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Nele Neuhaus

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Beschreibung

Wer schuldig ist, entkommt nicht   Im Feld wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Die 16-Jährige Larissa wurde erdrosselt. Durch eine DNA-Analyse gerät ein abgelehnter afghanischer Asylbewerber, der erst zu einer Haftstrafe verurteilt, aber nach einer Haftbeschwerde auf freien Fuß gesetzt wurde, ins Visier der Polizei. Er kann untertauchen, bevor Pia und Bodenstein mit dem Mann sprechen können. Auf einer Landstraße im Hintertaunus wird nachts ein Mann von einem Auto erfasst und getötet. Sein Körper ist übersät mit Bisswunden, sein Gesicht entstellt. Der Mann hatte bei einem illegalen Autorennen eine schwangere Frau getötet. Wovor ist er geflohen und wer hat ihn so zugerichtet?   Pia und Bodenstein stoßen auf immer mehr rätselhafte Todes- und Vermisstenfälle und auf eine Parallele zum Mordfall Larissa. Ohne es zu ahnen, steuern sie auf eine Katastrophe zu. 

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Monster

NELE NEUHAUS, geboren in Münster / Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus und schreibt bereits ebenso lange. Ihr 2010 erschienener Kriminalroman Schneewittchen muss sterben brachte ihr den großen Durchbruch, heute ist sie die erfolgreichste Krimiautorin Deutschlands. Außerdem schreibt die passionierte Reiterin Pferde-Jugendbücher und Unterhaltungsliteratur. Ihre Bücher erscheinen in über 30 Ländern. Vom Polizeipräsidenten Westhessens wurde Nele Neuhaus zur Kriminalhauptkommissarin ehrenhalber ernannt.

WER SCHULDIG IST, ENTKOMMT NICHTIm Feld wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Die 16-jährige Larissa wurde erdrosselt. Durch eine DNA-Analyse gerät ein abgelehnter Asylbewerber, der erst zu einer Haftstrafe verurteilt, aber nach einer Haftbeschwerde auf freien Fuß gesetzt wurde, ins Visier der Polizei. Er kann untertauchen, bevor Pia und Bodenstein mit ihm sprechen können.Auf einer Landstraße im Hintertaunus wird nachts ein Mann von einem Auto erfasst und stirbt. Sein Körper ist übersät mit Bisswunden, sein Gesicht entstellt. Der Mann hatte bei einem illegalen Autorennen eine schwangere Frau getötet. Wovor ist er geflohen, und wer hat ihn so zugerichtet?Pia und Bodenstein stoßen auf immer mehr rätselhafte Todes- und Vermisstenfälle und auf eine Parallele zum Mordfall Larissa. Ohne es zu ahnen, steuern sie auf eine Katastrophe zu.

Nele Neuhaus

Monster

Kriminalroman

Ullstein

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© 2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text undData Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenUmschlagmotiv: © Magdalena Russocka / Trevillion Images; FinePic®, MünchenAutorenfoto: © Andreas MalkmusE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-550-20225-4

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Anmerkung

Personenregister

Neun Tage später

Samstag, 7. Dezember

Sonntag, 8. Dezember

Montag, 9. Dezember

Dienstag, 10. Dezember

Mittwoch, 11. Dezember

Donnerstag, 12. Dezember

Freitag, 13. Dezember

Samstag, 14. Dezember

Sonntag, 15. Dezember

Montag, 16. Dezember

Dienstag, 17. Dezember

Mittwoch, 18. Dezember

Donnerstag, 19. Dezember

Freitag, 20. Dezember

Danksagung

Quellennachweise:

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Anmerkung

Widmung

Für meine SchwesternClaudia und CamillaDanke, dass ihr immer für mich da seid.

Motto

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn,dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.Und wenn du zu lange in einen Abgrund blickst,blickt der Abgrund auch in dich hinein.Friedrich Nietzsche,Jenseits von Gut und Böse

Anmerkung

Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist komplett erfunden.Manche der von mir beschriebenen Verbrechen haben so oder auf ähnliche Weise stattgefunden. Ortsnamen, Namen von Opfern, Angehörigen und Tätern wurden von mir verfremdet.Hingegen sind sämtliche Romanfiguren, ihre Eigenschaften, ihre Handlungen, die Ereignisse und Situationen, die sich daraus ergeben, fiktiv und frei von mir erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Figuren sind rein zufällig und nicht von mir beabsichtigt.

