darauf mit dem Eisenwarenhändler zurück.

»So, Herr Schildweg«, sagte der Kaufmann mit seiner kräftigen Stimme, »da sind Sie ja mit der ganzen Mannschaft. Lasst mal sehen, was ihr auf eurem schweren Fuhrwerk habt.« Er klopfte Gottfried auf die Schulter und lachte dröhnend.

Eilfertig löste der Schreiner die Stricke, mit denen das Möbelstück auf dem Handwagen befestigt war, und zog die darübergebreitete Decke ab. Erwartungsvoll blickte er den Kaufmann an. Der trat dazu und betrachtete den Schreibtisch von allen Seiten.

»Ja«, sagte er schließlich, »so hab ich mir das gute Stück vorgestellt. Meister, das ist eine saubere Arbeit, ich bin zufrieden. Jetzt kommt ins Haus, ihr seid nach dem langen Weg bestimmt durstig.«

Er führte die Dörfler durch den Hintereingang in die große Küche mit dem langen Esstisch für die Angestellten. Das Dienstmädchen wies er an, dem Schreiner eine Flasche Bier zu bringen und den Kindern Wasser einzuschenken. »Setzt euch hin und stärkt euch«, sagte er, »dann will ich den Karl holen.«

Karl hatte im Laden zusammen mit dem älteren Lehrling Eisenbeschläge eingeräumt. Als der Jüngere musste er die teilweise schweren Teile aus dem großen Weidenkorb nehmen und in die Regalfächer einsortieren. Der ältere Lehrling lehnte lässig an der Verkaufstheke und trug die Waren in eine Bestandsliste ein.

Vom vielen Bücken tat dem Buben der Rücken weh. Mit steifem Oberkörper und hängenden Armen kam er hinter seinem Chef in die Küche. Er hatte auch nicht, wie sich Leo vorgestellt hatte, so einen schönen Arbeitskittel an, wie ihn die Leute in den Läden trugen, sondern eine blaue, einige Male geflickte Schürze, fast so, wie sie der Vater daheim in der Werkstatt trug.

Als er den Vater und die Geschwister sah, hellte sich Karls müdes Gesicht auf. »Ihr seid ja alle mitgekommen«, sagte er überrascht und gab ihnen die Hand. Dann blieb er unschlüssig stehen und sah auf seinen Chef.

»Setz dich nur auch dazu«, sagte der, »ihr habt euch doch Einiges zu erzählen. Ich zeige derweil meiner Frau den neuen Schreibtisch.«

Als er gegangen war, scharten sich die kleinen Geschwister um den Bruder. »Du Karl«, drängte Willi, »dürfen wir auch mal in den großen Laden? Ich will doch sehen, wo du schaffst.«