Mittsommerbriefe - Madita Tietgen - E-Book
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Madita Tietgen

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Beschreibung

Was macht eine junge Frau, wenn sie ihren geliebten Großvater an einen Herzinfarkt verliert, von ihm eine verstaubte Buchhandlung in Stockholms Innenstadt vererbt bekommt und feststellt, dass der Laden kurz vor der Pleite steht? Genau, sie wird kreativ. Und so beginnt Alva, Speeddatings der besonderen Art zu veranstalten: Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wen du liebst. Mit einem Teilnehmer scheint es allerdings wie verhext zu sein. Trotz vielversprechender Kandidatinnen wird Alva ihn einfach nicht mehr los. Hartnäckig sucht er ihre Nähe, obwohl er gleichzeitig den Eindruck vermittelt, viel lieber woanders zu sein. Das Problem dabei: Ihr Herz beginnt bald unwissend über die Zeilen zu hüpfen, die der eigentlich doch nicht so unbekannte Siljan über Alva schreiben wird. Als wäre das nicht genug, findet Alva nach dem Tod ihres Großvaters ein Dutzend Briefe, die ihr Leben auf den Kopf stellen. Der Beginn eines unerwarteten Mittsommers.

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Seitenzahl: 526

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Madita Tietgen

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

________________________

Texte: Madita Tietgen

Cover / eBook: Grit Bomhauer

mit verwendeten Lizenzen von

© Depositphotos – zatvor | PicsFive | risto40 | spline_x

© Adobe Stock – alessandro | uv_group

Korrektorat: Redaktionsbüro Feldbaum

________________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Erstveröffentlichung: 23. Juni 2023

 

ISBN: 9783757932985

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Emil.

Weil dein Lachen das wohl ungezwungenste und ehrlichste Lachen ist, das ich kenne, und weil ich mir von Herzen wünsche, dass du dir dieses für immer bewahrst.

 

Ein Buch ist kein Gegenstand. Es ist ein Zuhause. Ein Zuhause für all diejenigen, die vor der echten Welt fliehen, eine Pause brauchen oder einfach nur träumen wollen. Ein Buch ist der Schlüssel zu einem Ort, der nicht nur im Kopf, sondern auch im Herzen verwurzelt ist. Davon war Alva überzeugt.

Die junge Frau schüttelte ihre schulterlangen blonden Locken, atmete tief durch und zog die Stirn kritisch in Falten. »Das sieht doch bescheuert aus.« Missmutig betrachtete sie das große rote Schild, auf dem immerzu kleine LEDs aufleuchteten, die die aktuellen Angebote von Ekströms Bokhandel hervorheben sollten.

»Vielleicht … müssen wir uns nur daran gewöhnen«, schlug Malin vor und bemühte sich um einen optimistischen Tonfall.

Alva starrte weiter auf die Miniglühbirnen, die in grellen Neonfarben geradezu aus dem Plakat sprangen, das sie und Malin soeben im Schaufenster aufgehängt hatten. Sie mochte es nicht. Es sah einfach nur billig aus und passte nicht zu der altehrwürdigen Buchhandlung, die seit Generationen in Familienhand war. Und es passte nicht zu dem Laden, der in den süßen schmalen Straßen der Stockholmer Altstadt zu Hause war. Nein. Dieses rote blinkende Etwas würde nicht bleiben. Ganz sicher nicht.

Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Dieses Ding zu bestellen zeugte mal wieder davon, wie verzweifelt Alvas Lage war. In einem normalen Gemütszustand hätte sie niemals den Kaufen-Button auf ihrem Laptop angeklickt.

Sie streckte sich genervt. Dann stemmte sie die Hände in die Taille und schaute hinüber zu Malin, die nur einen halben Meter entfernt stand. Sie war beinahe eineinhalb Köpfe kleiner als Alva, besaß lange kupferrote Haare, die sie zu einem dezenten Dutt hochgebunden hatte, und war Alvas heimlicher Rettungsanker. Anders als sie selbst hatte Malin nämlich eine abgeschlossene Ausbildung zur Buchhändlerin und kümmerte sich seit Jahren gewissenhaft um die Bestände des Ladens.

Die kleine, etwas schüchterne Frau war mit ihren fünfunddreißig Jahren nur drei Jahre älter als Alva, wirkte allerdings wesentlich jünger. Möglicherweise lag das aber auch an ihrer zurückhaltenden Art. Dennoch hatte Alva ihre Freundin von Herzen gern. Ohne sie wäre Ekströms Bokhandel vermutlich längst vor die Hunde gegangen. Ihr Großvater war ein liebenswerter, intelligenter und belesener Mann gewesen. Doch mit der Führung eines wirtschaftlichen Betriebs – nichts anderes war die Buchhandlung am Ende des Tages – hatte er sich heillos überfordert. Er hatte eindeutig den Sprung ins 21. Jahrhundert verpasst. Und jetzt zahlte sie den Preis dafür. Alva wollte nicht daran denken, es war zu bedrückend. Also schmetterte sie den Erinnerungen in ihrem Kopf die mentale Tür vor der Nase zu. »Hilfst du mir, das Schild wieder abzumontieren?«

Malin wandte ihr den Kopf zu und nickte. »Ein Versuch war es wert.«

Alva lächelte milde. Sie wussten beide, dass das nicht stimmte. Trotzdem schätzte sie Malins Worte.

Noch einmal blinzelte Alva zu dem Schaufenster vor sich. Sie liebte die große, alte Scheibe mit dem dünnen weißen Holzrahmen, die sowohl in der Breite als auch in der Höhe gut zwei Meter maß. Gleich rechts daneben befand sich die schmale Eingangstür zum Laden. Ebenfalls aus Glas und weiß umrahmt. Die Klinke war verrostet und die Farbe blätterte längst ab, doch schon als Kind war diese Tür Alva wie der Zugang zu einer anderen Welt vorgekommen. Sie war irgendwie magisch. Einmal eingetreten erwartete die Besucher der leicht muffige Geruch des alten Geschäfts. Wenn Alva hineinging, nahm sie allerdings nur den Duft der vielen Bücher wahr, die sich in den unzähligen Holzregalen tummelten.

Von klein auf hatte sie die meiste Zeit ihres Lebens in der Buchhandlung ihres Großvaters verbracht. Alva war ein Kind, das vom Pech verfolgt schien. Ihre Mutter verstarb bei ihrer Geburt. Ihr Vater kam bei einem Skiunfall ums Leben, als sie erst fünf Jahre alt war. Und so wuchs sie schließlich bei ihrem verwitweten Großvater auf. Sie vermisste ihre Eltern, doch sie hatte sich mit ihrem Tod schon lange abgefunden.

Alva und Johan Ekström waren ein fantastisches Team und so war der alte Mann vermutlich das Beste, was Alva nach dem schrecklichen Verlust passieren konnte. Er umsorgte das kleine Mädchen mit liebevoller Strenge und half ihm sich im Leben zurecht zu finden. Er besaß eine gehörige Portion Humor und wusste er die Antwort auf eine ihrer Fragen nicht, so fand er mindestens ein Buch in seiner persönlichen Sammlung – oder im Laden –, das Alva eine Erklärung geben konnte. Manchmal auch nur im weitesten Sinne, aber das zählte trotzdem.

Lächelnd dachte sie daran, wie oft sie die Augen verdreht hatte, wenn ihr Großvater mal wieder loslief und in der hintersten Ecke seiner Buchhandlung nach einem Werk kramte, um ihr die Antwort zu verschaffen, die sie suchte.

Man sollte vielleicht erwähnen, dass Alva ein ungemein wissbegieriges Kind gewesen war. Sie hatte alles und jeden hinterfragt. Immerzu.

Und während heute jeder sein Smartphone zückte, um Google, Siri oder Alexa zu bemühen, hatte Alva die Eigenheit von Johan übernommen und suchte das Wissen in Büchern. Natürlich – wenn es um Öffnungszeiten eines Restaurants oder den aktuellen Wechselkurs von Schwedischen Kronen in Euro ging, dann wandte auch Alva sich an das Internet. Aber bei allem, was sie in ihren Büchern entdecken könnte, suchte sie zunächst gewissenhaft dort. Es gehörte zu ihrem Wesen. Sie konnte gar nicht anders.

»Ich wünschte, ich könnte die Antwort hierauf in deinen Büchern finden, Farfar«, murmelte Alva und dachte an ihren Großvater, den sie häufig mit dem schwedischen Kosenamen angeredet hatte. »Farfar« bedeutete so viel wie Vaters Vater.

Vor gut sechs Wochen hatte er ihr das Geschäft überschrieben. Es sollte in Familienhand bleiben, wenn er sterben würde. Schmerzhaft zog sich Alvas Herz zusammen.

Innerhalb des letzten halben Jahres hatte Johan insgesamt drei Herzinfarkte erlitten. Jeder einzelne verschlechterte seinen Zustand, sodass er schließlich zu einem physischen Pflegefall wurde. Nach dem letzten Infarkt gaben die Ärzte ihm nicht mehr viel Zeit. Das Herz war schwach, der Tod unausweichlich.

Aber beschwerte sich ihr Großvater je? Nein. Bei Weitem nicht. Er nahm es mit Humor: »Odin braucht einen neuen Bibliothekar. Es wird Zeit, dass in Walhalla mal jemand die alten Schriften sortiert. Und der Gute weiß eben, wie sorgfältig ich bin.« Dann lachte er, nahm Alvas Hand in seine faltigen Finger und drückte sanft zu.