Personenregister

Das K11 in Hofheim:

Oliver von Bodenstein, Erster Kriminalhauptkommissar,

Leiter des K11

Pia Sander, ehem. Kirchhoff, Kriminalhauptkommissarin

Dr. Nicola Engel, Kriminaldirektorin und

Leiterin der RKI Hofheim

Kai Ostermann, Kriminalhauptkommissar

Kathrin Fachinger, Kriminaloberkommissarin

Cem Altunay, Kriminalhauptkommissar

Tariq Omari, Kriminaloberkommissar

Christian Kröger, Kriminalhauptkommissar,

Leiter des Erkennungsdienstes

Merle Grumbach, Opferbeauftragte der RKI Hofheim

Stefan Smykalla, Pressesprecher der RKI Hofheim

Tanja Gatzke, Hauptkommissarin, Leiterin der Soko

Prof. Dr. Henning Kirchhoff, Leiter des Instituts

für Rechtsmedizin, Frankfurt

Ronnie Böhme, Sektionshelfer

Dr. Julius Rosenthal, Oberstaatsanwalt Frankfurt

Jörg Heidenfeld, Staatsanwalt Frankfurt

Personen in alphabetischer Reihenfolge:

Philipp Altvater, Interner Ermittler des BKA

Sophia von Bodenstein, Olivers Tochter

Quentin von Bodenstein, sein Bruder

Anne Böhlefeld, Lissys Mutter

Jörg Böhlefeld, ihr Ehemann und Lissys Vater

Jonas Böhlefeld, sein Bruder

Walid Bouaziz, Programmierer

Markus Burkhardt, Mitarbeiter des BKA

Hannelore Fachinger, Kathrins Großmutter

Ewald Fritsche, Leiter der Bereitschaftspolizei

Konstantin Hawelka, Richter am Landgericht Frankfurt

Irmgard Freitag, Pias Mutter

Turgay Karaman, Metzger aus Bad Camberg

Christine Kelmendi, Astrologin und Medium

Werner Kolbe, Nachbar von Böhlefelds

Sara Korbmacher, beste Freundin von Lissy Böhlefeld

Viola Korbmacher, Saras Mutter

Farwad Mahmoudi, abgelehnter Asylbewerber aus Afghanistan

Volker Mazanek, Bestatter

Dr. Jan Pfefferkorn, Strafverteidiger

Daniel Radloff, Kindsmörder

Ulrike Radloff, seine Mutter

Dr. Christoph Sander, Pias Ehemann und Direktor des Opel-Zoos

Professor Karim Sharityar, Dolmetscher und Ylvas Adoptivvater

Ylva Sharityar, Tochter von Jörg Böhlefeld

Wolf Sollberg, Pilzzüchter im Taunus

Udo Szameit, Strafverteidiger

Dennis Weinert, Mathe- und Sportlehrer

Leona Weinert, seine Frau

Marco Wesenick, Geschäftsführer von BluSky Lager

Marcella, Lynn, Julika und Paula, Lissys Freundinnen

Neun Tage später

Er ging durch sein Haus, zum letzten Mal. Das junge Pärchen, dem er es verkauft hatte, würde sich freuen, wenn es schon vor Weihnachten einziehen konnte; ihr Baby sollte jeden Tag zur Welt kommen.

