Minigolf Paradiso - Alexandra Tobor - E-Book

Minigolf Paradiso E-Book

Alexandra Tobor

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Beschreibung

Das Paradies ist immer, wo wir nicht sind. Sommerferien 1997. Die sechzehnjährige Malina findet heraus, dass ihr Großvater, der vor vielen Jahren ertrunken sein soll, alles andere als tot ist. Alois Dudek lebt: als Talkshow-Teilnehmer, Losbudenverkäufer und Minigolfanlagenbetreiber. Gleich nebenan in Castrop-Rauxel! Malina fährt hin, aber der Besuch endet im Desaster. Alois ist kein Vorbild-Opa, sondern ein Verlierer im Elvis-Kostüm, ein alberner Märchenerzähler. Und er hat Schulden bei den falschen Leuten. Als er Opfer eines Überfalls wird, hauen Alois und Malina ab. Ihre Flucht wird zur Reise in die Vergangenheit: in die polnische Heimat, von der Malinas Eltern nie erzählen wollten … Eine schräge Road-Novel über eine Familienzusammenführung auf Abwegen.

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Seitenzahl: 296

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Alexandra Tobor

Minigolf Paradiso

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Das Paradies ist immer, wo wir nicht sind.

 

Sommerferien 1997. Die sechzehnjährige Malina findet heraus, dass ihr Großvater, der vor vielen Jahren ertrunken sein soll, alles andere als tot ist. Alois Dudek lebt: als Talkshow-Teilnehmer, Losbudenverkäufer und Minigolfanlagenbetreiber. Gleich nebenan in Castrop-Rauxel! Malina fährt hin, aber der Besuch endet im Desaster. Alois ist kein Vorbild-Opa, sondern ein Verlierer im Elvis-Kostüm, ein alberner Märchenerzähler. Und er hat Schulden bei den falschen Leuten. Als er Opfer eines Überfalls wird, hauen Alois und Malina ab. Ihre Flucht wird zur Reise in die Vergangenheit: in die polnische Heimat, von der Malinas Eltern nie erzählen wollten …

 

Über Alexandra Tobor

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel

Für Elvis und Gretchen

1

Wie ich es sehe, haben alle Menschen eine psychische Störung. Manche glauben, dass sie an zwei oder mehr Orten gleichzeitig existieren. Oder dass ihre Freunde durch Doppelgänger ersetzt wurden. Es gibt Leute, die überzeugt sind, dass sie von etwas als Behausung benutzt werden. Andere wachen eines Tages auf und sprechen mit fremdländischem Akzent. Ich las auch was von dem Wahn, seine inneren Organe verloren zu haben. Die Betroffenen haben das Gefühl, verwest zu sein, tot, gar nicht zu existieren. Diese seltene Störung kommt meiner eigenen am nächsten. Genaueres weiß man nicht, die Wissenschaft hat meine Krankheit nämlich noch nicht erforscht. Vielleicht wird sich das mal ändern und ich gehe als «spektakulärer Fall der 16-jährigen Malina Dudek» in die Lehrbücher der Medizin ein. Aber dafür müsste die Fachwelt erst mal auf mich aufmerksam werden, und genau hier liegt das Problem: Ich leide an chronischer Unsichtbarkeit.

Das ist kein körperliches Leiden. Bei entsprechenden Lichtverhältnissen werfe ich einen normalen Schatten. Der Bewegungsmelder an automatischen Schiebetüren funktioniert einwandfrei. Ein Spiegelbild habe ich auch; als Untote scheide ich also aus. In der Comic-Serie Fantastic Four gibt es eine Superheldin, die sich unsichtbar machen kann. Für sie ist das kein Makel, sondern eine geheime Superkraft! Leider sehe ich nicht wie eine Superheldin aus. Der Wind bringt bei mir keine wilde Mähne in Schwung, sondern weht mir die dünnen Haare in den Mund. Meine Beine sind mehlig weiß und wachsen wie schiefe Äste aus den gefälschten Chucks. Und es wäre ziemlich einfach, mein Gesicht zu zeichnen: ein runder Käse mit zwei schwarzen Strudeln als Augen, darunter eine waagerechte, zerknitterte Linie, die zu beiden Seiten leicht abfällt. Eine echte Herausforderung dürften die Sprechblasen sein. Denn ich sage selten was, und selten sagt jemand was zu mir. Die Leute aus meiner Klasse können immer noch sämtliche Dinosaurier im Schlaf aufsagen, nur mein Name will ihnen nicht einfallen. Sie grüßen mich nicht auf der Straße, laden mich nicht auf ihre Partys ein, und wenn ich irgendwo fehle, fällt es niemandem auf. Das ist keine Schikane, sondern ein Symptom meiner Störung: Der Großteil der Menschheit nimmt mich einfach nicht wahr. Selbst der supereinfühlsame Biolehrer bemerkt mich erst, wenn mein erhobener Zeigefinger schon Schimmel ansetzt.

Der Einzige, der mich sieht, ist mein Kumpel Titus. Und mit Sehen meine ich nicht, dass ein Abbild meiner Visage auf seine Netzhaut projiziert wird. Nein, Titus sieht mich so, wie ich wirklich bin. Er kennt mein wahres Wesen, mein Innerstes, sozusagen meine Seele. Und er weiß etwas, das sonst keiner weiß. Etwas, über das ich mit niemandem sprechen darf, seit ich auf dem Gymnasium bin: Dass meine Eltern und ich als polnische Aussiedler nach Deutschland gekommen sind.

