Mond über Omaha - Jean Amila - E-Book

Mond über Omaha E-Book

Jean Amila

4,9

  • Herausgeber: Conte Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

»Ein Gemetzel brach los. Die Geschütze der Kasematten konzentrierten sich auf die neue Angriffswelle. In weniger als einer Minute war an dem fahlroten Schein der Explosionen zu erkennen, dass die Boote der Angreifer mehrere Volltreffer erhalten hatten. Die Überlebenden schwammen. Wie kleine Bälle ragten die Helme aus dem Wasser.« Zwanzig Jahre nach der Landung der Allierten in der Normandie wacht Sergeant Reilly über die Gräber seiner Kameraden am Omaha Beach. Als einziger Überlebender seines Zuges sieht er sich in der Pflicht, ihnen die letzte Ehre zu erweisen. Ihre weißen Kreuze stehen in Reih und Glied, der grüne Rasen ist tadellos gepflegt und nichts scheint die Ruhe des Gedenkens stören zu wollen. Erst beim Tod des Einheimischen Fernand Delouis, der die Gedenkstätte mit Dünger versorgt, stellt sich heraus,d ass in den Gräbern nicht immer die liegen, deren Namen auf den Kreuzen verzeichnet sind … Übersetzung aus dem frz. Originaltext: Helm S. Germer

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Seitenzahl: 263

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Inhalt
Cover
Jean Amila - Mond über Omaha
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
Impressum
Lesetipps

I

Nichts als der tiefliegende Himmel war zu sehen. Nur wenn sich das Boot mit dem Bug nach vorne neigte, konnte man als gräulichen Schleier den weit entfernt liegenden Strand erkennen. Frankreich!

Nur das Tosen der Wellen und die dumpfen Schläge der Brecher waren zu hören, bevor sie über dem Boot zusammenschlugen. Der Boden des Landungsboots war schon in einer Höhe von zwanzig bis dreißig Zentimetern mit Wasser bedeckt, das von vorne nach hinten, von Backbord nach Steuerbord schwappte und dabei unheilvoll in den Grätingen gluckerte.

Die ratternden Pumpen wurden des eindringenden Wassers nicht Herr. Die Männer hatten ihre Helme abgenommen, um damit das Boot auszuschöpfen. Immer wieder sah es so aus, als ob das LCA vor dem Erreichen des Strandes sinken würde, obwohl es eigentlich dreitausend Meter überstehen sollte ... Vielleicht hatten sich ja die Konstrukteure um einen ganzen Kilometer verrechnet?

Die erste Angriffswelle war bereits vor einer halben Stunde gelandet. Der Lärm des Abwehrfeuers aus den Bunkern und die Geschütze einiger bereits gelandeter Panzer waren zu hören. Ab und zu trugen Windstöße einzelne Gewehrsalven zu ihnen, aber alles dies erschien lächerlich nach dem gewaltigen Bombenangriff, der der Stunde X vorausgegangen war.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Hutchins gegen die Seekrankheit gewehrt, aber jetzt überkam ihn doch der Brechreiz. Er holte seine kleine, dunkelbraune Papiertüte hervor. Als sich Sergeant Reilly umwandte, erhoben sich neben ihm Brown und Bancroft zitternd und mit aschfahlem Gesicht.

Sie waren stärker bepackt als die tunesischen Lastesel, die die Veteranen der Kompanie im Afrikafeldzug gesehen hatten. Die Uniform mit den großen Taschen, Gasmaske und Handgranaten, in der Umhängetasche die sechs eisernen Rationen, dazu noch MG-Munition und Zünder mit Sprengstoff, um die Stacheldrahthindernisse in die Luft zu jagen. Sie waren vor Angst und Kälte wie gelähmt.

Brown schaute in Richtung Frankreich. Dort war nichts als Rauch zu sehen. Große, rötliche Rauchsäulen standen für zerstörte Ziele, kleine, schwarze Rauchschwaden stiegen senkrecht in den Himmel, änderten alle auf der gleichen Höhe ihre Richtung: Wahrscheinlich die Panzer der ersten Welle, die Volltreffer erhalten hatten.

So weit das Auge reichte, konnte man im Morgennebel das Panorama der Invasionsflotte erkennen. Aber dort unten sah alles ganz anders aus. Jeder war auf sich allein gestellt, mit der dumpfen Resignation eines Herdentieres, das zur Schlachtbank geführt wird.

Hutchins, der auf einer Bootsplanke kauerte, versuchte sich aufzurichten, um seine kleine braune Papiertüte ins Meer zu werfen. Er verfehlte jedoch sein Ziel und die Tüte klatschte gegen die Bootswand, wo ihr Inhalt in schleimigen und übelriechenden Schlieren herunterlief. Brown und Bancroft lehnten sich gleichzeitig über den Bootsrand und kotzten los.

Sergeant Reilly kniff seine Schweinsäuglein mit den blonden Wimpern zusammen, wandte sich Hutchins zu und schrie ihn wie auf dem Kasernenhof an:

»Verdammter Idiot! Kannst du nicht aufpassen!«

»Zu Befehl, Sergeant«, antwortete Hutchins unterwürfig.

