Moffenkind - Jörg Böhm - E-Book

Moffenkind E-Book

Jörg Böhm

4,8

  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Eine verbotene Liebe. Eine Kreuzfahrt in die Vergangenheit. Feierlich tritt die »Star of the Ocean« von Hamburg aus ihre Jungfernfahrt zu den Metropolen Westeuropas an. Mit an Bord ist Wilhelmina Nissen, Matriarchin einer Hamburger Kaffeerösterei. Sie hütet ein schreckliches Geheimnis, das bis in die Kriegswirren von 1942 zurückreicht. Eva Bredin begleitet ihre Großtante. Sie folgt den Spuren ihrer Freundin Sanne, die vor zwanzig Jahren auf mysteriöse Weise verschwand. Doch während der Kreuzfahrt werden ausgerechnet die beiden Passagiere ermordet, die Eva der Wahrheit ein großes Stück näherbringen sollten, und die dunkle Familiengeschichte wird ihr zum Verhängnis ...

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Seitenzahl: 494

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Über den Autor

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Epilog

Danksagung

Jörg Böhm

Moffenkind

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2016 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com

eISBN 978-3-8271-8323-1

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing

www.ansensopublishing.de

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

 

Über den Autor:

Der Journalist Jörg Böhm (*1979) war nach seinem Studium der Journalistik, Soziologie und Philosophie unter anderem Chef vom Dienst der Allgemeinen Zeitung in Windhoek/Namibia, um dort von Land und Leuten und den Geschichten des Schwarzen Kontinents zu berichten. Danach arbeitete Jörg Böhm als Kommunikationsexperte und Pressesprecher für verschiedene große deutsche Unternehmen. Seit 2014 widmet er sich nur noch seinen schriftstellerischen Tätigkeiten. Neben dem 1. Kreuzfahrtkrimi „Moffenkind“, den er exklusiv in Kooperation mit der Reederei AIDA Cruises und für die AIDAprima und deren Metropolenroute geschrieben hat, sind mittlerweile drei Krimis um seine dänisch-stämmige Kriminalhauptkommissarin Emma Hansen erschienen („Und nie sollst du vergessen sein“, „Und die Schuld trägt deinen Namen“ sowie „Und ich bringe dir den Tod“). Aktuell schreibt er an seinem vierten Emma-Hansen-Krimi, der im März 2017 erscheinen wird. Als bester Nachwuchsautor wurde er für seinen ersten Krimi „Und nie sollst du vergessen sein“ mit dem Krimi-Award „Black Hat“ ausgezeichnet.

Mehr über Jörg Böhm und seine Aktivitäten erfahren Sie unter

www.jörgböhm.com

Foto: Beate Zoellner

Für Borris Brandt

und sein Vertrauen in mich und in dieses Buch

Die wichtigste Stunde in unserem Leben ist immer der gegenwärtige Augenblick; der bedeutsamste Mensch in unserem Leben ist immer der, der uns gerade gegenübersteht; das notwendigste Werk in unserem Leben ist stets die Liebe.

Leo Tolstoi

Prolog

Freitag, 16. Juli 1995

Sie wachte auf. Benommen und schwach. Um sie herum war es dunkel. Tief und schwarz. Alles schien sich zu drehen. Wie in einem Karussell. Immer schneller und schneller.

Wo bin ich, fragte sie sich, während sie versuchte, sich zu erinnern.

Die Wahrheit! Ja, sie war zu ihnen gegangen, um die Wahrheit herauszufinden. Hatte nur mit ihnen reden wollen. Hatte es tun müssen. Es war ihr Auftrag gewesen. So hatte sie den Wunsch verstanden, der an sie herangetragen worden war.

Was danach passiert war, wusste sie nicht mehr. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sie hatte einfach kein Gefühl, wie spät es war oder welchen Wochentag der Kalender anzeigte. Es war, als habe jemand anderes ihr Leben gelebt. Und sie musste dafür nun die Konsequenzen tragen.

Sie prustete los. Ihr Mund war trocken und rau und ihre Lungen schienen wie verklebt zu sein. Sie wollte schreien, doch ihre Rufe verhallten hölzern und matt. Sie trat und schlug um sich. Wie ein Käfer, der auf dem Rücken lag und endlich wieder auf die Füße kommen wollte, um davonzufliegen. Doch ihre Hände und Füße – kaum in Bewegung – berührten etwas Hartes, Unnachgiebiges. Sollte sie nach dem Blackout so kraftlos sein?

Sie versuchte es erneut und spürte, wie die Wucht ihrer Schläge zunahm – und doch ließen sich die Wände um sie herum nicht einen Millimeter bewegen. Sie war gefangen. „Mami, bitte hilf mir!“, flehte sie. Aber sie ahnte, dass Mami sie nicht hören würde. Dass niemand sie hören würde.

Das Blut rauschte in ihren Ohren, als sie begriff, was mit ihr passiert war. Und wo sie war: In einem Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gab. Lebendig begraben.

Kapitel 1

20 Jahre später

Amsterdam, Montag, 6. Juli 2015

Kornelius Adams stand in der Bloemgracht, gegenüber des Pflegeheims „Morgenrood“, und zitterte am ganzen Körper. Er schwitzte und spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken herunterlief. Aber es war nicht der Schweiß eines weiteren heißen Sommertages, es war der nackte, kalte Schweiß der Angst, und er fragte sich, was nun alles über ihn hereinbrechen würde.

Eine Angst, die längst Besitz von ihm genommen hatte. Aus einem geordneten, strukturierten Leben voller bekannter Antworten war ein unbezähmbares Chaos an noch nie gestellter Fragen und widersinnigster Mutmaßungen geworden.

Die Straße an einer der bekanntesten Amsterdamer Grachten, nicht weit vom Anne Frank Haus entfernt, war belebt. Radfahrer schossen wie Kugeln in einem Flipperautomaten über den sommerlichen Asphalt, ein Paketbote war gerade dabei, seine sperrige Fracht auf einem Sackkarren zu stapeln und ein paar Häuser weiter stellte der Greifarm eines Müllfahrzeugs unter lautem Piepen eine Tonne auf den Bürgersteig. Und auch auf der Gracht herrschte an diesem bilderbuchartigen Vormittag viel Leben. Ein Motorboot, das schneller als erlaubt durch die Kanäle fuhr, konnte gerade noch rechtzeitig einem Blumenschiff ausweichen, während der Kapitän eines dahinter fahrenden Ausflugsdampfers gemeinsam mit den deutschen Touristen den Evergreen „Tulpen aus Amsterdam“ anstimmte. Ein Kajak-Vierer zog entspannt an der Szenerie vorbei und fuhr in den nächsten Kanal hinein und am gegenüberliegenden Ufer befestigte ein junger Mann ein kleines Segelboot an der Brüstung eines Hausboots.

Kornelius Adams bekam von alldem nichts mit. Er stand wie in einem Tunnel, in den die Geräusche nur gedämpft vordrangen. Wenn überhaupt. Abgeschottet und gefangen in sich und der Welt, die er verloren hatte. Oder sie ihn. Ihm war schwindelig. Als ob ihm ein Schwergewichtsboxer einen Tiefschlag in die Magengrube verpasst hätte. Genau so hatte er sich schon einmal gefühlt, als er vor gut einer Woche den Anruf entgegengenommen hatte. Er war gerade dabei gewesen, seinen Einkaufszettel zu schreiben, als das Telefon geklingelt hatte. Schon beim ersten Läuten hatte er gewusst, dass es ein besonderes Gespräch werden würde und noch heute fragte er sich, wie sein weiteres Leben wohl abgelaufen wäre, wenn er nicht in der Wohnung gewesen oder einfach nicht ans Telefon gegangen wäre. Denn Kornelius Adams hasste es, Anrufbeantworter besprechen zu müssen, weshalb er sich für sein Telefon auch nie einen hatte einrichten lassen. Wer mich erreichen will, der probiert es einfach wieder, lautete seine Devise.

„Ist dort Mister Adams? Mister Kornelius Adams? Hier ist Mariekelen Versteegt.“ Mit diesen Worten begrüßte ihn eine angenehm klingende Stimme. Er musste jetzt noch lächeln, als ihr Englisch mit diesem unverkennbar typischen Akzent in seinen Ohren nachklang. Was er dann jedoch zu hören bekommen sollte, ließ ihn auch jetzt, acht Tage nach dem Telefonat, noch ins Bodenlose taumeln. Er konnte und wollte einfach nicht glauben, was diese Frau ihm da am Telefon erzählte. Und doch war es die bittere, grausame Wahrheit, die mehr als sieben Jahrzehnte geschlummert hatte. Wie ein an einer Kette angebundenes Tier, das freigelassen wurde, direkt auf einen Abgrund zurannte und alles mit sich in die Tiefe riss.

Ja, was hätte er dafür gegeben, dass dieses Tier nie befreit worden, dieser Anruf nie getätigt worden wäre. Dass es diesen Menschen nie gegeben hätte. Doch nun stand er hier in dieser schönen Stadt, in der er vorher noch nie gewesen war, und betrachtete mit leerem Blick die Backsteinfront des Pflegeheims, die von zwei Dutzend weißen Sprossenfenstern gebrochen wurde.