Die Persil-Uhr an der Kreuzung zeigt Viertel vor zwölf. Gerade habe ich meinen letzten Schultag in der Neunten hinter mich gebracht, und während die anderen alle ins Freibad abgezischt sind, um dort mit Arschbomben und Bum Bum den Ferienbeginn zu feiern, besuche ich erst mal Titus. Ich laufe an gekachelten Hausfassaden vorbei, mit popeligen Boutiquen und Frisiersalons drin. Die Sonne knallt mir auf den Scheitel. Rechts biege ich ein, in eine Straße, wo neben einer italienischen Eisdiele mit staubigem Neonschriftzug gerade ein Türke eröffnet hat. Es ist der einzige Dönerladen weit und breit, weil die Ausländer alle im Pott leben. Hier in der Kleinstadt sind sie so selten wie die weißen Tiger von Siegfried und Roy.

Am Ende der Straße befindet sich ein kleiner Kiosk. An dieser Ecke habe ich vor ein paar Jahren Titus kennengelernt. Damals war meine Herkunft noch offensichtlich. Meine Eltern und ich gingen jeden Sonntag in die Kirche und haben zu Hause Polnisch gesprochen. Unsere Möbel waren vom Sperrmüll und unsere Klamotten von der Caritas. An jenem Tag hatten mich ein paar Eingeborenenkinder verfolgt. Sie warfen mit Kies nach mir und riefen: «Scheiß-Polacken!» Ich weiß nicht, was mich verraten hatte. Wahrscheinlich die riesige Stoffblume in meinem Haar oder der Jeansrock mit regenbogenfarbenem Lambada-Schriftzug. Hätten sie vorher mit mir gesprochen, wäre der Fall klar gewesen, denn spätestens mein rollendes R ließ keinen Zweifel daran, dass ich ein Fremdkörper war.

Ich hatte schnaufend den Kiosk erreicht, an dem sie mich hinrichten würden, als ein hochgewachsener Punk mit Lederjacke und Kakadu-Frisur um die Ecke kam. Das war Titus. Jeder kannte ihn. Er war ein paar Jahre älter als wir, und es gab das Gerücht, dass er mal eine Raupe in Zigarettenpapier gewickelt und geraucht haben soll. Also ging mir bei seinem Anblick erst mal ganz schön die Muffe, und meinen Verfolgern natürlich auch. Aber was dann geschah, damit hatte wirklich keiner gerechnet: Titus starrte die Spacken einen endlosen Moment lang an. Dann nahm er mein verschwitztes Patschehändchen und spazierte einfach mit mir davon, als wäre ich seine kleine Schwester, die er irgendwo abholt. Hinter mir hörte ich nur noch das Knacken ihrer herabfallenden Kinnläden. Das Ende vom Lied war, dass sie mich nie wieder belästigt haben. Und Titus und ich wurden Freunde.

Ich gehe in den Kiosk hinein, bevor ich hier noch länger herumstehe wie so ein Alki. Der Besitzer ist ein ausgemergelter alter Mann im Feinripp-Unterhemd, dem man die Nähe zu Busen-Magazinen irgendwie ansieht. Schlecht gelaunt schaufelt er ein paar verhärtete Weingummis in eine Papiertüte. Die sind für Titus und mich. Ich knalle wortlos die Mark auf den Teller, und dann bin ich auch schon raus.

Der Friedhof, unser Treffpunkt, ist nicht weit von hier. Ich nehme die Abkürzung über einen Trampelpfad durchs Gestrüpp und verfange mich in einem widerspenstigen Ast. Während ich das Grünzeug aus den Schlaufen meines Rucksacks befreie, entdecke ich auf einmal einen Vogelschädel im Moos. Zwischen einzelnen Knöchelchen und schwarz-grauen Federn liegt er da. Ich hebe ihn auf und halte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt nach oben, damit die Sonne durch die feine Knochensubstanz scheinen kann. Ich drehe und wende ihn vorsichtig und glotze in beide Augenhöhlen. Vielleicht lebt ja noch etwas darin? Mit Schädeln, in denen noch Leben ist, kann ich nichts anfangen, die muss man erst umständlich auskochen. Aber dieser hier ist ein astreiner Fund. Er wird mein Mitbringsel für Titus sein. Titus war es übrigens, der mir beigebracht hat, dass Knochen schön sind und Schädel nicht lügen. Weil sie die Maske sind, die übrig bleibt, wenn alle Masken gefallen sind. Ich puste ein paar Erdkrümel von der Schädeldecke und gehe durch das Friedhofstor, lasse das anonyme Urnenfeld und die kleine Birkenallee hinter mir und spaziere Richtung Kapelle.

Das ist kein Friedhof der schiefen Steine und uralten, vergessenen Gruften. Hier sehen die meisten Gräber modern aus, und mit modern meine ich, so hässlich, dass Selbstmordgefährdeten die Lust aufs Sterben vergeht. Egal, denn gleich hinter dem Gießkannen-Brunnen, unter dem Blätterdach einer großen Kastanie, wartet Titus auf mich.

Sein Grab sieht nach zwei Jahren immer noch nicht aus wie ein Grab. Eher wie der Haufen, der entsteht, wenn Mutter einmal jährlich unter meinem Bett kehren darf. Es liegen einzelne welke Rosen darauf und zerbrochene CDs, und auf einer mit Mercedes-Stern geschmückten Plakette steht:

NUR DIE BESTEN STERBEN JUNG

1978–1995

Jemand hat eine leere Jägermeisterflasche auf dem Grab liegen lassen. Ich lege den Vogelschädel dazu und verteile ein paar Weingummis daneben. Dann lasse ich mich unter der Kastanie nieder. Eine laue Brise wuselt durch die Baumkronen, und die Blätter filtern das Sonnenlicht, das in goldenen Säulen auf die Gräber fällt, wie in einem japanischen Zeichentrickfilm. Ich kaue auf den Weingummis rum, bis ich ruhig werde. Dann schlage ich unser Briefbuch auf und beginne zu schreiben.