Er wollte nur noch eines, den Strand erreichen. Trotz des feindlichen Feuers, ja sogar direkt vor einem Bunker wäre er dort noch sicherer als in diesem gottverdammten Boot, das langsam aber sicher in dieser widerlichen, eiskalten Brühe unterging.

Eine Gruppe von Moskito-Jagdflugzeugen donnerte im Tiefflug über das Meer auf die Küste zu. Hutchins blickte ihnen einen Augenblick lang nach. Die Einschläge der Bomben brachten den Eisenkörper des Landungsbootes zum Vibrieren.

Fast zur gleichen Zeit vernahm er die Zurufe und Schreie der Männer von Steuerbord und richtete sich auf.

Die gesamte zweite Landungswelle der Infanterie näherte sich in Hunderten von Booten der Küste. Das Landungsboot, das der Küste am nächsten war, hatte gerade einen Volltreffer erhalten. Vielleicht war es auch auf eine Mine gelaufen. Von ihm blieb nur eine Säule aus Wasser und einigen Trümmern übrig, die im Umkreis von zwölf Metern ins Wasser fielen. Mitten auf dem Meer war jetzt nur noch ein silbrighell leuchtender Kreis zu sehen. Von dem LCA 510 und dem gesamten dritten Zug der Kompanie C war nichts mehr übrig.

Lieutenant Cairn schaute ständig auf seine Uhr. Wie seine Männer trug auch er jede Menge Marschgepäck. Sein Gesicht war bleich und er sprach mit niemandem: ein neuer Offizier, der im Lager von Dartmoor zur Kompanie versetzt worden war.

Hutchins fühlte sich nach dem Erbrechen besser. Er wollte diesen guten Rat an seine Kameraden weitergeben, aber Brown und Bancroft waren mittlerweile völlig fertig.

Der Dieselmotor ratterte ungleichmäßig, gelegentlich heulte er in den Wellentälern auf. Hutchins musste unwillkürlich an Gela denken.

Gela war kein Mädchenname. So hieß der Ort in Sizilien, wo seine erste Landung stattgefunden hatte. Wie dann in Salerno, so bildete auch hier die Big Red One die Angriffsspitze. Eine Division zäher, eisenharter Männer, alles Veteranen mit großer Klappe. Um einen ihrer verdammten Kriege zu gewinnen, brauchten sie natürlich die Big Red One. Reißt nur euer Maul auf, so oft ihr wollt, aber verreckt dann wenigstens auch!

Die Infanterie, die Königin der Schlachten! Und dazu noch die erste amerikanische Infanteriedivision! Es war schon etwas Besonderes, eine rote »1« auf der Schulterklappe zu tragen und die längste Gefallenenliste aufzuweisen. Von den fünfzehn Kameraden, die damals bei Piège à rats dabeigewesen waren und die Höhe 609 in Tunesien erstürmt hatten, die sich völlig betrunken und die Männer der Intendantur in Oran ausgenommen hatten, waren nur vier Veteranen übrig geblieben, darunter der unverwüstliche Sergeant Reilly und George Hutchins, der die Gesichtszüge und die Nerven eines alten, erschöpften Boxers hatte. Und das mit erst dreiundzwanzig Jahren!

Die Lippen waren vom Salzwasser verkrustet, der gesamte Körper war durchnässt, aber die Kälte spürten sie besonders an den Füßen.

Das Landungsboot schien mit jeder Welle schwerer zu werden. Man konnte geradezu sehen, wie es immer tiefer zu liegen kam. Dieses Mal kam der Befehl von Lieutenant Cairn. Die Männer, die sich mit ihrem Gepäck und ihren Rettungsringen kaum bewegen konnten, nahmen alle ihre Helme ab, um damit Wasser zu schöpfen.

Diese stupide Arbeit tat gut und hinderte sie am Nachdenken. Dann schien es plötzlich so, als ob eine Reihe von Hammerschlägen gegen die Wand des Bootes prasselte, und allen Männern wurde klar, dass es neben den Brechern und der Möglichkeit unterzugehen auch noch den Feind gab, der sie am Strand erwartete. Ein schweres MG nahm sie unter Beschuss.

Während ihrer Ausbildung für diese Landung hatte jeder der Männer in England gelernt, was er zu tun hatte. Zu den Lieutenant Cairn unterstellten Männern, die einen Granatwerfer anlandeten, gehörten sechs Pioniere mit Bangalore-Torpedos sowie zwölf Infanteristen unter der Führung von Sergeant Reilly.

Eigentlich sollten die Schwimmpanzer und die erste Angriffswelle der Infanterie bereits das feindliche Feuer am Strand zum Erliegen gebracht haben. Aber je näher sie der Küste kamen, desto deutlich war zu sehen, dass dort alles schiefgelaufen war.

Einer nach dem anderen hatten die Männer ihr Kochgeschirr auf der Kunststoffkappe zurechtgerückt und hielten ihre eingefetteten Gewehre mit den verstopften Mündungen für den Moment bereit, in dem sie ins Wasser springen mussten.

Das kleine Landungsboot schrammte über den sandigen Meeresboden, dann wurde es von den Wellen nach vorne getragen. Ein kurzes Rütteln und etwa eine weitere Minute lang näherte es sich dem Festland.