Der Dielenboden fühlte sich rau und vertraut an unter seinen nackten Füßen, und er musste daran denken, wie sie ihn damals ausgesucht hatten. Eigentlich hatten sie klassisches Fischgrät-Parkett haben wollen, aber dann waren sie per Zufall in diesem Laden gelandet und hatten die Alternativen gesehen. Sie hatten sechs oder sieben Bretter zur Auswahl mitgenommen und im Wohnzimmer ihrer kleinen Zweizim­merwoh­nung auf den fleckigen Teppichboden gelegt. Dutzende Male waren sie über die Bretter gelaufen, hatten sie befühlt und in die Sonne gelegt, hatten über Optik und Haptik diskutiert, um sich schließlich für diese Diele zu entscheiden: amerikanische Eiche, gebürstet und weiß gekälkt mit umlaufender Fase, dreischichtig aufgebaut – wunderschön und hochwertig und eigentlich viel zu teuer. Langsam stieg er die Treppe hoch bis ins Dachgeschoss, dachte daran, wie sie den Speicher zu einem Kinderzimmer umgestaltet hatten. Jetzt war der große Raum völlig leer. Sein Blick fiel auf den Türrahmen. Zehn Striche. Immer am 16. Dezember hatte er Jakob gemessen. Das war ihr Ritual geworden. Er ging in die Hocke, betrachtete den letzten Strich, den er auf den Tag genau heute vor fünf Jahren gemacht hatte. Am 16. Dezember 2014. An Jakobs elftem Geburtstag.

Er erhob sich mit einem Seufzer und ging durch den leeren Raum. Blieb vor dem Bild stehen, das er an die Wand geheftet hatte. Drei Personen und ein kleiner, gefleckter Hund vor blauem Himmel und einer gelben Sonne. Papa, Mama, Jakob, Bella, Timendofer Strant hatte Jakob daruntergeschrieben.

Er streckte die Hand aus und berührte das Bild, dessen Papier im Laufe der Zeit wellig geworden war.

»Papa kommt zu dir, Jakob«, flüsterte er. »Zu Mama, Bella und dir.«

Er drehte sich um und ging langsam die Treppe hinunter. Leere Bücherregale, leere Schränke, leere Sideboards. Alles, was einmal sein Leben ausgemacht hatte, war schon weg. Er blickte nicht mehr ins Schlafzimmer, in dem er beinahe zwanzig Jahre lang eingeschlafen und aufgewacht war. Fünfzehn glückliche Jahre und fünf Albtraumjahre. Auch am Badezimmer ging er vorbei. Dort hatte er eben ein letztes Mal geduscht. Er hatte sie von sich abwaschen müssen. Ihren Geruch. Sie hatte gestern Abend unerwartet vor der Tür gestanden, mit zwei Pizzen und zwei Flaschen Rotwein unterm Arm. Eigentlich hatte er sie nicht reinlassen wollen. Er konnte sie nicht mehr sehen. Sie widerte ihn an. Nein, mehr noch, er hasste sie. Weil er sich ihrer nicht erwehren konnte. Sie hatte ihn wieder bedrängt. Sich regelrecht in ihn hineingebohrt mit ihrer Bettelei. So, wie sie es immer gemacht hatte. So, wie sie ihn dazu gebracht hatte, Dinge zu tun, die er nie in seinem Leben hatte tun wollen. Sie hatte keine Ahnung, was heute geschehen würde, weil ihr andere Menschen völlig gleichgültig waren. Sie benutzte sie nur.

Jetzt lag sie auf dem Boden der Gästetoilette. Der Raum hatte kein Fenster. Dafür eine stabile Tür, die aus Platzgründen nach innen aufging. Sie konnte sie nicht einfach eintreten.

Um 8:32 Uhr verließ er zum letzten Mal sein Haus. Er nickte der Frau mit dem Mops zu, die er beinahe jeden Morgen sah, öffnete die Garage und setzte sich in sein Auto. Er fuhr rückwärts aus der Garage und warf einen letzten Blick auf das Haus, ihr Nest, das sie so sehr geliebt hatten.

»Leb wohl, Haus«, sagte er leise. Dann gab er Gas und fuhr Richtung Autobahn.

Er hatte an alles gedacht. Alles perfekt geplant. Heute war es endlich so weit. An Jakobs sechzehntem Geburtstag.

Es konnte losgehen.