Ihr Großvater mochte die alten nordischen Mythen. Schon immer. Er wusste alles darüber. Und statt mit Disney-Prinzessinnen wuchs Alva umgeben von Geschichten über die Götter Odin, Thor, Loki, Freya und all die tapferen Walküren und Wikinger auf, die sich ihren Weg nach Walhalla verdient hatten. Die große Halle, in der Odin zum gemeinsamen Tafeln einlud, war in ihren Gedanken so imposant wie eindrucksvoll. Und wann immer Alva sich im Leben verloren fühlte, stellte sie sich vor, wie Odin aus Walhalla auf sie hinabblickte und ihr Mut zusprach. Zugegeben, irgendwie hatte Odin das Gesicht ihres Großvaters. Aber egal. Es half ihr. Und darum ging es schließlich, oder?

Während Johan also zufrieden auf sein Leben zurückblickte, Alva die Buchhandlung überschrieb und sich auf seine Reise nach Walhalla vorbereitete, hatte seine Enkelin im Hier und Jetzt mit der Realität zu kämpfen. Ohne Götter. Ohne Walküren. Denn diese Welt sah alles andere als göttlich, mystisch und mutig aus. Nein, sie war eine Katastrophe.

Zu Beginn versuchte Alva noch, es sich schönzureden. Aber nach wenigen Tagen musste sie erkennen, dass sie besser dran war, wenn sie der Wahrheit ins Auge blickte. Und die war nun mal, dass Ekströms Bokhandel den Anschluss verpasst hatte.

Abgesehen von alteingesessenen Kunden, die ebenso betagt waren wie Johan, blieben potenzielle Buchkäufer aus. Damit verbunden natürlich auch die Einnahmen. Und das, obwohl sich das Geschäft inmitten der wunderschönen Stockholmer Altstadt, der Gamla Stan, befand. Die urigen Gassen mit den gelb-orangen Hausmauern lockten nicht nur Touristen, sondern auch Einheimische an. Trotzdem zogen sie an der Buchhandlung vorbei, statt hineinzugehen, zu stöbern und spontan einen Roman oder einen Bildband mitzunehmen.

Alvas Großvater hatte sich zudem zu sehr auf seinen eigenen Geschmack verlassen, was die Auswahl der Titel betraf. Sicher, er bewies einen fabelhaften Sinn für Dramatik, Biografien und Thriller, aber die Buchwelt bestand aus mehr als diesen drei Genres.

Nach einer gemeinsamen Inventur mit Malin wurde klar: Sie mussten die Bandbreite der angebotenen Bücher unbedingt erweitern. Doch damit allein würde es der Laden immer noch nicht schaffen. Die Frage, auf die Alva so verzweifelt eine Antwort suchte, lautete also: Wie machte sie Ekströms Bokhandel endlich wieder rentabel?

Nach vielen Tassen schwarzen Kaffees, nächtlichen Versuchen, einen Businessplan für den Laden zu erstellen, und einem verzweifelten und frustrierten Aufschrei in dem kleinen Büro des Geschäfts hatte Alva es sich zum obersten Ziel gemacht, Kunden in die Buchhandlung zu locken. Und dabei war es schließlich zu ihrer Kurzschlussreaktion gekommen.

Das Ergebnis hing nun groß, rot und blinkend in dem gemütlichen Schaufenster von Ekströms Bokhandel. Es war grauenhaft.

Alva steuerte auf die Eingangstür zu und nickte Malin entgegen. »Na, los. Holen wir dieses verdammte Ding da wieder runter.«

Zehn Minuten später starrte Alva noch immer auf das vermaledeite Schild, inzwischen lehnte es allerdings an dem kleinen Holztresen im hinteren Teil der Räumlichkeiten. Betrübt hob Alva ihren Blick und ließ ihn durch den geliebten Laden schweifen. Entlang der Wände reihten sich Regale bis vor zum Schaufenster. In der Mitte präsentierte ein länglicher, schmaler Holztisch die aktuellen Angebote. Mit ein paar rustikalen Holzkisten hatte ihr Großvater versucht, die Auslage etwas moderner zu gestalten. Es war ihm nicht gelungen, so viel konnte Alva bestätigen.

Über Alva erstreckte sich der offene erste Stock, der dem Geschäft als Empore diente. Eine schmale Wendeltreppe nahe dem Kassentresen führte innerhalb des Ladens hinauf. Oben gab es weitere Regale und Tische mit Büchern. Außerdem erstreckte sich die Empore nur über die halbe Fläche des Ladens, sodass man von oben über eine hölzerne Brüstung hinab ins Erdgeschoss sehen konnte. Das gab dem Geschäft eine ganz eigene Magie, wie Alva fand.

Ein verblichener knarzender Dielenboden erzählte davon, wie alt die Buchhandlung bereits war. Schon bald hundert Jahre. Alva war nun die fünfte Generation, die sich um das Geschäft kümmerte. Ihr Vater hatte es wohl kaum tun können, trotzdem zählte sie ihn mit. Er hätte den Buchhandel eines Tages übernehmen sollen. Vor Alva. Aber das Schicksal hatte andere Pläne gehabt. Und so stand sie nun hier und grübelte seit sechs Wochen schon, wie sie weitermachen sollte. Die zündende Idee war bisher nicht dabei gewesen.

Aufgrund des alten Mietvertrags zahlten sie derzeit lächerlich wenig Miete. Das war gut so, denn sonst hätte Alva schon längst Insolvenz ankündigen müssen. Malins Gehalt und die derzeitigen Fixkosten speisten sich – und Alva hasste das – aus den hinterbliebenen Ersparnissen ihres Großvaters. Sie fragte sich immer wieder, wie er es bei dem schlecht laufenden Geschäft überhaupt geschafft hatte, etwas zurückzulegen. Als sie ihn zu Beginn ihrer Übernahme darauf angesprochen hatte, hatte er nur gemeint: »Die Zeiten waren nicht immer schlecht, Liebes.«

Super. Immerhin etwas. Allerdings half ihr das in diesem Moment herzlich wenig. Mit einem traurigen Seufzen dachte sie an ihren Farfar. Er fehlte ihr so sehr.

»Kaffee?« Malin tauchte neben Alva auf und hielt ihr eine weiße Porzellantasse mit hellblauen Tupfern hin.

Dankbar nahm sie den Becher mit dem herrlich duftenden Gebräu entgegen. Gemeinsam liefen sie geradewegs wieder hinaus aus dem Laden und setzten sich auf zwei kleine Holzstühle, die links von der Tür vor der Hausmauer standen. Eine einsame gelbe Primel zierte in einem Tontopf das Fleckchen Boden zwischen ihnen.

Mit einem tiefen Atemzug richtete Alva ihr Gesicht gen Sonne und nahm die wohlmeinende Wärme des mittäglichen Frühsommers in sich auf. Kurz darauf musterte sie Malin aufmerksam.

»Keine Ahnung, wie lange wir das hier noch durchziehen können.«

Malin nickte verständnisvoll. »Ich weiß.« Dann legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht. »Ich fühle mich schuldig. Ich hätte viel früher einschreiten müssen.«

Alva schüttelte den Kopf. »Farfar war ein Sturkopf. Du hast es versucht, aber er wollte sich einfach nicht öffnen.«

»Na ja …«

»Erinnerst du dich an den letzten Herbst? Mühsam hast du ihn überredet, endlich Kalender ins Sortiment aufzunehmen. Dass es so etwas jetzt bei uns gibt, haben wir dir zu verdanken.«

Malin lachte leise. »Nur, dass wir trotzdem nicht aus dem Tief gekommen sind.«

»Aber es hat wenigstens ein paar Leute angezogen.« Alva bestand darauf. »Mach dir keinen Vorwurf. Es war nicht dein Job, meinen Großvater zu beaufsichtigen oder ihm die richtige Richtung zu weisen.« Alva lächelte. »Abgesehen davon hätte er sich sowieso nichts vorschreiben lassen. Er respektierte dich und hat dein Wissen verehrt. Aber den Hut hatte nun mal er auf.«

»Du hast recht.« Malin nippte an ihrem Cappuccino. »Trotzdem habe ich das Gefühl, ich hätte mehr machen müssen.«

»Du bist noch hier.«

Fragend blickte Malin auf.

Alva zuckte mit den Schultern und strich über ihre dunkelgrüne Stoffhose, die sich an ihre Beine schmiegte. »Es ist ja schon seit einer ganzen Zeit nicht mehr sicher, wie lange wir den Laden noch halten können. Jede andere hätte längst das Weite gesucht. Aber du bist geblieben.«

Ein scheues Lächeln huschte über Malins Gesicht. »Ich könnte euch … dich nie im Stich lassen.«

Liebevoll drückte Alva die Hand ihrer Freundin. Dann schwiegen die beiden und Alva beobachtete die vorbeiziehenden Menschen. Ekströms Bokhandel befand sich inmitten der Insel Gamla Stan zwischen dem Stockholmer Schloss und der St. Gertrud,einerdeutschen Kirche. Die fast autofreie Insel der schwedischen Hauptstadt setzte sich aus schmalen Gassen und zahlreichen Cafés, Restaurants, Bars und kleinen Läden zusammen. Zu Alvas Leidwesen verschafften sich allerdings immer mehr Ketten Zugang zum Stadtkern. Ihrer Meinung nach verlor die Altstadt dadurch an Gemütlichkeit. Sie wurde austauschbar. Umso wichtiger war es ihr deshalb, Ekströms Bokhandel zu erhalten.