Mit einem Ächzen, das durch den ganzen Bootskörper ging, lief es erneut auf Grund. Das Heck trieb ab, das Boot bekam Schlagseite. Mittlerweile konnte man zwar den Strand erkennen, aber er erschien noch sehr weit weg. Es galt, zuerst einen breiten Wasserstreifen zu überwinden, bevor man festen Boden unter den Füßen haben würde.

So weit das Auge reichte, sah man Trümmer. Überall trieben Leichen im Meer. Das Feuer aus den Bunkern und den MG-Stellungen war klar und deutlich zu erkennen. Alles sah nach einer Niederlage aus, der Angriff war völlig gescheitert.

Linker Hand war in etwa zehn Metern Entfernung der Geschützturm eines Sherman-Schwimmpanzers zu sehen, der nicht einmal den Strand erreicht hatte.

Die Laufbrücke wurde heruntergeklappt, aber niemand rührte sich vom Fleck. Sergeant Reilly warf Hutchins und Bancroft einen kurzen Blick zu.

»Vorwärts, Männer!«

Nun war es an den Veteranen, mit gutem Beispiel voranzugehen. Da gab es nichts zu diskutieren. Reilly stürzte sich als erster in die Fluten, Hutchins sprang hinterher: Die Luft schien ihm wegzubleiben und seine Füße verloren den Halt.

Dieses Mal war es ganz anders als bei den vorherigen Landungen und den Übungen in England. Auch die Landung am Strand hatte nicht geklappt. Die Männer standen nicht bis zu den Waden, sondern bis zu den Achseln im Wasser. Sie mussten sich mit den Gewehren in den erhobenen Händen den Schwimmwesten anvertrauen.

Unterkühlt und außer Atem ruderte Hutchins mit den Armen wie ein Ertrinkender.

Er war ein ausgezeichneter Schwimmer, aber das ganze Gepäck und die Schwimmweste schienen einzig und allein dazu gemacht zu sein, ihn in seinen Bewegungen zu hindern. Eigentlich war vorgesehen, dass das Menschenmaterial nicht an Land schwimmt, sondern an Land geht.

In den meterhohen Wellentälern fühlte er sich plötzlich allein. Dann wurde er von den Wellen wie in einem Fahrstuhl in die Höhe gerissen und bot sich, wie ein Gummiball auf einem Wasserstrahl, dem Feind wie auf dem Präsentierteller dar.

Er hatte keine Lust vorzurücken, aber seit der Einschiffung war ihm wie allen anderen Männern klar, dass es keinen Weg zurück gab. Nach einem Moment, der ihm wie eine Ewigkeit vorkam, merkte er, dass ihm das Wasser nur noch bis zu den Unterschenkeln ging und dass er jetzt am Marschieren war, so wie es Angriffsplan und Dienstvorschrift von ihm verlangten.

Er war also mit der steigenden Flut auf dem Strand angelangt. Frankreich! Plötzlich rief er laut auflachend aus:

»Ich sprechen Französische!«

Er sagte dies zur Erde, zum Sand; es klang wie eine Bitte um besonderen Schutz für ihn, der doch Französisch sprach!

Große, spitz zulaufende Eisenträger ragten in unregelmäßigen Abständen aus dem Wasser. Hutchins spürte einen Schmerz im rechten Knöchel. Zuerst nahm er an, eine Kugel habe ihn getroffen.

Er ließ sich sofort ins Wasser fallen und spürte die Trümmerreste, die ihm dabei die Haut aufritzten: Es war nichts, noch nicht einmal eine Schramme. Aber er fühlte sich sicherer, als er in dem einen halben Meter tiefen Wasser lag. Sein Gewehr, seine Handgranaten und seine ganze Ausrüstung waren inzwischen völlig durchnässt und damit unbrauchbar.

Weniger als fünfzig Meter von ihm entfernt feuerte ein Panzer, der immer noch im Wasser stand. Nach jedem Schuss aus seinem 75er Geschütz bildete sich eine fächerförmige Schockwelle auf der Wasseroberfläche.

Hutchins entdeckte das Dutzend Soldaten, das hinter dem Panzer in Deckung gegangen war und regelrecht an ihm zu kleben schien. Sie standen bis zum Hintern im Wasser und warteten ab. Mit jeder Welle wurde die kleine Gruppe in der Brandung hin und her gerissen.

Er robbte auf sie zu, fest entschlossen, das Wasser nicht zu verlassen, aber seine Schwimmweste war ihm im Weg und er verlor das Gleichgewicht.

Direkt hinter ihm sah er Lieutenant Cairn, der schwankend seine Beine bewegte, als ob sie in einer Tonne Melasse feststeckten. Sein Gesicht war aschgrau, sein Helm, der aussah, als sei er viel zu groß für ihn und ihm über die Augen zu fallen schien, und der straff angezogene Kinnriemen, hinter dem sein Kiefer verschwand, ließen nur noch ein kleines Stück von seinem Gesicht übrig, in dem sich das blanke Entsetzen widerspiegelte.

