Mondscheinjunge - Carla Buckley - E-Book + Hörbuch

Mondscheinjunge Hörbuch

Carla Buckley

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Beschreibung

Umgeben von Dunkelheit bringt er ein grausames
Geheimnis ans Licht.


Tylor Lattimore feiert seinen vierzehnten Geburtstag, aber noch immer weiß er nicht, wie sich die Strahlen der Sonne auf seiner Haut anfühlen – denn er kann nur leben, wenn es dunkel ist. Licht fügt ihm unerträgliche Schmerzen zu und kann sogar tödlich sein. Er verbringt seine Tage in einem verschlossenen Zimmer, nur nachts wagt er sich nach draußen. Seine größte Leidenschaft ist seine Kamera, mit der er durch die Dunkelheit streift. Als Amy, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, plötzlich spurlos verschwindet, gerät Tylors Leben in Aufruhr. Seiner Mutter, die sich unermüdlich um sein Wohlergehen kümmert, scheint der Vorfall sehr nahezugehen. Was war in dem sonst so ruhigen Wohnviertel passiert, dass Amy nicht mehr nach Hause zurückkehrte? Ausgerechnet Tylor sieht jetzt klarer als irgendjemand sonst und entdeckt eine Spur, die geradewegs ins Unheil führt …

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Zeit:12 Std. 37 min

Sprecher:Mark Bremer

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Buch

Der vierzehnjährige Tyler Lattimore ist anders als andere Jungen in seinem Alter. Schon seit seiner Kindheit leidet er an einer Krankheit, die sein Leben zur Hölle macht. Er reagiert sensibel auf Licht und kann das Haus tagsüber nicht verlassen. Das ist nicht nur für ihn eine große Belastung, die gesamte Familie leidet unter dieser Einschränkung. Seine Mutter Eve versucht, es ihrem Sohn so leicht wie möglich zu machen und kämpft unermüdlich dafür, dass er trotz allem immer wieder Freude am Leben haben kann. Als eines Tages die Tochter einer Freundin spurlos verschwindet, werden die Lattimores und die Familien in dem sonst so ruhigen Wohnviertel auf eine harte Probe gestellt. Was war passiert, dass Amy eines Abends nicht mehr nach Hause kam? Warum geht es Eve so nahe? Ausgerechnet Tyler entdeckt eine Spur. Dass damit sein Leben völlig aus den Fugen gerät, kann er nicht ahnen …

Weitere Informationen zu Carla Buckley

finden Sie am Ende des Buches.

CARLA BUCKLEY

Mondscheinjunge

Roman

Ins Deutsche übertragen

von Eva Bonné

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

»The Deepest Secret« bei Bantam Books, einem Imprint

von Random House, Random House LLC, Penguin

Random House Company, New York.

Die Zeilen aus dem Gedicht »ich trage dein herz (ich trage es in meinem herzen)« sind aus: Complete Poems: 1904–1962 von E. E. Cummings, herausgegeben von George J. Firmage. Copyright 1952, © 1980, 1991 der Erbengemeinschaft des E. E. Cummings Trust. Mit freundlicher Genehmigung der Liveright Publishing Corporation. Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné.

Copyright © der Originalausgabe by Carla Buckley 2014

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-15565-0V003

www.goldmann-verlag.de

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Für Jillian, Jonathon und Jocelyn,

deren Herzen ich trage (in meinem Herzen)

hier ist das tiefste geheimnis, um das keiner weiß

(hier ist die wurzel der wurzel und die knospe der knospe

und der himmel des himmels von einem baum, der leben heißt;

der höher wächst, als die seele gehen und der geist steigen kann) –

und das sind die wunder, die den raum zwischen den sternen schwärzen

ich trage dein herz (ich trage es in meinem herzen)

– e. e. cummings

Sie sitzt auf ihrem Lieblingsplatz am Fenster und lässt die Puppe auf ihren Knien tanzen. Im Türrahmen hinter ihr huscht eine Schattengestalt vorbei. Er ist hier nicht der Einzige, der sie beobachtet.

Donnerstag, 28. August

Sonnenaufgang 6:56 Uhr

Sonnenuntergang 20:11 Uhr

Eve

Geburtstage sollten fröhliche Anlässe sein, deswegen plant Eve eine Party. Sie hat die üblichen Befürchtungen. Welche Gäste werden erscheinen? Wird Tyler seine Geschenke mögen? Hinzu kommen besondere Sorgen, jene, die andere Eltern nicht haben. Doch an die will sie jetzt gar nicht denken.

Sie backt einen Kuchen, ein überdimensionales iPad, dessen Fertigstellung eineinhalb Tage in Anspruch nimmt statt der im Internet versprochenen sechs Stunden. Das Problem ist der Zuckerguss, der genau die richtige Konsistenz haben muss, damit der blaue See nicht ins grüne Ufer verläuft. Und dann diese winzigen Icons. Dutzendweise sind ihre Fehlversuche mit verwackeltem Facebook-f im Müll gelandet; die kleine Fotokamera sieht aus, als hätte ein dicker Daumen sie zerquetscht. Wegen der Ballons zögert Eve noch. Braucht man die überhaupt, im Dunkeln? Warum nicht?, denkt sie schließlich. Auf dem Rückweg vom Partyladen hat sie so viele riesige Ballons auf dem Rücksitz, dass sie im Rückspiegel nichts mehr sehen kann. Sie stellt sich vor, von der Polizei angehalten zu werden. Fahren unter Einfluss von Helium.

Als Eve nach Hause kommt, wartet Melissa schon in der Küche. Sie hilft, die Tüten ins Haus zu tragen. Sie greift nach den Ballons, runzelt über die bunten Regenbogenfarben die Stirn. »Pink, Mom? Im Ernst?«

Melissa hat sich die langen schwarzen Haare zu einem lockeren Dutt hochfrisiert, der oben auf ihrem Kopf sitzt und an dem sie, Eve weiß es genau, stundenlang herumgezupft hat. Einer der Spaghettiträger von Melissas Top ist verrutscht, und ein blasser, von der Sonne unberührter Streifen Haut blitzt hervor. Eve möchte den Träger richten und ihre Tochter ermahnen, auf sich achtzugeben, aber Melissa kann es nicht mehr hören. »Pink sieht im Mondlicht besonders gut aus«, sagt Eve.

Ein Klopfen an der Küchentür. Charlotte und Amy sind früher gekommen, um zu helfen. Die liebe Charlotte. Was würde Eve ohne sie anfangen, ohne ihre Güte, ihren Humor? Charlotte hat ihr geholfen, die finsteren Zeiten zu überstehen. Sie hat dafür gesorgt, dass Eve nicht den Verstand verlor.

»Einmal scharfer Chili-Dip und eine Extraportion Sour Cream, auf besonderen Wunsch«, sagt Charlotte und stellt die Schüsseln auf dem Küchentresen ab. Ihr Lächeln ist resolut. Amy wirkt rebellisch. Eve vermutet, dass die beiden sich wieder einmal einen Mutter-Tochter-Streit geliefert haben.

Charlottes Haar ist raspelkurz und dunkelrot gefärbt. Es bedeckt ihren Kopf wie ein Helm, betont ihre hohen Wangenknochen und den langen Hals. Einen Tag, nachdem Owen ihr die Scheidungspapiere zugeschickt hatte, war sie losgegangen und hatte sich die langen blonden Haare abschneiden lassen. Wie findest du es?, fragte sie, als sie in Eves Küche stand. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die neue Frisur, um die Spitzen aufzustellen. Sehe ich aus wie eine Frau, die jede Menge Spaß am Leben hat?

Amy hat ein Geschenk mitgebracht. Das leuchtend blaue Papier ist an den Kanten zerknittert, das weiße Geschenkband zu einer krummen Schleife verdreht. »Field Forces Three«, flüstert sie verschwörerisch, als könnte Tyler, der oben in seinem Zimmer sitzt, sie hören. »Meinst du, es gefällt ihm?« Sie hat braune Augen und blassgoldene Wimpern, auf ihre Wangen haben sich einzelne Sommersprossen verirrt. Sie ist ein kleiner Kobold, eine seltsame, zarte Elfe, die zum geheimen Kummer ihrer Mutter ausschließlich Rosa trägt. Charlotte findet das einfallslos.

»Er wird begeistert sein«, flüstert Eve zurück und legt dem Kind eine Hand auf die schmale Schulter. Ist es in Ordnung, dass Tyler so viel Zeit vor dem Computer verbringt?

Sie gehen auf die Terrasse, die Hitze ist immer noch erdrückend. Amy hopst davon, sie will Melissa helfen, die Ballons am Trampolin festzuknoten. Die Sonne steht knapp über dem Horizont und streckt ihnen gierige, orangerote Strahlen entgegen, die lange Schatten auf den Rasen und die Terrasse werfen. Früher hat Eve die Sonne geliebt, sie hat sich stundenlang im Freien aufgehalten und bräunen lassen, das Gesicht immer der Wärmequelle zugekehrt. Näher als in Momenten wie diesem kommt sie der Sonne inzwischen nicht mehr.

»Hat David sich gemeldet?«, fragt Charlotte, und Eve schüttelt den Kopf. Es gab nur noch wenige Flüge von Washington, D. C. nach Columbus. Vielleicht hat David sich beeilt und den letzten erwischt, ohne ihr Bescheid zu geben. Ich werde alles versuchen, um dabei zu sein, hatte er gesagt. Falls er mit dem aktuellen Projekt fertig wird. Falls er pünktlich loskommt. Eve ertrinkt in seinen vielen Falls. »Er bringt Tylers Geschenk mit. Er hätte mich vorgewarnt, wenn er es nicht geschafft hätte.« Sie sagt das, um sich selbst zu beruhigen. Sie sagt es, damit es wahr wird.