Alvas Gedanken wurden von einem lauten Klingeln unterbrochen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht stoppte ein stämmiger Mann, Mitte fünfzig mit dunkelbraunen Haaren, sein Elektrofahrrad vor ihnen. Wobei, eigentlich war es kein richtiges Fahrrad. Das Gefährt glich mehr einem Miniauto – auf drei Rädern. Schwedens Postboten waren elektrisch unterwegs. Und hier in der Altstadt sowieso. Ole, so hieß der gute Mann, schnappte sich ein Bündel Briefe und reichte es Alva.

»Einen wunderschönen guten Tag, meine Damen!«

»Hej! So gut gelaunt?«, fragte Alva und nahm den Stapel entgegen. Am liebsten hätte sie ihn gleich wieder zurückgegeben, aber das konnte sie wohl kaum tun. Sie würde jede einzelne Rechnung aufmachen müssen. Oh, wie es ihr schon wieder davor graute!

»Es ist ein herrlicher Tag, die Sonne wird wärmer, die Frauen werden schöner – was will man mehr?« Ole lachte laut und herzlich und Alva kam nicht umhin zu lächeln. Seit Jahren schon drehte er die Runde in der Altstadt und teilte auch in dieser Straße Briefe und Päckchen aus.

Ole erinnerte Alva manchmal an einen freundlichen Bären. An Regentagen brummig und kurz angebunden, aber wenn die Sonne hervorblitzte, hob sich seine Laune binnen Sekunden. Dass er mit seinen Aussagen manchmal bewies, dass er noch nicht ganz in einer feministischen Welt angekommen war, nahm sie ihm nicht übel. Er war ein wenig eigen, meinte es aber stets gut mit seinen Mitmenschen.

Seine nächste Frage untermalte Alvas Einschätzung.

»Wie geht es dir inzwischen?« Mitfühlend musterte er sie.

»Den Umständen entsprechend. Ich konzentriere mich auf den Laden, das lenkt mich etwas ab.« Alva unterdrückte eine aufkommende Träne.

»Sag Bescheid, wenn ich etwas für dich tun kann, ja? Egal, was.«

Dankbar nickte Alva. »Lieb von dir.«

Sie plauderten noch ein wenig, dann machte Ole sich wieder auf den Weg und Alva ging seufzend die Briefe durch. Sie öffnete wahllos irgendeinen, faltete das Papier auseinander und rang entsetzt nach Luft. Ihre Traurigkeit verwandelte sich in Ärger.

»Das ist doch … Oh, diese Aasgeier!«

Verblüfft betrachtete Malin sie. »Was ist los?«

Alva sah auf. »Nach Jahrzehnten fällt den Hausbesitzern plötzlich ein, dass sie die Miete erhöhen wollen. Irgendetwas an dem Vertrag läuft demnächst aus, sodass es ihnen möglich ist, neue Bedingungen zu stellen. Das ist … Ich … Oh, verdammt!« Alva fehlten die Worte, um zu beschreiben, wie empört sie war. Ausgerechnet jetzt! Ausgerechnet!

»Was? Das kann nicht sein!«

»Hier, lies.« Alva reichte Malin das Schreiben.

Wenige Sekunden später schaute diese entgeistert auf. »Das ist doch nicht zu fassen. Was machen wir jetzt?«

»Wenn ich das wüsste …« Resigniert barg Alva ihr Gesicht in den flachen Händen. Vor nur zwei Wochen hatte sie ihren über alles geliebten Großvater zu Grabe tragen müssen, und nicht nur, dass der Buchladen bereits am Abgrund stand, nein, jetzt machte man es ihr noch schwerer, als es sowieso schon war. Verzweifelt atmete sie ein, hielt die Luft einige Sekunden an und bemühte sich, ruhig wieder auszuatmen. Niemandem war geholfen, wenn sie jetzt durchdrehte. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren und ihre Möglichkeiten durchgehen.

Nur: Welche Optionen hatte sie überhaupt noch?

 

 

Erschüttert ließ Siljan den handgeschriebenen Brief sinken. Es waren nur wenige Zeilen, und doch drohten sie sein Leben durcheinanderzubringen. Schlimmer noch, sie könnten sein Ende bedeuten. Aber was ihn am stärksten berührte: Er hatte einen Freund verloren. Seinen engsten Freund. Johan Ekström war vor nur zwei Wochen verstorben und Siljan konnte sich kaum vorstellen, wie viel Kraft es ihn gekostet haben musste, diese Worte zuvor noch auf Papier zu bringen und Siljan zukommen zu lassen.

Mitgenommen legte er den Brief auf seinen Schreibtisch und lief zum Fenster. Von seinem Apartment aus konnte er über die Kanäle hinweg die Stockholmer Altstadt überblicken. Ließ er seine Augen weiter nach links wandern, erkannte er Skeppsholmen, eine von den vielen kleinen Inseln, über die sich Stockholm erstreckte. Darauf befand sich das Museum für Moderne Kunst.

Die Sonne glitzerte auf den kleinen Wellen des kurvigen Kanals und Siljan beobachtete, wie die länglichen, niedrigen weißen Schiffe unzählige Touristen auf dem Wasserweg durch die Stadt schipperten. Sein Blick glitt jedoch wieder zurück zur Altstadt. Dort, inmitten der kleinen Gassen, lag der Ursprung seiner Karriere. Sein Anfang. Sein Erfolgsgeheimnis. Einfach alles.

Johan Ekström war der erste Mensch gewesen, der an Siljan geglaubt hatte. Ohne ihn hätte er niemals seinen Debütroman vollendet, geschweige denn hätte er es geschafft, ihn bei einem Verlag zu veröffentlichen. Er war so jung und voller Selbstzweifel gewesen, doch Johan hatte ihn ermutigt weiterzumachen. Natürlich hatte er auch nicht mit Kritik gespart. Doch sie war konstruktiv, niemals verletzend oder persönlich gemeint gewesen. Tagelang hatten sie zusammen über Siljans Skript gesessen, es von allen Seiten beleuchtet, die Geschichte und ihre Protagonisten hinterfragt, ihnen mehr Tiefe verliehen und den Roman schließlich zum Erfolg geführt.

Ohne Johan wäre Siljan nie Schriftsteller geworden. Und schon gar kein erfolgreicher. Niemals. Und jetzt war dieser Mann aus dem Leben geschieden. Siljan hatte seinen Lektor verloren. Seinen schärfsten Kritiker. Seinen Mutmacher. Seinen Vertrauten. Er hatte seinen besten Freund verloren.

Wie immer hatte Johan der Situation die Ernsthaftigkeit genommen, indem er seinen Humor spielen ließ. Doch Siljan kannte den alten Mann gut genug, um die Trauer zwischen seinen Zeilen herauszulesen. Zwischen den beiden mochten gut vierzig Jahre liegen, aber Siljan wusste, wie Johan gewesen war. Gutmütig. Manchmal stur. Immer ehrlich. Oft witzig. Und stets liebevoll umsorgend.

Siljan suchte die Dächer der Altstadt nach diesem einen Kamin ab, der ihm bei der Orientierung half. Wenige Meter links von besagtem Schornstein stand das Gebäude, in dem sich Johans Geschäft, Ekströms Bokhandel, befand. Nach kurzer Suche tauchten die roten Backsteine in Siljans Sichtfeld auf und er erkannte das Haus. Was würde aus dem Laden werden?

Johan hatte eine Enkelin, das wusste Siljan. Er hatte sie allerdings nie kennengelernt. Zwar waren er und Johan eng befreundet gewesen, doch hatte Siljan es vorgezogen, im Verborgenem zu bleiben. Das relativ laxe Namensrecht in Schweden ermöglichte es Siljan einerseits, unter dem Mädchennamen seiner Mutter Romane zu veröffentlichen, andererseits nutzte er für Verträge und Ähnliches wiederum den Nachnamen, den er einst von seinem Vater erhalten hatte. Da seine Eltern vor der Scheidung einen Doppelnamen als Familiennamen geführt hatten, stellte das kein großes Problem dar. Vielmehr half es Siljan, bis heute in der Anonymität unterzutauchen.

Das Autorenprofil, das in Romanen normalerweise abgedruckt wurde, war bei ihm so oberflächlich gehalten, dass man es sich fast hätte sparen können. Natürlich ohne Foto. Und selbst in seinem Mietvertrag stand nur der Nachname seines Vaters. Wenngleich er diesen Umstand an sich hasste, war es für solche Fälle durchaus praktisch.

Seine Gedanken schweiften zurück zu seinem verstorbenen Mentor und dessen Enkelin. Sicher hätte Johan ihn als gewöhnlichen Freund vorstellen können, aber Siljan hatte nie danach verlangt, und wann immer sich die beiden getroffen hatten, hatten sie unweigerlich von seinen Manuskripten, Protagonisten und Geschichten gesprochen.