Er war jedoch auf der Höhe der Aktion und rief ihm im Vorbeigehen zu:

»Sammeln!«

Auf einmal befand sich Hutchins auf trockenem Sand. Instinktiv rannte er auf den Kieselstrand zu, wo bereits andere Soldaten in Deckung gegangen waren.

Er war von Kopf bis Fuß völlig durchnässt und hatte das Gefühl, mehr als eine halbe Tonne zu wiegen ... Wap, wap, wap! Er wich mehreren Leichen aus und stolperte unvermittelt über einen Fuß, der aus dem Sand ragte.

Er blieb einfach liegen, genoss es, auf einmal einfach nur bäuchlings dazuliegen. Er beschloss, keinen Schritt mehr zu tun.

Nach vierundzwanzig Stunden auf hoher See spürte er wieder Sand unter sich. Vor seinen Augen erstreckte sich richtiger Sand, der ihm warm erschien. Guter französischer Sand, der jedoch im nächsten Augenblick zu seinem Grab werden konnte.

Durch das Rauschen der Flut und die Einschläge im Sand schien der Boden ständig zu erzittern.

Ein riesiges Gemetzel!

In Sizilien war die Landung wenigstens mitten in der Nacht erfolgt. Sogar das Verschwinden des Mondes war abgewartet worden. Sie hatten sofort den Strand verlassen und sich im Hinterland verteilt. Erst sechs oder acht Stunden später hatten die Deutschen mit ihren Panzern den Gegenangriff unternommen. Dabei war es ihnen fast gelungen, sie ins Meer zurückzutreiben.

Dieser Angriff hier war dagegen einfach genial! Eine glänzende Idee! Angriff bis zum Gehtnichtmehr! Wenn der Feind mit seinen Waffen im Abschnitt Fox fünzig Männer in der Minute erledigen konnte, dann mussten wir eben hundert Männer pro Minute am Strand anlanden. Einfach unwiderlegbare Logik! Es genügte, im Bereich Omaha Beach mehr Männer anzulanden, als der Feind in kürzester Zeit töten konnte. Ein Angriffsplan, der durch seine Einfachheit besticht. Bildung ist schon was Feines!

Hutchins blieb flach auf dem Bauch liegen. Wenn er so einfach liegen bliebe, glaubte er, würde es ihm nicht mehr so viel ausmachen, dass er vor Angst und Kälte zitterte.

Außerdem hatte er keine Kraft mehr. Sein Körper klebte durch das Gewicht des Wassers und der Ausrüstung am Boden, schien wie gelähmt. Er sah, wie sich kleine Rinnsale im Sand bildeten, wie sie größer wurden, wie sie zu kleinen Tümpeln wurden und schließlich versickerten.

Der Sand war nicht trocken, sondern feucht vom Regen. Als er ihn jedoch wegkratzte, stieß er nach wenigen Zentimetern Tiefe auf trockenen. Er erinnerte sich an den Klappspaten, den er am Gürtel trug.

»Muss unbedingt ein Loch graben.«

Aber dafür hätte er sich bewegen müssen und dazu verspürte er nicht die geringste Lust.

Jemand ließ sich neben ihn fallen. Er bekam Sand ins Gesicht.

»Blödes Arschloch!«

»He, du von der Vierten Kompanie!«, sagte jemand mit tonloser Stimme.

Kaum dreißig Zentimeter von seinem Kopf entfernt sah er den Kopf eines Mannes aus seinem Zug. Ein großer Dunkelhaariger namens Harry, der aus Tennessee stammte. Der Mann hatte offensichtlich Angst.

»Hast du schon einen Heimatschuss abbekommen?«

Als Hutchins ihm keine Antwort gab, fuhr der andere fort:

»Bist du verwundet?«

Der Kleine hatte noch kein feindliches Feuer erlebt. Er kam frisch aus dem Ausbildungslager in Claiborne. Eine tolle Feuertaufe! Hatte er sich vielleicht nur deswegen neben dem Veteranen zu Boden geworfen, um sich sicherer zu fühlen?

»Grab dich ein!«, rief Hutchins.

Aber der andere rührte sich auch nicht.

»Hast du Sergeant Reilly gesehen?«

Als ob er etwas Sensationelles entdeckt hätte, fügte er, in die Stille hinein, hinzu:

»Vielleicht sind nur wir beiden übrig.«

Hutchins zog seine Knie an, richtete seinen Oberkörper auf und befreite sich von seiner Ausrüstung. Eine Last fiel von ihm ab: Er fühlte eine große Erleichterung.

Überall auf dem schmalen Strand schlugen Geschosse ein, die von allen Seiten zu kommen schienen.

Zum Meer hin herrschte ein gewaltiges Durcheinander. Vor ihm aber gab es nur diesen Kieselstrand, auf dem sich die Männer zusammendrängten und sich ganz klein machten.

Jedes Nachdenken war überflüssig, denn der Körper befahl ihm, sich so wenig wie möglich dem feindlichen Feuer auszusetzen. Hutchins warf sich wieder flach auf den Boden.

Als ihm Sand um die Ohren flog, wurde ihm klar, dass auch Harry seine Ausrüstung abgelegt hatte.

»Ich grab mich jetzt auch ein«, sagte der junge Kerl.