»Vielleicht will er euch überraschen?«

Wäre das nicht wunderbar? Wenn das Tor sich öffnen und David den Garten betreten würde, das braune Haar über der hohen Stirn ganz zerwühlt und auf den Lippen ein wissendes Lächeln, das seine blauen Augen zum Strahlen bringt? Früher hat er sie ständig überrascht. Mit einer kleinen Nachricht auf dem Badezimmerspiegel, einer einzelnen, per Kurier versandten Rose.

Ihre Eltern haben sich ebenfalls noch nicht gemeldet. Immerhin haben sie eine Karte in einem blauen Umschlag geschickt, der nun auf dem Küchentisch steht. Tyler wird ihn sehen, sobald er die Treppe herunterkommt. Darin steckt wohl wie üblich ein Scheck, und wie üblich wird Tyler vorgeben, sich zu freuen. Geld bedeutet ihm nichts. Wie auch?

Um 20:11 Uhr öffnet sich der Riegel und Tyler schlurft aus seinem Zimmer, seine Digitalkamera in der Hand. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagt Eve und schlingt ihre Arme um ihn. Das künstliche Licht zuckt über die Gläser seiner Sonnenbrille, er senkt peinlich berührt den Kopf.

»Herzlichen Glückwunsch, Schwachkopf«, sagt Melissa und knufft ihn sanft in den Oberarm.

Seine Freunde stehen schon auf der Terrasse, sie schubsen und drängeln. Von den eingeladenen sieben sind nur vier gekommen, aber immerhin ist sein bester Freund dabei. Die Jungen sind unterschiedlich groß und breit, sie stecken in jenem merkwürdigen Alter, in dem sie aussehen, als gehörten sie nicht derselben Spezies an. Als Taylor die Terrasse betritt, fangen sie zu jubeln an. Er passt gut in die Gruppe hinein, ist weder zu groß noch zu klein. Als er die leuchtenden Papierlampions entdeckt, verzieht er das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Cool«, sagt er und hebt die Kamera.

Die Pizza wird angeliefert, Charlotte hilft Eve beim Austeilen. Amy huscht im Garten herum, stibitzt Obst von den Bäumen, jagt den blinkenden Glühwürmchen nach. Ein paar Nachbarn schauen vorbei. Es tut weh, Albert ohne Rosemary zu sehen. Er ist gealtert, seine Bewegungen sind langsam und er muss sich an einer Stuhllehne abstützen. Sophie lässt sich nur kurz blicken, ebenso Neil Cipriano, der sich im Hintergrund hält. Von den neuen Nachbarn, den Rylands, ist nichts zu sehen, was Eve aber nicht überrascht. Charlotte hat ihnen das Haus verkauft und anschließend von dem Paar geschwärmt. Du wirst sie mögen, hatte sie zu Eve gesagt. Was für eine nette Familie! Aber Charlotte wusste, dass Eve erst beruhigt sein würde, wenn sie mit den neuen Nachbarn über Tyler gesprochen hatte. Eve hatte auf dem Weg zum Partyladen kurz angehalten, um die Ryders zu begrüßen. Sie standen in der Einfahrt und schauten den Möbelpackern beim Ausladen zu. Holly hörte sich Eves Vortrag interessiert an, aber letztendlich war es Mark, der ihr den Korb mit den weißen Glühbirnen aus der Hand nahm. Klar, sagte er. Kein Problem.

Was hätte sie andernfalls getan? Tyler wäre nie wieder in der Lage gewesen, das Haus zu verlassen, geschweige denn sich im eigenen Garten aufzuhalten. Sie wollte David anrufen, um ihm die Neuigkeiten zu überbringen, erreichte aber nur die Voicemail. Stell dir vor, sagte sie und hinterließ eine Nachricht. Sie wusste nicht, wann er sie abhören würde.

Tyler scheint sich zu amüsieren. Er springt mit seinen Freunden auf dem Trampolin herum, dessen Sprungfläche unter dem Gewicht von fünf Heranwachsenden beängstigend tief durchsackt. Sie haben den Rasensprenger unter das Trampolin gezogen und stoßen heulendes Gelächter aus, wann immer sie von dem rotierenden Wasserstrahl getroffen werden. Eve hatte sich überlegt, einen Kinosaal zu mieten oder die Jungs zu einer Abenteuerführung durch die nahe gelegene Höhle einzuladen, aber Tyler hatte kopfschüttelnd abgelehnt. Nein, hatte er gesagt, ich möchte gar nichts.

Er wird älter, sagte David, als sie fürchtete, ihr Sohn könnte depressiv sein. Es war zu schön, um wahr zu sein – aber was, wenn es nicht stimmte? Mit dem Therapeuten, den sie gefunden hatte, war Tyler nicht zurechtgekommen. Ich suche dir einen anderen, schlug sie vor, aber er knurrte nur. Hör einfach auf damit, Mom, sagte er, also hatte sie aufgehört. Doch sie tauscht sich weiterhin mit den anderen XP-Müttern aus. Vierzehn ist ein gefährliches Alter, da sind sie alt genug, um zu verstehen, aber noch zu jung, um sich damit abzufinden. Vierzehnjährige reiben sich an den Verboten auf und umgehen die schützenden Regeln. Eve hat von den furchtbaren Kämpfen gehört, die andere Mütter ausstehen mussten. Weiß er denn nicht, dass er die Sonnenbrille tragen muss? Ich habe sie erwischt, als sie sich aus dem Haus schleichen wollte! Sie hat zugehört und mitgelitten. Tyler fängt jetzt schon damit an, Risiken einzugehen. Er weigert sich, seine Maske zu tragen, wenn sie zum Arzt fahren. Er hasst diese Maske und lässt sie im Regal verstauben. Eve kann ihn nicht zwingen, sie anzulegen. Die anderen Mütter hören ihr zu, murmeln Beruhigungen. Selbst die bravsten Kinder rebellieren irgendwann.

Sie trägt den Kuchen hinaus, die Kerzen flackern im Dunkeln, alle singen Happy Birthday. Sie erkennt die Züge ihres Ehemanns im kerzenbeschienenen Gesicht ihres Sohnes wieder, die volle Unterlippe und die runden Augen. Tyler wünscht sich etwas und bläst die Kerzen aus. Charlotte wirft Eve einen Blick zu, greift hastig zum Messer und macht sich daran, den Kuchen anzuschneiden, damit Eve sich in eine dunkle Ecke zurückziehen und fassen kann.

Vierzehn Geburtstage also. Sie kann sich an jeden einzelnen erinnern. An den vierten, als die Kinder bellend und mit Dalmatinerschlappohren, die Eve mit der Heißklebepistole aus schwarzem und weißem Filz gebastelt hatte, durchs Haus tobten. Den Kuchen aßen sie wie Hundefutter aus einer großen Edelstahlschüssel. An den fünften, als sie mit an Schnüren befestigten Magneten nach Geschenken angelten. An den siebten, als alle Gäste Cowboyhüte trugen und über dem Lagerfeuer Würstchen brieten. An den neunten, als sie mit phosphoreszierender Kreide HERZLICHENGLÜCKWUNSCH!!! auf den Gehweg vor dem Haus geschrieben hatte. Sie hatte eine Spur bis hinunter zum Park am Ende der Straße gezogen, wo Tylers Freunde hinter den Büschen darauf warteten, aus ihrem Versteck zu springen und ihn zu überraschen. An den elften, als sie den Garten in eine Mondlandschaft verwandelt hatte und die Kinder Astronauteneis aßen und fluoreszierende Frisbeescheiben warfen, die weiße Lichtschweife hinter sich herzogen.

Sie alle waren wunderbar gewesen, herrlich und improvisiert, aber der allerbeste war sein erster Geburtstag gewesen, der einzige Geburtstag vor der Diagnose. Sie hatten ein Planschbecken aufgestellt, und Tyler hatte den ganzen Nachmittag darin gespielt, in die Hände geklatscht und mit drallen Beinchen das Wasser gestampft. Ihre Eltern waren zu Besuch gekommen, und auch Davids Vater. Sie hatten so viele Geschenke mitgebracht, dass Eve ein paar davon beiseitelegen musste, für später. Die dreijährige Melissa war durch den Garten gehüpft und hatte ihr Lieblingslied von Barney gesungen, und am Ende war sie auf Davids Schoß eingeschlafen. Das war der glücklichste Geburtstag von allen gewesen. So einen würden sie nie wieder feiern.

Tyler in der Nacht

Die ans Trampolin geknüpften Ballons schweben über dem Rasen wie zappelige, angeleinte Haustiere. Ihre Oberflächen schimmern in allen Grautönen. Wo das Küchenlicht an ihm vorbei auf die Terrasse fällt, leuchten die Steinfliesen blassgelb. Der Rest des Gartens liegt im Dunkeln. Tyler kann sich nicht mehr erinnern, wie die Welt in Farbe aussieht.

Die Luft hat sich abgekühlt. Der Abend war schwül, aber seine Mom hatte sich geweigert, die Party nach drinnen zu verlegen. Eher wäre die Erdachse verrutscht. Das Radio dudelt, sie summt mit. Dieses alberne Lied mit der Zeile »Gehe wie ein Ägypter«. Was soll das überhaupt bedeuten?, hatte Tyler sie einmal gefragt, aber sie hatte nur gelacht. Wer weiß? In den Achtzigern waren wir verrückt nach dieser Musik.