Samstag, 7. Dezember

Den ganzen Vormittag über war der Schnee das Hauptgesprächsthema bei den wenigen Kunden, die den Weg in die Apotheke fanden. Am späten Freitagabend hatte es angefangen zu schneien, und seitdem rieselte der Schnee aus tief hängenden Wolken, wie ein dichter weißer Vorhang. Den Räumfahrzeugen der Stadt gelang es kaum, die Straßen frei zu halten, und wer sich am frühen Morgen die Mühe gemacht hatte, den Schnee vom Bürgersteig vor seinem Haus zu schippen, der konnte eine halbe Stunde später wieder von vorne anfangen. Die weiße Pracht, die einen viertel Meter hoch auf Autos, Hausdächern und Mülltonnen lag, erinnerte Anne Böhlefeld an ihre Kindheit. Damals hatte es in jedem Winter so viel Schnee gegeben, und in ihrer Erinnerung war er wochenlang liegen geblieben, nicht so wie heutzutage, wo sich der Schnee auf den Straßen binnen weniger Stunden in grauen Matsch verwandelte. Sie fand es beruhigend, dass es schneite, so wie früher, als es noch vier Jahreszeiten gegeben und niemand von Klimawandel gesprochen hatte.

Die Kunden brachten die feuchte Kälte und Schneematsch an den Schuhen in den Verkaufsraum der Apotheke, die Jüngeren beklagten sich, weil sie ihre Autos freischaufeln mussten, die Älteren fürchteten, sie könnten stürzen und sich die Knochen brechen, und Anne dachte, dass es so typisch deutsch war, in allem immer nur das Negative zu sehen. Ihrer guten Laune konnte es heute aber nichts anhaben, denn sie hatten gestern einen so kurzweiligen Abend verbracht wie schon lange nicht mehr. Jörg und sie waren bei Freunden zum Krimidinner eingeladen gewesen, und sie hatten so viel gelacht, dass Anne heute Muskelkater im Bauch hatte.

Gegen Mittag versiegte der zäh tröpfelnde Strom der Kunden völlig.

»Bei dem Schnee kommt wohl keiner mehr«, meinte die Chefin.»Ihr könnt ruhig Feierabend machen. Ich schließe dann ab.«

Tatsächlich schneite es unverdrossen weiter, und es waren kaum noch Autos unterwegs. Mehrere Kunden hatten erzählt, dass keine Busse mehr fuhren und die S3 ihren Betrieb eingestellt hatte, weil ein Baum auf die Oberleitung gefallen war. Anne nahm ihr Smartphone aus der Tasche. Lissy hatte sich noch nicht gemeldet. Sie tippte ihrer Tochter rasch eine Nachricht und bot ihr an, sie bei ihrer Freundin Sara abzuholen, damit sie nicht durch den Schneefall laufen musste. Dann schaute sie die Bestellungen durch.

»Die Frau Kreuzer aus der Falkenstraße hat angerufen«, sagte Anne. »Sie traut sich nicht aus dem Haus. Ich bringe ihr die Medikamente vorbei, wenn ich nach Hause fahre.«

Sie checkte ihr Smartphone. Keine Antwort von Lissy. Seltsam. Sie rief den Chat auf. An der Nachricht, die sie eben geschickt hatte, war nur ein graues Häkchen. Lissy war zuletzt gestern Abend um 19:22 Uhr online gewesen. Anne schluckte und wählte Lissys Nummer. Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar … Ein hohles Gefühl breitete sich hinter ihrem Brustbein aus, und sie hatte plötzlich einen sauren Geschmack im Mund. Vorübergehend nicht erreichbar. Grauer Haken an der WhatsApp-Nachricht. Das war vollkommen unmöglich. Ihre Tochter war mit ihrem Smartphone quasi verwachsen, sie schaltete es niemals aus und achtete beinahe panisch darauf, dass der Akku immer ausreichend geladen war. Anne rief die Wo ist-App auf. Lissy nannte sie scherzhaft die »Stalking-App«, hatte aber nichts dagegen, dass Anne jederzeit sehen konnte, wo sie sich gerade befand. Kurz zeigte die App den Standort von Lissys Handy in Niederhöchstadt an, und Anne durchzuckte ein freudiger Schreck, aber dann las sie [email protected], Eschborn, Steinbacher Straße, vor 19 Stunden. Und dann war das Symbol verschwunden. Aktuell kein Standort.

