MISTY DEW 1 - Agnete C. Greeley - E-Book

MISTY DEW 1 E-Book

Agnete C. Greeley

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Beschreibung

An einem Frühlingstag verlässt Irene ohne nähere Angaben ihre Pferde-Ranch in den Bergen des Mistydew-County. Sie hinterlässt ihrer Cousine Joanne die kurze Nachricht, dass sie sich eine Weile zurückziehen will und verschwindet. Da Irene ihre geliebten Pferde niemals ohne triftigen Grund im Stich lassen würde, vermutet Joanne zunächst, dass Irene unter dem Tod ihres guten Freundes Randy leidet, der kürzlich sein Leben bei einem Rodeounfall verloren hat. Sie beschließt, ihrer Lieblingsverwandten die Zeit zu geben, die sie braucht. Als Joanne nach Wochen immer noch keine Nachricht von Irene erhalten hat, beauftragt sie Will, einen alten Freund der Familie, ihre Verwandte zu finden. Bei der Suche nach der Verschwundenen wird der Privatdetektiv von Julian, dem Sohn seines verstorbenen Freundes, unterstützt. Als die beiden Männer Irene in Chicago aufspüren, kommen sie gerade rechtzeitig um sie aus einer misslichen Lage zu befreien. In derselben Nacht bemerkt Julian, dass etwas nicht stimmt. Irene scheint von Albträumen geplagt, außerdem passieren um sie herum unerklärliche Dinge. Julian, der vor Jahren mit dem Übernatürlichen zu tun hatte, vermutet einen Geist hinter den Geschehnissen. Dieser Vermutung steht Will ablehnend gegenüber, der ebenso wie Julian diesen Teil der Vergangenheit am liebsten vergessen würde. Schließlich und endlich kann Julian ihn dazu überreden, ihm zu helfen. Irene indessen, ist nicht überzeugt von der Geschichte, doch erkennt, dass sie alle gemeinsam zur Ranch müssen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Da sie ihre eigene Vorstellung von der Situation hat, begibt sie sich in Gefahr, um ihre Freunde auf der Ranch zu beschützen und gerät dadurch mit Julian aneinander, der sich nicht ernstgenommen fühlt. Trotz der Gegensätze entwickelt sich langsam eine Freundschaft zwischen allen Beteiligten. Gemeinsam stellen sie sich im Kampf einem schier übermächtigen Gegner.

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Misty Dew 1 - Schattenfeuer

A. C. Greeley

MISTY DEW 1

Schattenfeuer

Impressum:

Copyright: © 2014 Agnete C. Greeley

Covergestaltung: © 2014 Reija T. Korpela

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-1334-0

1. Prolog

Der Regen prasselte unaufhörlich auf den dunklen Asphalt und der kalte Wind, der von Kanada herkam, ließ die schmächtige Gestalt frösteln. Der rote Wollmantel wärmte sie nicht genügend. Doch sie wusste, dass die schlimmste Kälte aus ihrem Inneren kam und sich nicht einfach abschütteln ließ, egal wie warm sie sich anzog.

Seit Wochen war diese Kälte ihr ständiger Begleiter.

Unsicher betrachtete die junge Frau die dunklen Häuserfronten, deren Fenster wie leere Augen wirkten. Leer. Tot, wie er.

Nein. Kopfschüttelnd beschleunigte sie ihre Schritte. Vielleicht schnappte sie tatsächlich über. Womöglich hätte sie erst gar nicht hierher kommen dürfen, dennoch warf sie immer wieder einen Blick hinter sich.

Fahrig strich sie sich eine Strähne feuchten, blonden Haares aus dem schmalen Gesicht. Nichts, da war niemand. Da war - nichts. Vielleicht hätte sie nicht den vierten Cocktail trinken sollen, aber er half ein bisschen. Und er brachte die Stimmen in ihr zum Verstummen.

Mit angespannter Miene betrachtete die Frau die dunklen Hauseinfahrten, die sie passierte. Nur rasch weiter! Sie wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis ER erneut auftauchen würde.

Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte.

Wohin musste sie noch schnell? Ach ja, nachhause.

Sie lachte trocken auf. Nachhause in diese winzige Wohnung, wo die Fenster größtenteils undicht waren und das Türschloss nicht richtig funktionierte.

Mit klammen Fingern schob sie ihren Kragen hoch. Eine letzte hilflose Geste, dem Wetter Paroli zu bieten.

Der Regen hatte sie bereits komplett durchnässt.

Hastig bog sie in eine Seitengasse ein. Fernab vom fröhlichen Lärm wirkte die Stadt auf einmal sehr einsam und sehr still. Ihre Absätze klackerten auf dem Bürgersteig, als sie, ihr Tempo erhöhend, an den alten Wohngebäuden vorbeieilte. Sie war alleine, sah nur einen obdachlosen Schwarzen, der in einer Hauseinfahrt schlief. Sie wankte an ihm vorbei, wohl wissend, dass er am nächsten Morgen wieder auf der Bank im Clybourn Park sitzen würde. Auch das kleine Café mit den alten hohen Glasfenstern war jetzt verlassen. In einigen Stunden würden, trotz Regen und Kälte, zwei Tische mit jeweils vier Stühlen unter der Markise stehen, einige Studenten würden dort sitzen und ihren Kaffee genießen. Immer in Erwartung des Frühlings, der nicht und nicht kommen wollte.

Der Gedanke an den nächsten Morgen beruhigte sie. Alles ist vertraut.

Vor einem großen grünen Eingangsportal blieb sie stehen und wandte sich noch einmal um. Inzwischen zogen flache Nebelfetzen in die enge Gasse und waberten entlang der Mauern hoch. Hier, zwischen den hohen Gebäuden, verlor der Wind an Kraft, wodurch sich der Chicagoer Nebel schleichend ausbreiten konnte.

Hastig schloss sie die schwere Eingangstür auf und huschte in das finstere Stiegenhaus hinein. Sie brauchte einen Moment, um sich im dunklen, muffig riechenden Haus zurechtzufinden. Die altbekannte Panik kam in hinterhältigen Schüben wieder hoch. Nein, hier war nichts, hier konnte niemand sein. Das Tor war immer zugesperrt und irgendwo gab es ja auch einen Lichtschalter.

Ja, suche ihn, komm schon, Licht vertreibt die Schatten.