Er spannt die Mülltüte auf, und seine Mom wirft Gabeln, zerknüllte Servietten und mit Zuckerguss beschmierte Pappteller hinein. »Ich glaube, es hat allen gefallen«, sagt sie.

Es hatte an diesem Abend nur einen seltsamen Moment gegeben, nämlich als Dr. Cipriano mit einem Geschenk in der Hand durchs Gartentor trat. Wie viele Kinder bekamen an ihrem Geburtstag Besuch vom Zahnarzt? Zach hatte Tyler nicht damit aufgezogen, aber er hätte es gekonnt.

»Ich kann nicht fassen, wie groß Mitch geworden ist. Ich habe ihn kaum wiedererkannt.« Sie geht in die Hocke und streckt sich nach einem Becher, der umgekippt unter dem Küchentisch liegt.

Der spitze Dachgiebel des Nachbarhauses sticht von unten in den Nachthimmel. Den ganzen Tag lang hatte er durch die Lüftungsklappen im Fußboden seines Zimmers die Stimmen der Möbelpacker gehört. Seine Mom hatte ihm eine SMS geschickt. Sie sei drüben bei den neuen Nachbarn gewesen, und sie hätten sich bereiterklärt, normale Glühbirnen zu benutzen. Mom hatte fünf Smileys daruntergesetzt. Nun brennt im Obergeschoss des Hauses Licht, Schatten bewegen sich hinter dem Fenster. Unter der blau gestrichenen Zimmerdecke dreht sich ein Ventilator. An der Wand steht ein hohes, leeres Bücherregal. »Wo soll das hin?«, fragt eine Männerstimme. Sie klingt so nah, dass Tyler zusammenzuckt.

Eine Frauenstimme antwortet.

Sie hätten zur Party kommen können. Sind sie aber nicht. Immerhin, sagt seine Mom, sind sie heute erst eingezogen. Mom hatte sie eingeladen, so wie die meisten Nachbarn aus der Straße. Als wären sie alle eine große, glückliche Familie, eine Vorstellung, die Tyler zum Gähnen findet. Die Gäste, über die er sich am meisten gefreut hätte, sind nicht erschienen. Sein Dad hängt in D. C. fest, Rosemary lebt nicht mehr und Yoshi kann unmöglich aus Japan anreisen. Yoshi ist nicht seine beste Freundin, aber etwas ganz Besonderes. Sie hatte geschrieben, sie habe eine Überraschung für ihn, aber dann hatte er den ganzen Tag vergeblich auf eine Nachricht von ihr gewartet.

»Zach sagt, dass er dieses Jahr im Footballteam mitspielt.« Seine Mom zupft ein verheddertes Geschenkband aus einem Rosenbusch.

Zach hatte vor der Highschool eine Heidenangst gehabt. Er und Tyler hatten den Gebäudeplan der Schule aus dem Internet heruntergeladen, um Zachs Tagesablauf zu planen und die kürzesten Wege von einem Gebäude zum anderen zu finden. Wie sich herausstellte, blieben ihm, wenn er zum Sportunterricht nicht zu spät kommen wollte, nur fünf Minuten, um von einem Ende des Schulgeländes zum anderen zu laufen. Mach dir keine Sorgen, hatte Tyler gesagt, du schaffst das. Und Zach hatte geantwortet: Dude, wir reden hier nicht von der Middle School.

Tylers Highschool wird sich kein bisschen von der Middle School unterscheiden. Er wird den Computer hochfahren, die Maus antippen und dem Lehrer zunicken, der schon vor der Klasse steht. Seine Mom hatte ihm gesagt, dass die Klasse viel größer sein wird. Angeblich soll das etwas Gutes sein. Da kannst du neue Freundschaften schließen. Doch ihre gezwungen fröhliche Stimme hatte ihm verraten, dass sie sich ebenfalls Sorgen machte. Zach musste ständig daran denken, dass er nicht mehr in dieselbe Klasse gehen wird wie seine Freunde.

»Was ist mit dir, Schätzchen?« Sie hebt zusammengeknülltes Geschenkpapier auf. Er und die Jungs haben damit Fußball gespielt. »Hattest du Spaß?«

»Klar.« Er weiß, wie gern sie das von ihm hört. Sie hat seit Ewigkeiten geplant, gekocht, geschmückt. Aber wie hätte er Spaß haben sollen? Schließlich ist er nicht mehr in dem Alter, in dem man Geburtstagspartys cool findet. Hurra, eine Torte. Hurra, Geschenke. Inzwischen hat er es durchschaut. Hurra, verdammtes Nichts. Er verknotet den Müllbeutel und trägt ihn zur Tonne. Er wirft einen Blick in das schwarze Loch. Er wünscht sich, er könnte darin verschwinden und den Deckel über sich zufallen lassen.

Im Gesicht spürt er einen stechenden Schmerz. Überrascht tastet er seine Wange ab. Sie ist nass. Regnet es? Verdattert legt er den Kopf in den Nacken und sieht die Sterne leuchten. Ein zweites Ziehen, diesmal auf seinem Handrücken. Er dreht sich zum Haus um und entdeckt seine Mom. Sie hält die Riesenwasserpistole, ein Mitbringsel von Mitch, im Anschlag.

Darauf gibt es nur eine Antwort: den Gartenschlauch, und zwar voll aufgedreht; Tyler zielt über den Rasen, woraufhin seine Mom sich hinter die alte Ritterburg kauert. Im selben Augenblick fliegt die Terrassentür auf.

»Was tut ihr da?«, fragt Melissa.

Tyler dreht sich um, und der Wasserstrahl trifft seine Schwester. Sie stößt einen Schrei aus und springt zurück. »Was soll das?«

»Oh, mein Schatz, tut mir leid!« Aber Mom lacht, und Tyler kann nicht anders. Er lacht auch.

»Ich hasse euch!« Melissa wirft den Kopf zurück und verschwindet im Haus.

Seine Mom kommt aus der Deckung und legt einen Arm um seine Schulter. Sie sind beide nass, ringsum steigt der Geruch von Gras auf. Die kleinen, harten Knoten in seiner Brust lösen sich. »Es ist spät«, sagt sie in seine nassen Haare hinein. »Du musst ins Bett. Den Rest räume ich morgen auf.«

Vor seinem Zimmer bleibt er noch einmal stehen. »Danke«, sagt er. »Du weißt schon. Für alles.«

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Schatz.«

Er tippt sich mit dem Zeigefinger auf die Nase, auf die Wangen – erst rechts, dann links. An die Stirn, ans Kinn, an den Hals. Ihm ist eine Haarsträhne dazwischengekommen, deswegen muss er von vorn beginnen. Nase, Wangen, Stirn, Kinn, Hals. Diesmal fühlt es sich richtig an. Er zupft sich am Ohrläppchen, erst rechts, dann links. Er atmet tief durch. Okay. Er ist bereit.

Er zieht die Handschuhe über und nimmt die Taschenlampe aus der Schreibtischschublade. Seine Mom bewahrt in allen Zimmern des Hauses eine Taschenlampe auf. Dad witzelt immer, sie seien die einzige Familie in der Nachbarschaft, die auf die Apokalypse vorbereitet ist.

Die Tür zu öffnen ist der heikelste Moment. Wenn es darum geht, das Schnappen von Schlössern zu hören, besitzt seine Mom übersinnliche Kräfte. Eins, zwei, drei. Der metallische Klick ist leise wie ein Flüstern, kaum zu hören. Tyler wartet dennoch ab, er rechnet damit, jeden Moment seine gähnende, den Bademantel zuknotende Mom zu sehen. Alles okay, Ty? Um Melissa muss er sich keine Gedanken machen. Sie schläft immer mit iPod-Kopfhörern ein.

Der Garten liegt, abgesehen von den Stellen, auf die das Mondlicht fällt, im Dunkeln. Er kann die einzelnen Steinfliesen der Terrasse erkennen, die schimmernden Armlehnen der Gartenstühle. Er atmet tief ein, füllt seine Lunge. Warum ist die Luft so viel reiner, wenn man ganz allein ist?

Er schleicht zum Gartentor hinaus auf die dunkle Straße. Als er noch klein war, zog seine Mom vor Gericht und erwirkte, dass die Straßenlaternen in ihrer Sackgasse ausgeschaltet bleiben. Es gibt einen Zeitungsartikel mit einem Foto, auf dem sie mit verschränkten Armen am Laternenpfahl lehnt. Auch ihn hatten sie fotografieren wollen, aber Mom hatte es nicht erlaubt.

Es ist schon fast Mitternacht. Kommt er zu spät?

Sophies Verandalampen brennen und werfen eine Lichtschürze auf den Vorgarten. Ihr VW-Käfer steht in der Einfahrt. Melissa hat ihm erzählt, das Auto sei hellblau – eine hübsche Farbe, die im weißgelben Schein der Außenleuchte jedoch schmutzig wirkt. Sophie verwendet normale Glühbirnen statt Halogen, also ist er in Sicherheit. Er könnte vor ihrer Veranda tanzen, ohne dabei Schaden zu nehmen. Alle Fenster sind schwarz, es sieht so aus, als wäre sie oben in ihrem Schlafzimmer, aber Tyler weiß es besser.

