Minderjährige Geflüchtete in der Jugendhilfe - Dorothea Zimmermann - E-Book

Minderjährige Geflüchtete in der Jugendhilfe E-Book

Dorothea Zimmermann

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Beschreibung

In den letzten Jahren haben viele Menschen aus konflikthaften Regionen Zuflucht in Deutschland gesucht. Minderjährige unbegleitete wie begleitete Geflüchtete stellen dabei eine besonders vulnerable und gleichzeitig hoffnungsvolle Zielgruppe dar. Was brauchen die Kinder und Jugendlichen, um in Deutschland anzukommen? Gelungene Unterstützung führt nachweislich zu gelungenen Integrationsprozessen. Für eine adäquate Lebensbewältigung im neuen Lebenskontext und die vielen daraus erwachsenden Orientierungs-, Planungs-, Entscheidungs- und Reflexionsanforderungen werden daher gerade für diese Gruppe Unterstützungsleistungen benötigt, die – bei gelungener Hilfe zur Selbsthilfe – zu einer erfolgreichen Integration führen können. Orientierungslosigkeit und unsicherer Aufenthalt bergen dagegen Gefahren von Exklusion und Belastung. Auch Eltern begleiteter minderjähriger Geflüchteter brauchen Unterstützung, um in der Situation des Ankommens, der Neuorientierung und zahlreicher anderer Aufgaben ihren Kindern angemessene Hilfen verschaffen zu können. Aktuellen Studien zufolge besteht ein hoher Bedarf an psychosozialer Qualifizierung für die in diesem Bereich Tätigen. Der Band gibt entlang dieser Bedarfe einen Einblick in die Möglichkeiten und Grenzen der Kinder- und Jugendhilfe als Unterstützungsinstanz.

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Geflüchtete Menschen psychosozialunterstützen und begleiten

Herausgegeben von

Maximiliane BrandmaierBarbara BräutigamSilke Birgitta GahleitnerDorothea Zimmermann

Dorothea Zimmermann/Silke Birgitta Gahleitner/Marilena de Andrade/Conny Bredereck/Adrian Golatka/Mohammed Jouni

MinderjährigeGeflüchtetein der Jugendhilfe

Mit einer Abbildung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Nadine Scherer

Wissenschaftliches Lektorat: Ilona Oestreich

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2625-6436

ISBN 978-3-647-99931-9

Inhalt

Geleitwort der Autoren und Autorinnen sowie der Reihenherausgeberinnen

1Minderjährige Geflüchtete in Deutschland: Mythen, Daten und Fakten

1.1Gesellschaftlicher Kontext

1.2Daten und Fakten

1.3Unbegleitete minderjährige Geflüchtete

1.4Begleitete minderjährige Geflüchtete

1.5Ressourcen – häufig vergessen, missachtet oder funktionalisiert

2Minderjährige Geflüchtete in der Kinder- und Jugendhilfe: Aufmerksamkeitslinien

2.1»Dass man sich respektiert, dass man sich zuhört und dass man sich auch auf Augenhöhe begegnet«: Im Kontrast zur »viktimisierenden Kultur« eine vertrauenswürdige Haltung ausstrahlen und leben

2.2»Und das kann […], gerade zu Beginn, die Entstehung einer vertrauensvollen Beratungsbeziehung ganz schnell zerstören«: Die Herausforderung, Vertrauen zu schaffen

2.3»Ich höre ihnen genau zu. Ich höre ihre Bedürfnisse und versuche, ihnen Orientierung zu geben«: Eine bindungskompetente professionelle Beziehung anbieten

2.4»Wieso macht Deutschland das? Das kann ich nicht verstehen. […] Hilf mir. Mach doch was«: Traumapädagogische Alltagsunterstützung und -begleitung bieten

2.5 »Man hat da ja auch […] Stereotype im Kopf«: Transkulturelle Kompetenz als respektvoller, neugieriger Zugang

2.6Resümee

3Alles anders, alles gleich: Familienarbeit mit Geflüchteten im Jugendhilfesystem

3.1Fallvignette

3.2Ins Gespräch kommen

3.3Familienzusammenführung

4Minderjährige Geflüchtete in der Schule

4.1Herausforderungen für die Schülerinnen und Schüler

4.2Rolle der Schule und Lehrkräfte

4.3Was noch zu sagen bleibt

5Empowerment, Partizipation und Selbstorganisation in der Kinder- und Jugendhilfe

5.1Empowerment

5.2Was passiert in Empowermenträumen?