City of the Living Dead, 2. Juli 1997

 

Hey, Titus!

Na, wie ist die Luft in der Gruft? Über dem Meeresspiegel haben die Sommerferien begonnen, und während sich das Leben der anderen jetzt in eine endlose Langnese-Werbung verwandelt, überlege ich, was ich die nächste Zeit mit mir anstellen soll. Meine Eltern fahren heute Abend an die Nordsee, zum ersten Mal ohne mich. Wenn mir nichts Besseres einfällt, werde ich mich zu Hause einbunkern und meine Einsamkeit für wissenschaftliche Experimente nutzen. Ich könnte zum Beispiel herausfinden, wie sich meine Stimme verändert, wenn ich zwei Wochen lang mit niemandem rede. Oder wie lange man am Stück liegen bleiben kann, bis sich Muskelschwund bemerkbar macht. Ob es möglich ist, ein Leben lang allein zu sein? Ich glaube schon. Das Einzige, was auf lange Sicht für Kontakte spricht, ist die bessere Auffindbarkeit im Verwesungszustand. Aber nicht, dass du dir Sorgen um mein Sozialleben machst. Erstens komme ich dich auch in den Ferien besuchen, und zweitens habe ich mich in der Bücherei mit altem Lesestoff eingedeckt und bin bereit, mich mit den Geistern von Oscar Wilde und Edgar Allan Poe anzufreunden. Das sind also meine Pläne so weit. Ach ja: Und dann hat unsere Deutschlehrerin uns auch noch was über die Ferien aufgebrummt. Wir sollen unsere Familiengeschichte erforschen, weil das im nächsten Schuljahr unser Thema sein wird und jeder einen Aufsatz schreiben muss. Sie meinte, wir könnten doch mal unsere Großeltern ausquetschen, wenn wir sie besuchen.

Für die Berkel ist es nämlich das Normalste von der Welt, dass man Verwandte hat. Und für den Großteil der Menschheit ist es das wahrscheinlich auch. Aber nicht für mich. Ich weiß überhaupt nichts über meine Vorfahren, wer sie sind oder waren oder was sie so gemacht haben. Nur, dass mein Großvater Alois in einem See ertrunken ist. Aber das war lange vor meiner Geburt, 1976 oder so. Zu meiner Großmutter Rosa, die verwitwet in Polen lebt, haben wir keinen Kontakt mehr. Keine Ahnung, wieso. Meine Mutter wechselt jedes Mal das Thema, wenn ich sie danach frage. Obwohl wir bei meiner Oma gewohnt haben, bis ich fünf war, kann ich mich kaum noch an sie erinnern. Auch an das Haus nicht. Überhaupt sind alle Erinnerungen an Polen wie ausgelöscht. Bis auf ein uraltes Foto von Oma und Opa haben wir nicht mal ein Fotoalbum von früher. Zumindest behaupten meine Eltern, es gäbe keine Fotos aus der Zeit vor 1987. Das ist das Jahr, in dem wir nach Deutschland gekommen sind. Erst da setzt meine Erinnerung ein. Ich weiß noch, wie wir nachts zum ersten Mal über die deutsche Autobahn bretterten. Draußen flogen die Lichter der Städte vorbei, die Raute der ARAL-Tankstelle, das runde Neonschild von BAYER, und meine Mutter rief ständig: «New York, New York!»

Vor diesem Moment auf der Autobahn liegt aber nur ein großes, schwarzes Nichts. Absolute Dunkelheit. Und niemand erzählt mir von früher. Eine gute Familiengeschichte könnte ich jedenfalls nur aufschreiben, wenn ich sie mir komplett aus den Fingern sauge. Vielleicht kann ich das der Berkel nach den Ferien irgendwie stecken.

Jetzt muss ich aber los. Halt die Glieder steif!

 

Ciao,

Malina

2

Obwohl hier nachts noch nie eine Mülltonne gebrannt hat, wird die Gegend von allen nur «Ghetto» genannt. Es sind die einzigen Sozialwohnungen im Reihenhausparadies – sechs identische Mehrfamilienhäuser aus rotem Backstein, dreistöckig, mit quadratischen Fenstern auf der einen und Wellblechbalkonen auf der anderen Seite. An den Balkonen hängen Geranientöpfe und in den Fenstern halbe Gardinen. Vor dem Haus treffe ich die Hausmeisterin, die mit Hingabe den Bürgersteig kehrt. Sie grüßt mich nicht, und ich tue, als hätte ich sie nicht gesehen, während ich möglichst schnell die Eingangstür aufschließe. Im Treppenhaus ist es angenehm kühl. Das trübe Licht, das durch die Milchglasfenster dringt, wabert grünlich über die Stufen. Vorbei an Namensschildern aus Salzteig und sommerlich umdekorierten Adventskränzen schleppe ich mich in den dritten Stock.

Meine Mutter findet die Deko der Nachbarn geschmacklos, weswegen an unserer Tür auch kein Kitsch hängt, sondern ein mit Stoffrosen bestückter Strohhut. Und auf dem Fußabtreter steht auch kein plumpes «WILLKOMMEN», sondern ein international gültiges «WELCOME». Meine Eltern träumen von einer größeren Wohnung im Neubaugebiet, wo Fenster und Türen extra auf alt gemacht sind, aber da können sie lange träumen, dafür haben wir kein Geld. Das kapiert jeder, der bei uns über die Türschwelle tritt. Das Billige und Minderwertige nistet in Papas abgetragenen Latschen, dringt als Fliedermuff aus dem Klospray über den Flur und steht als trauriger, gelbstichiger Parfümrest im Yves-Rocher-Flakon.