Er umrundet das Haus, aber kurz bevor er die Holzveranda erreicht hat, gehen im Untergeschoss alle Lichter an. Er macht sich an seiner Kamera zu schaffen und nimmt die Kappe vom Objektiv, und als er den Kopf wieder hebt, steht Sophie direkt hinter der Fensterscheibe und streckt die Hand nach der Jalousie aus. Heute Abend trägt sie wieder das schwarze Lederkleid – schulterfrei, mit einer Schnürung an der Vorderseite. Es hat nichts mehr mit dem Outfit zu tun, in dem sie auf seiner Party erschienen ist – lange Hose und eine weite, bis zum Hals zugeknöpfte Bluse. Er drückt gerade noch rechtzeitig auf den Auslöser, bevor die Jalousie herunterrauscht. Die Lichtquelle in ihrem Rücken lässt Sophies Körperkonturen hervortreten. Dann wird die Beleuchtung gedimmt, und er weiß, sie hat den Computer eingeschaltet. Er fragt sich, welche Spiele sie spielt und ob er je online gegen sie angetreten ist. Leider kennt er ihre Spitznamen nicht.

Dr. Ciprianos Haus ist auf allen Seiten von schmalen Zypressen umgeben. Tyler schiebt sich an den starren Zweigen vorbei in den Garten und kriecht an die Kellerfenster heran, um einen Blick ins Untergeschoss zu werfen. Er besitzt ein paar interessante Fotos, die den hochkonzentrierten Dr. Cipriano bei der Arbeit an einem merkwürdigen Objekt zeigen; während er hämmert, bäumt sich sein Schatten an der Rückwand des Kellers auf. Aber heute sind alle Fenster dunkel.

Aus Alberts Fenster fällt ein gelber Lichtschein auf den Rasen und lässt die Haufen aus Eichenlaub erglühen. Die Blattränder sehen scharfkantig aus. Bald wird das ganze Laub gefallen sein. Sommergrüne Bäume produzieren ein Enzym, das die Nährstoffverbindungen zu den Blättern kappt, sodass sie absterben. Tyler hat noch nie davon gehört, aber vielleicht existiert irgendwo ein Baum, dem dieses Enzym fehlt. Ein Baum, der rund ums Jahr grün ist. In einem Menschen stecken fast sechzigtausend unterschiedliche Enzyme. Tyler fehlt nur ein einziges davon.

Er schleicht geduckt durch Alberts Garten und wirft einen Blick in die Küche, die immer noch genauso aussieht, wie Rosemary sie hinterlassen hat – die gerahmten Karikaturen berühmter Chefköche mit albernen Mützen hängen in diagonaler Reihe an der Wand, und auf dem Tresen stehen vier blau-weiße Vorratsdosen, daneben die Salz- und Pfefferstreuer in Hahnenform, deren Schnäbel sich berühren wie beim Zwiegespräch. Was sie wohl sagen?, hatte er Rosemary gefragt, und sie hatte ein nachdenkliches Gesicht gemacht. Ich hab dich piep? Albert ist nirgendwo zu sehen, aber unter dem Topf auf dem Herd zuckt eine Gasflamme.

Früher war Albert Pilot. Im Keller hingen mit Tesafilm an die Wand geklebte Karten, auf denen lange rote Linien seine alten Flugrouten anzeigten. Bangkok, Paris, Sydney. Albert war schon überall. Aber ich bin immer nach Hause zurückgekommen, pflegte er lächelnd zu sagen. Nach Rosemarys Tod half Tyler ihm, die Karten abzuhängen. Darf ich sie behalten?, hatte er gefragt, und Albert hatte ihm eine überraschend leichte Hand auf die Schulter gelegt. Natürlich, hatte er gesagt, sie gehören dir.

Nebenan steht das Backsteinhaus der Farnhams mit der großen Terrasse. Die Erkerfenster im Erdgeschoss sind mit Gardinen verhängt. Es ist der einzige Ort, dem er sich nicht nähern darf. Tyler zeigt dem Haus den Mittelfinger und folgt dem Radweg.

Der Spielplatz liegt verlassen da, die Schaukeln hängen gerade herunter, die Rutsche ragt still und dunkel in die Höhe. Genau hier sind er und Rosemary der Bestie begegnet, gleich neben dem Basketballfeld. Eigentlich hatte nur Rosemary sie gesehen. Er hatte den Kopf zu langsam gedreht, hatte nur noch einen hellen, blassen Umriss erkennen können, der in der Ferne zwischen den Baumstämmen verschwand. Rosemary sagte, es sei ein Wolf gewesen, vielleicht sogar ein Puma. Seither hält er nach der Bestie Ausschau, hat aber bislang nicht einmal einen Pfotenabdruck gefunden. Er verlässt den Radweg und schlägt sich in den Wald. Er bewegt sich langsam, um die Tiere nicht zu erschrecken. Er bleibt stehen, um das Nest zu untersuchen, in dem die Kaninchenbabys aneinandergekuschelt lagen, Nase an Schwänzchen, aber es ist leer. Die Jungtiere müssten inzwischen alt genug sein, um allein zurechtzukommen. Tyler hört Stimmen, ganz in der Nähe, und bleibt wie angewurzelt stehen. Er verrenkt sich den Hals, um zu sehen, woher sie kommen. Wenige Meter entfernt lichten sich die Bäume und geben den Blick auf die kleine Brücke über dem Bach frei. Darauf stehen zwei Personen, er kann ihre Köpfe und Schultern im schwachen Mondlicht gerade noch ausmachen.

Er setzt die Kamera auf einer Astgabel in niedriger Höhe ab und sucht nach dem Fernauslöser. Er bückt sich, um einen Blick durch den Sucher zu werfen. Der Rest der Welt verschwindet, und nur zwei Menschen bleiben übrig, die einander gegenüberstehen: ein Mann und eine Frau. Er kann die Nasenspitzen erkennen, die Rundung eines Kinns. Sie halten Händchen, haben die ineinander verschlungenen Finger auf das Holzgeländer gelegt. Er betätigt den Auslöser und hält den Augenblick für alle Ewigkeiten fest. Diese beiden Menschen werden nie wieder genau so dort stehen, unter demselben Blätterdach, über das sich der Sternenhimmel spannt.

Er hat versucht, Zach zu erklären, was daran so cool ist. Es ist wie beim Touchdown, hatte er gesagt, und Zach hatte genickt. Verstehe, sagte er, aber Tyler bezweifelt, dass er es tatsächlich verstanden hat.

Er schießt ein zweites Foto. Nach dem sanften Klick dreht die Frau sich um. Tyler hält den Atem an, sein Herz pocht. Sie kann ihn nicht erkennen, wie er reglos und in dunkler Kleidung zwischen den Bäumen steht, und wendet ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mann zu. Nach ein paar Minuten gehen sie weiter, leise ins Gespräch vertieft.

Tyler stellt sich auf die Brücke und leuchtet mit der Taschenlampe in das Wasser unter seinen Füßen. Die Elritzen stieben als zittrige, braune Umrisse nach allen Seiten davon. Einmal hat Rosemary ihm erzählt, dass die Fische, so wie er, nachts nicht schlafen. Es hat ihn getröstet zu erfahren, dass er und die Grillen nicht die einzigen nachtaktiven Wesen auf der Welt sind.

Rosemary war gern mit ihm durch den schlammigen Bach gewatet, nie hatte sie sich geekelt, wenn sie gegen ein Krabbeltier stieß oder neben ihr ein Fisch aus dem Wasser sprang. Seine Mom hatte sich Sorgen gemacht, weil Rosemary alt war und stürzen und sich verletzen konnte, aber Rosemary hatte nur gelacht und gesagt, sie brauche die Bewegung, um fit zu bleiben. Also hörte seine Mom auf, ihm die Ausflüge zu verbieten, und kaufte ihm stattdessen sein erstes Handy. Falls etwas ist, sagte sie, drückst du einfach auf diese Taste, dann komme ich sofort und hole euch. Aber Rosemary war nicht gestürzt. Sie war eines Tages eingeschlafen und nie wieder aufgewacht.

Er erreicht die Stelle, an der riesige Thujen ihre langen, verdrehten, tief hängenden Äste mit den schuppenförmigen Blättern von sich strecken. Während er sich hindurchschiebt, reißt er sich die Kapuze vom Kopf und zieht die Handschuhe aus. Die Luft an seinen Handflächen fühlt sich kühl an, und er macht die Finger krumm, wie um die Frische aufzuschaufeln. Er stellt das Stativ auf und schraubt die Kamera fest. Er installiert den Fernauslöser, überprüft noch einmal Blende und Verschlusszeit. Dann zieht er sein Handy aus der Tasche, setzt sich auf den Boden und wartet.

Auf Facebook ist nicht viel los. Wahrscheinlich schlafen alle. Morgen müssen sie früh raus, die Orientierungswoche steht an. Während der Party hat Zach nur davon geredet, so wie die anderen auch. Zuerst werden sich alle bei Timmy Ho’s treffen, um Donuts zu kaufen. Eine Mom fährt sie zur Schule, eine andere holt sie ab. Später gehen alle zum North Pool, um ein letztes Mal vor Saisonende schwimmen zu gehen. Tyler hat den North Pool auf Fotos im Internet gesehen: das glitzernde Wasser und die knallroten Rutschen, die in den Himmel aufragen. Ein schöner Ort für eine Feier.

Das Laub raschelt. Tyler schnappt nach Luft, beugt sich vor, um zwischen den Zweigen hindurchzuspähen.