5.3Partizipation

5.4Selbstorganisationen

6Fazit

Literatur

Geleitwort der Autoren und Autorinnen sowie der Reihenherausgeberinnen

Dieses Buch ist der Versuch einer Antwort auf das Buch »Zwischen Barrieren, Träumen und Selbstorganisation – Erfahrungen junger Geflüchteter« (Autor*innenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen«, 2018) aus derselben Buchreihe »Fluchtaspekte«. Dort kommen Jugendliche selbst zu Wort. Jugendliche, die geflüchtet sind – begleitet oder unbegleitet. Aber nicht das ist es, was sie hauptsächlich oder allein verbindet. Vor allem sind es Jugendliche – mit ganz verschiedenen Bedürfnissen, Belastungen, auch traumatischen Erfahrungen, aber insbesondere Jugendliche mit Hoffnungen und Wünschen. Manchmal wird man von den Texten hineinkatapultiert in ihre Welt, kann verstehen, kann Gefühle nachempfinden, manchmal aber gelingt dies auch nicht, weil eben auch nicht alles nachvollziehbar ist, was Menschen in bewegten Lebensabschnitten erleben.

Ein Blick in die zugehörige Fachliteratur zeigt: In den letzten Jahren haben viele Jugendliche aus konflikthaften Regionen Zuflucht in Deutschland gesucht. Nicht selten haben sie kritische Lebensereignisse erlebt, die ein Verlassen des Ursprungslandes notwendig machten (UNHCR u. UNICEF, 2014/2016). Viele berichten von traumatisierenden Ereignissen auf der Flucht (u. a. Kleefeld u. Meyeringh, 2017). Nach der EU-Aufnahmerichtlinie müssen alle Aufnahmeländer die spezielle Situation schutzbedürftiger Personen berücksichtigen (vgl. EU 2013/33/EU, 2013, Art. 22). Neben der aufenthaltsrechtlichen Situation ist zu prüfen, ob Ansprüche auf besondere Unterstützung bestehen. Zuständig dafür ist in Deutschland die Kinder- und Jugendhilfe.

Betrachtet man die ersten Erfahrungen und Ergebnisse aus Studien in diesem Bereich, so wird deutlich, was uns auch die Jugendlichen aus dem oben genannten Buch unserer Reihe nahebringen: Belastungen sind allgegenwärtig, aber bei genauerem Hinschauen vermittelt sich ebenso deutlich: Bei angemessener Unterstützung zeigt sich ein großes Ausmaß an Ressourcen und äußerst gelungenen Adoleszenz- bzw. Integrationsprozessen (Fegert, 2015; Herrmann, Macsenaere u. Wennmann, 2018; Walg, Fink, Großmeier, Temprano u. Hapfelmeier, 2016). Das wirft die Frage nach dem Inhalt »angemessener« Unterstützung auf. Das Autor*innenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen« hat dazu eine Reihe von Aussagen gemacht.

In diesem Buch haben wir versucht, dieser zentralen Frage aus weiteren Perspektiven nachzugehen. Nach einem Überblick über bisherige Ergebnisse aus Forschung und Praxis zu Kinder- und Jugendhilfeangeboten für geflüchtete Jugendliche kommen diesmal die Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe, der Schule und aus Vormundschaftsprozessen zu Wort. Die Interviewaussagen vermitteln anschaulich, welche Chancen und Fallstricke es mit sich bringt, wenn Unterstützung für geflüchtete Jugendliche und Adoleszente angeboten wird und gelingen soll. Im Vergleich mit anderen Jugendhilfeprozessen gibt es eine Reihe interessanter Parallelen und Unterschiede zu entdecken. Hier, so denken wir, liegen noch viele ungenutzte Chancen, zu denen wir als Autoren und Autorinnen wie als Herausgeberinnen mit diesem Band der Reihe einen kleinen Beitrag leisten wollen.