Während ich vor der Tür meine Schuhe abstreife, kommt mir der üble Geruch von Kutteln, Leber und blutigen Hühnerherzen entgegen. Die bittere Wahrheit ist, dass die Wurstberge im Kühlschrank unsere polnische Herkunft immer verraten werden, so wie Schwefelgeruch die bestgetarnte Hexe auffliegen lässt. Meine Mutter will das nicht wahrhaben. Aber sie kann noch so oft zum Friseur rennen, um sich den Haaransatz nachblondieren zu lassen, er wird immer wieder nachwachsen, wie die abgeschlagenen Schlangenhäupte der Hydra.

Ich presse mich durch den Türspalt in den Flur, der mit Koffern und Taschen vollgestellt ist. Auf der goldbeschlagenen Kommode, neben dem Telefon und den Reisedokumenten meiner Eltern, liegt schon eine Liste mit unsinnigen Allein-zuhaus-Anweisungen für mich bereit («Socken sind nicht zum Naseputzen da» steht da, und «Rücken gerade halten»). Ich nehme mein Zeugnis heraus, pfeffere den Rucksack in mein Zimmer und folge den dämonischen Dämpfen in die Küche.

Meine Mutter steht am Herd und haut schwabbelige Tierteile in die Pfanne. Unter ihrer Schürze trägt sie ein weißes Top mit geschnürtem Rücken, Kochschinken-Style. Dazu eine enge weiße Jeans. Weiß ist für sie die Farbe des Luxus; sie hat eindeutig zu viel Raffaelo-Werbung geschaut.

«Aaah, bist du endlich da!», flötet sie in gebrochenem Deutsch. «Fünf Minuten. Hältst du so lange aus?»

Ob ich es aushalte? Das ist wohl nicht ihr Ernst.

«Schon wieder Fleisch …», stöhne ich gequält.

«Fleisch!?» Sie lacht mir mit spöttischer Entrüstung ins Gesicht und rüttelt an der Pfanne. «Ist doch kein Fleisch! Sind Innereien!»

Meine Augen vollführen einen doppelten Salto, während ich in die Essecke rutsche.

«Meat is murder …», murmle ich in das Gezischel und Gebrutzel der Pfanne hinein.

«Beschimpfst du mich wieder auf Englisch?», fragt Mutter.

«Das ist ein Song von den Smiths», stelle ich klar.

«Aha?» Gleichgültig wischt sie mit einem Lappen Blut von der Anrichte.

«Ja, und in dem Song geht’s darum, dass es überhaupt nicht cool oder nett ist, ein Steak zu braten. Fleisch ist sinnloser Mord. Da gibt es nichts zu beschönigen. Du bist eine Mörderin, Mutter.»

Sie dreht sich mit halber Pirouette zu mir um und stemmt die Hände in die Hüften.

«Fleisch ist Kraft, ist Energie. Brauchst du für Leben. Wie heißt so schön? Du bist, was du isst.»

«Ein armes Würstchen? Wie passend.»

Sie deckt den Tisch mit den achteckigen schwarzen Tellern aus der Yuppie-Ära, die sie im Sonderangebot erstanden hat. Als sie fertig ist, wirft sie einen schnellen Blick auf mein Zeugnis.

«Drei in Bio!?», liest sie ab. «Kriegst du nächstes Jahr Nachhilfe.»

«Können wir uns das überhaupt leisten?», stichle ich.

«Streichen wir Taschengeld, dann ja.»

«Eine Drei ist keine so schlechte Note», informiere ich sie.

«Kannst du besser», entgegnet sie trocken, während sie die fertigen Innereien auf meinen Teller spachtelt.

«Wie war letzter Schultag?», fragt sie endlich.

«Ich habe einen Vogelschädel gefunden.»

«Malina, bitte.» Sie wirft ein paar Hühnerherzen auf meinen Teller. «Verdirbst du mir den Appetit.»

«Hab das Ding eh schon verschenkt», sage ich.

«Wer außer dir will so was?»

Ich zucke mit den Schultern. «Titus vielleicht …?»

«Titus?» Sie muss kurz überlegen, dann fällt es ihr wieder ein. «Tote Junge? Warst du schon wieder …»

«Es hat ihn gefreut.»

«Jesus, Malina.»

Sie stützt sich am Tisch ab, als müsse sie innerlich erbrechen.

«Was denn?», frage ich.

«Was denn!? Du hast sechzehn Jahre, und einziger Freund ist toter Punker. Was soll ich sagen?»

«Ist doch meine Sache, mit wem ich befreundet bin», antworte ich und stochere abweisend in den Herzen rum. Aber als ich ihren besorgten Blick spüre, kriege ich beinahe ein schlechtes Gewissen.

«Versprich mir, dass du nicht nur in Zimmer sitzt, wenn wir weg sind», redet sie auf mich ein. «Musst du rausgehen. Welt erleben. Machen. Dich mit mehr junge Leute treffen. Lebendige junge Leute!»

So wie sie lebendig ausspricht, ekelt es mich regelrecht. Ich denke an raufende Hunde, Fruchtfliegen, die Melonenschalen kahl schmatzen und an den in der Mitte durchgesäbelten Penis aus dem Bioraum.

«Hast du denn nie Angst, du verpasst etwas?», fragt sie mit traurigem Bernhardinerblick.

«Nur, wenn ich wach bin», antworte ich.

«Und was ist mit diese Russin? Ist nicht mehr deine Freundin?»

Diese Russin. Mutter kann Natascha nicht leiden, deswegen kann sie sich ihren Namen nicht merken.

«Natascha hat kiloweise Klamotten geklaut und muss Sozialstunden machen», kläre ich sie auf. «Außerdem kriegt sie dauernd den Magen ausgepumpt. Vielleicht ist das deine Vorstellung von lebendigen jungen Leuten, aber ich lese lieber ein Buch.»