Ganz in der Nähe gab es drei Explosionen. Es war, als ob ein Bagger sie mit Sand zuschüttete. Hutchins verschwand im Sand, als ob er ganz darin versinken wollte. Er hatte die Arme schützend um den Kopf gelegt, das Gesicht in den Sand gedrückt.

Nach einem Augenblick, der ihm wie eine Ewigkeit vorkam, fühlte er einen Schmerz am linken Oberschenkel, der langsam in sein Bewusstsein drang.

»Mich hats erwischt!«

Aber er rührte sich nicht. Ein ekelhafter Gestank ließ ihn plötzlich aufspringen.

»Ein Bauchschuss! Jetzt kommt mir die ganze Scheiße entgegen!«

Es war jedoch Harry, dessen Gedärme ihm entgegenkamen. Er war nach hinten geschleudert worden und über seine Beine gefallen. Sein Bauch war aufgerissen und stank. Der Schmerz im Oberschenkel kam von dem Gewicht des Toten.

Hutchins stieß den toten Kameraden, Vorwürfe murmelnd, zur Seite:

»So einer, gibts denn so was ...«

Er konnte den furchtbaren Gestank nicht länger ertragen. Er stand wieder auf, nahm sein Gewehr, an dem überall feuchter Sand klebte, und rannte sich duckend auf den Kieselstrand zu.

Er sah, wie rechts neben ihm der Sand aufgewirbelt wurde und hörte, wie die Kugeln pfiffen. Er warf sich in voller Länge auf die großen runden Kiesel, die ihn am Weiterlaufen hinderten. Vorwärts kriechend erreichte er einen kleinen Steinwall, der etwas höher als einen Meter war und die Hochwassermarke darstellte.

Zwei Männer des 116. Regiments waren bereits dort. Sie saßen im Schneidersitz mit dem Rücken an den Steinwall gelehnt. Keiner sagte etwas. Auch Hutchins setzte sich mit dem Rücken gegen die Mauer und schaute auf die See.

Zuerst beruhigte es ihn ein wenig, diese ganze Flotte dort zu sehen. Dann wurde ihm mit einem Schlag klar, dass die Feuerkraft dieser ganzen Armada praktisch bei Null lag.

Der Panzer, den er hinter sich gelassen hatte, erschien jetzt im Wasser sehr weit weg und feuerte auch nicht mehr. Alle Boote waren gekentert, eine Ordnung war nicht zu erkennen. Nach kurzer Zeit ging ein beißender Rauch nieder, der einen Teil des Strandes einhüllte.

Von ganz nah hörte er das Feuer eines Geschützes, das sich oberhalb des Steinwalls befand, und das Rattern der MGs, deren Geschosse über den Strand fegten.

Im Meer schwammen Leichen, die mit der steigenden Flut angeschwemmt wurden und sich in der langsam herankriechenden Gischt sammelten. Fast alle lagen auf dem Bauch. Sie erinnerten an grotesk verrenkte Puppen, die von der Brandung hin und her geworfen wurden.

Wegen des Windes, des wilden Tosens der Wellen und der Explosionen der Geschosse konnte man sich nur schreiend verständigen:

»Wo ist denn dieser verdammte Bunker?«

Der Soldat des 116. Regiments hob den Daumen und zeigte, ohne sich vom Platz zu rühren, nach hinten:

»Schau halt selber nach!«

Darauf hatte Hutchins überhaupt keine Lust. Die beiden Männer aus der ersten Angriffswelle hatten sich für die beste Lösung entschieden, nämlich in Deckung zu gehen und abzuwarten, bis alles vorüber war. Am besten war es, es ihnen nachzutun.

Da unten links wurde das Feuer manchmal stärker. Aber Hutchins hätte den Kopf nicht einmal zwei Zentimeter weit vorgestreckt, um zu sehen, was dort los war.

Während der Überfahrt hatte niemand geschlafen. Plötzlich fühlte er sich völlig erledigt. Er dachte an die vitaminhaltige Schokolade in seiner Tasche, doch der leiseste Gedanke daran, sich bewegen zu müssen, rief bei ihm Übelkeit hervor. Seine Glieder waren eiskalt. Überall lief ihm das Wasser herunter. Von den nassen Kleidern, die ihm am Körper klebten, drang immer mehr die Kälte in ihn ein. Er klapperte mit den Zähnen.

»Wir gehen hier alle drauf!«

Wie lange dauerte das Ganze schon? Fünf Minuten? Eine Stunde etwa? Er wusste es nicht.

Mechanisch zog er Stiefel und Strümpfe aus: Über ein halber Liter Wasser war darin. Ein Einschlag in der Nähe zwang ihn dazu, sich flach auf den Boden zu werfen. Ein Fuß war nackt, der andere steckte noch im Stiefel.

Das Brausen der immer näher kommenden See war wie ein Wiegenlied. Er fühlte, wie eine gewisse Schläfrigkeit Besitz von ihm ergriff.

Einfach nur abwarten. Er kannte das schon ...

In Troina, auf Sizilien, hatte er bei einem fehlgeschlagenen Angriff mit einem Dutzend Kameraden, von allen anderen abgeschnitten, sechs Stunden in einer Ruine verbracht. So wie jetzt: Es galt abzuwarten, bis alles vorbei war. Wenn die Angst am größten war, wurde einfach abgeschaltet. Das beherrschten nur die Veteranen.