Fieberhaft tastete sie sich an der Mauer entlang. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Was, wenn jemand, etwas, hier auf sie wartete, lauerte?

Nein, Blödsinn, hier konnte nichts sein. Nichts würde hier auftauchen, keine Stimmen aus dem Nichts. Nein, heute nicht, denn sie hatte genügend intus um bis in ihre tiefsten Träume hinein, zu Ruhe zu kommen. Für eine Weile, eine Nacht, einen Morgen.

Aber wo war bloß der verflixte Lichtschalter?

»Komm schon, denk nach, du weißt doch, wo er ist«, sprach sie sich selbst Mut zu.

Dann, fast gleich darauf, ertastete sie den kleinen Hebel und legte ihn um. Schwach, aber stetig flammte das Licht auf. Erleichtert lehnte sie sich an die Wand.

Vielleicht hätte sie doch nicht so viel trinken sollen, aber der Alkohol brachte die fremde Stimme in ihr zum Schweigen und vertrieb die unheimlichen Schatten, die überall dort lauerten, wo man es nicht erwartete.

Darauf würde sie garantiert nicht warten, stattdessen eilte sie rasch die Stufen zum dritten Stock hoch. Den Aufzug mied sie, wie immer. Dort, in der Nische waren zu viele Schatten, und auch wenn das merkwürdig klang, genau diese Schatten waren es, die sie an ihrem Verstand zweifeln ließen.

Als sie den zweiten Stock passierte, warf sie automatisch einen Blick aus dem Fenster. Von hier aus konnte man unschwer die verschwommenen Lichter des North Lasalle-Turmes erkennen. Morgen dann, zeitig in der früh, wenn der Wind noch schlief, würde der typische Frühjahrsnebel erneut alles in ein düsteres Grau verwandeln, während die Frau vermutlich noch tief schlafen würde. Falls sie das konnte, falls die Träume nicht früher zurück kamen, oder die Bilder.

2. Kapitel

Mistydew County - Eagleside-Ranch

Julian hob vorsichtig ein weiteres Buch vom Nachtkästchen und betrachtete den Einband, ehe er ihn zu den anderen auf das Bett legte. Zum hundertsten Mal fragte er sich, wieso sie wegen einer erwachsenen, verschwundenen Frau so einen Aufstand machten. Aber da Will nachdrücklich gemeint hatte, er wäre noch jemandem einen Gefallen schuldig, hatte Julian nicht protestiert.

Immerhin war er selbst dem älteren Mann mehr als nur einen Gefallen schuldig.

Ehe seine Gedanken jedoch erneut in die Vergangenheit driften konnten, öffnete er resolut die Tür vom Nachtkästchen. Seufzend starrte er auf den himalayahohen Stoß mit Pferde- und Rancher-Zeitschriften. Kopfschüttelnd hob er das oberste Heft an und blickte auf das bunte Bild eines ebenso bunten Rodeoclowns. Daneben stand ein geschecktes Pferd, ein sogenanntes Paint Horse, eines von vielen Pferdearten der Staaten, die speziell für Cowboys gedacht waren. Julian runzelte nachdenklich die Stirn.

»Diese Irene ist ein echter Pferdefreak«, murmelte er, während er sich erneut den Büchern zuwendete, die hier herumlagen.

»Schau dir mal nur die Titel an«, fuhr er an Will gewandt fort.

»‚Der mit den Pferden spricht‘, ‚Pferdeseelen verstehen lernen‘, ach ja, und dann das hier: ‚Das ABC des Barrel Racing‘. Hier gibt‘s fast nur solchen Kram.«

Ein unverständliches Murmeln ertönte aus dem Schrankraum. Scheinbar war Will gerade mit irgendetwas beschäftigt. Unbarmherzig fuhr Julian fort.

»Na, sag schon, Will. Ist diese Irene so was wie eine Pferdepsychiaterin? Ich meine, die Bücher, sie sind alle so«, da ihm das richtige Wort dazu nicht einfiel, hielt er inne.

Aus dem Nebenzimmer kam erneut nur ein Ächzen. Will hatte wohl gerade einige Mühe, zu antworten.

Julian grinste und warf einen Blick auf die offene Tür des Schrankraumes.

»Will, was meinst du? Ist sie so was? Du weißt schon, so wie Robert Redford in diesem Film.«

Ein Mann, etwa Mitte fünfzig mit einem Dreitagebart steckte den Kopf aus dem begehbaren Schrank. Seine düstere Miene verhieß nichts Gutes.

»Junge, ich hatte gerade eine Begegnung mit einer Kiste. Einer verdammten Kiste, die mir beinahe auf den Kopf gefallen wäre, und du laberst etwas von Robert Redford. Mach einfach mal die Augen auf! Also, was siehst du?« Der ältere Mann rollte vielsagend mit den Augen, ehe er sich wieder in den Schrankraum zurückzog.

Julian hob die Augenbrauen, und ließ seinen Blick erneut über die mit Fotos und Pokalen reichlich bestücken Regale schweifen. Kopfschüttelnd musterte er ein orangerotes Glaspferd, das mittendrin stand.

»Okay, ich sehe Glaspferde, Bücher und Fotos mit Pferden, Pferdepokale, eine blonde Frau auf Pferden, dieselbe neben Pferden, eine blonde Frau mit einem Pokal, mit einer Gürtelschnalle, mit Cowboys.« Er seufzte laut.

»Schon geschnallt, sie hat‘s eindeutig mit Pferden«, rief er.

Doch dann entdeckte er das andere Bild. Unauffällig stand es hinter einer Holzfigur. Das einzige Teil, das hier nicht reinpasste.

»Außer bei dem hier«, fügte er leise hinzu. Er trat näher, und fischte den hübschen blauschwarzen Rahmen hinter der Darstellung einer schwarzen Sängerin hervor.

Die Frau auf dem Bild war eindeutig Irene, auch wenn sie darauf jünger wirkte. Sie stand auf einer Bühne hinter einem Mikrofon. Sah ganz danach aus, als ob sie gerade sang.

Er stieß einen leisen Pfiff zwischen den Zähnen hervor. Das war mal was Neues.

»Jul, könntest du jetzt endlich mal deinen Arsch hier reinschwingen und einem alten Mann helfen, die Kisten runterzuheben? Hier drinnen gibt‘s Arbeit, falls du noch weißt, was das bedeutet«, murmelte Will griesgrämig.