«Du meine Giete», sagt Mutter erschrocken, und kurz glaube ich, dass sie die Ausweglosigkeit meiner Lage erkennt. Bis sie wieder loslegt: «Hab ich doch immer gesagt, Natascha ist schlechte Einfluss. Hättest du dir besser deutsche Freundin gesucht.»

«Du hörst dich an wie ein Nazi.»

«Und du bist immer negativ», geht sie über meine Provokation hinweg.

«Ich bin nicht negativ, ich bin realistisch.»

Sie fasst sich an die Föhnfrisur, scheint nachzudenken.

«Ich weiß, was dein Problem ist!», sagt sie plötzlich. Dann rennt sie wie von der Tarantel gestochen aus der Küche und verschwindet für eine Weile im Schlafzimmer.

Sie kommt mit einem Buch wieder, auf dem ein Herz in schrillen Farben prangt. DAS LEBEN LIEBEN. Irgendein Esoterik-Scheiß.

«Positiv denken, Malina», sagt sie, während sie das Buch siegessicher auf den Tisch knallt. «Ist alles, was dir fehlt.»

Ich sperre den Mund auf.

«Positiv denken heilt alle Krankheit! Sogar Krebs!» Sie blättert wild in dem Buch und sucht die Textstelle.

«Kannst du in Ferien lesen, ist besser als immer deine alte Bücher. Wirst du sehen: Kannst du alles sein, was du willst. Musst du nur wollen!»

«Und was, wenn ich nicht will?», frage ich und beäuge den kitschigen Umschlag. Sie hört auf zu blättern und schaut irritiert auf.

«Warum willst du nicht normales Mädchen sein?» Ihre Stimme ist eine Oktave nach oben geschossen.

«Du meinst … ein deutsches Mädchen?»

«Ja, normales deutsches Mädchen!»

«Weil ich kein deutsches Mädchen bin!?»

Ich versuche, sie das Ausmaß meiner Fassungslosigkeit spüren zu lassen, während sie panisch das Fenster schließt.

«Natürlich bist du deutsches Mädchen», zischt sie, als könnten uns die Nachbarn hören. «Kannst du in Pass nachsehen, wenn du nicht glaubst.»

«Ach ja? Und warum fühle ich mich kein bisschen so?»

«Das ist nicht meine Schuld!», sagt sie auf Polnisch. Immer wenn es ernst wird, wechselt sie ins Polnische. Das gibt ihr das Gefühl von Kontrolle.

«Hattest du etwa kein Micky-Maus-Abo?», schreit sie mich an. «Haben wir dir keine Wellensittiche gekauft? Wir haben alles getan, damit du wie alle anderen bist. Und was tust du!?»

Ich sitze wie gelähmt da, geschockt vom Anblick ihrer heraustretenden Augen, in denen sich Tränen der Anklage stauen.

«Du treibst dich auf Friedhöfen rum, weiß Gott, was du da verloren hast, häufst Tierschädel in deinem Zimmer an … Tierschädel!!! Das ist doch krank! Waren die Überraschungseier nicht gut genug!? Willst du Totengräberin werden, ja? Ist das der Dank dafür, dass wir dir eine Zukunft in diesem Land ermöglicht haben?»

Ich spüre ein Kratzen im Hals, ein sicheres Anzeichen dafür, dass ich gleich die Beherrschung verliere.

«Wenigstens verarsch ich mich nicht selbst!», schreie ich sie an. «Nichts an dir ist deutsch! Deutsche Mütter brüllen ihre Kinder nicht an, wenn sie ein Problem mit sich selbst haben!»

Meine Mutter holt tief Luft und reißt den Küchenlappen hoch, als hätte sie nicht übel Lust, mir damit eins überzuziehen. Aber in Deutschland werden Kinder nicht geschlagen, deswegen sagt sie nur: «Genug! Du gehst sofort in dein Zimmer!»

Ich beiße die Zähne zusammen. «Zu Befehl, Mutter.»

«Und nenn mich nicht Mutter, mein Name ist Grace!»

«Blödsinn!», schnauze ich und schiebe den halb leeren Teller von mir. «Dein Name ist Grażyna! Und zu deiner Info, nur Asis nennen ihre Mutter beim Vornamen. Das hat nichts mit Deutschsein zu tun!»

Mit dampfenden Nüstern stapfe ich in mein Zimmer. Die Fäuste geballt, Frisur auf halb acht, das Gehirn auf Durchzug.

Mein Zimmer ist etwas größer als eine Besenkammer. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Schrank. Über dem Bett ein Bücherregal mit der Tierschädel-Sammlung, die ich von Titus übernommen und durch eigene Funde ergänzt habe. Titus hat recht: Der Tod ist nicht so blöd, sich Masken aufzusetzen, denke ich. Dann setze ich mich aufs Bett und konzentriere mich darauf, ruhig zu bleiben. Ich weiß, was gleich kommt. Mutter wird lärmend den Kühlschrank durchwühlen und dann ebenso geräuschvoll die Wohnung putzen, begleitet von gelegentlichem Schluchzen und Schniefen, damit ich es ja mitbekomme. So geht das jedes Mal, wenn ich das Thema berührt habe. Schließlich wird sie die Tür zu meinem Zimmer aufreißen, mich verheult ansehen und mich als gefühllos und egoistisch beschimpfen. Die Vorwürfe werden mich für Monate still stellen. Aber ich warte vergebens drauf. Es vergehen Minuten ohne Geräuschtheater, und dann sehe ich, wie sich langsam die Klinke senkt und sich Mutters Föhnfrisur durch den Türspalt schiebt.