Siljan strengte sich wirklich an, aber er konnte sich an kein Gespräch erinnern, in dem es nicht darum gegangen war. Was nicht hieß, dass sie nie über Johan gesprochen hatten – oder über andere Themen. Sie hatten es aber eben auch nicht geschafft, sich nicht über Siljans Bücher zu unterhalten. Somit hatte es sich nie ergeben, dass Johan ihm seine Enkelin tatsächlich vorgestellt hatte. Ehrlicherweise war Siljan aber auch nie darauf aus gewesen. Wozu auch? Gleichwohl wusste er alles über sie, denn Johan hatte es geliebt, über Alva zu reden. In jedem seiner Worte hatte Siljan stets die Liebe eines strengen, aber stolzen Großvaters gespürt.

Siljan fühlte sich schrecklich. Die vergangenen vier Wochen hatte er sich in Nordschweden in einer Hütte verschanzt, sich von der Außenwelt abgenabelt und zu schreiben versucht. Es war ihm nicht gelungen. Das allein war schon ein großes Problem. Aber obendrein hatte er deshalb nun tatsächlich die Beerdigung verpasst. Er hatte sich weder vor noch nach Johans Tod von ihm verabschieden können. Vor seiner Abreise hatte er bei seinem Freund vorbeigeschaut, doch dieser hatte darauf bestanden, dass Siljan sich die geplante Auszeit nahm. Er würde noch hier sein, wenn Siljan wiederkäme, hatte er gesagt. Versprochen hatte er es mit einem Lächeln auf den dünnen Lippen. Siljan war so naiv gewesen.

Die Mittagssonne wanderte langsam Richtung Horizont und Siljan riss seinen Blick von der Altstadt und den umliegenden Wasserwegen. Er würde seinem lieben Freund gewiss nicht den letzten Wunsch verwehren. Niemals. Egal wie schwer es für ihn werden würde. Dafür verdankte er Johan zu viel. Er verdankte ihm schlichtweg alles.

 

Es war spät geworden. Wie so oft in den letzten Wochen. Alva schloss die Tür der Buchhandlung von innen ab und starrte durch das Schaufenster hinaus in die kleine Gasse. Der Mai neigte sich dem Ende entgegen und somit wurde es in Schweden kaum mehr richtig dunkel, obwohl es bereits nach neun Uhr abends war. Alva mochte den schwedischen Sommer für gewöhnlich. Er verhieß immer etwas Gutes. So, als würde die Jahreszeit mit einem Lächeln auf das Land hinunterblicken und die Sonnenstrahlen noch weit in die Nacht hineintanzen lassen. Doch dieses Jahr war es anders.

Zumindest fühlte Alva die dunklen Wolken, die das Licht schluckten, um es ihr unten auf der Erde zu verwehren. Tagsüber schob sie den Gedanken an das, was war, so weit von sich, wie sie nur konnte. Doch nun legte sich die Melancholie wieder auf Alvas Seele und drohte, sie in ihre Tiefen zu zerren.

Sie sollte nicht länger trauern. Vielmehr sollte sie an die guten Zeiten mit ihrem Großvater denken. Aber wann immer sie ihn vor sich sah, überkam sie diese unbändige Schwere. Sie vermisste ihn so sehr. Er war ihr Halt im Leben gewesen. Und jetzt … Jetzt fühlte Alva sich einsam und verloren. Die Welt war zu groß für sie. Zu anstrengend. Zu überwältigend. Ihr Farfar hatte ihr mit seiner Liebe geholfen, sich einen Weg durch dieses Chaos, das sich Leben nannte, zu suchen. Wenngleich sie längst erwachsen war, hatte sie weiterhin auf ihn gebaut. Wie sollte sie es nun nur ohne ihn schaffen?

Sie musste nach oben in die ehemalige Wohnung ihres Großvaters gehen, die direkt über dem Laden war. Aber sie konnte nicht. Wieder einmal. Seit dem Tod ihres Großvaters fiel es ihr furchtbar schwer, das Apartment zu betreten. Alles erinnerte sie dort an seine letzten Stunden. Und so blieb sie, wo sie war. An dem Platz am Schaufenster. Sie beobachtete das rege abendliche Treiben. Ein jeder hatte ein Ziel, auf das er zusteuerte. Die Leute stellten sich auf einen gelungenen Freitagabend ein. Alle … bis auf Alva.

Ihre müden Augen glitten über die dämmrige Gasse, den Teerboden, der sich mit Pflastersteinen abwechselte, und die Blumenkästen an den gegenüberliegenden Hauswänden. Lila, weiße und rosa Bartnelken streckten ihre Köpfe empor und erhaschten die fahlen Strahlen der späten Maisonne, die sich über Stockholm legten.

Sie erinnerten Alva an den bevorstehenden Mittsommer. In ziemlich genau vier Wochen feierte Schweden das wohl bekannteste Fest des Nordens. Im ganzen Land zelebrierte man den längsten Tag des Jahres. Blumen, Erdbeeren, Tanz. Wenn es etwas gab, das für Leichtigkeit und Freiheit stand, dann der schwedische Mittsommer.

Alva liebte das alljährliche Zusammenkommen unter den flatternden Wimpeln des Mittsommerbaumes. Aber dieses Jahr? Nein, die Trauer um ihren Großvater war zu groß. Sie versuchte, tapfer nach vorn zu sehen, aber immer wieder spürte sie diesen stechenden Schmerz in ihrem Herzen, der anschließend durch ihren gesamten Körper zuckte und sie daran erinnerte, dass ihr Farfar nicht länger an ihrer Seite war. Er würde ihr nie wieder ein Buch in die Hand drücken und ihr zuflüstern, dass sie die Antwort auf ihre Frage darin finden würde.

Was Alva nur ein weiteres Mal zurück zur Buchhandlung führte, an dessen Fenster sie stand. Sie musste endlich einen Ausweg finden. Lange würde sich der Laden nicht mehr halten können. Ein Konzept musste her. Dringend. Wieder verfiel sie ins Grübeln. Es musste etwas sein, das ungewöhnlich war. Etwas, das niemand erwartete. Etwas, das die Leute aus Neugier magisch anzog.

Noch während Alva in Gedanken versunken hinausblickte, zog eine Frau ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie wartete ein Stück entfernt an der schräg gegenüberliegenden Ecke und trug ein hübsches Sommerkleid, das ihre langen Beine betonte. Eine schmale Handtasche aus rotem Lederimitat baumelte über ihrer Schulter und ihr Blick wanderte nervös den Weg auf und ab. So, als würde sie auf jemanden warten. Ja, vielleicht war sie zu einem Date verabredet?

Je länger Alva die brünette Frau in den Dreißigern beobachtete, desto sicherer war sie sich, dass es sich um eine Verabredung amouröser Art handeln musste. Doch dann störte sie plötzlich etwas. Die Unbekannte hielt ein Buch in den Händen. Gut sichtbar für jeden, der an ihr vorbeikam. Seltsam.

Noch während Alva überlegte, kam plötzlich ein Mann im selben Alter auf die Dame zu und grüßte sie zögerlich. Sie lächelte scheu und nickte. Ein kurzer Wortwechsel, den Alva nicht hören konnte, dann liefen sie gemeinsam los in Richtung Altstadt. Als sie an der Buchhandlung und Alvas Spähplatz vorbeikamen, entdeckte Alva das gleiche Buch auch unter seinem Arm. Verwirrt schaute sie den beiden hinterher. Was hatte es damit auf sich?

Dann, auf einmal, ging ihr ein Licht auf. Das Buch. Natürlich! Es war ein Blind Date. Und der Roman war ihrer beider Erkennungszeichen. So musste es sein!

Ein Lächeln glitt über Alvas Gesicht. In der heutigen Zeit gab es so viele Möglichkeiten, sich mit Fremden zu verabreden und einander im Vorfeld bereits Fotos zu schicken oder Profilbilder zu begutachten. Doch diese beiden schienen es auf die altmodische Art gemacht zu haben. Großartig. Was für eine herrliche Idee! Und dann auch noch mit einem Buch! Für einen Moment zog sich Alvas Trauer zurück. Sie war begeistert. Warum machte man das nicht häufiger so?

Wäre es nicht witzig, wenn man … Alva erstarrte. Ihr Hirn raste. Adrenalin schoss durch ihre Adern. Nein. Auf keinen Fall. Oder vielleicht doch? War das womöglich das Ungewöhnliche, nach dem sie Ausschau gehalten hatte? Der Ausweg? Die Lösung? Die etwas andere Art, neue Leute in den Laden zu locken? Im besten Fall sogar die Rettung für Ekströms Bokhandel?

Seit Wochen überlegte sie krampfhaft, wie sie die Buchhandlung wieder auf Kurs bringen könnte. Vor nur zwei Wochen war die Verantwortung schließlich ganz auf sie übergegangen und gleichzeitig musste sie mit dem schrecklichen Verlust ihres Großvaters zurechtkommen. Hatte sie vielleicht endlich eine Möglichkeit zum Neubeginn gefunden?

Es war gewagt. So viel stand fest.

Eine überraschende Euphorie legte sich auf Alvas blanke Nerven, die von Trauer und Tränen gezeichnet waren. Aufgeregt schweifte ihr Blick durch die angestaubte Buchhandlung. Sekunde um Sekunde verstrich, während die Idee vor ihrem geistigen Auge zunehmend Gestalt annahm.

Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wen du liebst.

Dieser Satz schoss kreuz und quer durch Alvas Gedanken. Bücher waren etwas Wunderbares. Sie brachten Menschen zusammen. Durch gelesene Schicksale, gemeinsame Interessen oder geteilte Leidenschaften – der Literaturgeschmack sagte so viel über eine Person aus. Wann immer Alva jemandes Wohnung zum ersten Mal betrat, begutachtete sie sogleich dessen Bücherregal. Es war faszinierend, wie viel eine Auswahl an Büchern über eine Person erzählen konnte.