»Hmh, bin gleich bei dir, alter Mann.« Vorsichtshalber senkte er bei den beiden letzten Worten die Stimme, ehe er sich das Bild genauer besah.

»Was sagt man dazu ...«, murmelte er leise.

Irene Morris trug darauf ein figurenbetontes, langes blauschimmerndes Kleid, dessen Schnitt raffiniert einen Blick auf ein wirklich hübsches Bein freigab. Hellblonde Haare fielen in weichen Locken über die Schultern. Julian erkannte in den Augen das fröhliche Leuchten. Ja, der Fotograf hatte das wichtigste festgehalten. Er nickte anerkennend. Eine hübsche Frau, war sie schon, diese Irene Morris. Eindeutig. Doch das alleine war es nicht, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Dieses Foto war außerdem das Erste, das nicht zum üblichen Zeug in diesem Zimmer passte. Kein wildes Cowgirl, keine Pferde.

Julian beschloss, sich später näher damit zu beschäftigen.

Im begehbaren Schrank kämpfte Will noch immer mit irgendeiner Sache. Sein Fluchen genügte, um Julian endlich auf den Plan zu rufen.

Seufzend ließ er das Bild im Regal liegen, und betrat den Schrankraum. Man konnte ja nie wissen.

»Wurde auch schon höchste Zeit«, grummelte Will genervt, während er versuchte, eine Kiste runterzuheben, die bereits gefährlich über den Rand hing.

Julian grinste, bevor er sich mühelos hochstreckte, um Will mit der Riesenschachtel zu helfen. Am Rande registrierte er, dass es mehrere leergefegte Regale gab.

Einige Bügel hingen einsam herum, und klirrten leise gegeneinander, als er sie streifte. Entweder hatte Irene Morris nicht viele Kleidungsstücke gehabt, oder sie hatte nicht vorgehabt, so schnell wieder nachhause zu kommen. Julian tippte auf zweites.

Problemlos hob er den staubigen, mehrfach mit braunem Klebeband zusammengepappten Karton hinunter. Eine zweite

Kiste aus Holz stand gleich dahinter. Diese gammelte garantiert schon etwas länger einsam vor sich hin, so verstaubt, wie sie aussah. Jemand hatte, wohl als Schutz, seinerzeit eine rosafarbige Decke darüber ausgebreitet, die inzwischen die Farbe eines schmutzig-rosigen Marzipanschweines angenommen hatte. Von der Decke hingen alte Spinnweben.

Eine dünne Wolke aus feinem Staub stieg auf, als Julian sie Will hinunterreichte.

»Puh, hier hat aber schon länger niemand saubergemacht«, konstatierte er irritiert.

Dennoch hatten sie wenige Sekunden später in Gemeinschaftsarbeit die beiden Kisten ins Zimmer auf den hellen Teppich bugsiert.

Missmutig verzog Will das Gesicht, als sich eine weitere Staubwolke löste und die Partikel ihn in der Nase kitzelten.

»Verd ...«, Er musste niesen.

»Gesundheit, alter Mann«, meinte Julian freundlich, ehe er sich die beiden Dinger näher besah.

»Hm, wonach suchen wir eigentlich genau? Ich meine, was haben wir überhaupt?«

»Joanne hat gesagt, dass Irene vor einigen Wochen einfach mir nichts dir nichts, verschwunden ist. Sie hat zwar einen Brief hinterlassen, in dem sie erklärt hat, dass sie ‚irgendwohin‘ geht um für sich zu sein«, er fischte einen abgegriffenen Zettel aus der Hosentasche und glättete das Papier.

»Aber sie hat keine genauen Angaben gemacht. Nichts, was uns helfen könnte, sie aufzuspüren. Joanne glaubt, das Ganze hat mit ihrem Kumpel Randy McLachan zu tun, der vor ein paar Monaten von einem Bullen getötet wurde, und macht sich große Sorgen. Irene hat zuerst normal weitergemacht, und dann Hals über Kopf ihre Pferde und die Farm verlassen, was ihr überhaupt nicht ähnlich sieht.« Schulterzuckend fuhr Will fort.

»Keine weiteren Nachrichten mehr, keine näheren Erklärungen. Niemand weiß, wohin sie ist. Ihre Kreditkarten sind nicht benutzt worden, bis auf einmal, da hat sie«, er studierte nochmal den Zettel in seiner Hand.

»Sechstausend Dollar abgehoben. In Kalispell. Danach nichts mehr.« Schulterzuckend schob er den Zettel wieder in die Hosentasche.

»Hm, was genau macht Joanne jetzt so zu schaffen?« Julian sah nach wie vor keinen Anlass zu übertriebener Sorge.

»Dieser Freund, Randy, er ist tot, da ist es doch verständlich, wenn ihre Cousine mal Abstand braucht und verschwindet. Vegas, New York, ein Trip durch die Wildnis, das hatten wir alles schon. Ich meine, Irene ist wie alt? Vierundzwanzig, fünfundzwanzig? Was macht das hier also zu einem solchen Notfall?«

Will zuckte mit den Schultern.

»Naja, sie ist eben Hals über Kopf weg, hat ihre heißgeliebten Pferde einfach im Stich gelassen. Ich meine, sieh dich doch um. Passt so gar nicht zu ihr. Und vor allem gibt’s da noch diesen Mike Reynolds, das ist ein bekannter Pferdeflüsterer aus Wyoming. Sie hatte sich für einen Workshop bei ihm angemeldet. Dieser fand genau eine Woche nach ihrem Verschwinden statt. Ist doch seltsam, wenn sie so viel Wert auf die Tiere legt, und dann mir nichts dir nichts einfach so verschwindet. Ich kenne ja diesen Reynolds-Typen nicht persönlich, aber der ist so eine Berühmtheit unter den Pferdemenschen. Seine Workshops sind sehr gefragt und teuer. Man muss sich schon lange vorher anmelden. Und Joanne, ich kenne sie schon lange, ihr Vater war ein Freund von mir. Sie lässt sich normalerweise nicht so schnell ins Bockshorn jagen. Das ist eigentlich Grund genug für mich, der Sache nachzugehen.« Er wirkte einen Augenblick nachdenklich.

»Ich kenne auch Irene ganz gut. Nicht so, wie Joanne, dafür war Irene zulange in Europa. Dänemark, Österreich, wo auch immer. Dauerte ein Weilchen, bis sie hierher zog. Aber, naja, sie war immer schon anders.«

Nachdenklich hielt er inne, ehe er leise weitersprach.