«Darf ich reinkommen?», fragt sie mit ganz normaler Stimme. Ich nicke. Sie hat eine Schachtel Merci-Pralinen dabei und sieht sich vorsichtig um, bevor sie über die Türschwelle tritt, als könnte ich hier irgendwo ein beißwütiges Kaninchen verstecken. Sich räuspernd rückt sie den Schreibtischstuhl zurecht. An der einstudierten Eleganz, mit der sie sich draufsetzt, merkt man, dass sie mal Sekretärin war. Mit einem Lächeln, das so angestrengt mütterlich und gutmütig wirkt, dass ich ihm nicht ganz traue, hält sie mir die Pralinenschachtel hin.

«Hab ich von meinem Chef bekommen», erklärt sie stolz. Ja, denke ich. An Weihnachten vor zwei Jahren. Aber den Kommentar verkneife ich mir lieber.

«Na, dann nehm ich mir mal eine», sage ich stattdessen.

«Was machst du gerade?», fragt sie. Sie spricht immer noch Polnisch. Keine Ahnung, was sie damit bezwecken will.

«Nichts Besonderes … Musik hören …»

«In deinem Alter war ich auch musikversessen», plaudert sie ihr Unbehagen weg. «Aber im Radio liefen immer nur olle Kamellen … Was hörst du denn?»

Sie berührt den Stapel von CDs auf dem Schreibtisch, die ich mir in der Stadtbücherei ausgeliehen habe, und hebt das Joy-Division-Album leicht an. Das mit den Wellenformen, die eine Art Gebirge ergeben.

«Ist das gerade modern?»

«Geht so», antworte ich. «Niemand in meinem Alter hört das.»

Sie sagt nichts, und ich starre auf ihre rot lackierten, in Nylonsöckchen gepressten Zehen.

«Weißt du, du kannst mit mir über alles reden, Malina.»

«Das Einzige, worüber ich mit dir reden will, ist die Vergangenheit …», sage ich gereizt. «Aber bei dem Thema flippst du ja immer gleich aus.»

Im ersten Moment schaut sie mich an, als hätte ich sie wahnsinnig verletzt, aber statt aus dem Zimmer zu rennen, setzt sie sich einfach zu mir aufs Bett, wie so ne verständnisvolle Fernsehmutter aus Beverly Hills 90210.

«Also erst einmal …», beginnt sie mit wackliger Stimme. «Ich kann verstehen, warum dir das so vorkommt.»

Sie leckt sich über die Lippen, ändert die Sitzposition, rückt wieder ein Stück von mir ab. «Ich begreife bloß nicht, warum dir die Vergangenheit so wichtig ist. Warum nicht die Zukunft? Du bist jung, du hast noch alles vor dir. So viele Möglichkeiten!»

Ich weiche ihrem Blick aus, knete auf meinen Fingern rum.

«Woher soll ich denn wissen, wohin ich gehen soll, wenn ich nicht mal weiß, woher ich komme?»

Die Frage scheint sie nervös zu machen, sie kaut nämlich nur auf ihrer Unterlippe rum.

«Du willst, dass ich Freunde habe, aber wie soll das gehen, wenn ich nicht sagen darf, woher ich bin?»

«Was geht es die anderen an, woher du bist?», fragt sie. «Dein Deutsch ist doch einwandfrei. Und wenn dich niemand verdächtigt, musst du dich auch niemandem erklären …»

«Da. Genau das meine ich! Du sprichst über unsere Herkunft, als hätten wir eine furchtbare, ansteckende Krankheit!»

Ihre Lippen kräuseln sich voll Unbehagen.

«Ich denke einfach mit, Malina. Willst du denn wirklich, dass man wieder mit Kies nach dir wirft?»

«Das ist doch schon ewig her», sage ich. «Und dieses eine Mal …»

«Weißt du, warum du damals in der Grundschule nicht auf Stefanies Geburtstag eingeladen warst?», geht sie über meinen Einwand hinweg.

«Wahrscheinlich hat sie mich übersehen», sage ich schulterzuckend. Meine Mutter weiß nicht, dass ich chronisch unsichtbar bin. Sie würde es auch nicht glauben.

«Ihre Eltern hatten Angst, dass du sie beklaust», knallt sie mir vor den Latz.

«Woher willst du das wissen?»

«Von deinem Klassenlehrer», antwortet sie gepresst.

«Davon hast du mir nie etwas erzählt.»

«Ich werde doch mein Kind nicht mit solchen Dingen belasten!»

«Aber wir sind doch keine Autodiebe. Was haben wir denn mit den Kriminellen zu tun?»

«Die Wahrheit interessiert doch keinen. Es geht darum, was die Leute glauben. Und hier haben wir nicht den besten Ruf. Das verstehst du doch, oder? Als Polen sind wir hier nicht gerade willkommen.»

«Dann kapier ich aber nicht, warum ihr überhaupt hergekommen seid.»

«Weil man uns die Möglichkeit gab, Deutsche zu werden», seufzt sie. «Außerdem war Polen ein trauriges, graues Land. Ein armes Land.»

Ihr Blick verliert sich in den Spinnweben, die sich über die Zimmerecke spannen. «Als ich jung war, gab es gar nichts dort. Keine Lichter in den Städten, keinen Glanz, nicht mal Werbung auf Plakaten. Das Leben war langsam, es passierte nichts. Meine Jugend war ein ewiges Uhrenticken …»

«Es kann nur besser gewesen sein als hier», sage ich.

«Du weißt nicht, wovon du redest.»

Und sie hat recht. Polen ist für mich so weit weg wie der Zweite Weltkrieg.

«Du lebst im Paradies, Malina. Niemand zwingt dich zu irgendwas. Wir haben Freiheit, und wir haben Wohlstand.»