Immer und immer wieder ging er diesen alles entscheidenden Schritt durch, wenn er sie endlich persönlich kennenlernen würde. Wie sieht sie wohl aus?, fragte er sich. Wie wird sie mich ansprechen und was wird sie zu mir sagen? Ob sie überhaupt weiß, was sie da ausgelöst hat? Ob sie sich jemals für alles, was sie mir angetan hat, entschuldigen wird?

Die Angst vor dem Ungewissen war längst in Hass auf den Menschen umgeschlagen, für den er nach Amsterdam gekommen war. Es war Zeit, dem Ganzen endlich ein Ende zu setzen.

Kornelius Adams wechselte die Straßenseite, nahm die vier Stufen nach oben und betrat durch die schwere Tür das hell erleuchtete Foyer des Pflegeheims. Am Empfang saß eine Dame mittleren Alters und blätterte in einem Landhausmagazin für Interieur und Wohnaccessoires. Sie schaute auf, als sie ihn bemerkte.

„Hallo, ich bin Kornelius Adams. Ich möchte zu Mariekelen Versteegt!“ Seine Stimme klang kraftvoller, als er es selbst erwartet hatte. Er konnte sogar lächeln, wie er in den großen Brillengläsern der Frau auf der anderen Seite des Empfangstresens sehen konnte.

Er musste sie einfach sehen, das war er ihr schuldig. Auch wenn dann nichts mehr so sein würde wie bisher.

Kapitel 2

Hamburg, Samstag, 11. Juli 2015

Wilhelmina Nissen schreckte auf, als es plötzlich an der offen stehenden Tür ihres Salons klopfte.

„Frau Nissen, das Taxi wartet“, sagte ein leicht untersetzter Mann, der in einem grünen Overall steckte und schwer atmete. Er schaute die alte Dame sorgenvoll an. „Geht es Ihnen gut, Frau Nissen? Sie sehen ja ganz weiß aus im Gesicht.“ Der Mann schnaufte, während er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischte.

„Es geht schon, Johann, danke. Die vergangenen Wochen waren etwas viel für mich.“ Sie schaute ihren Gärtner mit einem sanftmütigen Blick an, ehe sie mit schwacher Stimme fortfuhr: „Ich freue mich jetzt auf die Luftveränderung. Wären Sie so freundlich und würden mir die beiden Koffer heruntertragen?“ Sie versuchte sich, aufgestützt auf die mit Samt bezogenen Armlehnen, aus ihrem Sessel zu erheben. Doch ihre Beine gaben nach, noch bevor sie das Gewicht des alten Körpers tragen konnten, und so fiel sie unter lautem Keuchen in den Sessel zurück.

„Soll ich nicht lieber doch den Doktor rufen?“ Johann war mittlerweile an Wilhelmina herangetreten und half ihr, sich im zweiten Anlauf aus dem schweren Sessel zu erheben.

„Johann! Ich sagte: Es geht schon!“ Wilhelmina tadelte ihn mit einem eisigen Blick, dann deutete sie auf ihren Gehstock, der an das weiße Bücherregal gelehnt war. „Aber ich weiß ja, dass Sie es gut gemeint haben“,sagte sie, als Johann ihr den Gehstock reichte. „Es wird Zeit für mich, wenn ich also bitten darf?“

Wilhelmina umschloss den Perlmuttgriff ihres Gehstocks mit ihrer Faust und ging langsam in Richtung Fenster. Als sie es erreicht hatte, sah sie eine Frau, deren Gesicht vom Leben gezeichnet war. Sie hatte viel gelacht und genauso viel geweint, was sich in der Tiefe und Ausprägung ihrer Falten widerspiegelte. Ihre Augen hingegen waren noch hell und wach und doch hatte sich bereits ein matter Schleier über sie gelegt, der unmissverständlich die nicht mehr ferne Endlichkeit eines erfüllten Lebens ankündigte.

Wilhelmina sah in den weitläufigen Garten hinaus, während Johann unter lautem Stöhnen die beiden Koffer hochhievte und aus dem Salon, dem Lieblingszimmer der alten Dame in der alten Jugendstilvilla, verschwand. Draußen grüßte der Sommer nach einem viel zu durchwachsenen Frühjahr nun mit zarten Sonnenstrahlen die Hansestadt und mit ihr die Elbvororte.

Wilhelmina Nissen liebte Blankenese, wo sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte. Und sie liebte den Garten, in dem jetzt die weißen und violetten Sommerflieder mit den rosafarbenen, weißen und blauen Hortensien um die schönste Blütenpracht wetteiferten. Ihr Blick folgte dem sattgrünen Rasen bis zum Springbrunnen, der inmitten des Grüns thronte und in dessen ausladendem Marmorbecken das Wasser tanzte. Geschwungene Schwanenhälse ließen es als Fontänen in die drei Becken springen, die von oben nach unten immer größer wurden. Eine dunkelbraune Amsel hüpfte am Rand entlang und versuchte den Wasserspritzern auszuweichen, während eine schwarze Amsel, anscheinend ihr Männchen, am Sockel des Brunnens emsig nach Ameisen und kleinen Insekten pickte.

Dieses Ding habe ich noch nie leiden mögen, hörte Wilhelmina jetzt noch die Worte ihrer gutmütigen, aber strengen Schwiegermutter Sophie Nissen in ihren Ohren nachhallen, während sie wehmütig an ihren toten Mann denken musste. Und doch hatte Sophie es nicht übers Herz gebracht, den Brunnen einfach abzureißen. Ihr Sohn Konrad hatte ihn von einer seiner unzähligen Geschäftsreisen aus Indien mitgebracht. Und nach Konrads Tod war er für Sophie irgendwie zum Erinnerungsstück an ihren Sohn geworden. Fast wie ein kleines Denkmal. Erst kurz vor ihrem Tod hatte man den Brunnen dann von der Auffahrt in den Garten verlegt, dorthin, wo er heute stand. Sophie Nissen war nie über den frühen Tod ihres geliebten Sohns hinweggekommen. Vielleicht ist sie sogar an ihrem Kummer darüber gestorben, dachte Wilhelmina und hatte sich manches Mal für sich selbst gewünscht, sie hätte ihrem Mann folgen können. Ach Konrad, mein geliebter Mann! Viel zu früh bist du von uns gegangen. Und deinen einzigen Sohn Karl hast du auch nicht mehr groß werden sehen!

Nur zwei Jahre waren Konrad und Wilhelmina vergönnt gewesen, ehe sich der Krieg einen weiteren Sohn, Ehemann und Vater genommen hatte. Und das nur wenige Tage vor Kriegsende, im Mai 1945, als die deutschen Wehrmachtssoldaten an der Westfront bereits den Rückzug angetreten hatten. Konrad Nissen war bei den letzten erbitterten Häuserkämpfen aus dem Hinterhalt erschossen worden. So zumindest stand es im Telegramm des Roten Kreuzes, das einige Wochen später überbracht worden war.

Darum hatte Wilhelmina ihren Sohn Karl ohne Vater aufziehen müssen. Ihre Schwiegermutter hatte sie als Oberhaupt der Familie Nissen bei Karls Erziehung natürlich unterstützt, aber die beiden Frauen mussten gemeinsam auch den Kaffeehandel Nissen & Brook führen und das Geschäft nach dem Krieg wieder aufbauen. Sophie Nissen war dabei immer die Matriarchin gewesen. Bis 1995, als sie nach einem langen Leben dann zu Hause in der Familienvilla in Blankenese gestorben war.

Heute war Wilhelmina das Oberhaupt der Familie. Auch mit fast 90 Jahren noch. Sie hatte ihre Schwiegermutter Sophie stets bewundert, ja sogar als ihr persönliches Vorbild angesehen. Sie hatten über alles miteinander reden können. Nie hatte es irgendwelche Berührungsängste zwischen der aristokratischen Sophie und der bürgerlichen Wilhelmina gegeben. Sophie hatte Wilhelmina geschätzt wie eine eigene Tochter und Wilhelmina hatte es ihr mit Loyalität, Fleiß und Akribie gedankt. Und doch hatte es ein kleines Geheimnis gegeben, das Wilhelmina ihrer Schwiegermutter nie anvertraut hatte, weil sie es ihr nicht anvertrauen durfte.

Sie atmete tief durch, während sie ihrem Gärtner gedankenverloren nachsah, der gerade das Haus in Richtung Auffahrt verließ, wo bereits das Taxi wartete. Ja, es gab Wahrheiten, die so bitter und grausam waren, dass sie einfach nie erzählt werden durften. Nicht hier. Nicht jetzt. Niemals.

Sie nickte Johann kurz zu, als er sich noch einmal zu ihrem Fenster im ersten Stock der weiß getünchten Villa umdrehte. Er hatte Mühe, die beiden großen Überseekoffer die mehrstufige Treppe hinunterzutragen. Er winkte dem Taxifahrer zu, doch dieser bemerkte ihn nicht und machte daher keine Anstalten, sein Fahrzeug zu verlassen und dem alten Mann mit den Gepäckstücken zu helfen. Erst als Johann dabei war, das zweite Gepäckstück in den Kofferraum zu hieven, öffnete sich die Fahrertür und ein überrascht wirkender Taxifahrer stieg aus.

„Brauchen Sie Hilfe?“, hörte Wilhelmina Nissen den Taxifahrer durch das gekippte Seitenfenster fragen, ehe das Klingeln des Telefons sie aus ihren Tagträumen riss.