Ein Mann lief geduckt den Steinwall entlang auf sie zu.

»Die Zwölfte! Zwölfte Kompanie!«

Die beiden Männer, die neben Hutchins saßen, gaben keine Antwort. Aber der andere erkannte sie und rief sie bei ihrem Namen.

”Los, Männer! Sammeln!”

»Hau ab!«, rief einer der Männer, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Du hast niemanden gesehen.«

Der andere entfernte sich wortlos. Drei Meter weiter war sein Rufen wieder zu hören:

»He, ihr von der Zwölften! Sammeln!«

Einen Augenblick später standen die beiden Männer von der Zwölften schweigend auf und folgten ihm.

Hutchins blieb allein zurück und rubbelte seinen nackten Fuß mit der Socke, die klitschnass und voll Sand war.

Genau vor ihm wateten Männer aus dem Meer, die ein mit Sprengstoff beladenes Schlauchboot mit sich führten. Pioniere. Hutchins wurde plötzlich wieder klar, dass er Soldat war und bestimmten Befehlen Folge zu leisten hatte. Sein Gewehr hatte er einfach fallengelassen. Er musste erst einmal feststellen, ob seine Waffe noch funktionierte: Vorläufig war es nur ein einfaches Stück Metall, an dem nasser Sand klebte.

Er öffnete das Schloss der Waffe, um es zu untersuchen. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. Er warf seine nutzlose Socke weg und stülpte wieder den eiskalten Stiefel über seinen nackten Fuß.

Er griff nach dem Sand zwischen den Kieseln und ließ ihn durch die Finger gleiten. Auf einmal war der Krieg ganz weit weg. Er dachte an die mit Kiefern bedeckten Sandhügel am Delaware und an die große Glashütte Gladel, wo er an den Farböfen der Chemiefabrik gearbeitet hatte. Sand! Sand war sein Schicksal.

Dies war jedoch nur ein flüchtiger Gedanke, wie ein Gedankenblitz. Jetzt befand er sich wieder am Strand, von Wasser und Feuer gleichermaßen bedroht. Er war nichts weiter als ein Tier im Schlachthaus.

In der Nähe hörte er Sergeant Reilly brüllen:

»Vierte Kompanie! Soldaten der Vierten Kompanie, sammeln!«

Aus den Kasematten wurde jetzt massiv in Richtung Westen gefeuert. An der Stelle, wo er lag, wurde das Feuer schwächer.

»Auf gehts, Hutchins! Sammeln! Hast du irgendwo unseren Lieutenant gesehen?«

»Nein«, antwortete Hutchins.

Nur ungern stand er auf und folgte dem Sergeanten. Sie liefen geduckt weiter, glitten über die Kiesel und kamen ab und zu an einer Gruppe Soldaten vorbei, die sich wie ein Schwarm Insekten zusammendrängten.

»Vierte Kompanie! Sind hier Männer der Vierten Kompanie?«

Niemand antwortete ihm, weshalb Sergeant Reilly seine Visage mit den hellen Augenbrauen vorschob und die Männer einen nach dem anderen musterte.

Manche brachten einen tödlich getroffenen Kameraden angeschleppt, der direkt hinter dem Steinwall am Krepieren war. Auf den Gesichtern spiegelten sich Apathie und Schmerz wider.

»Der Granatwerfer ist uns abhanden gekommen«, rief Reilly ihnen zu.

Hutchins schaute ihn ungläubig an. Was hatte schon ein Granatwerfer mehr oder weniger in diesem einseitigen Gemetzel zu bedeuten?

Niemand feuerte mehr. Alle sahen so aus, als ob sie nur noch vergessen werden wollten.

Plötzlich machte Reilly kehrt und zog Hutchins mit sich.

»Cairn muss verschütt gegangen sein.«

Beim Laufen floss ihnen das kalte Wasser an Rücken und Beinen hinunter.

Hinter einem Haufen verbogener Eisenträger, denen der Sprengstoff eine gelbliche Färbung verpasst hatte, erkannte Hutchins einige Gesichter wieder. Der Zug formierte sich aufs Neue.

Niemand hatte den Lieutenant am Strand gesehen. Plötzlich war nichts mehr eilig. So lange er nicht da war, blieb nichts anderes übrig, als zu warten und, so gut es eben ging, in Deckung zu gehen.

Drei junge Soldaten legten sich ungelenk in Position. Sie hielten ihre Waffen in die Lücken zwischen den Distelsträuchern. Großer Gott, worauf wollten sie denn schießen?

»He! Hutchins!«

Das war Brown, der sich neben Bancroft hinter der kleinen Mauer zusammenkauerte. Mit dem Rücken zum Feind formierte sich die Gruppe der Veteranen des Afrikafeldzugs wieder neu.

Bancroft, ein großer, hagerer Mann mit tiefliegenden Augen und einer Adlernase, warf einen Blick auf den Neuankömmling, rutschte ein wenig zur Seite, um ihm Platz zu machen und fragte:

»Siehst du hier irgendwo Artillerie?«

Eine Antwort war überflüssig. Es ging aber eigentlich auch nur um so etwas wie eine gemeinsame Verständigung unter den drei Veteranen.