Anne ging in den Aufenthaltsraum und schloss die Tür hinter sich. Sie wählte Jörgs Nummer. Hätte Lissy ihr Handy verloren, oder wäre es ihr gestohlen worden, hätte sie Mittel und Wege gefunden, ihre Mutter unverzüglich über die größtmögliche Katastrophe im Leben eines Teenagers zu informieren. Nein, es gab einfach keine schlüssige Erklärung dafür, weshalb Lissy seit gestern Abend um 19:22 Uhr nicht mehr online gewesen war.

»Geh schon ran«, murmelte Anne, die linke Hand auf ihr Brustbein gepresst, aber ihr Ehemann meldete sich nicht.

Sie atmete tief durch. Der Schreck schlug in bange Ahnung um. Wen konnte sie anrufen? Sara? Nein, wohl besser deren Mutter. Sie kannte Viola Korbmacher eher flüchtig von Schulveranstaltungen und ein paar Treffen mit anderen Müttern. Ihre Finger zitterten, als sie durch das Telefonbuch auf ihrem Smartphone scrollte, bis sie unter K die Nummer von Saras Mutter gefunden hatte.

»Bitte sei da«, flüsterte sie, während das Handy sich ins Netz wählte und die Verbindung aufbaute. »Bitte sei da, Lissy. Bitte hab dein Handy verloren. Bitte hab einfach nur vergessen, es aufzuladen. Bitte, bitte, bitte, lieber Gott, lass sie einfach noch schlafen …«

»Hallo, Anne!« Der überraschte Tonfall von Viola Korbmacher fuhr ihr wie ein Schlag in die Magengrube. »Das ist aber nett, dass du anrufst! Wie geht’s dir?«

»Hallo, Viola.« Anne versuchte, nicht panisch zu klingen. »Sag mal, schlafen die Mädchen noch? Ich wollte Lissy anrufen, aber ihr Handy ist aus.«

»Ähm …«

Anne hörte auf zu atmen. Dieses winzige Zögern rührte an etwas, das in jeder Zelle ihres Körpers lauerte, seit dem Moment, in dem sie Lissy zum ersten Mal in ihren Armen gehalten hatte: Es war die schreckliche, nie verstummende Angst jeder Mutter, ihrem Kind könnte etwas zugestoßen sein.

»Lissy war nicht bei uns«, sagte Viola verwundert. »Sara ist vorhin mit ihrem Vater in den Alten Kurpark gefahren. Sie helfen am Stand vom Sportverein. Heute ist doch Weihnachtsmarkt hier in Bad Soden.«

»Aber … ich dachte … also … Lissy hat mir erzählt, dass sie bei euch übernachten will«, stammelte Anne.

»Nein, tut mir leid«, erwiderte Viola, und ihre Stimme klang nach Tja, meine Liebe, da hat dich deine Tochter wohl angelogen.

»Danke«, flüsterte Anne und beendete das Gespräch. Sie ließ sich auf das schmale Bett sinken, rief erneut Lissys WhatsApp-Chat auf und kämpfte gegen die Panik an, die sie zu verschlingen drohte wie eine schwarze Flutwelle. Ihre Gedanken überschlugen sich. Hatte Lissy wirklich gesagt, dass sie bei Sara übernachten wollte? Oder hatte sie vielleicht zu Marcella oder Lynn oder zu einer anderen Freundin gehen wollen? Warum rief Jörg nicht zurück? Anne las die letzte Nachricht, die Lissy ihr gestern Abend um 19:18 Uhr geschrieben hatte: War voll super auf der Eisbahn, laufen grad zum Zug. Bis morgen, hab dich lieb.