„Mutter, ich habe dir ein Taxi gerufen. Es müsste in wenigen Augenblicken da sein“, wurde sie von ihrem Sohn Karl begrüßt, nachdem sie den Hörer von der Gabel genommen hatte.

„Das Taxi ist bereits vorgefahren“, erwiderte Wilhelmina kurz. Sie musste sich anstrengen, nicht zu schwach zu klingen, um ihrem Sohn nicht erneut Anlass zu geben, die Reise abzusagen. Vor drei Wochen erst musste sie mit Grippe und einer leichten Lungenentzündung das Bett hüten.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er.

„Ja!“

„Du klingst müde.“

„Wo bist du?“ Wilhelmina ignorierte Karls Frage einfach. „Ich würde gerne noch etwas mit dir besprechen, bevor wir aufs ...“

„Können wir das auf dem Schiff nachholen, Mutter? Ich habe noch etwas in der Stadt zu erledigen“, entgegnete Karl und Wilhelmina hörte, wie die Telefonverbindung zwischen ihnen immer schlechter wurde.

„Karl? Karl? Bist du noch da? Ich kann dich nicht verstehen!“

Wilhelmina wollte gerade auflegen, als sie Karls Stimme wieder hörte: „Ich bin gerade durch den Wallringtunnel gefahren, Mutter. Die Verbindung war fast weg. Hast du noch etwas gesagt?“

„Karl, das Taxi wartet.“

„Okay, dann sehen wir uns gleich am Terminal. Und Mutter, es wird eine Reise, die wir alle nicht vergessen werden. Das verspreche ich dir“, freute sich Karl und beendete das Gespräch. Vorsichtig legte Wilhelmina den Hörer auf. Wie so vieles in ihren privaten Gemächern war auch dieses Telefon aus einer längst vergangenen Zeit, mit einem auf einer Gabel liegenden geschwungenen Hörer, der wie das Gehäuse des Telefons selbst mit einem samtigen Brokat überzogen und einer beigefarbenen Wählscheibe ausgestattet war.

Wie gern hätte sie ihrem Sohn noch vor Antritt der Reise etwas Wichtiges gesagt. Etwas, das schon lange hätte gesagt werden müssen. Nun würde sie erst auf dem Schiff mit ihm sprechen können und sie hoffte inständig, dass es dann nicht zu spät war. Aber für die Wahrheit ist es nie zu spät, dachte sie und spürte, wie ein zaghaftes Lächeln die Muskeln in ihrem Gesicht traktierte. Sie hatte längst vergessen, wie es war, unbekümmert und frei zu sein.

Wie gern sie früher gelacht hatte! Doch auch das schien in eine weit zurückliegende und unwirkliche Zeit zu gehören – als hätte es das Damals nie gegeben, was wohl auch das Beste gewesen wäre. Aber auch Wilhelmina, die mit ihrem Geld fast alles auf dieser Welt kaufen konnte, besaß nicht die Macht, das Vorgefallene ungeschehen zu machen. Sie wusste, sie würde das Rad des Lebens nicht mehr zurückdrehen können. Aber sie wollte sich unbedingt für das entschuldigen, was damals passiert war. Sie musste es versuchen. Selbst wenn sie damit ein großes Risiko einging. Vielleicht sogar ein tödliches ...

Es hat eben seinen Preis, wenn man sich mit dem Teufel einlässt, klangen auch nach den vielen Jahrzehnten des Verdrängens die Worte der alten Ordensschwester in ihr nach.

Ja, sie war zu einer Hure des Teufels geworden. Und nun war es an der Zeit, dass sie dafür bezahlte.

Kapitel 3

„Endlich frei!“, schrie Eva Bredin und drückte ihre beste Freundin Caro so fest an sich, dass deren Sonnenbrille in hohem Bogen auf den asphaltierten Vorplatz des Hamburger Amtsgerichts flog.

„So, und jetzt wird der hier erst mal geköpft“, kicherte Caro und nahm eine Flasche Champagner aus ihrer teuren Handtasche. „Gott sei Dank bist du den los!“ Caros blonder Pferdeschwanz schaukelte hin und her, als sie wie ein Rumpelstilzchen vor Freude auf der Stelle tanzte. „Darauf stoßen wir an!“

„Man meint ja fast, du wärst ihn losgeworden, so wie du dich freust“, sagte Eva mit einem feisten Grinsen und nahm einen tiefen Schluck aus der geschwungenen Flöte, die Caro ebenfalls aus ihrer Tasche gezaubert hatte.

„Halbes Leid ist doppelte Freude oder so ähnlich ... Und er war ja nun mal ein absoluter Penner! Also: Prost!“ Caro leerte das Glas in einem Zug.

„Und jetzt kann der Urlaub endlich kommen! Jaaaaa!“, brüllte Eva ausgelassen und wie von Sinnen los. Ein älterer Herr, von dem martialischen Schrei aufgeschreckt, schaute kopfschüttelnd vom Parkplatz herüber.

„Freeeeiheeeeit!“, stimmte Caro gröhlend ein.

„Prost die Damen!“ Ein Mann in einem dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd und stylischer Kurzhaarfrisur war wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatte die beiden Frauen völlig überrascht, denn Caro prustete noch immer, nachdem sie sich an ihrem Champagner fast verschluckt hätte.

„Markus, ich bin dir so dankbar!“ Eva drückte den Mann fest an sich und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Ich hätte das alles nicht geschafft ohne dich!“

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie eine zierliche Frau schnellen Schrittes von der U-Bahn-Station Messehallen in ihre Richtung laufen. Die Frau kenne ich doch, dachte Eva und überlegte, wo sie sie einordnen sollte.

„Halb so wild, ich habe doch nur meinen Job gemacht“, unterbrach Markus Evas Gedanken.

„Ja, einen verdammt guten sogar“, erwiderte Eva und schenkte dem Mann ein dankbares Lächeln, als sie ein immer lauter werdendes Räuspern vernahm.

„Oh, darf ich vorstellen, Markus Michaelsen, mein Anwalt, Caro Berger, meine beste Freundin, meine Seelentrösterin, mein zweites Ich“, stellte Eva beide vor, während sie die Frau mit ihrem Blick verfolgte.

„Sie können ruhig Caro zu mir sagen. Eva ist immer so förmlich“, antwortete Caro und hielt dem Anwalt ihre Hand hin.

„Na, also dann: Markus.“

„Darf ich euch kurz allein lassen?“, entschuldigte sich Eva und ging der Frau entgegen, die inzwischen die kleine Gruppe fast erreicht hatte. Sie musste zweimal hinsehen, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht getäuscht hatte. „Frau Wolters?“

Die Frau schaute erschrocken auf und Eva hatte das Gefühl, dass es ihr mehr als unangenehm war, überhaupt angesprochen worden zu sein. „Ja?“, fragte die Frau abweisend.

„Hallo Frau Wolters, dann habe ich mich doch nicht geirrt! Wie geht es Ihnen?“, versuchte Eva noch verbindlicher als sonst zu sein. Sie empfand tiefstes Mitleid für die Frau, die schon in jungen Jahren ein verhärmter Mensch gewesen war. Doch über die vergangenen zwei Jahrzehnte, in denen sie sich nicht gesehen hatten, war sie scheinbar noch verbitterter geworden, und Eva spürte das Verlangen, Angelika Wolters einfach in den Arm zu nehmen. Doch sie wusste, körperliche Nähe war der Frau, die jetzt Mitte 60 war, genauso zuwider wie eine zu höflich geführte Konversation.

„Ach, das ist die kleine Eva, Eva Geiger. Ich erkannte sie schon von Weitem an ihrem lauten, affektierten Lachen. Schön, dass wenigstens sie etwas zu feiern hat!“ Die Frau trug eine verwaschene, abgetragene Jeans, dazu eine violette Bluse, die ebenfalls schon bessere Tage gesehen hatte. Ihre grauen Haare hingen matt und strähnig an ihrem Kopf herunter.

„Haben Sie immer noch nichts von Sanne gehört?“, überging Eva die ernst gemeinte Spitze. Auch wenn die Scheidung von ihrem seit mittlerweile 40 Minuten als Exmann zu bezeichnenden Gatten Kai wirklich der beste Grund zum Feiern war, wusste sie, dass Angelika Wolters, die Mutter ihrer damals besten Freundin Sanne, seit dem Verschwinden ihrer Tochter ein gebrochener Mensch war. Eva erinnerte sich noch, wie sie sich mit Sanne an einem Juliabend zu einem Bummel über den Dom, dem größten norddeutschen Jahrmarkt, verabredet hatte. Doch Sanne war nie am Treffpunkt erschienen. Und viel schlimmer: Seit diesem Tag vor genau 20 Jahren galt Sanne als vermisst. Niemand hatte sie jemals wieder gesehen oder etwas von ihr gehört. Als ob es die schüchterne, aber abenteuerlustige Sanne nie gegeben hatte.

Sanne, was ist damals nur geschehen?, fragte Eva in Gedanken ihre Freundin und schaute dabei verlegen von Frau Wolters zu Caro und ihrem Anwalt hinüber, die sich immer noch angeregt und belustigt unterhielten und Eva anscheinend nicht vermissten.