Etwas Großes, Gespenstisches steht auf der Lichtung. Es ist die Hirschkuh. Tyler hat sie schon zuvor beobachtet, wie sie an Charlottes Tomatenpflanzen nagte. Hinter ihr trotten zwei kleinere Tiere her. Ein Einjähriges und das neugeborene Kalb, winzig und mit geschecktem Rücken. Sie scheinen über dem Waldboden zu schweben, halten hier und da inne, um Kräuter abzurupfen. Die Follower seines Blogs werden begeistert sein. Ständig beschweren sie sich, die Tiere seien zu weit entfernt. Er wartet ab, sein Daumen zögert über dem Auslöser, bis er schließlich zudrückt. Das Geräusch der Blende knallt so laut wie ein Böller. Die Hirsche nehmen Reißaus und verschwinden zwischen den Bäumen, und kurz darauf ist es so still, als wären sie nie hier gewesen. Tyler hat ein schlechtes Gewissen, sie beim Äsen gestört zu haben. Hoffentlich ist das Foto es wert. Er steht auf, streckt sich. Ihm bleiben noch zwanzig Minuten, dann lässt die Wirkung des Sunblockers nach. Bislang wurden ihm drei Entzündungsherde entfernt. Die Narben bilden ein Dreieck an seinem rechten Unterschenkel. Sie sind nie wieder aufgeflammt, aber er sieht das verkniffene Gesicht seiner Mutter, wenn ihr Blick daran hängen bleibt. Die entzündete Stelle an seinem Arm hat sie noch nicht entdeckt. Er wünscht, die Wunde würde sich beeilen abzuheilen, bevor seine Mom etwas merkt.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in Amys Wohnzimmer, flackert ein Licht. Jemand sieht fern. Tyler wird neugierig, überquert die Straße und nähert sich dem Fenster. Auf dem Couchtisch liegt eine geöffnete Chipstüte, die Getränkedose auf der Armlehne des Sofas steht gefährlich schief. Wenn Charlotte das sehen könnte, wäre sie wirklich sauer, aber sie ist nicht da. Da ist niemand.

Die Beleuchtung über dem Herd wirft einen beruhigenden Lichtkreis in die dunkle Küche. Seine Mom lässt immer eine Lampe in der Küche eingeschaltet, wenn Tyler Fieber hat und im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen muss. Wenn er dann den Kopf aus den Kissen hebt, kann er das Licht am Ende des Flurs aus der Küche herausfallen sehen, und dann weiß er, seine Mom ist in der Nähe. Er nähert sich der Fensterscheibe: Da ist Amy, sie zerrt einen Stuhl über den Küchenboden und bis vor den Vorratsschrank. Sie klettert hinauf. Sie greift ins oberste Regal und zieht eine Keksdose heraus. Als sie vom Stuhl herunterspringt, flattert ihr viel zu kurzes Nachthemd in die Höhe.

Amy hatte darauf bestanden, dass er ihr Geschenk zuerst auspackte, und als er die Kerzen ausblasen sollte, drängelte sie sich zwischen den anderen durch, um direkt neben ihm zu stehen. Als Charlotte ankündigte, es sei an der Zeit zu gehen, war Amy stattdessen aufs Trampolin gesprungen. Das Gewicht der anderen hatte sie in die Höhe geschleudert, sie hatte sich an Tyler festgeklammert. Ich hasse Robbie, hatte sie gezischt, und als Tyler meinte, Robbie sei doch in Ordnung, hatte sie die Augen zusammengekniffen, sich vorgebeugt und ihm ihren Schokoladenkuchenatem ins Gesicht geblasen: Er tut nur so. Er nennt mich eine kleine Zicke, und du bist der Vampirjunge.

Er sollte jetzt besser nach Hause gehen. Vielleicht ist Dante schon online, um mit ihm zu spielen. Schade, dass Tyler Alex beim Schummeln erwischt hat. Mit ihm zu spielen hatte großen Spaß gemacht.

Die Häuser ringsum sind verdunkelt. Nichts ist zu hören, nur das leise Tappen seiner Sohlen auf dem Gehweg. Der Wind fährt durch die Sackgasse und in die zitternden Bäume hinein, bis kleine Blätter auf Tylers Kopf regnen. Er bleibt begeistert stehen, breitet die Arme aus und legt den Kopf in den Nacken, um sein Gesicht vom Laub streicheln zu lassen. Es wirbelt um ihn herum; so stellt er sich Schmetterlinge vor. Es kitzelt seine Haut. Es tänzelt über die Straße.

Das bin ich, denkt er, ich bin hier und ein Teil von alldem.

Freitag, 29. August

Sonnenaufgang 6:56 Uhr

Sonnenuntergang 20:10 Uhr

Eve

Wo bleibt er nur? Eve hält sich das Handy ans Ohr und starrt zum Fenster hinaus, als könnte sie den Anblick von David heraufbeschwören, wie er in einem Taxi oder einem Mietwagen um die Ecke kommt. Schräg gegenüber erhellt die Leuchte über Charlottes Veranda die Nacht. Eve fragt sich, wie Charlottes Abend mit Robbie wohl verlaufen ist. Die Eile, mit der ihre Freundin sich in die neue Beziehung stürzt, löst bei Eve Unbehagen aus. Robbie hat Charlotte sogar gebeten, bei ihr einziehen zu dürfen. Du hast ihn dabei erwischt, wie er deine E-Mails gelesen hat, hatte Eve protestiert. Und deine SMS. Mit so einem kannst du doch nicht zusammenleben! Und was war mit Amy, die unter der Trennung ihrer Eltern litt und Robbie eindeutig ablehnte? Aber Charlotte wollte nicht auf sie hören. Ich werde dafür sorgen, dass es Amy gut geht. Kinder halten viel mehr aus, als man ihnen zutraut, hatte sie gesagt, und traurig hatte Eve gedacht: Nicht alle Kinder.

Sie lässt es dreimal, viermal klingeln. Sie legt auf, bevor die Voicemail anspringt. Die Jalousien tippen von innen gegen die Fensterscheibe, ein kühler Luftzug weht herein. Ein Gewitter zieht auf.

Tyler liegt hinter ihr auf dem Teppichboden, einen Controller in der Hand. Dies ist ihre gemeinsame Zeit. Es war immer schon die beste Zeit, ihre liebste Tageszeit, zu der sie mit ihm allein ist. Sie können über alles reden, und für ein paar Minuten scheint das Leben voller unbegrenzter Möglichkeiten. Ihr hübscher Junge mit der zarten Haut und den strahlend blauen Augen. Seine Wimpern sind lang und dunkel, sein Haar so schwarz wie das ihre, dabei aber so gelockt wie Davids. Es fällt ihm in die Stirn und bis über die Augen, es schützt seine Nackenpartie. Er hat sie angefleht, sich die Haare kurz schneiden lassen zu dürfen, er hat ihr angeboten, mehr Sunblocker zu verwenden und selbst im Haus die Baseballkappe zu tragen. Wie grausam, ihm diesen scheinbar kleinen Wunsch abschlagen zu müssen.

Die Wecker in Melissas Zimmer am anderen Ende des Flurs blöken wie geistesgestörte Esel. Sie hat drei davon in ihrem Zimmer verteilt. Um sie auszustellen, muss sie das Bett verlassen.

»Frühstück ist fertig«, sagt Eve, und Tyler stemmt sich vom Teppich hoch und folgt ihr in die Küche. Er ist groß und schlaksig, und seine Bewegungen wirken unbeholfen, weil er sich erst noch an seine neue Körpergröße gewöhnen muss. Sein Gesicht hat alles Kindlich-Süße verloren, sein Kinn ist kantig statt rundlich, und auf seinem Nasenrücken, wo der Knorpel noch wächst, hat sich ein winziger Buckel gebildet. Neulich hat sie goldenen Flaum auf seiner Oberlippe entdeckt. Unmöglich sich vorzustellen, dass er sich bald rasieren muss. Der Arzt meinte, Tyler würde eins dreiundachtzig, vielleicht sogar eins achtundachtzig groß. Der Arzt hat ihr die Information überreicht wie ein Geschenk, und Eve muss daran denken, wie normal ihr Sohn ist, wie gesund in jeder Hinsicht – außer einer.

Sie wirft einen Blick auf die Tabelle neben der Tür und einen zweiten auf die Wanduhr. Ihnen bleiben noch dreiundvierzig Minuten. Tylers Klassenkameraden wachen wahrscheinlich gerade auf und machen sich für den Orientierungstag bereit. Über die Highschool hat Tyler bislang kein Wort verloren. Eve wollte es so drehen, dass er wenigstens in einigen Fächern zusammen mit seinen Freunden unterrichtet wird, aber es hatte zu viele Hindernisse gegeben. David fand das wenig überraschend, schließlich war die Schule groß, aber dennoch war Eve ins Grübeln gekommen. Womöglich hatte Zach die Trennung selbst gewollt? Vielleicht hatte seine Mutter die Schule darum gebeten?

Sie greift zur Gabel und legt Tyler eine dampfende Waffel auf den Teller. »Rate mal! Ich habe eine neue Kundin. Du wirst nie erraten, was sie schreibt … Werwolf-Thriller!«

»Cool.« Tyler hat einen Arm um seinen Teller gelegt, als fürchte er, jemand könnte ihm das Essen wegnehmen. Wie immer stopft er sich große Bissen in den Mund und nimmt sich kaum Zeit zu kauen. Er hat es eilig im Leben. Sie hingegen versucht, alles zu verlangsamen.

»Ich dachte, vielleicht kannst du die Augen des Werwolfs animieren, damit es so aussieht, als würden sie glühen.«

Er hebt den Kopf, und auf einmal ist sie voller Hoffnung. Aber dann sagt er nur: »Mal sehen. Vielleicht.«

Als er die Hand nach dem Ahornsirup ausstreckt, kann sie es sehen – eine rote Stelle in der Armbeuge. »Was ist das?«, fragt sie. Sie hört ihre eigene Stimme kaum.