«Und trotzdem musst du putzen gehen …», sage ich.

«Ja, aber in einer Anwaltskanzlei!»

Wir schweigen beide einen Moment lang.

«Möchtest du noch irgendetwas wissen?», fragt sie, als ob der kurze Exkurs in ihre Jugend alles gewesen wäre, was sie mir die letzten Jahre verschwiegen hat.

«Warum rufst du eigentlich nie deine Mutter an?», frage ich wie aus der Pistole geschossen. «Warum haben wir Oma seit der Ausreise nicht ein Mal besucht?»

Sie muss kurz schlucken, fängt sich aber schnell wieder.

«Um einen Platz in der Sonne zu haben, musst du aus dem Schatten treten, den dein Stammbaum wirft», sagt sie bedeutungsschwer.

«Versteh ich nicht.»

«Es ist auch keine einfache Geschichte», seufzt sie, während sie sich aufrichtet. «Papa kommt gleich von der Arbeit. Nach dem Abendessen fahren wir los. Kannst du mir noch so viel Zeit geben? Bis wir zurück sind?»

«Und dann erzählst du mir alles?»

«Dann erzähle ich dir alles.»

Klar, denke ich. Eine stimmige Lügengeschichte, die sie sich bis dahin ausdenken kann.

«Okay, meinetwegen», sage ich lahm.

Sie steht auf und tätschelt mir den Kopf, und dann höre ich auch schon Papas Schlüssel in der Tür.

3

Es ist kurz nach sieben. Ich stehe in meinem Zimmer und beobachte durchs Fenster, wie meine Mutter zu meinem Vater ins Auto steigt. Sie hat ein kleines Schminkköfferchen in der Hand und schüttelt ihr Haupt wie ein Haarspray-Model auf Weltreise. Ja, ja, die Frisur hält! Die Nachbarn und ich haben es schon begriffen!

Papa kurbelt das Fenster runter und schaut kurz zu mir hoch. Wir winken einander zu. Ein Augenblick gegenseitigen Vertrauens. In dem Moment, als der VW Passat um die Ecke gebogen ist, reiße ich die Balkontür auf und zünde mir erst mal eine der fünf Zigaretten an, die ich für besondere Anlässe in den Winkeln meines Zimmers verstecke. Und wie ich da so stehe und paffe und auf die Mülltonnen runterschaue, wo sich neuerdings zu der schwarzen und der grünen eine gelbe Tonne gesellt hat, muss ich an das Gespräch mit meiner Mutter denken, die Deutschland allen Ernstes als Paradies bezeichnet hat. Paradies! Ich meine, da muss man erst mal drauf kommen! Draußen sieht’s nämlich nicht gerade wie in den Tropen aus. Daran ändert auch der eine oder andere Affe nichts, der auf Inline-Skates vorbeiflitzt. Was auch immer sie mit Paradies meint, eins ist mir vorhin klargeworden: Meine Eltern sind mit der Erwartung nach Deutschland gekommen, ein besseres Leben zu finden. So ähnlich wie die Goldgräber, die 1849 nach Kalifornien strömten, und die hatten auch erst mal nur Dreck im Gesicht. Meine Mutter hat also vom Eldorado geträumt und ist in Nordrhein-Westfalen gelandet, und das Erste, was ihr dämmerte, war, dass man eine Fremdsprache nicht über Nacht lernen kann. Es hatte ihr auch keiner erzählt, dass hier keine polnischen Sekretärinnen gebraucht wurden und dass Papa sich nicht mehr Physiker nennen kann, wenn er tagein, tagaus bloß irgendwelche kaputten Fernseher durch die Gegend schleppt. Und wenn dann noch Harald Schmidt anfängt, Polen-Witze zu machen, und die Tochter mit Kies beworfen wird, weil sie das R rollt, dann ist das natürlich ein Grund, mit der Vergangenheit abzuschließen. Seh ich ja alles ein. Was ich nicht einsehe, ist die Selbstverarsche. Warum man sich selbst zu Hause für seine Muttersprache schämen muss.

Ich drücke meine Kippe im Geranientopf aus und gehe in die Küche, um mir eine Pizza aus der Tiefkühltruhe zu ziehen. Als ich die Scheibe von der Folie befreit und im Ofen abgeladen habe, öffne ich den Abfallschrank neben dem Gerät, das man in diesem Haushalt Spielmaschine nennt. Der Mülleimer ist mit Stadtzeitungen und Werbeprospekten vollgestopft. Außerdem ist lauter Zeug drin, das da nicht reingehört. Das Erste, was ich rausfische, ist eine alte VHS-Kassette im silbernen BASF-Schuber. «Die unendliche Geschichte» steht da in meiner krakeligen Kinderschrift drauf. Dann ziehe ich noch ein knisterndes Kosmetiktäschchen, eine Teedose und einen Schlüsselanhänger aus dem Eimer. Klarer Fall von Ausmisteritis, die meine Eltern gewöhnlich beim Packen befällt. Warum sie den Kram wegschmeißen, ist mir schon klar. Sind nämlich alles Werbegeschenke. Und die haben wir anscheinend nicht mehr nötig, so wie eines Tages aller Sperrmüll aus der Wohnung verschwand, um durch Möbel aus dem Versandhaus ersetzt zu werden. Nur was meine Videokassette da drin verloren hat, ist mir echt ein Rätsel. Während der Käse auf der Pizza im Ofen vor sich hin schmilzt, beschließe ich, dass ich mir den Film gleich reinziehe. Hab ja sonst keine Pläne für heute, und «Die unendliche Geschichte» habe ich ewig nicht mehr geschaut.