Sanne und sie waren ihr ganzes Leben unzertrennlich gewesen. Bis zu jenem Sommerabend. Schon im Kindergarten, dann in der Grundschule und später auch auf dem Gymnasium hatten sie stets nebeneinandergesessen, zusammen gelernt und waren über eine unbeschwerte Kinderzeit und die für ihre Umwelt anstrengende Pubertät gemeinsam erwachsen geworden. Nur im Studium waren sie unterschiedliche Wege gegangen. Sanne hatte Geschichte studiert, während sich Eva für die PR-Branche entschieden hatte. Und doch hatten sie nie den Kontakt zueinander verloren, auch dann nicht, als Sanne für einige Monate in London und Eva ein halbes Jahr in New York gelebt, gearbeitet hatte. Doch so eng ihre Freundschaft auch war, bei einem Thema waren Eva und Sanne immer wieder aneinandergeraten. Dann gab es auch schon mal heftige Streitereien, wilde Wortgefechte mit anschließendem Türenschlagen und tagelangem Schweigen. Und immer ging es dabei nur um eines: Männer.

Eva stockte kurz. Erneut musste sie an das letzte Gespräch mit ihrer Freundin denken. Ob ihr Verschwinden doch etwas mit ihrem angeblich neuen Freund zu tun hatte, den sie an diesem Abend zum Dom mitbringen wollte?, fragte sie sich. Wer war dieser Mann gewesen, den sie bis heute nicht kennengelernt und der sich auch nach Sannes Verschwinden nie gemeldet hatte?

Eva hatte schon damals kein Geheimnis aus ihren zahlreichen Flirts gemacht. Zwei ihrer ernsteren Männerbekanntschaften waren schließlich jeweils in eine Ehe gemündet. Sanne hingegen war nicht nur diskret und zurückhaltend, wenn die Frage nach einem Mann in ihrem Leben aufkam. Sie wollte einfach nicht darüber sprechen und reagierte sogar mitunter aggressiv, wenn sich Eva zu sehr in dieses Thema verbohrte. Und Eva hatte öfter das Gefühl, dass Sanne aufkommende Emotionen einem Mann gegenüber, wenn es dann mal einen in ihrem Leben gegeben hatte, nicht zulassen wollte.

Bis zu jenem Abend im Sommer 1995, der Eva sehr überraschte. Sie erinnerte sich heute noch ganz genau an diesen Tag, als Sanne ihr bei einem Dombummel unbedingt ihren neuen Freund vorstellen wollte. Das war so gar nicht Sanne gewesen ...

Mit einem energischen: „Nein, und ich muss weiter, die Messehallen putzen sich leider nicht von selbst“, holte Angelika Wolters Eva rüde aus ihren Gedanken in die Gegenwart zurück.

„Sanne hat sich wirklich nie mehr bei Ihnen gemeldet?“

„Glaubst du, ich spinne und bilde mir das nur ein?“ Angelika Wolters schaute Eva aus zusammengekniffenen Augen an. Die Zornesfalte, die bereits bei entspannten Gesichtszügen die Stirn spaltete, war jetzt tief und schwarz. „Hast du nicht meine Sanne zuletzt gesehen?“

„Wir waren abends auf dem Dom verabredet. Sie kam erst nachmittags aus London zurück. Sie recherchierte dort seit einigen Wochen“, stammelte Eva.

„Und du wolltest sie vom Flughafen abholen!“

„Nein ... ich ...“ Eva stockte. Sie wusste nicht, ob Sanne ihrer Mutter jemals von dem neuen Freund erzählt hatte. „Sie sagte, sie würde bereits abgeholt werden.“

Eva wusste, Angelika und Manfred Wolters waren strenge Christen, die ihrer Tochter nie erlaubt hätten, sich mit einem Mann außerhalb ihrer Gemeinde zu treffen. Selbst das Geschichtsstudium und die Recherchezeit in London hatten sie nie gutgeheißen. Ein Umstand, der mit Sannes Trieb nach Freiheit und Abenteuerlust nicht zu vereinbaren gewesen war. Und für den sie vielleicht hatte untertauchen müssen? Untertauchen wollen, um endlich frei zu sein und ihr eigenes Leben führen zu können? Mit dem richtigen Mann an ihrer Seite? Eva spürte, wie viel näher ihr Sanne plötzlich war. Näher als sie sich das je vorgestellt hatte.

„Eva, du hättest auf sie aufpassen sollen! Aber du hattest ja nur Flausen im Kopf. Bei dir ging es ja immer nur um Männer und das süße Leben!“

„Was?“ Jetzt war es Eva, die ihr Gegenüber irritiert anstarrte. Hatte Frau Wolters wirklich gerade das gesagt, was sie gehört hatte?

„Du hast schon richtig gehört! Aber du warst ja nicht nur die Wilde, du warst auch die Stärkere, Sannes Vorbild, zu dem sie aufschaute. Wie die große Schwester, die sie nie hatte.“

„Frau Wolters ...“

„Und jetzt ist unsere Sanne fort. Und du hast sie im Stich gelassen!“ Mit diesen Worten ließ Angelika Wolters Eva stehen.

„Was war das denn?“ Caro hatte sich sehr ausgiebig von Markus verabschiedet und schaute jetzt irritiert Angelika Wolters hinterher.

„Ach, sie ist immer noch in Trauer“, sagte Eva nachdenklich und sah Angelika Wolters ebenfalls nach. Die zierliche Frau war längst über die Straße in Richtung Messe geeilt und vor den Häuserfluchten auf der anderen Seite des Sievekingplatzes nicht mehr zu erkennen.

„Und deswegen muss sie dich so anbellen, als wärst du eine kleine, ungezogene Göre?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Eva und zuckte mit den Schultern.

„Ich finde, die soll sich mal entspannen! Aber komm, deine Mutter wartet“, drängelte Caro mit einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. Dann lächelte sie vielsagend. „Du hast dir da ja wirklich ein Leckerli als Anwalt ausgesucht! Wir haben uns für morgen Abend auf einen Cocktail am Grindel verabredet ... Wenn du schon längst auf dem Wasser bist. Du hast doch nichts dagegen, oder?“ Caro grinste, dann fuhr sie sich mit der Zungenspitze über ihre Lippen.

Eva schaute ihre Freundin entgeistert an.

„Eva?“, fragte Caro, während sie in ihrer Handtasche nach einem Lip-Gloss suchte.

„Ja, Markus hat was ...“, erwiderte Eva monoton.

Warum mussten ihr gerade jetzt diese Worte einfallen? Es waren die gleichen Worte, mit denen Sanne ihren damaligen Freund beschrieben hatte. Eva, er hat was, hatte sie stets zu ihr gesagt, wenn Eva am Telefon mehr über den ominösen Mann erfahren wollte. Und es waren auch Sannes letzte Worte gewesen, mit denen sie sich gut gelaunt und fröhlich bei Eva verabschiedet hatte, ehe sie sich nur zwei Stunden später am Eingang zum Heiligengeistfeld in St. Pauli treffen wollten.

Kapitel 4

Das Kreuzfahrtterminal in der Hafen City im Hamburger Stadtteil Grasbrook wirkte wie ein überdimensionaler Ameisenhaufen, als Karl Nissen in seinem schwarzen Geländewagen an die Parkschranke fuhr. Gerade war ein weiterer Reisebus mit Bielefelder Kennzeichen vor das Terminal gefahren und er sah, wie die künftigen Passagiere des Luxusdampfers Star of the Ocean emsig aus dem Bus stiegen. Die meisten trugen ergraute Häupter. Er erwischte sich dabei, wie er einen kurzen Blick in den Rückspiegel seines SUVs warf. Er dankte seit vielen Jahren der Haarpflegeindustrie für ihre Renaturierungsprodukte, die seine eigentlich angegrauten Haare Nuance für Nuance wieder goldbraun erstrahlen ließen. Und auch wenn es von Jahr zu Jahr dünner wurde, sah sein Haar wenigstens nicht penetrant gefärbt aus.

Vor dem leuchtend blauen Bus aus Ostwestfalen stand ein weiterer aus Berlin, dessen Fahrer gerade dabei war, Koffer, Taschen, Golfbags und Kinderwagen auszuladen. Das Terminal war erst vor wenigen Jahren aus viel Beton, Stahl und noch mehr Glas in die neue Hafencity mit ihren verspielten Wohn- und Bürogebäuden und der immer noch nicht fertiggestellten Elbphilharmonie gebaut worden. Jetzt zogen Menschen zwischen den Bussen, auf dem Parkplatz und im Eingangsbereich des großen Terminals ihre Koffer, verabschiedeten sich von ihren Angehörigen oder rauchten noch hastig einen vorerst letzten Zug an ihrer Zigarette, bevor sie an Bord der Star of the Ocean gingen.

„Ja?“ Der Mann an der Schranke nickte Karl auffordernd zu.

„Karl Nissen von Nissen & Brook. Ich habe VIP-Karten für die Reise.“ Karl Nissen reichte dem Mann, der gut und gern sein Enkel hätte sein können, die Karten und ergänzte: „Die andere Karte ist für meine Mutter. Sie wird gerade mit dem Taxi gebracht.“

„Ist gut. Da hinten.“ Der Mann zeigte nach links, von der Einfahrt aus auf 11 Uhr, und öffnete die Schranke. Karl Nissen nickte kurz zum Dank, dann steckte er die Karten in die Innentasche seines olivgrünen Sakkos und fuhr mit Schrittgeschwindigkeit an den Menschen vorbei. Überall wuselten die Angestellten der Reederei in ihren roten Polo-Shirts und den neongrünen Warnwesten herum, halfen den älteren Herrschaften beim Verlassen der Taxis und Busse und zeigten den Passagieren den Weg zu den Anmeldeterminals.