»Ein hübsches Ding und sehr klug. Hat ein Händchen für Pferde. Sie ist so«, er suchte nach dem richtigen Wort.

»So natürlich, und einfühlsam. Geht mehr nach Gefühl bei den Tieren. Nie lässt sie jemandem im Stich. Einmal da hat sie«, als ob er schon zuviel verraten hatte, stockte er mitten im Satz.

Julian runzelte die Stirn.

»Hat sie was?«

Will sah aus, als wäre es ihm unangenehm, bereits so viel gesagt zu haben.

»Nicht so wichtig. Nur eines, ein Gefühl sagt mir, dass sie in Schwierigkeiten steckt. Joanne denkt das übrigens auch, also genügt das erstmal.« Es schien, als wollte er noch etwas dazu sagen, doch dann wandte er sich der Pappschachtel zu.

»Okay machen wir dieses Ding hier zuerst auf.«

Julian nickte und fischte sein Messer vom Gürtel. Als er die Klinge herausspringen ließ, hielt er sie prüfend hoch. Die scharfe Schneide funkelte im Licht der Deckenbeleuchtung.

Will verdrehte die Augen.

»Ja, du hast ein tolles Messer. Könntest du dann mal endlich weitertun?«

Julian grinste.

»Dann wollen wir mal.«

Er fuhr gezielt mit dem Messer an den Klebebändern entlang, die sich wie Butter durchschneiden ließen. Julian suchte nach einer Aufschrift, irgendwas, das auf den Inhalt schließen ließ.

»Hm, die Kiste ist nicht angeschrieben.« Als er den dicken Pappdeckel hinunterhob, schlug ihm sofort ein herber Pferdegeruch entgegen.

»Oh Mann, das Zeug stinkt.« Naserümpfend schob er eine blaue Pferdedecke beiseite.

»Pferde stinken nicht, du bist nur ein Weichei und nichts mehr gewöhnt«, entgegnete Will darauf. Doch Julian ignorierte ihn, und zog stattdessen einen Pokal hervor.

»Was haben wir denn da? Schau, schau, scheint, als hätten wir hier tatsächlich die Randy-Box«, meinte er trocken, während er dem älteren Mann das goldene Ding hinhielt.

»Schau dir das an. Frontierdays, Cheyenne, 2007. Erster Platz. Und hier«,

Er zog eine riesige Gürtelschnalle hervor.

»Fort Worth, 2010, Freedays-Rodeo. Na fantastisch. Was für ein Held.«

»Ja, vermutlich hat Irene sein ganzes Zeug hier für ihn aufbewahrt.«

Will griff nach einer dünnen Mappe und schlug sie auf. Es beinhaltete mehrere Zeitungsausschnitte und Bilder von diversen Rodeos. Er zog ein loses Foto daraus hervor und betrachtete es nachdenklich, ehe er es an Julian weiterreichte.

»Hier, das ist er wohl, und daneben Irene.«

Julian musterte den kräftigen Cowboy, der breit in die Kamera grinste, die Hand um die Schultern der Vermissten gelegt.

»Auch wenn ich nicht so auf Anabolika stehe, aber dieser Randy, wirkt er nicht, wie der klassische Frauenschwarm?«

Stirnrunzelnd besah sich Will das Bild erneut.

»Hm, naja, vermutlich schon, keine Ahnung, und nein, die beiden hatten nichts miteinander«, fügte er hinzu. »Zumindest hat Joanne mir das versichert.«

»Hm, das besagt gar nichts. Wer weiß, ob Cousinchen alles weiß. Es könnte ja mal was gewesen sein. Ein One Night Stand nach einem erfolgreichen Rodeo, irgendwas in der Richtung. Und Liebeskummer ist ein tolles Argument für eine solche Flucht, besonders, wenn einer so stirbt wie dieser Randy.« Nachdenklich nahm Will ein weiteres Foto hervor. Diesmal zeigte es nur Irene, die frech in die Kamera grinste. Julian deutete vielsagend darauf.

»Nun, wenn das die Randy-Box ist, und danach sieht es aus, dann hatte er auffallend viele Fotos von Irene gesammelt, findest du nicht auch?«

Ein dezentes Klopfen an der Tür riss die beiden aus ihren Gedanken. Kurz darauf schaute Matt Taylor, der Farmhelfer rein. Die halblangen, dunklen Haare hingen ihm in die Stirn, was seinem besorgten Gesichtsausdruck noch mehr Tiefe verlieh.

»Ich hab Sandwiches gemacht. Vielleicht kommt ihr mal runter und gönnt euch eine Pause.«

Er musterte flüchtig die staubige Bescherung auf dem hellen Teppich und runzelte die Stirn.

Julian nickte freudig, ehe er sich erhob und seine staubigen Hände an der Jeans abwischte.

»Gute Idee. Die zweite Kiste schauen wir uns nachher an.«

Will wirkte noch immer gedankenverloren.

»Matt, sag mal, wie lange bist du schon hier?«, fragte er den jungen Mann.

»Im Mai sind’s zwei Jahre. Wieso?«

»Ich dachte, du wüsstest vielleicht, ob Randy und Irene etwas am Laufen hatten?«

Will hielt ihm das Foto mit den Beiden unter die Nase.

Matt nahm es ihm behutsam aus der Hand und besah es sich genauer.

»Hm, Randy war in letzter Zeit öfter hier. Das fiel schon auf. Allerdings hat er nichts Genaues gesagt«, er deutete auf die Kiste.

»Aber sein Zeug hat sie schon immer hier aufbewahrt. Kommt öfters vor. Die meisten Cowboys haben kein richtiges Zuhause, auch wenn sie immer wieder die gleichen Farmen betreuen. Randy zog in der Hauptsaison immer mit dem Rodeozirkus herum. Da waren seine Trophäen hier gut aufgehoben.« Noch einmal betrachtete er das Foto, ehe er es Will zurückgab.

»Obwohl, könnte schon sein, dass er vielleicht ein bisschen auf sie stand«, fügte er nachdenklich hinzu.

»Und wie kommst du jetzt darauf?«

»Naja«, schulterzuckend setzte sich Matt auf einen Hocker, der neben der Tür stand.