Er zuckt die Achseln, will Sirup über seine Waffel gießen, aber sie packt sein Handgelenk und nimmt ihm die Flasche aus der Hand. »Mom«, protestiert er, aber sie dreht seinen Arm um, um sich die Haut anzusehen. Vielleicht nur eine Druckstelle vom Liegen, vielleicht nur ein harmloser Kratzer? Eve fährt mit der Seite ihres Daumens über die entzündete Haut. Sie fühlt sich glatt und warm an. Bitte, lieber Gott, lass das einen ganz normalen Pickel sein. Aber das ist kein Pickel. Sie hat es auf den ersten Blick gewusst. Die Stelle ist zu groß, fast fünf Zentimeter im Durchmesser und deutlich umgrenzt von aufgerollter Haut, die nacktes Fleisch entblößt. Ein Sonnenbrand. »Wann ist das passiert?«

»Weiß ich nicht. Lass mich in Ruhe.«

Aber er weiß es. Natürlich weiß er es. Warum gibt er es nicht einfach zu? Sie sieht sich in der Küche nach ihrem Handy um und entdeckt es auf dem Küchentresen, gleich neben dem Waffeleisen. Sie nimmt es in die Hand. »Streck den Arm aus, mein Schatz.«

Gehorsam zeigt er seinen Arm vor, und sie hält ihr Handy darüber und tippt auf das Display. Ein Verschlussgeräusch ertönt. Sie hält das Handy noch dichter an die Wunde und schießt ein zweites Foto. Sie verdreht seinen Arm, um bessere Lichtverhältnisse zu schaffen. Ein drittes Foto, ein viertes. Sie wird die Fotos sofort an die Praxis des Hautarztes mailen und dann wie auf glühenden Kohlen sitzen, bis die Praxis öffnet und der Dermatologe die Bilder begutachten und sie zurückrufen kann.

»Kann ich jetzt bitte essen?«, fragt Tyler, und sie nickt. In Gedanken ist sie ganz woanders.

Wann war ihr Sohn zum letzten Mal mit kurzen Ärmeln im Freien? Überhaupt, wann hat er sich zuletzt aus ihrem Blickfeld entfernt? Dann fällt es ihr ein: Samstagabend. Sie war zum Supermarkt gefahren, nur ganz kurz, um etwas einzukaufen, und bei ihrer Rückkehr hatten David und Tyler keuchend auf dem Sofa gelegen. Sie hatten draußen Basketball gespielt, Eve hatte sich, während sie die Lebensmittel auspackte, noch darüber gefreut, dass die beiden Zeit miteinander verbrachten. »Dad hat dir erlaubt, die Kapuze abzunehmen, stimmt’s?«

»Es war heiß«, murmelt Tyler.

Wahrscheinlich ist ein Auto vorbeigekommen und hat mit seinem Scheinwerferlicht ihren Sohn erwischt. Sie spürt Angst, und dann Wut, und tief in ihrem Herzen einfach nur Hilflosigkeit. Sie kann ihren Sohn nicht einmal dreißig Minuten mit ihrem Mann allein lassen.

»Ist schon okay, Mom«, sagt Tyler. »Dad hat mich gedeckt.«

Nicht schnell genug. Tyler beobachtet sie, hält inne, die Gabel auf halbem Wege zum Mund. Er beschützt seinen Vater, dabei sollte es genau andersherum sein.

»Klar«, sagt sie, auch wenn sie es natürlich alles andere als okay findet. Der Vorfall liegt fast schon eine Woche zurück; die Verbrennung hätte längst abheilen sollen. Was hat das zu bedeuten? Nicht jeder Lichtkontakt verläuft gleich. Manche richten Schaden an, andere sind harmlos. Schrecklich, nie zu wissen, woran man ist. Eve zwingt sich zu einem aufmunternden Lächeln, und nach kurzem Zögern schiebt sich Tyler den Bissen in den Mund.

Sie gießt Teig nach und klappt das Waffeleisen zu. In Melissas Zimmer ist alles still. Verdächtig still. »Ich werde deine Schwester holen«, sagt sie.

Melissa liegt in ihrem Laken, das sich verdreht hat, und atmet durch den Mund, so wie früher als Baby, eine Faust fest unter das Kinn geklemmt. Als sie kleiner war, rieb sie ihren rechten Fuß an der Matratze, um sich zu beruhigen und in den Schlaf zu finden, und immer entdeckte Eve Melissas rechte Socke später zwischen Matratze und Bettrahmen. Warum die rechte?, hatte sie gefragt, und David hatte geantwortet: Weiß ich nicht, und dann hatten sie gelacht.

Eve schaltet das Deckenlicht ein. Melissa stöhnt und dreht sich um. »Du darfst deine Mitfahrgelegenheit nicht verpassen«, sagt Eve.

»Ich weiß.«

Zurück in der Küche schraubt Eve die Dose mit den Vitamin-D-Pillen auf und schüttelt sich eine in die Handfläche. Tyler greift danach und spült sie mit einem großen Schluck Milch herunter. »Soll ich dir noch eine Waffel backen?«, fragt sie.

»Nein, danke«, sagt er.

Vielleicht braucht Dr. Brien weitere Fotos, vielleicht wird er Tyler umgehend in die Praxis bestellen. Eve wirft einen Blick zum dunklen Fenster. Für heute ist Regen angesagt, zum Glück.

Melissa kommt in die Küche geschlurft. Ihre Augen sind geschwollen, ihre Haare zerzaust. Das ist Melissa in Reinform, wie nur die Familie sie zu sehen bekommt. Sie trägt schon ihre Reiterhose und das T-Shirt mit dem aufgestickten Logo des Stalls. Es sieht ein bisschen zu eng aus. Sie wächst so schnell. Ständig muss Eve Sachen zur Kleiderkammer bringen oder an Charlotte weitergeben, für Amy.

Melissa lässt sich auf ihren Platz sinken. »Das Internet geht nicht.«

»Ich kümmere mich drum«, sagt Tyler.

Eve lässt eine Waffel auf Melissas Teller gleiten. »Dein letzter Tag im Feriencamp«, sagt sie. »Freust du dich?«

Melissa bricht ein kleines Stück aus der Waffel und knabbert daran. »Ich freue mich auf die Bezahlung.«

Als Gruppenleiterinnen haben Melissa und Brittany die Aufgabe, ihre Schützlinge mit einer Schnitzeljagd zu verabschieden. Heute müssen sie vor den anderen da sein, um überall im Stall kleine Geschenke zu verstecken. Den Vorabend haben sie damit verbracht, clevere Hinweise mit Bezug zum Reitsport zu formulieren. Ihr Kichern war im ganzen Haus zu hören.

»Was habt ihr vorbereitet?«, fragt Tyler. In einem anderen Leben wäre er Pirat geworden, er hat eine Schwäche für funkelnde Juwelen und glänzende Edelmetalle. Zu Ausflügen hat er jahrelang seinen Metalldetektor mitgeschleppt, der dann im Badezimmer herumlag oder in der Küche an einem Stuhl lehnte. In den Wäldern rund um das Haus beförderte er alle möglichen faszinierenden Dinge aus dem Boden, die sie zu Hause abspülten und untersuchten: eine Hundemarke in Knochenform, Schlüssel aus Messing und Aluminium, einen angelaufenen und verbogenen, aber echten Silberlöffel, eine Herrenuhr mit dreckverkrustetem Armband und beschlagenem, angeknackstem Glas.

»Alles Mögliche«, murmelt Melissa.

»Aus dem Ein-Dollar-Laden«, schiebt Eve nach, um Tylers Funken von Interesse nicht verglühen zu lassen. Er hätte ihr von dem Sonnenbrand erzählen müssen. Er hätte es ihr sagen sollen. »Nagellack, Ketten … solche Sachen.«

»Im Ernst?«, sagt er.

»Natürlich nicht für dich«, sagt Melissa gereizt. »Ist noch Milch da?«

Eve schüttelt den Kopf. »Irgendjemand hat sie draußen stehen lassen.« Schon zum zweiten Mal in dieser Woche, und diesmal war die Milch sauer geworden.

»Danke, Tyler«, blafft Melissa ihn an.

Tyler hebt den Kopf. »Ich war das nicht.«

»Klar«, sagt Melissa.

Ihr kleiner Träumer. Ständig starrt er vor sich hin. Woran denkst du?, hat sie ihn früher gefragt, und er antwortete so etwas wie: Wusstest du, dass die Herzen von zwei Menschen, die lange Zeit zusammenleben, im Gleichtakt schlagen? »Nun ja«, sagt Eve und greift nach Tylers Hand, »wer immer es war: Bitte tu es nicht noch einmal.«

Er blickt stirnrunzelnd auf seinen Teller.

»Mom?«, sagt Melissa. »Heute Abend treffen sich alle bei Sherry. Darf ich auch hin?«

Über Sherry hat Eve schon so einiges gehört, von den anderen Müttern. Sie ist frühreif. Sie trinkt Alkohol. Es fällt Eve nicht leicht, die aktuellen Gerüchte mit dem entzückend blonden Kindergartenkind von damals in Einklang zu bringen, das in derselben Pfadfindergruppe wie Melissa war. »Wer ist denn alle?«, fragt sie, um Zeit zu gewinnen. Melissas Freundeskreis ist binnen weniger Jahre stark geschrumpft. Eve denkt nur ungern darüber nach.