War es vielleicht möglich, Menschen genau darüber zusammenzubringen? Eine Art Dating-Match für Buchliebhaber? Es klang verrückt. Trotzdem hatte sich Alvas Herz binnen Sekunden für diese Idee erwärmt. Sie war bei Weitem keine professionelle Kupplerin und schon gar keine Heiratsvermittlerin. Im Gegenteil. Alva konnte ja nicht mal eine eigene erfolgreiche Beziehung vorweisen. Allerdings war das ein ganz anderes Thema, das sie jetzt nicht weiter erörtern wollte.

Alva besaß alles, was man für so eine Idee benötigte. Sie liebte Bücher und kannte sich dank ihres Großvaters bestens in der Literatur aus. Zudem hatte sie Malin an ihrer Seite, die unschlagbar war, was Autoren und Schriftstellerinnen anging. Außerdem besaß Alva ein feines Gespür für ihre Umgebung. Schon als Kind war sie sensibler gewesen als so manch anderer und hatte die Leute um sich herum erstaunlich gut einschätzen können. Würde ihr das hier zugutekommen?

Ohne wissenschaftliche Studien dazu gelesen zu haben, war sie davon überzeugt, dass man Menschen einander näherbringen konnte, wenn man sich deren Autoren- und Literaturgeschmack ansah. Nichts anderes machte man doch bei all den modernen Singlebörsen. Man prüfte die Kompatibilität des einen Singles mit den Interessen und Leidenschaften des anderen. Wurde man neugierig auf die Person, kam es zur Kontaktaufnahme.

War das verrückt? Mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit! Alva würde den Plan noch besser ausarbeiten müssen, aber sie hatte das Gefühl, dass sich dahinter ungeahnte Möglichkeiten verbargen.

Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wen du liebst.

Nach nur wenigen Minuten und unzähligen Gedankensprüngen war Alva bereits in diesen Satz verliebt. Sie würde ihn zum Slogan ihrer Idee machen. Definitiv. Gleich morgen wollte sie dazu recherchieren und ein Konzept erstellen. Was ihr Großvater wohl dazu sagen würde? Zu gern hätte Alva ihn nach seiner Meinung gefragt. Wieder spürte sie den schmerzhaften Verlust in ihrem Herzen. Sie atmete tief durch und schloss die Augen. Vor ihrem inneren Auge erschien das Gesicht ihres Farfars. Die gütigen Augen, das schelmische Lächeln – er nickte ihr zu.

Ja, sie würde es wagen. Keine Ahnung, wie. Aber sie würde es versuchen.

Euphorisiert und müde zugleich fuhr sich Alva durch die schulterlangen blonden Locken, lief in den hinteren Teil der Buchhandlung und griff nach ihrer Handtasche, die auf dem kleinen Tresen auf sie wartete. Noch einmal sog sie den leicht muffigen Duft des Ladens in ihre Lunge. Sie würde Ekströms Bokhandel retten. Auf unkonventionelle Weise vielleicht, aber sie würde es wenigstens versuchen.

Mit diesem Gedanken verschwand sie durch den Hinterausgang, schloss die Tür ab und begab sich hinauf in den zweiten Stock.

 

 

Oben angekommen zückte sie ihren Schlüssel und betrat die Wohnung ihres Großvaters, in der sie selbst solange zu Hause gewesen war. Nun lebte sie wieder hier. Nach dem Studium war sie schon bald ausgezogen und hatte sich am Stadtrand ein kleines Apartment gemietet. Parallel dazu fing sie in der Marketingabteilung eines großen Unternehmens an zu arbeiten. Sie vermisste die Nähe zur Innenstadt, wollte aber trotz ihrer innigen Liebe zu ihrem Großvater mit Mitte zwanzig endlich auf eigenen Beinen stehen. Sie hatte sich gegen eine Ausbildung im Buchhandel entschieden, weil sie unbedingt ausprobieren wollte, ob es vielleicht noch etwas gab, das ihr Spaß bereitete. Aber die Leidenschaft für Büchern war ihr immer geblieben.

Obwohl das nun schon gut acht Jahre her war, hatte Johan ihr Zimmer beinahe unberührt gelassen. Mit Betonung auf beinahe. Lächelnd erinnerte Alva sich daran, als sie vor sechs Wochen wieder zu ihm gezogen und ihr kleines Reich betreten hatte. Noch immer standen die weißen Möbel aus ihrer Studienzeit darin – inzwischen allerdings übersät von Johans Büchern.

Er hatte ihr gemütliches Nest in eine kleine, unordentliche Literaturwelt verwandelt. Beherzt hatte sie die zahlreichen Werke an der Wand auf dem Boden gestapelt und sich ihr Zimmer ein wenig hergerichtet. Es war seltsam, wieder hier zu leben, aber irgendwie auch schön. Sie hatte die letzten Wochen unbedingt an der Seite ihres Großvaters sein wollen. Jeder Moment war kostbar gewesen. Erneut krampfte sich Alvas Herz zusammen.

Sie hatte die kleine, urige Wohnung über der Buchhandlung immer gemocht. Sie war ihr sicherer Zufluchtsort gewesen. Wann immer sie ein Problem gehabt hatte, traurig gewesen war oder nicht gewusst hatte, wohin mit sich und ihren Gefühlen, dann hatte es da diesen Platz gegeben. Und ihren Großvater, der für sie da gewesen war, sie in den Arm genommen und ihr versichert hatte, dass alles gut werden würde. Die Buchhandlung, die Wohnung – das war ihr Zuhause.

Ihr kleines Apartment am Stadtrand war indes verwaist. Einmal pro Woche war Alva hingefahren, hatte sich neue Kleidung geholt und ihre kümmerlichen Blumen gegossen, die diesen Namen vermutlich gar nicht mehr verdient hatten. Ansonsten hatte sie die Zeit im Laden und bei ihrem Großvater verbracht. Jeder einzelne Moment mit ihm war wertvoller gewesen als alles andere in Alvas Leben.

Alva hatte das große Glück eines verständnisvollen Arbeitgebers. Er hatte es ihr, ohne zu zögern, ermöglicht, Urlaub zu nehmen, damit sie sich um ihren Großvater kümmern konnte. Der bezahlte Teil war nun jedoch so gut wie vorüber. Das Jahreskontingent an Urlaubstagen war aufgebraucht. Derzeit zehrte sie von ihren vielen Überstunden. Aber schon ab Mitte nächster Woche musste sie sich entscheiden: Kümmerte sie sich um den vor der Pleite stehenden Laden ihres Großvaters – ihren Laden – oder gab sie auf und kehrte zurück in die sichere Jobwelt? Beides würde sie kaum schaffen. Und sie war noch nie ein Mensch halber Sachen gewesen. Ganz oder gar nicht, war ihre Devise. Nicht immer hilfreich, aber diese Sturheit hatte sie definitiv von ihrem Großvater geerbt.

Sie streifte ihre Schuhe von den Füßen, legte ihre Handtasche auf dem Bett ab und lief durch den Flur hinüber ins Wohnzimmer. Einen Moment lang starrte sie in den nur allzu bekannten Raum. Die abendlichen Sonnenstrahlen fielen durch die Vorhänge und hüllten die Stube, ähnlich wie die Stockholmer Gassen, in ein ganz besonderes Licht. Nur dass hier so manches Staubkorn durch das diffuse Licht tanzte. Wo man auch hinsah, erblickte man Bücher. Ordentlich sortiert in Regalen, aufgeschlagen auf dem Sekretär, gestapelt auf dem Couchtisch. Ein altmodisches Sofa mit grünem Samtbezug sowie zwei dazu passende Sessel verstärkten den leicht angestaubten Eindruck, den man beim Betrachten der Einrichtung gewann. Ein dicker Teppich mit orientalischem Muster schluckte Alvas Schritte, als sie sich einem der gepolsterten Stühle näherte.

Plötzlich zuckte eine Erinnerung durch Alvas Kopf. Der letzte Abend, bevor ihr Großvater schließlich friedlich eingeschlafen war. Sie war gerade aus der Buchhandlung gekommen, hatte auf der Treppe nach oben Karolin, Johans freundliche Pflegerin, getroffen, ein paar Worte mit ihr gewechselt und war dann zu ihm ins Wohnzimmer gegangen. Er lag auf dem Sofa, blass und geschwächt. Sie ignorierte den Anblick, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und zeigte freundlich tadelnd auf die Tabletten auf dem Couchtisch.