»Er kam zum Schluss öfter, brachte ihr alles Mögliche mit. Bei jeder Party hier auf der Ranch, jedem Barbecue war er dabei, sang, erzählte Witze und so was.

Als ich damals hier angefangen habe, war das irgendwie noch anders. Da hatte Irene einen Typen aus New York an der Angel. John Brighton oder so ähnlich. Ein Manager halt, mit einem tollen Geschäftsauto, und feinen Anzügen. Der kam ein paar Mal her. Machte einen auf Surfertyp. Braungebrannt, sportlich. Ein dezent verächtlicher Ton schwang in seinen Worten mit.

»Irene verbrachte sogar ein ganzes Wochenende mit ihm in New York. Aber dort ist wohl etwas passiert, denn als sie nachhause kam, war sie eine Zeitlang auffallend ruhig. Johns Besuche wurden weniger, die Anrufe. All das, was man halt so mitbekommt. Irene war eine Weile ziemlich still, aber irgendwann machte sie einfach weiter wie zuvor. Ich glaube nicht, dass sie noch Kontakt zu diesem Kerl hat.« Julian war hellhörig geworden.

»Moment, sie hatte einen festen Freund und das war nicht der Rodeo-Cowboy?«

Matt schüttelte den Kopf.

»Nein, das war nicht Randy, sondern ein unsympathischer Stadttyp, mit einem ungesunden Hang zur Eifersucht.« Matts Stimme hatte für einen Moment einen harten Klang angenommen.

»Als der nicht mehr kam, tauchte Randy plötzlich regelmäßig hier auf. Er hat mir auch so ein paar Sachen rübergewischt. So Anspielungen gemacht, als ob ich irgendwie, wie soll ich sagen: als ob ich Interesse an Irene hätte oder so.«

Julian kniff die Augen zusammen.

»Hm, er wollte wohl nach John sein Revier abstecken. Und? War das so?«

»Was war so?«

Julian zuckte mit den Schultern.

»Na, hattest du Interesse?«

Irritiert über die Frage erhob sich Matt. Seine Augen funkelten unheilverkündend.

»Nein, hatte ich nicht«, entgegnete er trotzdem betont ruhig.

»Ich bin hier, weil Joanne Holmes gemeint hat, dass Irene Hilfe bräuchte, damit das klar ist. Scheinbar hatte sie nach dem Tod ihres Onkels sowas wie einen seelischen Zusammenbruch. Hier lief halt nichts glatt, und ich wollte helfen. Außerdem hatte ich endlich wieder einen Job, der mir gefiel.«

»Aber diese Irene, sie ist doch hübsch, oder nicht?«

»Ja, klar ist sie das, siehst du doch selbst. Das bedeutet nicht, dass ich hinter ihr her bin. Es gibt viele hübsche Frauen.« Er verschränkte abwehrend die Hände vor der Brust und fixierte Julian kalt.

»Erstaunlich, was Stadttypen wie du so denken. Nur weil eine Frau den Laden hier schmeißt, heißt das nicht, das jeder Typ sie flachlegen will. Damit das klar ist!«, entgegnete Matt verärgert.

Julian zuckte mit den Schultern.

»Nun, bei mir wäre das.«

»Ja, Jul, wir wissen wie das bei dir wäre, also halt‘s Maul, bevor du noch eine drauf kriegst«, kam es nüchtern von Will.

»Schon gut.« Julian hob abwehrend die Hände. Das fehlte noch, dass er sich mit einem übermäßig korrekten Cowboy herumschlagen musste.

»Ich wollte nur wissen, wie die Lage hier ist. Irene hat ja an diesem Ort das Kommando. Sie ist hübsch, und scheinbar wirklich sehr nett und äußerst beliebt, was ich so bemerke. Außerdem scheint sie nach diesem John wieder Single zu sein. Ich sammle nur die Fakten, okay? Wenn sie dir nicht gefallen, tut es mir leid.«

Julian bemühte sich, beschwichtigend zu klingen. Insgeheim glaubte er Matt. Nur die Sache mit dem Rodeo-Cowboy schien noch ungeklärt.

»Gut, zurück zum Thema«, fuhr er im geschäftigen Ton fort.

»Dieser Cowboy Randy, könnte es sein, dass er sich vergeblich Hoffnung auf etwas machte und Irene davon ähm, wusste? Ich meine, nach diesem John hat er vielleicht seine Chance gesehen, aber sie hat ihn abblitzen lassen, oder so was.«

Matt seufzte.

»Schwer zu sagen. Irene hält sich immer bedeckt, wenn es um private Dinge geht, aber ich glaube, sie hat das gar nicht bemerkt, und wenn doch, dann hat sie es nicht ernst genommen.«

Matt erhob sich wieder.

»Ich geh jetzt mal, die Sandwiches sind im Wohnzimmer, also beeilt euch, bevor Luke alle aufisst.« Dann war er weg.

Will blickte Julian stirnrunzelnd an.

»Was sollte denn die dämliche Fragerei? Wolltest du unbedingt eine aufs Auge? Es spielt keine Rolle, ob dieser Matt auf Irene steht, oder ob Randy etwas mit ihr hatte. Is‘ nicht wichtig, Junge. Wir müssen sie einfach nur finden. So lautet der Auftrag, damit das klar ist. Und wenn du mich fragst, deine hinreißende Art und Weise kam soeben ziemlich schief.«

»Na und? Sowas ist wichtig«, verteidigte Julian sich. »Solche Dinge, wie überstürzt zu flüchten, durcheinander zu sein, all das kann mit Gefühlen zu tun haben.« Er zuckte mit den Achseln.

»Starke Gefühle, starke Reaktionen, Mann. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.« Einen Moment wirkte er nachdenklich, doch dann grinste er plötzlich.

»Außerdem war ich neugierig.«

Im ernsten Tonfall fuhr er fort.

»Sag mal, wusstest du etwas von diesem John Brighton, dem Stadttypen?«

Will grübelte einen Augenblick, ehe er mit den Schultern zuckte.

»Naja, hab irgendwas darüber gehört. Für nähere Infos musst du aber schon Joanne fragen.«

Julian nickte.