Karl Nissen wollte gerade in die ihm zugewiesene Parkreihe einbiegen, als etwas Rundlich-Weißes auf seiner Motorhaube aufklatschte. Er konnte noch rechtzeitig bremsen, ehe er den kleinen Jungen, den er nur als Schatten an seiner Beifahrerseite hatte vorbeihuschen sehen, mit der Frontseite des Kühlergrills erwischt hätte. „Pass doch auf!“, schrie er und hupte energisch, ehe er schneller als erwartet in zwei dunkle Augenpaare sah. Die Eltern waren dem Jungen hinterhergestürmt, der neben Karls Wagen stand und seinem Ball nachheulte. Vor Schreck hatte er sich eingenässt und stand nun flennend da. Sein Vater wollte gerade mit der Faust auf die Motorhaube schlagen, als Karl beschwichtigend die Hand hob und seinen Wagen langsam in die Parkreihe hineinrollen ließ.

Er schnaufte einmal kurz durch, als er seinen Geländewagen endlich abgestellt hatte, dann nahm er sein Sonnenbrillenetui und seine zwei Mobiltelefone sowie den Organizer aus der Konsole und stieg aus. Er war schon fast um seinen Wagen herumgelaufen und wollte gerade den ersten Blick auf den neuen Luxusliner der Hamburger Reederei Star Line genießen, als er einen alten Bekannten auf sich zukommen sah. Einen, den er hier nicht erwartet hätte.

„Das war ja ein Auftritt!“, begrüßte ihn Lutz Darling und streckte ihm die Hand entgegen.

„Was machst du denn hier?“, fragte Karl überrascht.

„Karl, darf ich vorstellen? Meine Frau Dorit“, stellte Lutz seine Frau vor, die Karl aber nur eines kurzen Blickes würdigte. Sie war gerade damit beschäftigt, ihre beiden Möpse aus den Hunde-Reisekoffern, die auf der Rückbank des dunkelgrünen Jaguars standen, zu heben.

„Ja, wir sind uns kurz nach eurer Hochzeit vor fünf Jahren von dir vorgestellt worden, mein Bester. Aber was machst du hier am Terminal? Bringst du gerade jemanden zum Check-in?“

„Du wirst es kaum glauben, aber wir waren einfach mal spontan und haben uns eine Suite direkt unter der Brücke gebucht“, erwiderte Lutz und hob mit einem etwas zu theatralisch eingelegten Stöhnen sein Golf-Equipment aus dem Kofferraum. „Man ist doch nicht mehr der Jüngste, nicht wahr, altes Haus? Aber man tut, was man kann. Der eine so, der andere so“, unterstrich er seine Aktion mit einem kurzen Blick auf Karls Haare, dann stellte er die Golf-Ausrüstung neben sich ab und fuhr sich anschließend mit der rechten Hand durch sein dichtes, weißes Haar. „Aber das hast du ja nicht gemeint, nicht wahr, Karl? Dorit und ich waren gerade auf Golf-Tour, erst am Scharmützelsee bei Berlin und dann auf Sylt. Hältst du mal?“ Lutz Darling reichte Karl Nissen das Equipment, dann beugte er sich wieder in den Kofferraum, holte den Kleidersack mit dem Aufdruck eines italienischen Designers hervor und streckte diesen ebenfalls Karl entgegen, ehe er den ersten der beiden großen Überseekoffer heraushievte. „Dann mussten die Hunde bei unserem Spezialisten hier in Hamburg untersucht werden und heute Morgen habe ich den Vertrag zur Übernahme des Bremer Kaffeekontors unterzeichnet.“ Lutz stellte den zweiten Überseekoffer neben den ersten und nahm Karl das Golf-Equipment und den Kleidersack mit einem verbindlichen Lächeln wieder ab.

„Du bist also immer noch bei Darlings in Bremen?“ Karl ärgerte sich, dass er seine Verwunderung darüber nicht noch besser geheuchelt hatte. Obwohl sie sich nicht ausstehen konnten, waren sie sich ähnlicher als es beide zugeben wollten. Auch er hatte den Zeitpunkt, die Geschäfte seinem Nachfolger oder einem neuen Geschäftsführer zu übergeben, längst verpasst. Er hätte schon vor mindestens sieben, sicher aber vor fünf und allerspätestens vor zwei Jahren aufhören sollen. Aber jetzt wurde er in wenigen Wochen 71 Jahre alt und war immer noch Geschäftsführer von Nissen & Brook, einer der größten deutschen Kaffeeröstereien. „Ich dachte, man wollte sich dort“ – er zeigte aufs Schiff – „verjüngen ... Ah, was für ein schöner Anblick!“

„Ja, das Schiff ist wirklich Luxus pur“, warf nun Dorit Darling ein. Sie hatte mittlerweile ihre beiden Lieblinge auf die Straße gesetzt und versuchte nun Herr über die verdrehten Leinen zu werden, als sie Karls Blick zum neuen Kreuzfahrtschiff folgte.

„Nein, ich meine den Lkw, der gerade die Kaffeebohnen für das Schiff bringt.“

„Nissen & Brook, beste Bohnen, bester Geschmack“, las Dorit laut, was auf dem Lastwagen in freundlicher Schrift und mit einer dampfenden Tasse Kaffee zur Untermalung geschrieben stand, dann nahm sie ihren Shopper und holte ihr Mobiltelefon hervor.

„Habt ihr eure Marketingabteilung entlassen?“, fragte Lutz Darling. „Aber ich schätze deine Beharrlichkeit, Karl, nicht mit der Zeit gehen zu wollen.“

„Qualität setzt sich durch, da braucht man keine markigen Sprüche, um von dem abzulenken, worauf es eigentlich ankommt: 100-prozentiger Kaffeegenuss.“

„Karl, warum übergibst du dein kleines Geschäft nicht einfach Menschen, die etwas davon verstehen, mit Bohnen zu jonglieren?“

„Ach Lutz, solange man dir immer noch zeigen muss, wie es geht, kann ich einfach nicht aufhören.“ Karl legte wohlwollend seine rechte Hand auf Lutz’ Schulter, während er mit der linken Hand per Knopfdruck die Tür des Kofferraums öffnete.

„Karl, du hast recht. Ich kann ja auch einfach nicht loslassen“, erwiderte Lutz Darling. „Wir erhöhen mit der Übernahme des Kaffeekontors in Bremen gerade unseren deutschen Marktanteil und in zwei Monaten bringen wir als erstes Unternehmen ein eigenes Kaffeekapselsystem mit wiederverwertbaren und kompostierbaren Kapseln heraus.“ Lutz Darling grinste übers ganze Gesicht. „Und was macht ihr so, außer Schiffe zu beliefern? Übrigens seid ihr da ja nicht die Einzigen, seitdem wir schon seit Jahren Fluggesellschaften mit unserem Kaffee beliefern!“

Karl Nissen merkte, wie Groll in ihm hochstieg. Ein Groll, der nach Galle und Magensäure schmeckte. Auch er war damals ins Bieterrennen um den lukrativen Auftrag für Deutschlands größte Fluggesellschaft eingestiegen. Und obwohl er die Chefsekretärin des Finanzvorstands näher kannte als all seine Mitbewerber zusammen, hatte es am Ende, warum auch immer, nicht für die Zusammenarbeit gereicht. Viel schlimmer noch: Es war Lutz Darling höchstpersönlich, der ihm dieses Geschäft versaut und den Auftrag nun selbst an Land gezogen hatte.

„Einmal Darling, immer Darling, nicht wahr, Schatz?“, schaltete sich nun Dorit in das Gespräch ein, um im nächsten Moment hysterisch aufzuschreien. „Gucci, Versaci, hierher!“

„Dorit, wie oft denn noch, der Designer heißt Versace und nicht Versaci“, rief Lutz seiner Frau hinterher, die, anstatt etwas darauf zu erwidern, längst ihren beiden Möpsen nachlief.

„Ihr habt wohl noch einiges zu besprechen, was die richtige Aussprache ihrer Schoßhunde betrifft.“ Karl schaute Lutz provozierend an.

„Dorit hat eben andere Qualitäten. Aber du weißt ja, wer zuletzt lacht ... Und Karl, mein Unternehmen ist noch lange nicht satt. Erst London, jetzt Bremen. Und was kommt als Nächstes? Also mach dich schon einmal darauf gefasst, dass wir dich bald schlucken werden. Es ist nur eine Frage der Zeit.“ Lutz Darling tätschelte kurz Karls Wange, dann hing er sich die schwarze Golftasche über die Schulter, nahm in jede Hand den Griff eines Überseekoffers und folgte seiner Frau.

Lutz streckt schon wieder seine glitschige Tentakel nach Nissen & Brook aus, dachte Karl und erinnerte sich, wie er in seinem letzten Griechenlandurlaub auf Kreta einen Tintenfisch aufgespießt und über dem Feuer gegrillt hatte. Lutz Darling war genau wie ein Tintenfisch, der nicht locker ließ, wenn er sich erst einmal an etwas festgesaugt hatte. Nein, Lutz Darling war schlimmer als ein Tintenfisch! Er war wie ein Blutegel, den man mitsamt dem Kopf aus der blutenden Wunde herausschneiden musste, um ihn loszuwerden.