»Wie ich höre, willst du deine Tabletten schon wieder nicht nehmen.«

Wäre ihr Großvater nicht so kaputt gewesen, hätte er vermutlich mit den Augen gerollt. Doch er begnügte sich diesmal mit einem verächtlichen Ausdruck auf dem Gesicht. »Spioniert Karolin für dich? Ich wusste, dass es keine gute Idee ist, diese Frau anzustellen.«

»Weder spioniert Karolin noch ist sie hier angestellt, Farfar. Sie ist einfach nur da, um dir zu helfen.«

»Ja, ja. Das sagst du immer wieder.« Er seufzte theatralisch. »Sie bringt Unordnung in meine Bücher.«

Alva grinste ihn an. »Weil du sie überall liegen lässt.«

»Das nennt man Wohnen, mein liebes Kind.« Johan tätschelte die Hand seiner Enkelin. »Wozu soll ich die Pillen nehmen? Dafür ist es ohnehin viel zu spät. Ich verbringe den Abend lieber mit klarem Kopf und meiner Lieblingsenkelin.«

Alva musste schmunzeln. »Du hast nur eine Enkelin.«

Eisern hielt ihr Großvater dagegen: »Und trotzdem kann sie meine Lieblingsenkelin sein.«

»Du bist unverbesserlich.« Sie strich ihm über die runzeligen Finger. »Wie geht es dir heute?«, fragte sie leise, ohne zu wissen, dass dies sein letzter Abend bei ihr sein würde.

Ein Lachen zierte die Lippen des Dreiundsiebzigjährigen, doch in seinen Augen erkannte Alva den Ernst des Lebens.

»Es geht mir gut. Mach dir keine Sorgen, mein Schatz.«

Sie ahnte, dass er log. Aber sie ließ es ihm durchgehen. Was hätte es genützt, darüber zu diskutieren? Es hätte das Schicksal in jenem Moment nur realer werden lassen. Und das wollte Alva gar nicht. Sie wollte nicht daran denken, dass es mit ihrem Großvater zu Ende ging. Sie wollte nicht daran denken, dass sie bald schon ganz allein sein würde. Nein, das wollte sie einfach nicht. Also spielte sie das Spiel ihres Farfars mit.

»Sehr gut!« Sie lächelte mühsam. »Hast du Hunger? Ich könnte uns noch etwas kochen, wenn du magst.«

»Ich habe keinen Appetit, aber iss ruhig etwas. Du hast einen langen Tag hinter dir.«

Aufmerksam musterte sie ihren Großvater. Seit Wochen schon aß er nicht mehr genügend. Man sah es seinem Körper an. Schlaff und viel zu schlank lag er da auf dem Sofa, eingehüllt in eine Decke – mitten im aufkommenden Sommer. Kein Vergleich zu dem kräftigen Mann, der er noch letztes Jahr um diese Zeit gewesen war.

Alva erhob sich schließlich, band ihre Locken zu einem unordentlichen Zopf zusammen und klopfte sich auf die Oberschenkel. »Ich mache uns schnell ein paar Brote und dann reden wir über dieses Buch, das du mir letzte Woche gegeben hast.«

Ohne seine Widerworte abzuwarten, verschwand Alva in der Küche und kehrte wenig später mit zwei Tellern zurück. Butterbrote, Käse, saure Gurken und ein paar Tomaten mitsamt einem Kräuterquark-Dip. In Gedanken umarmte sie Karolin mal wieder, denn sie pflegte nicht nur Johan, sondern sorgte auch für einen vollen Kühlschrank, wenn Alva es zeitlich nicht schaffte einzukaufen.

»Also …« Alva setzte ihrem Großvater einen Teller vor, half ihm, sich aufzurichten, und ließ sich dann ihm gegenüber in einem der Sessel nieder. Sie zog ihre Beine im Schneidersitz an sich, balancierte ihren Teller auf dem linken Knie, und obwohl sie hundemüde war, tat sie das, was sie seit einem Monat jeden Abend getan hatte. Sie verwickelte ihren Großvater in lange Gespräche über Bücher, Schriftsteller und das Leben.

Sie sog jedes seiner Worte auf – ganz so, wie es sich anfühlte, nämlich als das vielleicht letzte Beisammensein, das sie je mit ihm haben würde. Sie klammerte sich an jeden seiner Sätze, verinnerlichte jedes Lächeln und jedes Aufblitzen in den blauen Augen, die sie von ihm geerbt hatte.

Stundenlang saß sie mit ihm Abend für Abend zusammen, solange seine Kraft es zuließ. Dann half sie ihm in sein Bett, kümmerte sich um den Haushalt und schlief selbst nur wenige Stunden, bevor sie am nächsten Morgen früh aufstand, um mit Johan und Karolin gemeinsam zu frühstücken und danach in den Laden hinunterzugehen.

»Reden wir über Lena Andersson und Der gewöhnliche Mensch.« Sie hatte das Buch erst am Vortag beendet. Ja, bei allem, was um sie herum passierte, schaffte sie es immer noch zu lesen. Das lag aber vielleicht auch daran, dass sie in den wenigen Stunden, die sie zum Schlafen zur Verfügung hatte, einfach kein Auge zubekam. Indem sie in den Büchern versank, die ihr Großvater ihr gab, fand sie immerhin etwas Ablenkung. Selbst wenn es gesellschaftskritische Romane waren. Oder Biografien. Es war ganz gleich. Alles lenkte sie irgendwie von dem nahenden Tod ihres geliebten Farfars ab.

»Was hältst du von Ragnar, dem Protagonisten?« Johan hatte zu Alvas Freude nach einer sauren Gurke gegriffen und betrachtete sie zwar mit müden, aber dennoch interessierten Augen.

Die nächsten zwei Stunden nahmen sie Handlung, Charaktere und Schreibstil samt Erzählperspektive des schwedischen Romans auseinander und diskutierten angeregt über das Selbstbild des Protagonisten Ragnar Johansson. Alva war dankbar, dass vielleicht der Körper ihres Großvaters aufgeben mochte, nicht jedoch der Verstand des alten Mannes. Sie liebte es, mit ihm über Literatur zu sprechen. Sie waren nicht immer einer Meinung, aber das machte es nur spannender. Mitunter wurde Alva zu leidenschaftlich und vergaß die klaren Regeln, die ihr Großvater für diese Gespräche aufgestellt hatte. Sie wurde lauter, ausschweifender und auch mal viel zu persönlich. Aber so war sie eben.

Ein maßregelnder Blick von Johan holte sie meist wieder auf den Boden zurück und sie lehnte sich nach einer aufgebrachten Rede in ihren Sessel. Grinsend wandte sie sich dann an ihn und meinte abschließend: »Aber recht habe ich dennoch.«

Ihr Großvater liebte sie. Also stimmte er in der Regel zu und widerlegte ihre Worte dann doch wieder mit seinem nächsten Argument. So lief es beinahe immer. Aber Alva genoss diese Scharmützel. Den ganzen Monat vor Johans Tod hatte sie nichts anderes getan, nur um so viel Zeit wie irgend möglich mit ihrem Großvater zu verbringen.

Alva unterdrückte schließlich ein Gähnen und auch ihr Großvater schien für jenen Abend Schluss machen zu wollen.

Lächelnd betrachtete er sie. »Ich bin sehr stolz auf dich, Alva. Vergiss das nie.«

Sie schluckte schwer. »Ich weiß.«

Er winkte sie zu sich rüber und Alva erhob sich, um sich auf die Sofakante zu setzen. Johan nahm ihre Hand in seine. »Weine nicht zu lange um mich, hörst du? Jedes Leben geht einmal zu Ende. Wichtig ist, dass ich dir in Erinnerung bleibe. Und jedes Lachen von dir werde ich spüren. Ganz egal, wo ich bin. Also versprich mir, dass du bald wieder lachen wirst, ja?«

Stumm blickte sie ihrem Farfar in die Augen. Mühsam suchte sie nach Worten. »Wie kann ich lachen, wenn du fort bist?« Eine Träne schummelte sich über ihre Wange und ihre Lunge drohte bereits in diesem Moment zu kollabieren.

»Ich bleibe in deinem Herzen, in deinen Gedanken, in deinen Erinnerungen. Ich bin eigentlich gar nicht fort. Und je lauter und aufrichtiger du lachst, desto besser werde ich dich hören können.« Ermattet drückte er ihre Hand. »Ich liebe dich, Alva. Und ich wünsche mir, dass du glücklich bist. Lache dem Schicksal entgegen und es wird dir immer gewogen sein.«

Eine weitere Träne lief über Alvas Gesicht und sie hasste es. Sie unterdrückte ihren Ärger, dennoch sagte sie beinahe anklagend: »Das klingt wie eine Abschiedsrede. Ich will keinen Abschied, Farfar.«

Johan lächelte mild. »Er ist unausweichlich. Und das ist in Ordnung.«

Alva erhob sich schnell, griff nach den leeren Tellern auf dem Couchtisch und wandte sich mit Tränen in den Augen ab: »Ist er nicht.«

»Alva …« Die leise Stimme ihres Großvaters ließ sie innehalten. Langsam drehte sie sich um. »Versprich mir, dass du bald wieder lachen wirst.«

Kaum fähig zu antworten und mit zitternden Händen musterte sie den wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Er sah sie so bittend, ja geradezu flehend an; wie hätte sie sich ihm widersetzen können? Besonders in diesem Augenblick? Also nickte sie.

»Gut. Und jetzt gib deinem Großvater einen Kuss, bevor du das Geschirr in die Küche bringst.«

Alva stellte die Teller ab, begab sich zu Johan und umarmte ihn fest. Dann drückte sie ihm einen Kuss auf die immer noch blasse Wange und wisperte: »Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch, mein Schatz. Ich dich auch.«

Kurz darauf brachte sie das Geschirr in die Küche. Als sie zurückkam und ihrem Großvater ins Bett helfen wollte, war er bereits eingeschlafen. Langsam hob und senkte sich seine Brust unter der Wolldecke. Eine Weile betrachtete Alva ihn.