»Okay, mal sehen, scheint allerdings nicht mehr wichtig, aber ich werd ihn mir trotzdem mal merken. Ist Irene damals, als ihr Onkel starb, auch davon gelaufen?«

»Hm, nein, das war anders. Sie war am Boden zerstört. Ihr Onkel war ihr ein und alles, musst du wissen. Ihr Held, er hatte einiges erlebt, war Ende der Sechziger sogar in Australien unterwegs gewesen, als Wanderschmied und Ranchhilfsarbeiter und so ein Zeugs. Ein waschechter Abenteurer. Schätze, sie ist ihm ähnlicher als man glaubt. Ihre Eltern wollten immer nur, dass sie wieder zurück kommt, doch sie hatte bereits hier ein Zuhause. Europa war nicht mehr ihr Ding. Hab keine Ahnung wieso, aber Ethan hat sie hier aufgenommen. Sie war irgendwie sein Liebling, und dann, als er starb, war sie fix und fertig.«

Will rieb sich abwesend am Kinn.

»Sie, ähm, hatte Hilfe. Also nach Ethans Tod kam eine Zeitlang so ein Typ hierher auf die Ranch. Eigentlich ein feiner Doktor aus Cedars. Er, sagen wir mal, hat ihr eine Weile beigestanden. Der war eine halbe Rothaut, hat aber in Alberta studiert. Du weißt schon, so ein Psychoheini.«

»Schätze du meinst einen Seelenklempner«, sagte Julian trocken, ehe er tief durchatmete.

»Abgesehen davon, dass du mir dieses winzige Detail verschwiegen hast, was sagt dir das? Ihr Onkel an dem ihr Herz hängt, stirbt, sie bleibt, hat einen Nervenzusammenbruch, sie bleibt noch immer. Und jetzt, wo ihr ‚Kumpel‘ tot ist, haut sie einfach so ab? Findest du das nicht seltsam?«

Nachdenklich kratzte sich Will am Kopf. Der Junge hatte recht.

»Naja, ein bisschen komisch is‘ das schon.«

Will seufzte ergeben.

»Okay, Meisterdetektiv, was sagt dir dein Bauchgefühl?«

Julian hatte sich schon seine Theorie zusammengesponnen.

»Ich denke, die hatten vielleicht doch was am Laufen. Womöglich eine kleine Ablenkung, nach ihrem Liebeskummer wegen dem Stadttypen. Selbst eine Frau wie Irene kann mal aus der Rolle fallen, sie ist ja auch nur ein Mensch.«

Will musterte Julian skeptisch.

»Weiß nicht so recht, Irene ist so ‚ne Ruhige. Die macht sowas nicht. Passt nicht zu ihr, finde ich.«

Julian seufzte schwer.

»John Wayne aka Matt, der grimmige Cowboy hat gesagt, dass Randy ab letzten Sommer hier herumhing, also muss zu dem Zeitpunkt etwas vorgefallen sein. Da niemand etwas von einer prickelnden Beziehung gemerkt hat, bedeutet das für mich: Er wollte mehr, sie nicht, er starb, sie ist damit nicht klargekommen und erstmal abgehauen.« Schulterzuckend wandte er sich zur Tür.

»Große Gefühle, Mann. Schuldgefühle sind große Gefühle, okay? Kann ja sein, dass sie Abstand gewinnen wollte, um nachzudenken, was auch immer. Das hat todsicher mit diesem Randy zu tun, darauf verwette ich meine Lederjacke.« Danach ging Julian aus dem Zimmer und ließ einen grüblerischen Will zurück.

»Jaja, du Schlaumeier mit deiner ach so tollen Lederjacke, geh du nur fressen«, grummelte er unwillig.

Dennoch folgte er ihm kurz darauf. Immerhin, sie hatten stundenlang in diesem Zimmer verbracht, ohne den geringsten Hinweis auf etwas zu finden, das ihnen weiterhelfen konnte. Da würden ein, zwei Sandwiches dazwischen auch nicht schaden.

Als Julian über die Galerie des Hauses nach unten ging, bemerkte er sofort die angenehme Wärme des Kaminfeuers.

Luke, der Vorarbeiter von Joanne, reichte ihm ein Bier.

Dankbar nahm Julian es entgegen und trank einen Schluck, während er darüber nachgrübelte, wie sie weiter vorgehen könnten. Der Fernseher lief, doch niemand schaute tatsächlich hin.

Gedankenverloren starrte Julian in die Flammen.

An einem solch kalten Apriltag wie heute war er heilfroh, nicht mehr ständig auf Achse zu sein, so wie früher. Ja, früher, da war alles anders gewesen. Kalte, unpersönliche Motelzimmer, raue Bars und wilde Typen, all das lag längst hinter ihm, doch auch in seinem kleinen Wohnwagen fehlte die familiäre Wärme, die hier aus allen Winkeln strömte.

Rasch schob er die sich ihm aufdrängenden Bilder zur Seite. Die Vergangenheit war im Moment nicht wichtig. Es gab in der Gegenwart genügend zu tun. Erneut biss er in sein Schinkensandwich und konnte nicht umhin, festzustellen, wie hervorragend Matt sie zubereitet hatte. Selbst Will und Luke Daniels, der Vorarbeiter von Joanne Holmes, konnten nicht genug davon bekommen. Die beiden unterhielten sich gedämpft. Soweit Julian erkennen konnte, ging es um die Niederschläge und das extrem kühle Wetter, das so gar nicht zum Frühling passen wollte. Matt indessen, schien das große Schweigen perfektioniert zu haben, doch dann überraschte er ihn.

»Was wollt ihr als Nächstes tun?«, er sprach Julian direkt an, während er gleichzeitig die Teller auf einen Stapel zusammenstellte.

Erstaunt sah Julian auf.

»Nun, erstmal die zweite Kiste aufmachen«, meinte er gelassen. Er wusste nach wie vor nicht, wonach er suchen sollte, doch da musste es etwas geben, irgendeinen kleinen Hinweis, den sie bisher übersehen hatten. Ihm fiel das Bild mit der Bar und dem Abendkleid ein.

Einer Eingebung folgend, wandte er sich direkt an Will.

»Was trieb Irene eigentlich so am College. Sie war doch auf dem College, oder?«

Will rieb sich über das Kinn.

»Klar war sie das, nur fällt mir im Moment nicht ein, wo.«

Luke, der sich bisher still verhalten hatte, räusperte sich hörbar.

»Missouri-Universität, Columbia, Journalismus und Landwirtschaft.«

Erstaunt blickte Julian den etwa fünfzigjährigen Vorarbeiter von der Holmestead Farm an. Bisher hatte der Typ keinen einzigen Ton in Bezug auf Irene Morris von sich gegeben.