Anne presste die Lippen zusammen und scrollte im Chatverlauf nach oben. Sie zögerte einen Moment, dann tippte sie auf die Sprachnachricht, die ihre Tochter ihr um 15:17 Uhr geschickt hatte. »Hey, Mama«, ertönte Lissys Stimme. »Sara und ich laufen jetzt hier los. Ich hab die Küche aufgeräumt. Mein Zimmer mach ich morgen, wenn ich zurück bin. Wir treffen uns um vier mit Marcella und Lynn und den anderen im Skulpi und laufen dann zur Eisbahn. Und heut Abend würden wir dann alle bei Sara übernachten. Wir wollen Plätzchen backen, für den Weihnachtsmarkt morgen, du weißt schon. Sagst du mir noch mal Bescheid, ob das okay ist? Hab dich lieb!«

Ein stechender Schmerz durchfuhr Annes Herz. Sie schloss die Augen.

Später konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, wie sie nach Hause gekommen war. Sie war ins Haus gestürzt und die Treppe hochgerannt, hatte die Tür zu Lissys Zimmer aufgerissen, in der irrationalen Hoffnung, ihre Tochter schlafend im Bett vorzufinden. Aber Lissys Bett war leer und das Zimmer so unordentlich, wie sie es gestern hinterlassen hatte. Schranktüren und Schubladen standen offen, überall lagen achtlos hingeworfene Klamotten, auf dem Schreibtisch herrschte ein Chaos aus Schulsachen, Schminkzeug, Bastelkram.

Alle Kraft war aus Annes Körper gewichen. Sie war auf der obersten Treppenstufe zusammengesackt, und da saß sie nun und versuchte, ihre Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Wo bist du, Lissy?

Sie schrak auf, als plötzlich ihr Handy klingelte. »Lissy!«, schoss es ihr durch den Kopf, aber zu ihrer bodenlosen Enttäuschung war es nur Viola Korbmacher.

»Ist Lissy aufgetaucht?«, erkundigte sich Saras Mutter.

»Nein«, antwortete Anne mit mühsam beherrschter Stimme. »Ihr Handy ist aus. Ihr Handy ist normalerweise nie aus.«

»Ich habe Sara angerufen«, sagte Viola. »Sie weiß leider auch nicht, wo Lissy sein könnte. Aber sie hat mir erzählt, dass sie sich gestern Abend wegen irgendetwas gestritten haben. Lissy war sauer und wollte von Niederhöchstadt aus zu Fuß nach Hause laufen.«

»Gestritten? Worüber denn?«, flüsterte Anne.

»Ich weiß es nicht.«

Nein. Das war unmöglich. Lissy und Sara waren wie Pech und Schwefel. Sie stritten sich nie.

»Es tut mir leid, Anne. Wenn ich irgendwie helfen kann …«

Anne drückte das Gespräch weg. Unten fiel eine Tür ins Schloss.

»Anne?« Jörg tauchte am Fuß der Treppe auf. Er rieb seine Finger an einem öligen Lappen ab. Offenbar hatte er an seinem Motorrad herumgebastelt und deshalb sein Handy nicht gehört. »Hast du den Tafelspitz beim Metzger abgeholt?«

Ihre Blicke begegneten sich. Er sah so entspannt und gut gelaunt aus wie seit Monaten nicht mehr. Der Abend gestern hatte ihm Spaß gemacht. Der Abend, an dem sie ausgelassen gelacht und zu Hause noch Sex gehabt hatten, während Lissy womöglich etwas zugestoßen war.

»Ich kann Lissy nicht erreichen«, flüsterte Anne, weil sie ihrer Stimme nicht traute. »Ihr Handy ist seit gestern Abend aus. Und sie hat gar nicht bei Sara übernachtet. Jörg, ich glaube, ihr ist etwas passiert.«

Sie hoffte, er würde lachen, würde sagen: Sie ist doch in der Garage und hilft mir, aber das tat er nicht. Er starrte sie an, es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff.

Sie telefonierten alle Bekannten und Freunde ihrer Tochter ab. Ohne Erfolg. Marcella und Lynn hatten nichts von Lissy gehört, bestätigten aber unabhängig voneinander, dass sich Lissy und Sara auf dem Weg von der Eislaufbahn zum S-Bahnhof Niederhöch­stadt in die Haare bekommen hätten. Worum es bei dem Streit gegangen war, wussten sie nicht. Die zwei Mädchen, die auch bei Sara übernachten wollten, um Plätzchen zu backen und gemeinsam ein paar Folgen ihrer Lieblingsserie Riverdale zu schauen, waren enttäuscht gewesen, als Sara sie nach dem Streit mit Lissy ziemlich grob ausgeladen hatte. Sara, Paula und Julika waren mit der S-Bahn nach Bad Soden gefahren, Marcella und Lynn zu Fuß weitergelaufen. Lissy war ein Stück vor ihnen gegangen, dann aber abgebogen.