Er war ein Sturkopf. Ein schrecklicher Sturkopf. Aber sie liebte ihn von ganzem Herzen. Sie hatten es nicht immer einfach gehabt. Aber wer hatte es heute schon leicht? Es gehörte quasi zum guten Ton, dass einem Widrigkeiten widerfuhren. Nur so würde man fürs Leben lernen, pflegte ihr Großvater zu sagen. Und vermutlich hatte er recht. So wie eigentlich immer.

Alva nahm sich eine weitere Wolldecke und kuschelte sich in ihren Sessel. Sie wollte in dieser Nacht hier bei ihm bleiben. Sie hatte das Gefühl, seine Nähe spüren zu müssen. Solange es noch möglich war.

Am nächsten Morgen war Johan nicht mehr aufgewacht.

Jetzt, zwei Wochen später, stand Alva im Wohnzimmer ihres Großvaters und dessen Bild mitsamt den Erinnerungen verblasste in Alvas Kopf. Tränen strömten nun wieder über ihr Gesicht. Vor vierzehn Tagen war ihr Farfar friedlich eingeschlafen. Er war fortgegangen. Hinüber in die Welt von Odin und Thor. Seinen mystischen Nordmännern. Wie weit er wohl schon mit dem Sortieren der dortigen Bibliothek vorangekommen war? Unter all der Traurigkeit verschaffte sich ein kleines Lächeln Zugang zu Alvas Lippen.

Dankbar dachte sie an Karolin, Johans Pflegerin. Während Alva an jenem Morgen wie betäubt da gesessen hatte, hatte die freundliche Frau in den Fünfzigern das Kommando übernommen und sich um alles gekümmert. Die offizielle Feststellung des Todes durch einen hinzugerufenen Notarzt, den Abtransport des Leichnams, die Papiere, die in solch einem Fall ausgefüllt werden mussten – alles. Karolin war Alvas kleiner Schutzengel, der ihr all das ungefragt abgenommen hatte.

Wenige Tage nach Johans Ableben fand schließlich die Beisetzung statt. Da es seit Wochen absehbar gewesen war, dass dieser Tag kommen würde, hatte Johan vorgesorgt. Bitter dachte Alva an die Vorkehrungen, die er getroffen hatte. Ihr war nur noch die Aufgabe geblieben, beim Bestattungsunternehmen anzurufen und den Stein ins Rollen zu bringen. Ihr Farfar hatte bereits alle Entscheidungen getroffen gehabt. Für sie gab es nichts mehr zu tun. Sogar die Benachrichtigung seiner Freunde und Bekannte für den Fall der Fälle hatte Johan über das Institut organisieren lassen. Johan hatte einfach an alles gedacht. Trotz seiner schlechten Verfassung. Er hatte alles Denkbare getan, um ihr den Abschied so leicht wie nur möglich zu machen. Nur eines hatte er nicht bedacht. Nämlich dass er ihr damit die Möglichkeit nahm, mit ihrer Trauer abzuschließen.

Sie war dankbar, dass Johan nicht hatte leiden müssen und er seinem Tod selbst mit Humor entgegengeblickt hatte. Auch wusste sie es zu schätzen, dass er ihr die Organisation rund um seine Beerdigung abgenommen hatte. Doch gleichzeitig hatte Alva das Gefühl, als würde ihr damit etwas fehlen. Der Trauerprozess, den sie durchlief … Er wollte nicht enden. Und manchmal fragte sie sich, ob das Kümmern um die Beerdigung ihr beim Abschiednehmen vielleicht mehr geholfen hätte. Ihr Herz fühlte sich unendlich schwer an und ihre Seele war von dunklen Wolken umgeben. Sich um die letzte Ehre für ihren Farfar zu kümmern, hätte ihr vielleicht einen leichteren Umgang mit dessen Tod beschert? Sie wusste es nicht. Und sie würde es wohl nie erfahren. Eine Beerdigung konnte man ja schlecht wiederholen.

Von der Euphorie, die Alva noch vor wenigen Minuten unten im Laden durchströmt hatte, war nicht mehr viel übrig geblieben. Niedergeschlagen ließ sie sich auf den Sessel im Wohnzimmer sinken, stützte ihren Kopf in die Hände und weinte. Beinahe panisch verdrängte sie die Gedanken an die Beisetzung, die qualvollen Momenten, in denen die Menschen ihr Beileid bekundet hatten, und daran, wie sie heimlich geflohen war und sich in der Wohnung versteckt hatte. Wie sehr wünschte sie sich, sich einfach an die Schulter ihres Großvaters lehnen zu können und ihn wieder bei sich zu haben.

 

Verbrannt. So fühlte sich Siljan. Verbrannt. Und unschlüssig. Die Nachricht, die Johan ihm hatte zukommen lassen und die Siljan erst heute Mittag erhalten hatte, beunruhigte ihn.

Wieder stand er an seinem Fenster, einen Drink in der Hand und mit den Gedanken bei seinem Freund. Unwillkürlich verspürte Siljan jedoch noch ein anderes Gefühl als Trauer. Was war es? Er mochte es kaum genauer betrachten. Der Griff um sein Glas verstärkte sich, während er die andere Hand in die Tasche seiner dunklen Jeans gleiten ließ. Er runzelte die Stirn und starrte weiter hinaus auf die Stadt. Mühsam versuchte er, sich zu wehren, aber sein Charakter war zu schwach. Er war wütend. Ja, wütend!

Johan Ekström war sein wichtigster Vertrauter gewesen, er verdankte ihm alles und trotzdem war er wütend auf ihn. Nicht nur, dass dessen Herz aufgegeben hatte. Nein, der alte Mann hatte Siljan in seinen letzten Tagen doch wahrhaftig mit einer Bitte betraut, die er nie im Leben würde erfüllen können. Siljan war nicht dafür gemacht. Er hatte die Einsamkeit gewählt. Er war ein Wolf. Ein Einzelgänger, der sich von dem Rudel, der lebendigen Stadt, abgewandt hatte. Aus guten Gründen.

Und obwohl Johan das wusste, verlangte sein Freund das genaue Gegenteil von ihm. Und wie könnte Siljan es ablehnen? Nach allem, was dieser Mann für ihn getan hatte? Außerdem wäre er kaum fähig, einem Verstorbenen einen Gefallen abzuschlagen. Wie denn auch? Es wäre ungeheuerlich. Das Letzte.

Siljan nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bourbon und wünschte, Johan würde weiterhin in seiner Wohnung leben, in seiner Buchhandlung sitzen und sie würden gemeinsam an der Fassung seines nächsten Romans arbeiten. So wie in all den vergangenen Jahren auch.

Noch so ein Thema, das Siljan derzeit schier zur Verzweiflung brachte. Er sollte endlich anfangen zu schreiben. Den gesamten Nachmittag hatte er an seinem Schreibtisch gesessen, aber es war ihm nicht gelungen. Immerzu hatte er auf seinen aufgeklappten Laptop gestarrt. Während er in der Vergangenheit mehrere Tausend Wörter an einem Tag verfasst hatte, schaffte er aktuell nicht mal einen Satz. Er kam ja nicht mal bis zum ersten Komma!

Die Leere in ihm machte Siljan zu schaffen. Seit er von Johans Tod erfahren hatte, erst recht. Schon davor schien etwas schiefgelaufen zu sein, aber nun ganz besonders. Als würde ein Fluch auf ihm lasten. Ein Fluch, den er nicht zu benennen und noch weniger zu verbannen wusste. War es narzisstisch, an sich und seine eigenen Probleme zu denken, während man gleichzeitig nicht über den Tod seines besten Freundes hinwegkam?

Siljan hatte keine Ahnung. Klar war allerdings, dass sein Leben gerade dabei war, in dunklen Flammen aufzugehen, so wie die Seiten eines alten Buchs, das man in den Kamin geschleudert hatte. Irgendjemand hatte Siljans Leben in ebenjenes Feuer gestoßen. Seite für Seite verwandelte es sich in Asche. Erst hatte man ihm seine Inspiration genommen, dann seinen guten Freund und Lektor. Und jetzt? Jetzt nahm man ihm auch noch die gewählte Einsamkeit, die ihm so wichtig war. Überlebenswichtig.

Wie das sein konnte? Johans letzter Gefallen, den Siljan für ihn erledigen sollte. Mit einem dumpfen Gefühl im Magen dachte er an die Enkelin seines Freundes … an Alva.

Wieder mogelte sich dieses wütende Gefühl in seinen Körper, der ihm selbst schon immer viel zu groß vorgekommen war. Ihm war, als böte dieser eine ganze Menge Platz für unwillkommene Emotionen und Zweifel aller Art. Siljan hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, diesen keinen Raum zu geben und sie Mal für Mal in eine Kiste zu packen und diese zu all den anderen zu stellen, die sich mit der Zeit in seinem Leben angesammelt hatten. Und das waren einige.

Manchmal, dachte Siljan genervt, entsprach er wirklich diesem anstrengenden Klischee eines sensiblen Schriftstellers. Sollte man gar nicht meinen bei dem Genre, das er mit seinen Romanen bediente. In seinen Thrillern starben Menschen. Sie wurden auf die seltsamsten Weisen getötet und durchlitten unvorstellbare Qualen. Es lag ihm, komplexe Handlungsstränge verständlich und auf hohem Niveau in Worte zu fassen. Seine Protagonisten besaßen versteckte Stärken, beeindruckende Charakterzüge und immer ein gewisses Maß an Selbstironie. Das war es, was seine Bücher so erfolgreich machte. Sogar international.