»Okay, danke. Kennen Sie Irene gut?«

Luke nickte.

»Klar, seit sie ein kleines Ding mit blonden Zöpfen und verrückten Ideen war. Sie war immer schon wild mit Pferden. Es liegt an ihrer Art, sie hat einfach ein Händchen für diese Tiere. Meistens kam sie in den Ferien hierher, und stellte alles auf den Kopf. Tja, zwei -dreimal musste ich ihr aus der Klemme helfen.« Er lächelte wage.

»Naja, sie war - IST manchesmal ein wenig waghalsig. Wilde Pferde, verrückte überzüchtete Gäule und all so was. Sie nimmt alle. Ethan wusste, dass sie Ahnung und Gespür für die Tiere hat, ihr Onkel ließ ihr vieles durchgehen, er liebte sie sehr.« Er kratzte sich am Kopf.

»Alle hier haben sie gerne«, meinte er fast verlegen.

Will nickte.

»Ja, ich weiß. Ich mag sie auch, hab sie leider nur wenig gesehen. War in den letzten Jahren nicht mehr so oft in der Gegend.«

Julian zog verwundert die Augenbrauen hoch. Erstens gab Will erneut zu, jemanden zu mögen, und zweitens schien er oft hiergewesen zu sein. Davon hatte er nie etwas gehört, obwohl Will praktisch sein Ersatzvater war und er die letzten Jahre bei ihm gelebt hatte.

Irenes Beliebtheitsgrad schien generell sehr groß unter all diesen Menschen hier zu sein.

»Ein paar Tage im Frühjahr kommt sie auch zu uns auf die Holmestead Farm«, fuhr Luke fort.

»Joanne und sie fahren dann gemeinsam in die Stadt, einkaufen, Theater und so ‚nen Kram.« Luke zögerte einen Augenblick.

»Ihr werdet sie doch finden, nicht wahr?«, fragte er unsicher. Man konnte ihm seine Besorgnis ansehen.

»Es ist nicht ihre Art einfach so zu verschwinden, nicht in ihren schlimmsten Tagen. Glaubt mir das, Jungs.« Er fuhr sich durchs halblange Haar.

»Sie ist so gewissenhaft, macht Listen, die alle in den Wahnsinn treiben, und so was. Egal was passiert ist, sie steckt sicher in irgendwelchen Schwierigkeiten.« Luke erhob sich, und fischte seinen Hut vom Sessel.

»Ich geh jetzt mal ins Gästehaus rüber. Wir machen uns alle Sorgen. Also bitte, findet sie einfach.«

»Ja, das werden wir.« Julian, von der Eindringlichkeit der Worte ergriffen, nickte entschlossen.

Matt durchquerte mit dem Tellerberg langsam den Raum, ehe er bei der Tür stehenblieb und sich zu Julian umwandte.

»Falls das hilft, wir hatten im Sommer mal so ein Gespräch« Er hielt einen Moment nachdenklich inne.

»Alles über die wilden Collegezeiten und so. Irene unterhielt sich ab und zu mit mir über so was. Wir konnten immer gut miteinander reden«, fügte er ruhig hinzu. Sein Blick warnte Julian davor, keine dummen Kommentare zu schieben.

»Irene erwähnte, dass sie damals zum Wochenende hin immer mit ihrer Freundin Melanie ausgegangen war. In Bluesbars oder zu Jazzfestivals, sowas in der Art. Schätze, früher gefiel ihr Jazz und Blues und jetzt ist es mehr die Countrymusic. Wir ziehen sie gelegentlich damit auf.«

Julian wandte sich fragend an Will. Er war ein wenig verärgert.

»Wer zum Teufel ist Melanie? Und Blues & Jazz, ich meine, wieso weißt du sowas nicht?«

Will winkte ab.

»Ach, Melanie Jenkins ist Irenes beste Freundin. Sie sind seit dem College befreundet. Mel lebt in Pinedale. Etwa zwei Fahrstunden von hier entfernt. Eine ruhige, beschauliche Gegend. Sie besitzt ein kleines Antebellum-Haus. Ihre ehemalige Chefin hat es ihr vermacht. Sie schreibt Bücher und nimmt ab und zu an Pferderennen teil. Aber zurzeit ist sie in Louisiana und passt auf die beiden Kinder ihrer älteren Schwester auf, die sich die Hüfte gebrochen hat. Sonst hätte ich sie schon selbst aufgesucht. Ich hab kurz mit ihr telefoniert, sie hat nichts von Irene gehört. Ich glaube ihr das. Melanie ist ruhig, zurückhaltend und sehr ehrlich. Sie kann sich schwer verstellen. Sie klang ziemlich besorgt und versprach, sich zu melden, falls sich Irene bei ihr rührt.«

Julian nickte.

»Okay, dann geh ich da hoch und schau mal in die zweite Kiste.«

Nachdenklich machte er sich auf den Weg ins Zimmer. Als Matt von Bluesbars gesprochen hatte, hatte bei ihm irgendwas geklingelt.

Er würde sich dieses Foto nochmal genauer ansehen, und dann in der Kiste mit der rosa Decke herumwühlen. Könnte sein, dass sie ihre privaten Erinnerungen genau darin aufbewahrte. Er hatte auch eine Sammlung alter Souvenirs aus seinem Leben.

Oben im Zimmer angekommen, nahm er das Bild umsichtig aus dem Regal und besah es sich ein weiteres Mal.

Während er das alte Foto mit dem neueren von Irene Morris verglich, ging er im Geiste nochmal Matts Aussage durch. Diese Melanie und die Verschwundene waren also öfters in Blues-Bars gewesen, aber studiert hatten sie auf der Missouri Universität, Columbia. War es möglich, dass Irene irgendwo in Missouri war? Stirnrunzelnd überlegte er, wo hier ein Zusammenhang bestehen konnte. Die Irene im blauen Kleid wirkte jedenfalls fröhlich. Scheinbar sang sie und es schien ihr zu gefallen. Aber auch die Irene auf dem neueren Foto schien glücklich zu sein. Braungebrannt lachte sie in die Kamera, die blonden Haare wehten ihr ins Gesicht, und im Hintergrund erkannte er die Berge. Vermutlich stammte das Foto von hier.

»Wo treibst du dich bloß herum, Countrygirl?«, murmelte Julian nachdenklich.