Dorothea Zimmermann | Silke Birgitta Gahleitner |

Marilena de Andrade | Conny Bredereck |

Adrian Golatka | Mohammed Jouni |

Barbara Bräutigam | Maximiliane Brandmaier

1 Minderjährige Geflüchtete in Deutschland: Mythen, Daten und Fakten

1.1 Gesellschaftlicher Kontext

In einem aufschlussreichen Artikel der »Zeit« mit dem Titel »Die Welt in fünfzig Jahren« (Brost u. Stuff, 2018), für den bekannte Politikerinnen und Politiker darum gebeten wurden, ihre positiven wie negativen Zukunftsszenarien zu schildern, findet sich folgendes Szenario einer AfD-Politikerin: »Es hat eine unkontrollierte Masseneinwanderung stattgefunden, und der Islam hat sich in ganz Europa massiv ausgebreitet. Überall gibt es Scharia-Gerichte. […] Kopftücher und Burkas sind im öffentlichen Raum normal, in manchen Gegenden verschleiern sich Frauen, die eigentlich christlichen Glaubens sind, weil sie sonst auf der Straße bepöbelt und angegriffen würden […]. Angst ist das vorherrschende Gefühl auf den Straßen. Kriminalität und mafiöse Strukturen haben massiv zugenommen. […] An den Schulen wird kein echtes Wissen mehr vermittelt, sondern irgendwelche diffusen sozialen Kompetenzen, staatliche Indoktrination und Gender-Ideologie« (S. 16). So irritierend dies auch anmutet: Diese und ähnliche Szenarien sind ein – gewichtiger – Teil des Alltags der Medienberichterstattung und der öffentlichen Meinung.

Geflüchtete erscheinen dort an vielen Stellen als gesichtslose – möglicherweise IS-terroristisch geprägte – überwältigende Masse, die möglichst schnell wieder aus Deutschland ausgewiesen werden sollten, um ihr bedrohliches Potenzial nicht zu entfalten. Interessanterweise belegen Daten und Fakten zum Thema vor allem einen Anstieg von Gewalttaten gegenüber Geflüchteten statt von Geflüchteten ausgehend. Im Jahr 2016 wurden 3.768 Vorfälle verzeichnet, dies entspricht etwa 10,3 Taten pro Tag (Pro Asyl, 2017). Tatsächlich beschreiben vereinzelte Studien eine Zunahme von Gewaltkriminalität durch Geflüchtete (Pfeiffer, Baier u. Kliem, 2018). Allerdings weist die umfassende Untersuchung von Herrmann, Macsenaere und Wennmann (2018) mehrheitlich eher auf gegenteilige Prozesse hin: 86,6 % der minderjährigen Geflüchteten haben demnach keine Straffälligkeiten begangen, bei den restlichen 13,4 % handelt es sich um kleinere Delikte wie das Vergehen gegen das Aufenthaltsrecht (7,1 %), Diebstahl (2,7 %) Körperverletzung (2,0 %), Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz und Beleidigung (jeweils 0,6 %). In den Medien wird dies jedoch selten ausgewogen wiedergegeben.

Umgekehrt hat jedoch die Tatsache, immer wieder als Gefahr für die deutsche Bevölkerung dargestellt zu werden und mit alltäglichem und strukturellem Rassismus konfrontiert zu sein, Auswirkungen auf das Wohlbefinden geflüchteter Kinder und Jugendlicher. Zu dieser Thematik führten Lechner und Huber (2017) 104 Interviews durch. Nonverbale Signale des Nicht-willkommen-Seins führen ebenso wie das verbale Ausdrücken von Missfallen oder gar körperliche Gewalttaten bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu Ängsten, sozialem Rückzug und der Verleugnung ihrer Fluchtgeschichte und Herkunft. Ein Jugendlicher beschreibt: »Sie sagen nichts, aber sie gucken nur so böse. […] Und naja manchmal denke ich: ›Bin ich ein Affe?‹ Warum gucken mich alle so böse an? Ich bin auch wie ihr ein Mensch […]. Warum gucken alle so böse?« (S. 102). Aber auch die in den Medien ständig wiederholte Generalisierung von »den Wirtschaftsflüchtlingen« prägt den Alltag geflüchteter Kinder und Jugendlicher: »Viele Leute denken, dass […] die hier hinkommen, wirtschaftliche Geflüchtete sind […], um Sozialhilfe oder Unterstützung zu bekommen. […] Ich bin nicht so was […], ich bin nicht dafür hier, um so was zu bekommen, ich bin hier, um mich zu entwickeln, will ich einfach mich jeden Tag verbessern, die Situation zu benützen, um meine Ziele zu erreichen, damit später die Leute gut über mich sprechen« (S. 103), berichtet eine Jugendliche.