»Alles ist schiefgelaufen!«, sagte Brown.

Seit der Stunde X war auf einer Länge von fünf Kilometern weder Panzer noch ein Mann über den angeschwemmten Kieselstrand hinausgekommen. Das Meer saß ihnen im Nacken. Mit jeder neuen Welle wurden auf einem immer schmäler werdenden Streifen Tote, Lebende und Material, das zu drei Vierteln unbrauchbar war, zusammengedrängt.

Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass es entweder ein furchtbares Blutbad geben oder dass der Feind bei einem Gegenangriff mit einem Schlag alle Überlebenden der Big Red One einsacken würde. So eng zusammengepfercht wie Gefangene saßen sie ohnehin schon da.

Ausgelaufenes Öl ließ die Wogen der Brandung in allen Regenbogenfarben schillern ... Auf! Her mit euch, ihr kleinen Puppen, streckt eure Hintern nur in die Luft! ... Jetzt waren sie nur noch zwanzig Meter entfernt. Das Meer trug sie wie ein gut dressiertes Tier herbei.

Eine Welle neuer Boote näherte sich dem Strand. Ein Gemetzel brach los. Die Geschütze der Kasematten konzentrierten sich auf die neue Angriffswelle. In weniger als einer Minute war an dem fahlroten Schein der Explosionen zu erkennen, dass die Boote der Angreifer mehrere Volltreffer erhalten hatten.

Die Überlebenden schwammen. Wie kleine Bälle ragten die Helme aus dem Wasser, so dass sie das wütende Feuer der MGs auf sich zogen.

»Mörder!«, murmelte Brown.

Und dabei dachte er nicht an den Feind!

Wo waren sie denn, diese Idioten von Eliteoffizieren, die diesen tollen Angriffsplan entworfen hatten? Etwa auf einem der Schlachtschiffe, die weit draußen auf dem Meer kreuzten, stets dazu bereit, an einen anderen Strand zu verschwinden, wenn das hier alles schiefging? Oder vielleicht noch in London, um ihre „grauen Zellen” nicht allzusehr dem feindlichen Feuer auszusetzen?

Jemand sagte, dass Cairn gefallen sei. Bald wurde dies bestätigt. Die Leichen des Lieutenants und dreier weiterer Männer des Zuges waren gefunden worden.

Jetzt reichte der tote Winkel des kleinen Steinwalls nicht mehr aus. Überall wurde es so eng wie in der U-Bahn. Ständig stiegen Soldaten aus dem Meer, die auf dem immer schmäler werdenden Streifen Strand kaum noch Platz fanden.

Es war wärmer als in der Morgendämmerung, der Gestank nach Rauch und Öl wurde unerträglich.

»Captain Corbett ist da!«

In der Tat, wenige Minuten später war er zu sehen, wie er, ohne von den Männern auch nur Notiz zu nehmen, den Kieselstrand entlangrannte. Aber zweifellos hatte er Sergeant Reilly Befehle erteilt. Dieser kehrte, den Kiefer kantig nach vorne gestreckt, mit schmalen Lippen und den glänzenden Augen eines braven Strebers, der gegen das Schlimmste, was passieren kann, Vorsorge getroffen hat, zu den Soldaten zurück.

»Männer, los gehts! Wir müssen vorrücken. Jetzt geht es richtig los!«

Der geniale Plan schien folgendermaßen zu funktionieren: Fahren wir nur ruhig den Karren in den Dreck, dann werden die Männer schon alles tun, um ihn wieder herauszuziehen!

Seit einer Stunde hatten die drei Veteranen nur das Meer betrachtet. Sie hatten nicht den geringsten Versuch unternommen, einen kurzen Blick in Richtung Festland zu werfen. Als sie am Strand gelandet waren, hatten sie ja schon genügend Zeit gehabt, sich alles anzusehen, die Hügel, die Kasematten, die Stacheldrahtverhaue, die Geschütze und MGs, die in alle Richtungen feuerten. Sie hatten sich schon zu sehr an die Schlacht gewöhnt.

Es war wie beim Stierkampf, der auch nicht länger als zwanzig Minuten dauern darf: Um sie zum Sturmangriff zu bringen, hatte man zwar vor ihnen eifrig die Fahne wie eine Muleta geschwenkt, aber sie wussten bereits, dass der wahre Feind der Vorgesetzte ist. Den mussten sie aufs Korn nehmen und nicht die kleine Fahne, die als Köder nur den Feind verbarg.

Red du nur!

Stillschweigend schlossen sich alle drei zusammen.

Ihr einziges Ziel war es, am Leben zu bleiben.

II

Sergeant Reilly rückte seine Krawatte zurecht, knöpfte seine Uniformjacke zu und setzte sein Schiffchen auf.

Er hatte einen kräftigen Nacken und mächtige Schultern. Die Vierzig hatte er schon überschritten.

Er nahm das zusammengelegte Banner, das auf einem Tisch lag, und ging hinaus.