Heftiger als gewöhnlich knallte Karl die Kofferraumtür zu. Der Kampf war also eröffnet. Und er würde für einen von beiden tödlich ausgehen.

Kapitel 5

Die Star of the Ocean lag majestätisch am Kai. Über 17 Decks erstreckte sich der Passagierbereich, der in einem strahlend unschuldigen Weiß gestrichen war. Am Rumpf prangten die für die Reederei typischen blauen und goldenen Sterne. Der scharf geschnittene Bug des Schiffes erinnerte an die ehrwürdigen Dampfer zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, die mit ihrer eleganten Form und dem mondänen Äußeren über die Weltmeere geglitten waren.

Die Star of the Ocean war auf dem modernsten Stand und ließ keine Wünsche offen. Ein Kinocenter gab es genauso an Bord wie eine Shopping-Plaza mit kleiner Eislaufbahn. Das Pooldeck bot sechs Wasserbecken unterschiedlichster Größe – vom Wellenbad bis zum Warmwasserpool mit einer Wassertemperatur von 31 Grad. Die Wildwasserrutsche erstreckte sich fast über einen Kilometer Länge, zwei Bogen ragten mehrere Meter über das Deck und damit in die Unendlichkeit hinaus. Und der Wellnessbereich war laut TV-Werbung der weltweit größte, der je auf einem Kreuzfahrtschiff gebaut worden war.

Charlotte Geiger hatte gerade den Check-in-Bereich passiert und stand nun vor dem neuen Flaggschiff der Reederei Star Line, die mittlerweile zwei weitere Luxusdampfer bei einer Werft in Auftrag gegeben hatte. Die Star of the Ocean war das einzige Schiff der Reederei, das in Japan gebaut worden war. Sie war bei ihrer Jungfernfahrt über Indien und Dubai in 80 Tagen um die halbe Welt gefahren, um nun jede Woche von Hamburg aus über die Nordsee die Metropolen Westeuropas anzusteuern.

Charlotte wurde mulmig, als sie nach oben sah. Der Wind verfing sich zwischen dem Stahlkoloss und dem Terminal und sie musste mit ihrem schlanken Körper gegen die Kraft der Böen ankämpfen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten und hinzufallen. „Scheiße“, fluchte sie laut, als ihre Jacke von einer Böe erfasst wurde und in eine Pfütze fiel, die noch an das kurze, aber heftige Sommergewitter der vergangenen Tage erinnerte. Ein Ehepaar, das direkt hinter ihr durch den Sicherheitsbereich gegangen war, musterte sie von oben bis unten, warf sich einen raschen Blick zu und hastete dann an Charlotte vorbei zur Gangway.

Am liebsten hätte sie auf der Stelle Reißaus genommen. Sie hasste es, mit zu vielen Menschen am selben Ort zu sein. Und nun stand ihr eine Reise auf einem Schiff mit fast 4000 Passagieren und knapp 1000 Crewmitgliedern bevor, wobei das Unerträglichste das Wasser selbst war. Ihr wurde schon bei der Fahrt über die Elbe speiübel, und bei einer Schifffahrt auf der Loire, die sie damals als Schülerin mit der Französischklasse unternommen hatte, war sie schon im zweiten Hafen von Bord gegangen. Aber wenn Wilhelmina Nissen einlädt, dann hat die ganze Familie Folge zu leisten, dachte sie und seufzte gequält.

Ihre Tante. Das Oberhaupt der Familie Nissen. Der Mensch, der im Hintergrund auch die Firmenfäden zog. Charlotte nannte sie nur den Schatten, denn mehr als Haut und Knochen war die alte Dame, die auf dieser Reise ihren 90. Geburtstag feiern würde, auch nicht mehr. Vom Erfolg des Unternehmens und dem Ansehen der Familie über die Stadtgrenzen hinaus getrieben, hatte sie sich selbst aufgezehrt. Wenn überhaupt wog sie noch 45 Kilo, wovon allein fünf Kilo der schwere Schmuck aus Gold, Perlen und Edelsteinen ausmachte, mit dem sie aller Welt den Reichtum der Firma und vor allem der Familie zeigte.

Charlotte erschrak, als Wilhelmina plötzlich lebensecht in ihren Gedanken auftauchte. Wie immer trug sie eine weiße Bluse mit Rüschen, einen pastellfarbenen Rock, heute in zartem Blau, und darunter eine weiß schimmernde Strumpfhose. Ihre Füße steckten in weißen Lackschuhen mit kleinem Absatz und Schnalle und über ihre Hände hatte sie auch dieses Mal feine Handschuhe aus edelster Spitze gestülpt. Ihr Haar war fein, an manchen Stellen sah man deutlich die Kopfhaut durchschimmern, und es klebte in kleinen Spirallocken an ihrem Kopf. Seit Jahren litt Wilhelmina unter einem schweren Rückenleiden, weswegen neben der an einer Goldkette hängenden Lesebrille auch ein Gehstock zu den Accessoires gehörten, ohne die sie nie das Haus verließ. Charlotte wusste, wie fuchsteufelswild Wilhelmina werden konnte, wenn die Gehhilfe nicht an ihrem vorgesehenen Platz neben dem samtbezogenen Sessel stand oder ihre Brille nicht schon vor dem Aufstehen mit einem feinen Baumwollhandtuch geputzt für sie auf dem Nachttisch bereit lag. Sie war so unnachgiebig in diesen Dingen, dass sie deswegen sogar Sophies Hausdame entlassen hatte, nur einen Tag, nachdem Wilhelminas Schwiegermutter und Charlottes Oma gestorben war.

Wilhelmina schenkte Charlotte ein letztes, vielsagendes Lächeln, ehe sie endlich aus ihrem Unterbewusstsein verschwand. Charlotte hoffte, ihre Tante würde sich nicht noch einmal derart in ihre Gedanken hineindrängen.

Ja, Wilhelmina wusste, was sie wollte und was gut für sie und vor allem für die Familie war. Und sie räumte alles aus dem Weg, was nicht in ihre Welt passte. Das hatte Charlotte am eigenen Leib erfahren müssen. Bei diesem Gedanken bemerkte sie, wie sie am ganzen Körper zitterte.

„Mama, du frierst ja! Willst du meine Jacke haben?“ Charlotte fuhr erschrocken herum, als ihre Tochter Eva plötzlich hinter ihr stand.

„Nein, es geht schon“, antwortete Charlotte. Eigentlich hatten sie gemeinsam zum Kreuzfahrtterminal fahren wollen, doch Evas Scheidungstermin hatte länger gedauert und so war Charlotte mit dem Taxi vorgefahren.

„Ich weiß nicht, ob wir diese Reise wirklich machen sollten.“ Charlotte schaute noch einmal zum Schiff hinauf. Eine Möwe, von der Pier aus gesehen so groß wie eine Feder, flog zwischen den beiden mächtigen Schornsteinen herum, aus denen der rußig-graue Rauch das baldige Auslaufen unmissverständlich ankündigte.

„Mama, gib dem Ganzen hier und vor allem dir doch eine Chance! Am Ende ärgerst du dich, wenn wir von unseren Erlebnissen erzählen und in unvergesslichen Erinnerungen schwelgen, weil du diese Kreuzfahrt nicht miterlebt hast ...“

„Ich glaube kaum – oder erinnerst du dich gern an Kai?“

Charlotte schaute in ein ungläubiges Gesicht. „Du kannst doch diese himmlische Reise nicht mit meiner Ehehölle vergleichen, Mama!“

„Wir haben eben beide kein Glück mit unseren Männern. Das hast du wohl von mir geerbt!“ Charlotte seufzte erneut und fragte sich, warum ausgerechnet auch die Gene, die so viel Unglück mit sich bringen, weitergegeben werden. Dabei schaute sie ihre schöne Tochter an, die so viel von ihr mitbekommen hatte. Da waren dieses brünette, weiche Haar, die schlanke Silhouette, für die sie schon als junge Frau beneidet worden war, und die hellen, wachen Augen, die zwischen einem funkelnden Grün und einem warmen Braun changierten. Daneben hatte Eva die gleiche Warmherzigkeit mitbekommen, auf die Charlotte ebenso stolz war wie auf das Charisma und die Beharrlichkeit, mit der sich ihre Tochter für das aus ihrer Sicht bisher stets Richtige eingesetzt hatte. Doch leider war Eva eben auch bei der Wahl des Lebenspartners nach der Art ihrer Mutter geschlagen. Entweder waren die Männer Taugenichtse, die sich von den Geiger-Frauen aushalten ließen. Oder aber sie waren so lebensunfähig, dass sogar in Restaurants für sie entschieden werden mussten, ob sie besser das Steak oder doch eher die Hühnerbrust bestellen sollten. Nichts war unerotischer, als einen kleinen Jungen zum Partner zu haben anstatt eines echten Kerls. Und als Volltreffer hatte sich Eva dann mit ihrem ersten Mann Sören auch noch einen Typen ausgesucht, der – ähnlich wie Charlottes Exmann – häufiger zu tief ins Glas schaute und dann seine Kraft nicht im Sportstudio in Muskeln umwandelte, sondern den Fähigkeiten dekorativer Kosmetik vertraute. Dahingehend war Kai schon eine Verbesserung zu Evas erstem Fehlgriff gewesen.