Ironie, ja, die besaß Siljan auch. Wenngleich auch in unpassenden Momenten. Aber abgesehen davon war er ein zurückgezogener Mensch, der die Gesellschaft eines Laptops die echter Menschen vorzog. Konversation war nicht sein Steckenpferd und ironischerweise lagen ihm Worte nicht besonders – also in echten Gesprächen. Wenn er schrieb, hatte er lange genug Zeit, sich die richtige Formulierung auszudenken. Beim Reden klappte das nicht. Da musste er sofort antworten. Und oft genug wählte er die falsche Reaktion. Hinterher war er immer schlauer. Aber dann war es meist zu spät. Seine letzte Freundin – und diese Beziehung war lange her – konnte ein endloses Lied davon singen.

Siljan war nicht für den Umgang mit Menschen gemacht. Er schrieb Bestseller und unterhielt die Leute damit. Aber er selbst? Nein, er war kein Entertainer. Die Einsamkeit war sein verlässlicher Partner. Doch jetzt wurde er gezwungen, ihr abzuschwören. Weil er seinem verstorbenen Freund einen Gefallen schuldete.

Mit einem lauten Knall stellte er das Glas auf seinem Schreibtisch ab und raufte sich die Haare. Er musste sich einen Plan einfallen lassen. Einen wirklich guten. Einen besseren, als er für all seine Bestseller je aufgestellt hatte.

 

 

Am nächsten Vormittag betrat Siljan mit zwiespältigen Gefühlen Ekströms Bokhandel. Unauffällig sah er sich in dem Laden um, der für ihn die Wiege all seines Erfolges als Schriftsteller darstellte. Sofort überfiel ihn ein Gefühl der Wehmut. Im Geiste konnte er Johan vor einem der Regale stehen sehen, wie er nach einem bestimmten Roman suchte, den er Siljan zeigen wollte. Sein Blick glitt weiter zu einer kleinen Sitzecke im hinteren Teil der Buchhandlung. Oft hatten er und Johan dort bei einem Glas Bourbon gesessen und über seine Protagonisten und deren Motive sinniert.

»Hej, ich bin Alva. Kann ich dir weiterhelfen?«

Die sanfte Stimme einer jungen Frau erklang in Siljans Ohren und er löste sich aus seiner vorübergehenden Starre. Er neigte den Kopf zur Seite und schaute in das Gesicht von Alva, Johans Enkelin. Er hatte gewusst, dass sie es war, noch bevor sie sich vorgestellt hatte.

Ihre klaren blauen Augen richteten sich freundlich auf ihn, doch er spürte die Trauer in ihrem Blick, wenngleich sie es mit einem Lächeln zu übertünchen versuchte. In ihrer Frage schwang die typisch persönliche schwedische Anrede des Du mit und für einen Moment wusste Siljan kaum, was er darauf antworten sollte. Dann fiel ihm ein hochformatiges Plakat auf. Unbedarft deutete er darauf und räusperte sich. »Was hat es damit auf sich?«

Ein Lächeln glitt über Alvas leicht rosige Wangen.

»Unser neuestes Event bei Ekströms Bokhandel. Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wen du liebst. Wir bringen Menschen allein anhand ihres Literaturgeschmacks zusammen. Das perfekte Match mal anders, sozusagen.« Sie nickte ihm schmunzelnd zu. »Willst du es mal ausprobieren?«

Auf gar keinen Fall, dachte Siljan entsetzt. Doch dann bemerkte er in einem der Regale einige seiner Romane und wurde wieder daran erinnert, weshalb er hier war. Er riss sich mühsam zusammen und schluckte seinen Widerstand hinunter. Dann setzte er ein, wie er hoffte, interessiertes Lächeln auf. »Und das funktioniert wirklich?«

Siljan bildete sich ein, einen unsicheren Ausdruck auf Alvas Gesicht zu sehen, doch schnell wurde dieser durch ein energisches Nicken verdrängt.

»Natürlich. Unser Büchergeschmack sagt so viel über uns als Person aus. Geht es dir nicht auch so, dass es Menschen mit dem gleichen Sinn für Literatur viel eher in deinen Freundeskreis schaffen als andere?«

Um das zu bestätigen, müsste Siljan erst mal einen richtigen Freundeskreis vorweisen können. Etwas, das mit seiner selbst gewählten Einsamkeit nicht zusammenging. Trotzdem nickte er langsam. Er würde Alva gewiss nicht als Erstes über sich erzählen, dass er ein vereinsamter, allein lebender und absolut seltsamer Mann war.

Alva schien das als Zustimmung zu reichen, und sie drückte ihm einen Flyer in die Hand, der stark vermuten ließ, dass er aus Johans altem Drucker im Laden stammte.

»Bücher bringen Menschen zusammen, warum sollte man damit nicht auch einen Partner fürs Leben finden?«

Sie lachte und Siljan musterte sie unauffällig, wie sie so da stand in ihrem geblümten weißen Sommerkleid, den braunen Sandalen, die sich an ihre zierlichen Füße schmiegten, und den kurzen blonden Locken, die um ihr Gesicht herumflatterten.

Einmal mehr verfluchte Siljan seinen lieben Freund. Wie sollte Siljan es mit dieser Frau aufnehmen? Er hatte vielmehr den Eindruck, dass sie ihm eines Tages helfen würde anstatt andersherum.

Alva ließ ihn nicht so schnell davonkommen. Sie eilte zur Theke und kam kurz darauf mit einem Klemmbrett und einer Liste wieder. Sie hielt sie ihm entgegen, ebenso einen Kugelschreiber. Siljan hätte schwören können, dass ihre Hand dabei ein wenig zitterte. Er nahm ihr beides ab und schaute fragend auf.

Schwungvoll deutete sie auf das Papier. »Trag dich mit deinem Namen ein, was du als Letztes gelesen hast, welches Genre du bevorzugst und wer zu deinen Lieblingsautoren gehört. Und natürlich auch, was dein absolutes Lieblingsbuch ist.« Ihre Stimme überschlug sich nervös und sie bemühte sich sichtlich, ihn nicht zu überfordern.

Siljan musterte das Dokument, dann sah er wieder auf. »Ich bin der erste Teilnehmer?«

Ein an Hysterie grenzendes Lachen ertönte, doch Alva gewann sogleich wieder die Kontrolle darüber. »Der Erste auf dieser Liste. Die vorherige war bereits … voll.« Sie nickte geschäftig. »Genau, die war schon voll. Ratzfatz.« Sie räusperte sich. »Das Event wird der Renner.« Sie stemmte die Hände in die Taille und betonte unbewusst ihre hübsch anzusehenden Kurven, wie Siljan unwillkürlich feststellte.

Plötzlich legte sich ein Schmunzeln auf seine Lippen. Alva redete Unsinn. Sie wusste es. Er wusste es. Und es erinnerte ihn daran, wie gut Johan darin gewesen war, Menschen zu etwas zu überreden, von dem er zwar selbst überzeugt war, aber streng genommen eigentlich keine Ahnung hatte. Etwas, das Alva offensichtlich von ihrem Großvater geerbt hatte.

Siljan überlegte. Er hatte bei Weitem keine Lust auf Speeddating. Im Gegenteil. Aber dieses ungewöhnliche Event gab ihm vielleicht die Möglichkeit, nach der er gesucht hatte. Er würde vorübergehend ein Teil von Alvas Leben werden, ohne erklären zu müssen, woher er ihren Großvater gekannt hatte. Wie Siljan wusste, hatte Johan nie über seine Freundschaft zu ihm gesprochen. Alva wusste also nicht, dass es ihn im Leben ihres Großvaters gegeben hatte.

Siljan wollte die junge Frau nicht anlügen, gleichwohl würde er ihr aber auch nicht die Wahrheit sagen. Denn das würde bedeuten, ihr mitzuteilen, dass er ein internationaler Bestsellerautor war. Johan hatte sein Geheimnis gut gehütet und Siljan würde jetzt nicht anfangen, diese Taktik zu ändern. Dazu kannte er Alva nicht gut genug.

Johan hatte sicherlich nicht diese Art von Annäherung gemeint, als er seine letzte Bitte an Siljan gerichtet hatte. Aber man musste sich eben anpassen. Und wenn Siljan seine Anonymität bewahren konnte und trotzdem seine Schuld begleichen wollte, indem er nun an einem verdammten Speeddating teilnahm, dann sollte es um Himmels willen wohl so sein. Er hätte es gern vermieden, aber er riss sich zusammen und füllte den Fragebogen schließlich so gewissenhaft wie möglich aus.

Ein Seufzen unterdrückend reichte er Alva das Klemmbrett. Mit leuchtenden Augen überflog sie seine Angaben. Dann blickte sie auf.

»Siljan? Wie Siljan Dahlberg, der Thrillerautor?«

Ah, warum hatte seine Mutter ihm nur einen Vornamen gegeben, den sich die Menschen merken konnten? Mühsam hielt er seine Fassade aufrecht und begann sein Netz aus Umschiffungen zu spinnen. Vielleicht hätte er sich einfach einen Namen ausdenken sollen. Aber nein, dafür war er wieder zu ehrlich – und nicht gut genug im Lügen. Es war ein Drama! Selbst verschuldet.

---ENDE DER LESEPROBE---