»Brittany und Adrian«, sagt Melissa schulterzuckend. »Noch ein paar andere, die du nicht kennst.«

»Sind Sherrys Eltern zu Hause?«

»Kann sein.«

Was so viel heißt wie nein. »Ich werde sie anrufen.«

»Die Eltern von den anderen rufen auch nicht an!«

Als wäre das ein überzeugendes Argument. »Ich verspreche, ich werde nichts Peinliches sagen.«

»Vergiss es.« Melissa schiebt ihren Stuhl zurück. »Ich glaube, Brittany ist da.«

Melissa verschwindet immer so überstürzt. Eve sehnt sich nach jener Zeit zurück, in der sie noch in den Prozess miteinbezogen wurde. Als sie angefleht wurde, die Schuhe zu finden oder ein Haarband auszusuchen. Inzwischen verlässt Melissa das Haus wie ein schlecht gelaunter Wirbelwind, binnen Sekunden ist sie zur Tür hinaus. Eve folgt ihrer Tochter in die Garage und drückt auf den Schalter an der Wand. Das Garagentor fährt rumpelnd in die Höhe, und zum Vorschein kommt ein blauer Kleinwagen, der mit ausgeschalteten Scheinwerfern in der Einfahrt wartet. Aus seinem Innern dröhnt Hip-Hop. Brittany sitzt am Steuer, mondgesichtig, mit braunen Augen und einem unbeschwerten Lächeln. Sie hat seit vier Monaten den Führerschein, was sie zum beliebtesten Mädchen der Clique macht. Melissa zählt die Tage bis zu ihrer Führerscheinprüfung und hakt sie im Küchenkalender ab, einen nach dem anderen. Sie bearbeitet David jetzt schon, damit er ihr erlaubt, sein Auto zu fahren, wenn er nicht da ist.

Eve winkt Brittany zu, die zurückwinkt und das Radio leiser dreht. »Hallo, Mrs Lattimore!«

»Hallo, Kleines. Du kennst die Regeln?«

»Keine SMS. Nicht zu schnell fahren. Keine anderen Mitfahrer außer Melissa«, zählt Brittany das Mantra auf.

Melissa hat es geschafft, sich die Stiefel anzuziehen. Mit gerunzelter Stirn steigt sie auf der Beifahrerseite ein. Sie mag es nicht, wenn Eve ihre Freundinnen belehrt. Vertraust du mir nicht, Mom?

Eve vertraut Melissa. Es ist der Rest der Welt, dem sie nicht vertraut.

Brittany setzt den VW rückwärts aus der Einfahrt, und Eve streckt die Hand nach dem Schalter aus. Das Tor fährt herunter und schließt sie in der stockfinsteren Garage ein. Eve wartet, bis sie es hart aufsetzen hört, dann öffnet sie die Tür zur Küche und geht wieder ins Haus.

Tyler ist oben in seinem Zimmer. Er sitzt vor seinen Bildschirmen und kehrt ihr den Rücken zu. Der Pfefferminzduft von Zahnpasta hängt in der Luft. Kein einziges Mal hat er versucht, sich vor dem Zähneputzen zu drücken – ganz anders als Melissa, die, als sie kleiner war, die ausgefeiltesten Techniken entwickelte.

»Wer ist online?«, fragt Eve. Seine Hand liegt auf der Maus; wenn sie einen Schritt zur Seite träte, könnte sie seinen Unterarm und die empfindliche Armbeuge sehen. Sie schafft es nicht. Sie würde den Anblick nicht ertragen. Wahrscheinlich hat Tyler ihre Gedanken erraten, denn normalerweise ist es nicht ihre Art, Abstand zu halten.

»Joaquin. Alan P.«

»Yoshi?«, fragt sie, aber er schüttelt den Kopf. Er kaut an seinem Daumennagel und starrt auf den Monitor. Er macht sich Sorgen, versucht aber, es vor ihr zu verbergen. Er ist kein naiver, vertrauensseliger Junge mehr. Er hat begriffen, wie gefährlich selbst der kleinste Sonnenbrand werden kann … oder was es zu bedeuten hat, wenn einer seiner XP-Freunde nicht zurückschreibt. Eve hatte Ewigkeiten gebraucht, um ihn zu einem Gespräch mit dem Psychologen zu bewegen. Der Mann war ihr empfohlen worden. Sie hatten zwei Monate auf den Termin gewartet, er hatte sich sogar bereiterklärt, ausnahmsweise einen Hausbesuch zu machen. Doch nach einer Stunde war er kopfschüttelnd die Treppe heruntergekommen. Tyler hatte seine Tür zugemacht. Lassen Sie es mich wissen, falls er seine Meinung ändert, sagte er nur. Er war dumm, meinte Tyler später. Und er hat nach Käse gestunken.

Aber Eve wusste: Das wahre Problem war, dass der Psychologe Tyler unbequeme Fragen gestellt hatte. Hast du Angst? Bist du unglücklich? Wie ist dein Leben so weit verlaufen?

Sie verstößt gegen eine ihrer eigenen Regeln. »Ich habe von dem Arzt an der Johns Hopkins gehört. Er arbeitet an einer Salbe, weißt du noch?« Sie spricht mit ihm nur ungern über neue Therapieansätze. Sie möchte nicht, dass er sich Hoffnungen macht und enttäuscht ist, wenn nichts daraus wird. »Er spricht von einem kleinen Durchbruch.« Es gibt so wenige XP-Patienten auf der Welt, dass die Krankheit kaum erforscht ist. Aber hin und wieder lassen sich aus anderen Forschungsprojekten Hinweise auf eine mögliche Therapie ableiten. Sie hatte Wissenschaftler schon oft angefleht, die Menschenversuchsphase zu überspringen und ihrem Sohn die Medikamente einfach zu geben. Sie war bereit gewesen, alle Verzichtserklärungen zu unterschreiben, schließlich hatten sie nicht die Zeit, das Zulassungsverfahren abzuwarten. Ihr Flehen stieß immer wieder auf taube Ohren.

»Toll.« Er schenkt ihr kein erwartungsvolles Grinsen. Er sieht nicht einmal skeptisch aus. Je engagierter sie eine neue Idee vertritt, desto weiter schweift sein Blick in die Zukunft.

»Was ist denn, mein Schatz?«, fragt sie, und da endlich dreht er sich zu ihr um. Er schiebt die Unterlippe vor und funkelt sie böse an. Er sieht aus wie der kleine Junge, der er einmal war. »Ich habe es dir gesagt«, sagt er. »Ich war das nicht.«

Sie ist verwirrt. Dann denkt er also gar nicht mehr an seinen Sonnenbrand. »Reden wir von der Milch?«

»Sie lügt dir ins Gesicht.«

»Melissa? Ach komm schon, Ty.«

»Immer glaubst du ihr. Sie muss es nicht einmal aussprechen.«

Woher stammt diese Wut? Vielleicht war es diesmal tatsächlich Melissa, die vergessen hat, die Milch zurückzustellen. »Es tut mir leid. Ich werde versuchen, mehr darauf zu achten.«

»Du hast ja keine Ahnung«, murmelt er.

»Wie bitte?«

Er starrt schmollend zu Boden, schiebt seinen Stuhl zurück. »Ich muss jetzt.«

Sie sieht auf die Uhr und merkt, dass er recht hat. Die Sonne geht jeden Morgen zwei Minuten später auf. Jeden Morgen gewinnt sie ein kleines bisschen Zeit mit ihm dazu. Bis zur Wintersonnenwende, wenn es wieder abwärtsgeht.

»Hab einen schönen Tag.« Sie hasst es, sich von ihm verabschieden zu müssen. »Wir sehen uns um zehn nach acht.«

Sie bleibt im Flur stehen, während Tyler den Riegel vorschiebt. Sie hört ein leises, hartes Klicken. Es ist das grausamste Geräusch der Welt.

Um 8:32 Uhr ruft Dr. Brien an. »Eve«, sagt er, »es ist nicht so schlimm. Behandeln Sie die Stelle mit Aloe, und behalten Sie sie im Auge.«

»In Ordnung«, sagt sie. »Vielen Dank.« Eine weitere Kugel, der sie ausgewichen sind. Sie greift zum Handy, um Tyler die Neuigkeit zu schreiben.

David

Die U-Bahn-Station ist überfüllt, sogar für einen Freitag. Männer im Businessanzug und Frauen im Kostüm, allesamt mit Aktentasche und gleichgültiger Miene und schroffer Sprich-mich-nicht-an-Haltung. Arbeiter, Touristen, Kinder in Privatschuluniform, aus deren Ohren iPod-Kabel hängen. Sie unterhalten sich in einer Geheimsprache, werfen mit Wörtern um sich, die ihre Freunde zum Lachen oder Grinsen bringen. Er stellt sich Melissa als eine von ihnen vor. Die Metro würde ihr gefallen, sie ist schnell und sauber.

Die Schienenbeleuchtung fängt zu blinken an, die Menge schiebt sich vorwärts. Im dunklen Tunnel erscheinen zwei Lichter. Der Boden bebt, der Zug fährt ein und kommt zischend zu einem Halt. David stellt sich zu den Wartenden und drängt sich, nachdem die Türen aufgesprungen sind, in den Waggon hinein. Hinter ihm befindet sich eine Schwangere, er tritt beiseite, um ihr den letzten freien Sitzplatz zu überlassen. Sie lächelt ihn dankbar an.

Er steht auf der Rolltreppe, die ihn zum überfüllten Gehweg hinauffährt. Die Straße ist von Wolkenkratzern gesäumt. Die Autos parken Stoßstange an Stoßstange. Während David unter der Erde unterwegs war, ist die Sonne aufgegangen. Der blassblaue Himmel wirkt platt und hart vor Hitze. Sein Handy klingelt, und er wirft einen Blick aufs Display. Wie er sieht, hat Eve schon zweimal angerufen. Er wird sich ihre Nachricht anhören, sobald er im Büro ist.