Kai hatte Eva weder geschlagen noch hatte sie für ihn Entscheidungen treffen müssen – dafür war er als geborenes Alphatier selbstbewusst genug. Aber Kai war eben auch ein Gigolo und Charlotte hatte ihrer Tochter schon bei deren Verlobung vorausgesagt, dass sich Kai nicht mit einer Frau begnügen würde. Es hatte dann kein halbes Jahr gedauert, bis Eva ihren Mann zum ersten Mal mit einer anderen Frau in flagranti erwischt hatte. Doch erst nach einem halben Dutzend schien sie endlich genug von den Affären ihres Mannes zu haben und reichte noch am selben Tag die Scheidung ein, die nun heute Morgen im Hamburger Amtsgericht vollzogen worden war.

„Aber jetzt bist du wenigstens wieder frei und schenkst dein Herz hoffentlich dem Richtigen.“ Charlotte drückte ihre Tochter, die sie um ein paar Zentimeter überragte, fest an sich.

„Ich habe im Moment die Schnauze voll von Kerlen! Zwei Nieten reichen“, sagte Eva und schenkte ihrer Mutter ein warmes Lächeln. „Jetzt ist erst einmal Mutter-Tochter-Zeit und wir lassen es uns gut gehen. Jeden Tag ein bisschen Sport, Maniküre und Pediküre, und im Spa lassen wir uns von Kopf bis Fuß durchkneten. Was hältst du davon?“

Charlotte nickte schwach. „Vielleicht wird es wirklich eine aufregende Zeit. Aufregend und spannend.“ Charlotte musste an das Telefonat denken, das sie am Morgen geführt hatte. Und plötzlich erfüllte sie ein warmes Kribbeln, das immer stärker wurde, je mehr sie sich ausmalte, was das Ergebnis dieses Gesprächs alles für sie bedeuten konnte. Meine Zeit scheint endlich gekommen zu sein, dachte sie, als sie ihrer Tochter hinterhersah, die bereits voller Vorfreude der einwöchigen Kreuzfahrt entgegenfieberte. Selbst wenn sie dafür diese einwöchige Tortur mit Seekrankheit über sich ergehen lassen müsste.

Eva war inzwischen zum Bug gelaufen und hatte sich in Position gebracht, um sich mit dem Schiff im Hintergrund zu fotografieren. Anschließend würde sie dieses Selfie bei Facebook posten, um dann viele Likes dafür zu bekommen, sich mit anderen über die Kreuzfahrt austauschen oder um der Welt und denen, die es interessierte, einfach nur mitteilen, was sie gerade machte und wo sie gerade war.

Doch es half alles nichts, Seekrankheit hin oder her. Manchmal müssen Opfer eben erbracht werden, um am Ende erfolgreich zu sein!, musste sie an ihre Tante denken.. Und wie recht Wilhelmina doch hatte!

Charlotte nahm die Schachtel aus ihrer Handtasche, fischte ein kleines rundes Pflaster gegen Seekrankheit heraus, streifte es vom Papier ab, hielt sich mit der linken Hand die Haare hoch und klebte es hinter ihr rechtes Ohr, ehe sie ihrer Tochter, die mittlerweile die Gangway betreten hatte, folgte. Sie war bereit, ihr eigenes Leben zu leben. Und nicht ein fremdbestimmtes. Auch wenn sie dafür die Grenzen des Erlaubten überschreiten musste. Aber sie war ja nicht die Einzige, die eine Leiche im Keller liegen hatte. Und was soll auch schon passieren?, dachte sie, als sie sich auf der Gangway noch einmal umdrehte und ein letztes Mal mit einem Lächeln im Gesicht zurückblickte. Blut ist eben dicker als Wasser, selbst wenn es nicht das eigene ist!

Kapitel 6

„Sieh sie dir an, wie sie sich jetzt schon darum prügeln, als Erste an Bord zu gehen!“ Nick zeigte auf die Gangway, auf der gerade ein bulliger Mann mit einem Dreimillimeter-Kurzhaarschnitt eine ältere Dame fast wie beim Autoscooter auf der Kirmes zur Seite drängte, nur um vor ihr den neuen Luxusdampfer zu betreten. Doch die ältere Dame gab nicht klein bei und versuchte ihrerseits, den Mann festzuhalten, ehe sie dann mit ihrem Rucksack ausholte, den sie lose vor ihrem Oberkörper hielt. Nur mit Mühe und der tatkräftigen Unterstützung einer Frau, die hinter ihr lief, konnte sie den Rucksack festhalten, ehe er – anstatt den Mann zu treffen – über die Reling der Gangway in die Elbe gefallen wäre.

„Dein wievielter Vertrag ist das jetzt?“, fragte Kathi, während sie gelangweilt kurz zur Gangway schaute. Dann drehte sie ihren Kopf wieder der Sonne zu und genoss die warmen Strahlen, die ein paar Meter weiter auf dem Fluss golden funkelten. Auf der Reling an der Bugspitze saß eine Möwe und putzte ihr Gefieder, Segways fuhren in einer Kolonne auf der Hafenpromenade entlang und über der ausgehobenen Baugrube eines künftigen Hochhauses in der Hafencity schwebte schwerelos ein weiteres Stahlelement am Baukran, der hoch in den blau getünchten Hamburger Himmel ragte.

„Bei Star Line? Mein fünfter, aber ich werde diese Menschen nie verstehen. Wie Raubtiere, freigelassen, um zu fressen, bevor sie gefressen werden.“

„Ach Nick, warum denn so philosophisch? Es sind Menschen, Gäste, Passagiere. Für sieben Tage. Dann wirst du sie nie wiedersehen.“

„Bis dann die Neuen das Schiff besteigen!“ Nick verdrehte die Augen, dann nahm er sein Mobiltelefon, entsperrte es und scrollte durch die eingegangenen WhatsApp-Nachrichten seiner Freunde.

„Könntest du jetzt mal bitte aufhören und die letzten freien Minuten genießen?“ Kathi war merklich genervt. Sie hatte einfach keine Lust, ihn wieder aufzurichten. Sie war seine Freundin und nicht seine Therapeutin. Die Zeit mit ihm und ohne Passagiere war knapp und immens kostbar und daher die absolut falsche Gelegenheit, über Dinge zu sinnieren, die man sowieso nicht ändern konnte.

Herr, gib mir die Kraft, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Diese schlauen Worte hatte ihr die Grundschullehrerin in der vierten Klasse in das Poesiealbum geschrieben und Kathi versuchte ihr Bestmögliches, sich auch nach fast 20 Jahren, die seitdem vergangen waren, immer noch daran zu halten und nun auch ihren Freund davon zu überzeugen.

„Aber so kann es doch nicht weitergehen. Wie im Hamsterrad“, sagte Nick und beantwortete seine Nachrichten, während es immer wieder aufs Neue laut piepte, wenn eine Mitteilung einging.

„Ach Nick. Wenn dir der Job als Masseur an Bord keinen Spaß mehr macht, dann musst du dir halt ’nen anderen Job suchen. Oder du scheffelst jetzt die Kohle, solange du es noch kannst, und machst dann das, was du schon immer machen wolltest.“ Kathis Blick folgte den tanzenden Strahlen auf der Elbe in Richtung Elbphilharmonie, die auch nach mehr als zehn Jahren Bauzeit immer noch nicht fertiggestellt war. „Wolltest du nicht studieren?“ Sie hoffte, die Stimmung ihres Freundes etwas aufzuhellen.

„Mein Vater will, dass ich Arzt werde wie er.“

„Und was willst du?“ Kathi hatte mittlerweile die Sonnenbrille abgesetzt und schaute ihren Freund eindringlich an. Sie wusste, Nicks Vater war ein anerkannter Orthopäde im Universitätsklinikum Münster, der darüber hinaus auch auf dem Albert-Schweitzer-Campus dozierte. Und der alles daran setzte, dass sein Sohn ebenfalls Medizin studierte und in seine Fußstapfen trat. Ohne Wenn und Aber. Dass sein Sohn es in seinen Augen nur zum Masseur auf einem Kreuzfahrtschiff gebracht hatte, war ihm ein Dorn im Auge.

„Hast du nicht eigene Ziele, die du erreichen willst?“, hakte sie nach, ohne jedoch wirklich eine Antwort darauf zu erwarten. Nick hatte sich in den knapp zwei Jahren, in denen sie sich nun kannten und liebten, vom Leben treiben lassen, anstatt einen Anker zu setzen. Und genau das hatte sie so oft an dieser Liebe und an der eigentlich getroffenen Entscheidung, gemeinsam durchs Leben zu gehen, zweifeln lassen. Aber Schiff ist eben Schiff und nicht Land, dachte sie und war sich mittlerweile gar nicht mehr so sicher, ob sie mit Nick überhaupt zusammen alt werden wollte, wenn das Jungbleiben jetzt schon so anstrengend und manchmal auch kompliziert war.

„Natürlich habe ich Ziele! Und ich werde schon ankommen. Verlass dich drauf!“ Nicks Blick folgte einer Frau mittleren Alters in weißer Jeansleggings und Leopardentop, mit großer Sonnenbrille und blond gefärbten Haaren, die auf der Gangway eifrig bemüht war, Herr über ihre beiden Hunde zu werden.