Mit der fertigen Pizza gehe ich ins Wohnzimmer. Ich mache die Glotze an und schiebe die Kassette in den Schlitz des Videorecorders. Dann vergrabe ich mich in ein Nest aus Decken und Kissen, wie damals, als ich noch ein Kind war wie Bastian Balthasar Bux. Zum hundertsten Mal erlebe ich, wie der arme Tropf von bösen Buben verfolgt wird und Zuflucht im Buchantiquariat sucht. Wie er den strengen Blicken des Herrn Koriander zum Trotz das geheimnisvolle Buch stiehlt. Und wie er darin schließlich Atréju begegnet, dem Retter Phantásiens, der auf seinem Pferd Artax durch weite Wüstenlandschaften dahinprescht. Dabei schiebe ich mir ein öliges Pizza-Dreieck nach dem anderen in den Schlund. Als die tranige Panflöte einsetzt und Artax in den Sümpfen der Traurigkeit versinkt, drückt das ordentlich auf meine Tränendrüse. Gerade schleppt Atréju sich einsam durch den Morast. Er wird das Nichts nicht mehr lange abwehren können. Aber in wenigen Sekunden wird sich der Glücksdrache Fuchur aus einer glühenden Wolkenlandschaft auf die Sümpfe stürzen, um den sinkenden Atréju zu retten.

«Und hieeeeer ist eeeer! Haaaaarrrryyyy Wijnvooooorrd!», röhrt plötzlich Nachmittagsmoderator Walter Freiwald. Was zum Teufel? Jemand hat meinen Lieblingsfilm mit Scheiße überspielt!? Fassungslos glotze ich auf Harry Wijnvoord, der sich vom Publikum abfeiern lässt.

«Schön, dass Sie wieder dabei sind bei ‹Der Preis ist heiß›! Ein großes Hallo hier im Studio, schön, dass Sie gut drauf sind, herzlisch willkommen alle miteinander und toi toi toi!»

Tatsache. «Die unendliche Geschichte» musste einer bescheuerten RTL-Spielshow weichen. Empört schaue ich zu, wie die Kandidaten nacheinander aus dem Publikum geholt werden. Renate – eine alte Frau mit Gummigesicht, im fliederfarbenen Pullover. Christoph, Typ schlaksiger Student, Hemd in der Hose. Ein wirrer Opa namens Aldi, der eine Trainingsjacke in Neonfarben trägt. Und zuletzt Hausfrau Monika, ich sag nur: Pudelfrisur.

«Renate, wenn Sie mit diese Kofferset in Urlaub fahren wollen, hör isch jetzt Ihre Tipp!», brabbelt Harry Wijnvoord mit ermunterndem Zwinkern.

«EINHUNDERTACHTUNDNEUNZIG!», brüllt Renate in ihr kleines Pultmikrophon. Sie schreit gegen ein Publikum an, das seine eigenen Vorstellungen davon hat, was so ein Kofferset kosten sollte.

«Aldi, jetzt Ihre Schätzung!»

«FÜMMENSIEBZICH!», ruft der zerzauste Opa am Ratepult. Er trägt eine Silberbrosche mit zwei herabhängenden Schnürsenkeln als Krawatte. Ist der Amerikaner oder was? Würde den dämlichen Namen erklären. Auf jeden Fall geht er als Gewinner aus der Runde hervor und muss mit Harry Smalltalk machen. Erzählt ihm gerade, dass er Schausteller ist, im Pott. Bevor mir alles zu bunt wird, drücke ich EJECT. Die Kassette schießt heraus. Aber als ich sie zurück in den Schuber stecken will, geht’s nicht. Da hängt nämlich irgendein Zettel fest. Ich fummle ihn heraus und falte ihn auf. Aha? Ein offizieller Brief. In der Ecke prangt das Logo von RTL. Der Brief kommt aus Köln und ist an meine Mutter adressiert. Was hat die denn mit dem Fernsehen zu schaffen?

Sehr geehrte Frau Dudek, lese ich,

 

vielen Dank für Ihr Schreiben zur Sendung «Der Preis ist heiß». Leider können wir Ihrer Anfrage nicht entsprechen. Aus rechtlichen Gründen dürfen wir die Daten unserer Spielteilnehmer nicht offenlegen. Wir hoffen auf Ihr Verständnis und wünschen Ihnen viel Glück bei der Suche nach Ihrem Vater.

 

Mit freundlichen Grüßen,

 

Astrid Nelles

Zuschauerredaktion

Wie, was soll das heißen, bei der Suche nach Ihrem Vater?

Wie kann meine Mutter nach ihrem Vater suchen, wenn der seit 1976 tot ist? Und was hat das alles mit «Der Preis ist heiß» zu tun? Ich sitze wie gelähmt vor dem Fernseher und starre auf den schwarzen Bildschirm. Lese den Brief noch ein zweites und ein drittes Mal. Mein Kopf dröhnt. Langsam dämmert mir was. Aber es vergeht eine Ewigkeit, bis ich mich traue, die Kassette wieder in den Recorder zu stecken. Ich spule ein Stück zurück. Meint sie etwa ihn? «Aldi»? Als das Gesicht des alten Mannes in Großaufnahme erscheint, drücke ich auf Pause und renne zum Vitrinenschrank. In der großen Schublade bewahrt meine Mutter ihren privaten Kram auf. Ich wühle mich durch Stapel von Schnellheftern, Frauenmagazinen und Broschüren für Anti-Falten-Cremes, bis ich endlich finde, wonach ich gesucht habe. Ein uraltes Schwarzweißfoto. So alt, dass es noch einen gezackten Rand hat. Auf dem Foto sind meine Großeltern zu sehen, als sie noch jung waren. Oma Rosa trägt eine Baskenmütze wie Bonnie aus «Bonnie und Clyde». Ihr Mund