Er meldet sich in der Lobby an, schiebt seine Karte durch das Lesegerät, nickt dem Wachmann zu und eilt zu den Aufzügen. Im sechzehnten Stock tritt er aus dem Fahrstuhl und atmet die vertraute Konservenluft ein. Der lange, in Beige gehaltene Korridor erstreckt sich zu beiden Seiten. An der gegenüberliegenden Wand prangt der Firmenname in goldenen Lettern. In drei, höchstens sechs Monaten wird Davids Name auf der Liste der Teilhaber stehen.

Ein harmonisches Ping kündigt einen weiteren Fahrstuhl an, und Renée tritt heraus. Sie balanciert ein Pappgestell mit Kaffeebechern vor sich her, dabei kneift sie konzentriert die Lippen zusammen. Sie trägt einen marineblauen Hosenanzug und hat sich die blonden Haare zum Pferdeschwanz zurückfrisiert. »Überraschung!« Sie zieht einen Becher aus der Halterung und bietet ihn David an. »Doppelt, mit Zucker.«

»Du kannst Gedanken lesen.« Was hier in der Kanzlei angeboten wird, kann man kaum als Kaffee bezeichnen, und der kleine Coffeeshop unten in dem Apartmentgebäude, in dem er wohnt, hat vor Monaten dichtgemacht. Dankbar trinkt er den ersten Schluck.

»Nein, aber ich habe gesehen, dass in deinem Büro noch Licht brannte, als ich gestern Abend nach Hause gegangen bin.« Sie schließt mit langen Schritten zu ihm auf. »Und, hatte Tyler gestern eine schöne Party?«

»Hoffentlich.« Macht nichts, hatte Tyler gestern Abend beim Skypen gemurmelt. Offenbar meinte er es auch so. An seinen eigenen vierzehnten Geburtstag kann David sich nicht erinnern. Wahrscheinlich hat er damals keine Party gefeiert, und falls doch, wäre es ihm herzlich egal gewesen, ob sein Vater dabei war oder nicht. Manchmal hat David das Gefühl, seinen Sohn nur durch einen langen Tunnel sehen und immer nur flüchtige Eindrücke erhaschen zu können.

»Es muss hart sein, so viel von der Familie getrennt zu sein. Ich frage mich, wie du das schaffst.«

Anfangs hatten Eve und die Kinder seine Heimkehr sehnlichst erwartet, und jedes Wochenende war wie Flitterwochen gewesen. Er hatte Eve den Mund zugehalten, damit die Kinder ihr Stöhnen nicht hörten, und sie hatte sich so fest an seine Schultern gekrallt, dass ihre Fingernägel Spuren hinterließen. Sie hatten einander versprochen, es gemeinsam durchzustehen, aber inzwischen muss er einsehen, dass sie in jeder Hinsicht gescheitert sind. Eve ruft ihn nur noch an, um knappe Nachrichten auf Band zu hinterlassen, und er lässt sich mit dem Abhören zunehmend mehr Zeit. »Was macht dein Knöchel?« Normalerweise gehen sie nach der Arbeit joggen, aber gestern musste Renée aussetzen.

Sie verzieht das Gesicht. Sie ist nicht hübsch, nicht auf die herkömmliche Art. Ihre Zähne sind ein bisschen zu groß, das Kinn einen Hauch zu spitz. Dennoch ist David aufgefallen, dass die anderen Männer in der Kanzlei ihren Blick nicht von ihr abwenden können. »Ich habe ihn gekühlt, sobald ich zu Hause war«, sagt sie. »Alt zu werden ist Mist.«

Sie ist dreiunddreißig, was man kaum alt nennen kann. Aber er weiß, was sie meint. Er ist zweiundvierzig und kann sich noch daran erinnern, ohne Schweißausbrüche zehn Kilometer gelaufen zu sein. Als sie vor seinem Büro angekommen sind, reicht er ihr den Kaffee, um seinen Schlüssel aus der Tasche zu fischen. »Wie war eigentlich dein Wochenende?«, fragt er.

»Der übliche Hochzeitsirrsinn. Kleidershopping mit Jefferys Mom, Suche nach einem Saal für die Feier. Lächerlich, wie weit im Voraus man buchen muss.« Sie verdreht die Augen. Sie stammt aus North Dakota, wo man nie auf irgendetwas warten muss.

Er öffnet die Tür, und sie lehnt sich in den Rahmen. »Wie war deine Hochzeit?«, fragt sie. »Nein, warte. Lass mich raten.« Sie lässt den Blick durchs Zimmer wandern, über die gerahmten Fotos, den Kunstfarn auf der Anrichte, der das Büro nach Ansicht seiner Sekretärin fröhlicher wirken lässt, auf die ordentlich ins Regal geräumten Bücher. »Schlicht und vornehm. Eve trug ein Satinkleid und hatte Gardenien im Haar. Habe ich recht?«

Meterweise Seide, ein Strauß aus rosa Lilien und gelben Sonnenblumen in Eves Händen, während sie auf ihn zuschritt, ihren Blick seelenruhig mit seinem verschränkt. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen. Er hatte sich stolz umgesehen, nur um Eves Vater mit zornesfinsterem Gesicht in der Kirchenbank zu entdecken. Der Alte hatte David von Anfang an nicht leiden können. »So ähnlich«, antwortet er.

»Wusste ich’s doch.« Renée gibt ihm den Kaffeebecher zurück. »Tja, dann mache ich mich mal über die Compton-Akte her.«

»Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.«

»Du hast nicht zufällig einen Zauberstab dabei? Am liebsten würde ich sie nämlich verschwinden lassen.«

Ein Zauberstab, das wäre die Lösung. Eve ist seit Jahren auf der Suche danach.

Die Anfrage geht um neun Uhr ein. Preston, der Kollege aus dem Büro gegenüber, hat sich krankgemeldet. Ob David bis Dienstag die Tabellenkalkulation für das Meeting mit dem Kunden vorbereiten kann?

»Klar«, sagt er und geht in Gedanken seinen Arbeitsplan für den Tag durch. Er wird das Mittagessen ausfallen lassen müssen, keine Frage, aber wenn er um halb sechs Schluss macht, sollte er genug Zeit haben, zum Reagan National zu fahren und den Flug zu erwischen.

Prestons Sekretärin mailt ihm den Ordner. David klickt die Dateien an. Seitenweise Zahlen, akkurate Säulen, die Ebbe und Flut auf dem Konto des Kunden abbilden.

Renée schaut herein. Sie hat ihre Jacke abgelegt und öffnet nun den obersten Knopf ihrer weißen Bluse. An ihrem Hals funkelt eine Goldkette. »Sag nicht, dass du schon wieder die Mittagspause durcharbeitest.«

Er wirft einen Blick auf die Uhr und stellt überrascht fest, dass es schon fast zwölf ist. Zu Hause hängen die Uhren überall, neben jeder Tür und über den Tabellen für die Sonnenaufgangs- und Sonnenuntergangszeiten, die Eve monatlich ausdruckt. Wohin er auch blickt, sieht er einen sich vorwärtsschiebenden Minutenzeiger. »Preston ist krank.«

»Oder seine Frau ist wieder mal nicht erschienen, um den Kleinen abzuholen.« Sie legt den Kopf schief. »Soll ich dir was mitbringen? Was möchtest du, Pute oder Roastbeef?«

Normalerweise bestellt er eines von beidem. Renée weiß sogar, dass er keine Mayonnaise mag, dafür extra viele Dillgurken. »Ich lasse mich überraschen.«

»Gern.«

Er wendet sich wieder der Tabelle auf dem Monitor zu. Er rechnet Prestons Kalkulation zum dritten Mal nach, sie scheint wasserdicht zu sein. Es muss etwas anderes sein. Irgendetwas, das er übersehen hat.

Der Fehler scheint beim Depotbestand zu liegen. Er klickt ein paar Seiten zurück, prägt sich die Zahlen ein, blättert wieder vor. Da ist es. Ein Komma ist verrutscht. Ein winziger Fehler. Er kann verstehen, wie Preston das passieren konnte.

David verschiebt das Komma, woraufhin die Zahlen an anderer Stelle in Schieflage geraten. Eine ungute Ahnung beschleicht ihn. Er geht die zweite und die fünfte Spalte noch einmal durch, Seite für Seite.

»Bitte sehr«, sagt Renée. Sie steht mit eingeknickter Hüfte vor ihm und hält ihm eine Styroporpackung entgegen. »Ich habe dir auch Chips mitgebracht.« Ihr Lächeln verblasst. »Was ist denn?« Sie kommt um den Schreibtisch herum und betrachtet den Bildschirm. David zeigt auf die Zahlenspalten. »Siebentausend Dollar. Einfach futsch.«

»Wie ist das möglich?«

»Preston hat sie unterschlagen.«

»Nein!« Er kann ihren Atem in seinem Nacken spüren. »Das kann nicht sein!«

»Ich weiß. Aber sieh selbst.« Er hat Preston immer gemocht. Während der endlos langweiligen Finanzmeetings beweist er jedes Mal einen ausgezeichneten Sinn für Humor. Gelegentlich trinken sie nach der Arbeit ein Bier zusammen, um über die letzten Spiele der Redskins zu reden. »Seit acht Monaten.«

»Was?« Renée richtet sich auf. »Sechsundfünfzigtausend Dollar?«

»Er hat wohl geglaubt, er käme damit durch.«