1.2 Daten und Fakten

Seit 2015 sind über 1,5 Millionen Menschen nach Deutschland geflohen. Die meisten Geflüchteten kommen aus den Ländern Syrien, Irak, Nigeria und Afghanistan (Bundeszentrale für politische Bildung [bpb], 2018). Unter ihnen sind viele Jugendliche und Kinder (Maywald, 2018), die Mehrheit der Asylantragstellenden in Deutschland war 2017 jünger als dreißig Jahre. Mit 37 % bilden Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren die größte Gruppe, gefolgt von 19 % im Alter zwischen 18 und 24 Jahren (bpb, 2018). Manche kommen allein oder mit Gleichaltrigen, andere in Begleitung ihrer Familie. Der Anteil unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter befand sich bis 2013 noch auf einem eher geringen Niveau, 2014 erfolgte eine Zunahme auf fast das Doppelte, 2015 stiegen die Zahlen mit rund 42.000 Inobhutnahmen sogar auf etwa das Vierfache an (Fendrich, Pothmann u. Tabel, 2016). Aufgrund der restriktiven Flüchtlingspolitik gehen die Zahlen seit 2017 insgesamt zurück (2017 gab es 198.317 Asylanträge von Erwachsenen und 9.084 Anträge von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF], 2018).

Die Gefahren auf der Flucht sind vielfältig. Laut United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) sind 2018 über 2.000 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken (UNO-Flüchtlingshilfe, 2018). Zudem sind Menschen, die den Fluchtweg hinter sich gebracht haben, stärker gefährdet als andere, psychische Problematiken zu entwickeln. Für Kinder und Jugendliche, die allein gereist sind, gilt dies im besonderen Maß (Sukale et al., 2017). Risiken wie z. B. Menschenhandel (Küppers u. Ruhemann, 2016) lauern überall. Nicht alle Geflüchteten haben selbst traumatische Erfahrungen gemacht (Witt, Rassenhofer, Fegert u. Plener, 2015), aber alle sind auf irgendeine Weise mit schwierigen Lebensereignissen oder Traumata in Berührung gekommen (Baer u. Frick-Baer, 2016; Imm-Bazlen u. Schmieg, 2017). Bei bis zu 97 % der minderjährigen Geflüchteten ist davon auszugehen, dass sie potenziell traumatische Erfahrungen gemacht haben (Witt et al., 2015). Je weiter die Belastung steigt und je weniger Unterstützung verfügbar ist, desto weniger Integrationsleistung ist möglich (Sukale et al., 2017). Dies kann in der Folge auch – allerdings nicht zwingend – eine Ursache für externalisierendes Verhalten sein. Häufiger sind nach Möhrle, Dölitzsch, Fegert und Keller (2016) jedoch vor allem internalisierende Verhaltensauffälligkeiten bei belasteten Kindern und Jugendlichen nach Fluchterfahrungen.

»Mit den eigenen Nöten und Bedürfnissen nicht aufzufallen und möglichst unsichtbar durch ein nicht einschätzbares Prozedere zu gelangen, haben die jungen Geflüchteten […] häufig bereits in der Vergangenheit als wichtigen und wirksamen Schutzmechanismus kennengelernt« (Quindeau u. Rauhwald, 2017, S. 15). Möhrle und Kollegen (2016) definieren einen Problemgrenzwert, der bei 30,5 % der unbegleiteten Jugendlichen überschritten wurde. Auch Herrmann et al. (2018) halten fest: »So leiden 34,4 % der jugendlichen Flüchtlinge unter Schlafproblemen, bei 16,7 % wird soziale Unsicherheit angegeben, 15,3 % leiden unter depressiven Verstimmungen, bei 10,7 % kommt es zu einem sozialen Rückzug und 10,3 % leiden unter körperlichen Begleitsymptomen bzw. psychosomatischen Symptomen« (S. 41; vgl. auch Witt et al., 2015). Die psychosoziale Situation und die kulturell-soziale Isolation können generell als sehr problematisch angesehen werden, fassen Sukale und Mitarbeitende (2017) zusammen.