„Wie meinst du das?“, fragte Kathi, deren Worte von der Durchsage an die Crew, sich für die Seenotrettungsübung vorzubereiten, verschluckt wurden. „Ich muss los.“ Sie hauchte Nick, der immer noch der Frau nachsah, einen schnellen Kuss zu, ehe sie das Crewdeck in Richtung ihrer Kabine auf Deck 2 verließ. Sie musste sich wieder ins Outfit der Scouts werfen, bevor sie dann an ihrem Sammeltreffpunkt die Anwesenheit der Passagiere zu kontrollieren hatte.

Nick lächelte immer noch, als seine Freundin das Deck längst verlassen hatte. Er hatte sein Ziel endlich gefunden.

Kapitel 7

„Das ist also unser neues Zuhause für eine Woche.“ Charlotte ging an ihrer Tochter vorbei, die gerade ihren Koffer in den seitlichen Raum rollte, der bei näherem Hinsehen ein begehbarer Kleiderschrank war, und betrat die großzügig gestaltete und dank des großen Balkons lichtdurchflutete Kabine. Das Doppelbett mit angedeutetem Himmel, dessen Tagesdecke elegant aufgeschlagen war, thronte in der Mitte des Raums, der in einem warmen Gelbton gestrichen war. Auch die Vorhänge leuchteten sonnenfarben, während die Polsterung des Sessels am Schreibtisch und der großen Couch blau-beige gemustert war.

Ein Obstkorb mit Bananen, Äpfeln, einer Rebe Trauben und einer Handvoll Erdbeeren stand auf dem Couchtisch, daneben wartete eine Flasche Sekt darauf, geköpft zu werden. Auf dem großen Bildschirm des LED-Fernsehers begrüßte ein animierter Kapitän in weißer Uniform mit vier goldenen Streifen auf den Schultern die neuen Gäste und führte durch die virtuelle Kabine, die neben dem begehbaren Kleiderschrank mit integriertem Wäscheservice und der Veranda auch einen Wintergarten zum Relaxen und Lesen zu bieten hatte.

„Und, wie gefällt sie dir?“, fragte Eva, nachdem sie die Koffer verstaut hatte.

„Ich habe sie mir viel kleiner vorgestellt. Aber sie gleicht ja einem Hotelzimmer.“ Charlotte ließ ihren Blick durch die Kabine schweifen. „Wirklich schön, aber noch sind wir ja nicht losgefahren und bewegen uns nicht.“ Charlotte wippte ihren Oberkörper leicht hin und her.

„Ach Mama, sei doch keine Spielverderberin. Du wirst begeistert sein! Vertrau deiner Tochter doch einfach mal.“ Eva stupste ihre Mutter keck an, ehe sie an ihr vorbei in den Wintergarten ging. „Hier steht ein großer Lesesessel, in den man sich so richtig schön reinfläzen kann“, hörte Charlotte weit entfernt die begeisterten Worte ihrer Tochter, denn sie hatte sich längst wieder in ihre Gedanken geflüchtet. Selbst das „Mama? Wo bist du gerade?“ schien wie aus einer anderen Welt zu kommen.

Ob sie mir je verzeihen können?, fragte sie sich, während sie erneut an das morgendliche Telefonat denken musste. Sie würde ihn endlich wiedersehen, während dieser Reise und schon in wenigen Tagen! Und dann wird sich endlich alles fügen, so wie es sein soll. Sie spürte, wie die Entschlossenheit ihren Körper flutete. Ja, sie musste zuerst an sich denken, erst dann konnte sie die Welle auslösen, die alles mitreißen und hinwegspülen würde. Die nichts mehr zurücklassen würde, was bisher als gesetzt und unabänderbar galt. Selbst wenn es ihren eigenen Untergang bedeutete!

Das Aufheulen des Alarmsignals holte Charlotte ins Hier und Jetzt zurück. Hart und völlig unvorbereitet. Sieben kurze Töne. Ein langer Ton. Generalalarm. „Was war das?“, kreischte sie hysterisch auf und sah dabei ihre Tochter, die längst wieder in die Kabine zurückgekehrt war, Hilfe suchend an.

„Das war das Signal zur Seenotrettungsübung! Es geht los.“ Eva öffnete die mahagonifarbenen Türen des begehbaren Kleiderschranks und nahm die zwei Schwimmwesten heraus, die dort für die Passagiere verstaut worden waren.

Charlotte schaute ihrer Tochter in Gedanken versunken nach. Ob sie etwas ahnt?, fragte sie sich und wünschte, sie wäre damals nicht so ein labiles Ding gewesen, das immer nur das getan hatte, was der Familie gefiel. Was von ihr erwartet wurde. Was Wilhelmina immer eingefordert hatte! Bis zum bitteren Ende.

Ich weiß, dass ich alles richtig gemacht habe!, dachte Wilhelmina Nissen, als sie ihre Entscheidung noch einmal Revue passieren ließ. Es musste etwas geschehen. Dringend. Und sie hatte alle Vorkehrungen hierfür bereits getroffen. Jetzt musste sie den Dingen nur etwas Zeit geben, dann würde schon alles von selbst ins Laufen kommen.

Am liebsten wäre sie gehüpft. Wie früher, als das kleine Mädchen so gern auf der Straße in die mit Kreide gemalten Kästchen gesprungen war. Doch ihre wackeligen Beine hinderten sie jetzt daran. Ob ich heute Morgen doch lieber noch den Doktor hätte aufsuchen sollen?, fragte sie sich, nachdem ihr die junge Frau, die sich während der Reise um ihre Kabine kümmerte und auf den Namen Sunny Mae hörte, die schwere, feuerfeste Tür aufgehalten und sie in ihr neues Domizil hereingelassen hatte.

„Sie können jetzt gehen. Ich werde Ihnen hier eine kleine Aufmerksamkeit hinlegen“, sagte Wilhelmina und nickte der Frau, die ihrem Aussehen nach zu urteilen aus Ostasien stammte, mit einem kurzen Lächeln zu.

Ihre Beine! Schon seit Jahren hatte sie kaum mehr ein Gefühl darin, doch sie war zu stolz, sich in einen Rollstuhl zu setzen und sich durch die Gegend fahren zu lassen. Sie wollte ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben, selbst wenn das bedeutete, nach wenigen Schritten außer Atem zu sein oder sich alle paar Meter auf eine Bank setzen zu müssen, um sich etwas auszuruhen und so den Beinen die Möglichkeit zu geben, sich zu regenerieren und wieder neue Kraft zu schöpfen. Wenn man davon überhaupt sprechen konnte, denn wirklich zu Kräften würden ihre Beine nicht mehr kommen. Da halfen auch die ganzen Physiotherapien und Bewegungsbäder nicht, die ihr der Arzt verschrieben hatte. Solange es geht, werde ich selbst laufen. So lautete ihre knappe Antwort, wenn ihr Sohn, ihre Nichte oder deren Tochter sie wieder einmal davon überzeugen wollten, dass ein Rollstuhl doch die eindeutig bessere und sicherere Alternative der Fortbewegung war.

Wenn man vom Teufel spricht! Wilhelmina spürte, wie sie auch jetzt wieder die Kraft in ihren Beinen verließ. „Sunny Mae, könnten Sie mir bitte den Stuhl vorschieben“, sagte sie zu der Frau, die Wilhelminas Worte wohl nicht verstanden hatte. Anstatt sich zu verabschieden, hatte Sunny Mae an der Tür gewartet, um neue Anweisungen zu erhalten. Schon an der Gangway hatte sie Wilhelmina in Empfang genommen und zur Kabine gebracht. Danach hatte sie die ältere Dame an der Rezeption eingecheckt, die Koffer für sie abgeholt und diese dann ausgeräumt, um anschließend die Kleidungsstücke wie Unterwäsche und Strumpfhosen in den Kleiderschrank einzusortieren und die Kostüme, Röcke und Blusen, die in Kleidersäcken verstaut waren, aufzuhängen.

Sunny Mae tat, wie ihr befohlen, um nach einer eindeutigen Handbewegung dann die Kabine zu verlassen. „Ich lasse Sie wieder rufen, wenn ich etwas brauche“, rief Wilhelmina dem Zimmermädchen hinterher, dann war sie endlich allein. Ich muss jetzt unbedingt mit Karl sprechen, dachte sie und versuchte, sich nur auf ihre Beine zu konzentrieren. Mechanisch wie ein Roboter erhob sie sich langsam aus ihrem Sessel. Sie blieb einige Minuten am Tisch stehen und versuchte mit möglichst ruhiger Atmung ihrer inneren Unruhe Herr zu werden. Ihre Entscheidung, die ihr so viel Mut und Weitsicht abverlangt hatte, würde von der Person, die es am meisten betraf, als heimtückischer Verrat angesehen werden. Und das konnte sie ihr nicht einmal verdenken.

Plötzlich zitterte sie. Schon einmal war die List ihr Erfüllungsgehilfe gewesen, auch wenn sie sich selbst damals als überaus clever und schlau bezeichnet hatte, weil sie dieser List ihr Leben verdankte. Und nicht nur ihr eigenes. Doch dafür hatte sie jemand anderes verraten müssen.