Egal was passiert war, dieses Bild war etwa ein halbes Jahr alt und da war sie auf jeden Fall noch fröhlich gewesen.

Der Grund für ihr Verschwinden lag Julians Meinung nach, immer noch im Tod dieses Randy McLachan. Alle Fäden liefen dort zusammen.

Einer Eingebung folgend, löste er die Klammern vom Bilderrahmen und nahm vorsichtig das Foto heraus. Nach einer weiteren Begutachtung schob er es kurzentschlossen in die Gesäßtasche seiner Jeans, bevor er den leeren Bilderrahmen einfach ins Regal zurücklegte. Sein Blick ruhte einen Augenblick auf der Figur der schwarzen Sängerin. Ob das alles zusammenhing?

Ohne weiter herumzutrödeln, wandte er sich endgültig der Holzkiste zu.

Sie hatte einen Metallverschluss, wie die Schmuckkästchen, doch die hier war nicht versperrt.

Er fand zuoberst ein kleines rosa Buch mit Ponys darauf und schlug es auf. Die Seiten knisterten leicht, als er ein paar davon umblätterte.

Leise las er daraus vor.

»Ich fragte nach einer Blume, doch er gab mir einen Garten. Ich bat um einen Baum, und er gab mir einen Wald. Ich fragte nach einem Fluss, und er gab mir einen Ozean. Ich fragte nach einem Freund, dann gab er mir dich. Vergiss diese Freundschaft nicht. Tristan.«

Um den Namen Tristan herum hatte jemand ein blaues Herz gemalt.

Behutsam legte er eine vertrocknete Lavendelblüte, die herausgefallen war, zwischen den Seiten zurück und schloss das Büchlein wieder. Es war garantiert schon an die fünfzehn Jahre alt, für diesen Fall also nicht relevant.

Unvermutet tauchten Fragmente aus Julians Erinnerung auf.

Rotblonde Shirley Temple-Locken flogen wild um ein helles Gesicht. Lachend über den Waldweg laufend, drehte sich die zierliche Mädchengestalt immer wieder zu Jul um. Er konnte immer noch ihre Stimme hören.

»Komm schon, lauf schneller, sonst sind sie alle weg!« Kaum bezähmbare Ungeduld in der Stimme, das grünweiße Sommerkleid flog ihr um die staksigen Beine. Jeannie.

Gequält schloss er einen Moment die Augen, ehe er das kleine Poesie-Buch hastig unter einen Stoß alter Hefte schob. Es hatte hier sowieso keinen Nutzen. Außerdem konnte er es in diesem Augenblick nicht ertragen, noch weitere dieser unschuldigen Sprüche zu lesen.

Während er versuchte, die unfreiwilligen Erinnerungen aus seinem Kopf zu verbannen, wandte er sich wieder dem restlichen Inhalt der Kiste zu.

Das hier war wichtiger und er musste sich konzentrieren, wenn er Will helfen wollte, diese Irene zu finden.

Die verschiedenen Fotoalben in der Kiste erweckten sein Interesse sofort. Wie Julian gleich bemerken konnte, war Irene sehr genau, denn jedes Album war datiert und beschriftet.

Rasch suchte er sich zwei heraus, die aus ihrer Collegezeit stammen konnten.

Ein Album bestand aus einer Sammlung von Bildern eines New York-Trips mit Freunden. Rasch blätterte er es durch, ehe er es zur Seite legte. Unbeschwerte junge Leute, die sich amüsierten. Nichts Besonderes.

Das Zweite fiel schon durch den Aufkleber auf dem Einband auf. Dieser bestand aus einem Rechteck, oben und unten von einem blauen durchgehenden Streifen gekennzeichnet. Dazwischen, auf dem weißen Feld prangten vier rote Sterne. »Sieh mal einer an.« Julian kniff die Augen zusammen.

Wieso war er nicht eher dahintergekommen? Dieser Aufkleber stellte die Flagge von Chicago dar, darüber hatte jemand in großen, geschwungenen Buchstaben die Überschrift ‚Chicago, the Windy City‘ aufgemalt.

»Na bitte«, zufrieden summte er ein paar Takte von ‚Sweet Home, Chicago‘,während er im Album blätterte.

Ein bunt gemischtes Potpourri aus vielen verschiedenen Ereignissen tat sich vor seinen Augen auf.

Partys, Geburtstage, Stadtausflüge, meistens mit zwei, drei anderen Leuten, die allesamt wie stinknormale Studenten wirkten.

Einige Fotos stammten zwar aus den benachbarten Städten der Universitätsgegend, Huntsdale und Wooldridge, doch der größte Teil zeigte eindeutig Illinois. Also alles in einem Umkreis von etwa dreihundert bis vierhundert Meilen. Ein paar stammten aus Indianapolis. Doch bei näherer Betrachtung erkannte Julian, dass die meisten Bilder in Chicago aufgenommen worden waren, und Chicago war nachweislich die Stadt des Blues.

»Na das passt ja hervorragend«, murmelte er gelassen.

Lake Michigan mit einer dunkelhaarigen Freundin, das ‚Hancock Center‘ mit der prächtigen Aussicht auf die Stadt. Eine Aufnahme vor dem ‚Hard Rock Hotel‘.

Soweit Julian wusste, gab es nicht allzu viele davon in den Staaten.

‚Grant Park‘, der ‚Buckingham Fountain‘.

Während Julian das Album weiter durchblätterte, begann er leise ‚Love And Marriage‘, das Titellied aus der Serie ‚Eine schrecklich nette Familie‘ zu pfeifen. Immerhin spielte dieser Brunnen im Vorspann eine Rolle. Interessiert betrachtete er einige Gruppenfotos der Mädchenclique und immer mittendrin, blond und fröhlich, Irene Morris.

Er stieß auch auf mehrere Aufnahmen in Restaurants und Bars. Zwar hatte sie auf keinem dieser Bilder das blaue Kleid an, dennoch war es offensichtlich, wo sie sich am liebsten herumgetrieben hatte. Bluesbars, Jazzclubs. Und das alles in Chicago!

Im gleichen Moment trat Will ins Zimmer.

»Wie sieht’s aus, Jul? Schon etwas entdeckt, dass uns weiterhelfen könnte? Wenn ja, raus mit der Sprache, was ist es?«

Julian drückte dem älteren Mann das Fotoalbum in die Hand.