Heute wurde der Tag gefeiert, den die Einheimischen Johannistag nannten. Es war Sonnenwende. Die Sonne war über dem Meer aufgegangen und würde über demselben Meer auch wieder untergehen.

Das Muhen der Kühe drang von dem kleinen Tal herüber, in dem Colleville lag; hier aber war alles still und friedlich.

Er ging am Haus des Oberkonservators entlang, wo sich noch nichts regte. Sobald er an der Hecke aus Pomponrosen vorbei war, breiteten sich endlose Reihen weißer Marmorkreuze vor ihm aus.

Er war ganz allein, trotzdem legte er eine stramm militärische Haltung an den Tag, als ob er eine Sondereinheit anführte. Mit nach vorne ausgestreckten Armen trug er vorschriftsmäßig die zusammengelegte Flagge. Die rechte Hand umschloss, leicht gewölbt, die Ösen. Nur der Kies knirschte im Takt seiner Schritte: Links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei, vier.

An dem riesigen Portikus des Memorials bog er scharf nach rechts ab und schritt das vierzig Meter lange Becken entlang, in dem sich das Wasser leicht in der Meeresbrise kräuselte. Dann hielt er auf den Fahnenmast zu.

Mit wenigen routinierten Handgriffen hängte er die Ösen ein, zog langsam die Flagge an der zwölf Meter langen Leine auf und schob den Keil ein. Er ging drei Schritte zurück, nahm eine stramme Haltung an und schaute hinauf: Über dem amerikanischen Soldatenfriedhof von Omaha Beach flatterte das Sternenbanner.

Im Laufe des Jahres gab es Anlässe, bei denen die Nationalflagge in einem viel feierlicheren Rahmen gehisst wurde. Etwa am 6. Juni, wo man bis elf Uhr ausharren musste, bis die hohen Herren erschienen, die Soldaten der Heeres-Sondereinheit in Paradeuniform aufmarschierten und die Militärkapelle auftrat, die vom Natohauptquartier entsandt wurde und das Star Spangled Banner spielte.

Zwei Wochen darauf, am Unabhängigkeitstag, würde dasselbe Theater dann noch einmal von vorne losgehen. Aber während der ganzen übrigen Zeit kam Reilly seiner Pflicht bei Wind und Wetter alleine nach.

Vom Friedhof aus bot sich ihm ein einzigartiger Ausblick.

Es war gerade Ebbe. In der Ferne waren gegen Osten die riesigen Betonquader im künstlichen Hafen von Arromanches zu erkennen, die von der aufgehenden Sonne angestrahlt wurden. Genau gegenüberliegend, im Westen, war der Zipfel des Cotentin bis nach Saint-Vaast und Barfleur zu sehen.

Aber um Omaha Beach sehen zu können, der weiter unten lag, musste man schon bis zum Rand des Plateaus gehen, bis zur Orientierungstafel: Von dort aus konnte man den ganzen Strand übersehen, an dem die Landung stattgefunden hatte.

Wegen der Ebbe waren die großen Amphibienfahrzeuge, die zur Schrotteisenverwertung eingesetzt wurden, bereits wieder auf das offene Meer hinausgefahren. Seit bald zwanzig Jahren zerlegten die Männer, die auf ihnen arbeiteten, mit Schneidbrennern die nach der großen Landung zurückgebliebenen Wracks.

Zwanzig Jahre seines Lebens hatte Reilly bereits hier verbracht, und er kannte jeden Fußbreit des Geländes. Fast direkt unterhalb der Orientierungstafel stand der Gedenkstein für die 6. Pionierbrigade, etwas weiter gegen Westen der schwarze Marmorobelisk, der an die erste Infanteriedivision erinnerte.

Heute war kein besonderer Tag. Reilly hatte seine Orden zu Hause gelassen, aber am Revers seiner Uniformjacke hingen die drei Bänder mit dem Silver Star, dem Purple Heart und dem D.S. Cross in einer Reihe nebeneinander. Reilly war mehr als nur ein Friedhofswärter: Er war ein Held.

Er bedauerte bloß, dass der Ort, wo er so schwer verwundet worden war, auf französischem Boden lag und nicht hier in der US-Enklave. Es handelte sich nur um etwa zwanzig Meter: auf dem anderen Ufer des fußbreiten Bächleins, in dem es Krebse gab und das hier über die Kiesel plätscherte, bis es schließlich im Sand des Strandes versickerte.

Das war jetzt alles schon bald zwanzig Jahre her und somit schon längst Geschichte. Kolonnenweise rückten heute die Touristen in vollgestopften Bussen an, sie trugen Shorts und nahmen an der Rundfahrt zu den Landungsstränden teil. Da ging es zum künstlichen Hafen von Arromanches, dem Gedenkstein in Sainte-Marie-du-Mont, zu zerbombten Bunkern auf der Pointe du Hoc und in Omaha Beach gab es einen vierzigminütigen Aufenthalt zur Besichtigung der Gräber, die eine Fläche von sechzehn Hektar einnahmen.

In etwa eineinhalb Stunden würde das große Tor für die Besucher geöffnet werden. Doch die Arbeiter, die sich um die Instandhaltung des Soldatenfriedhofes kümmerten, knatterten schon auf ihren Mopeds heran.