1.3 Unbegleitete minderjährige Geflüchtete

Da sie über einen langen Zeitraum ohne jeglichen Schutz von außen Ohnmachtserfahrungen unterschiedlichster Art ausgesetzt waren, sind unbegleitete minderjährige Geflüchtete noch häufiger von traumatischen Erfahrungen betroffen als begleitete (Witt et al., 2015). Der Anspruch auf Hilfe resultiert jedoch aus dem SGB VIII – als Anspruch auf eine Hilfe zur Erziehung. Die Fluchtsituation ist also dem Kindeswohl untergeordnet (Berthold, 2014, 2015). Nach § 42 SGB VIII werden unbegleitete minderjährige Geflüchtete vom Jugendamt in Obhut genommen und – entsprechend dem Minderjährigenschutz aus internationalen Rechtsnormen (Berthold, 2015) – in Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht (Möhrle et al., 2016). Da eine Erziehung, die dem Wohl der Kinder oder Jugendlichen dient, bei der Ankunft nicht gewährleistet werden kann, wird die Hilfe für die Entwicklung als notwendig erachtet (Macsenaere, Köck u. Hiller, 2018, S. 12).

Zwischen der Inobhutnahme und dem Übergang in die Einrichtung wird ein Clearing-Verfahren genutzt, um für die jungen Menschen eine möglichst passende und sichere Umgebung zu finden. Der Auftrag einer umfassenden Anamnese in diesem Verfahren wird jedoch selten erfüllt (Herrmann et al., 2018), häufig werden die meisten unbegleiteten Minderjährigen nur notversorgt (Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge [BumF], 2016). Girke (2017) konstatiert, dass das Clearing inzwischen nur noch der Abklärung dient, ob (1) eine Kindeswohlgefährdung durch die Umverteilung vorliegt, (2) sich Verwandtschaft im Ausland befindet, zu der Betroffene abgeschoben werden könnten, (3) die Unterbringung zwangsläufig mit Geschwistern oder anderen unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten erfolgen muss, (4) gesundheitliche Risiken die Umverteilung verhindern und (5) die Altersfeststellung erfolgt ist und es sich nicht um über 18-Jährige handelt. Ein individueller Blick auf persönliche, biografische und lebensweltliche Belange (Gahleitner, Zimmermann u. Zito, 2017) und umfassender Schutz kann in der Regel nicht gewährleistet werden.

Anschließend erfolgt seit Oktober 2015 eine bundesweite Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel, die das Kindeswohl jedoch nicht gefährden sollte (Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz [BAJ], 2016). Inzwischen gibt es bei einer falschen Entscheidung die Möglichkeit, eine nachträgliche Abänderung der Zuweisungsentscheidung aus Kindeswohlgesichtspunkten zu beantragen (§ 42 Abs. 4 SGB VIII-E). Unbegleiteten Minderjährigen steht außerdem eine persönliche Vormundschaft als rechtliche Vertretung zu, wobei jedoch viele von monatelangen Wartezeiten bis zur ersten Kontaktaufnahme berichten. Auch enden zahlreiche der Vormundschaftsverhältnisse in einem »Papierverhältnis« mit eher sporadischen Kontakten und minimaler Unterstützung (Lechner, Huber u. Holthusen, 2016).

1.4 Begleitete minderjährige Geflüchtete

Unter begleiteten minderjährigen Geflüchteten werden Kinder und Jugendliche verstanden, die entweder in Begleitung von mindestens einem Elternteil oder einem volljährigen Bruder bzw. einer Schwester ankommen, von dem jeweils die amtliche Vormundschaft übernommen werden kann. Auch Kinder und Jugendliche, die während eines laufenden Asylverfahrens in Deutschland geboren werden, ordnet man begleiteten minderjährigen Geflüchteten zu (Johansson, 2014). Kommen Kinder mit ihrer Familie nach Deutschland, werden sie zunächst in Not- oder Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht und anschließend nach dem Königsteiner Schlüssel in Gemeinschaftsunterkünfte verteilt. Hier müssen sie so lange bleiben, bis das Asylverfahren mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgeschlossen ist und eine eindeutige Antwort bezüglich ihres Aufenthaltes erteilt wurde (Lechner u. Huber, 2017). Da sie (in der Regel) in das reguläre Asylprozedere ihrer Eltern integriert sind, bleiben sie jedoch häufig »mit ihren eigenen Bedürfnissen und ihrer speziellen Situation […] ›unsichtbar‹« (Gerarts, Andresen, Ravens-Sieberer u. Klasen, 2016, S. 744).