»Wir gehen zur Polizei«, entschied Jörg. »Es schneit seit Freitagabend. Wenn Lissy etwas passiert ist, wenn sie verletzt ist und irgendwo liegt, dann …«

Er musste den Satz nicht zu Ende sprechen.

Sonntag, 8. Dezember

Der Himmel war wolkenlos und blassblau. Nach den starken Schneefällen der vergangenen Tage war die Temperatur über Nacht um fast zehn Grad gesunken, und nun war es viel zu kalt, als dass es noch einmal schneien könnte. Der jähe Kälteeinbruch hatte die kahlen Zweige der Bäume und Büsche mit Raureif überzogen, und die matte Wintersonne ließ Milliarden Eiskristalle funkeln.

Kriminalhauptkommissarin Pia Sander hatte schon kurz vor Sonnenaufgang das Haus verlassen, um mit dem Hund einen ausgiebigen Schneespaziergang zu unternehmen, denn am späten Vormittag würde sie Christoph zum Adventsbrunch mit wichtigen Großsponsoren des Opel-Zoos in die Villa Rothschild in Königstein begleiten. Beck’s war beim Anblick des Schnees in einen wahren Freudentaumel geraten und hatte sich immer wieder mit Geschirr und Leine in der weißen Pracht gewälzt. Pia war schon nach ein paar Hundert Metern nass geschwitzt und völlig außer Atem.

»Langsam, Beck’s! Ich hab leider nur zwei Beine!«, keuchte sie. »Gleich darfst du ja rennen!«

Beck’s jaulte auf, als ob er verstanden hätte, und zerrte noch stärker vorwärts, sodass Pia stolperte und bäuchlings in den hohen Schnee fiel. Sofort kam der Hund angesprungen und versuchte, ihr das Gesicht zu lecken. Normalerweise war er nicht mehr so ungestüm, sondern ausgesprochen gut erzogen, aber der Schnee ließ ihn in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Eine Viertelstunde später hatten sie das Mammolshainer Tal erreicht. Um diese frühe Uhrzeit hatte noch kein Mensch im hohen Schnee eine Spur hinterlassen, und Joggern würde sie heute wohl auch kaum begegnen, deshalb klippte sie die Schleppleine aus dem Geschirr und gab Beck’s das Signal, dass er frei laufen durfte. Zu beobachten, wie leichtfüßig und mühelos ihr Hund durch den Schnee stob, erfüllte Pia mit einem warmen Glücksgefühl. Beck’s rannte in weiten Kreisen über die verschneiten Äcker und Wiesen, völlig ziellos und aus purer Lebensfreude. Ganz versunken in diesen herrlichen Anblick hätte Pia beinahe das Klingeln ihres Handys überhört. Sie zog den rechten Handschuh aus und nestelte das Telefon aus der Brusttasche ihrer Jacke.

»Mist!«

Die Nummer der Zentrale leuchtete im Display auf. Das verhieß an einem Sonntagmorgen um neun nie etwas Gutes. Kurz spielte Pia mit dem Gedanken, einfach nicht dranzugehen, aber ihr Pflichtgefühl gewann die Oberhand.

»Hallo, Pia, leider muss ich dir den Sonntag verderben«, sagte der Kommissar vom Dienst. »Wir haben einen Leichenfund in Schwalbach.«

»Ich habe heute keine Bereitschaft«, antwortete Pia.

»Laut Plan doch. Du und Bodenstein«, sagte der Diensthabende. »Und der kommt wegen dem Schnee nicht bis zur Straße, deshalb rufe ich dich an. Kröger und seine Leute sind schon auf dem Weg. Und die Rechtsmedizin ist auch informiert. Bei der Leiche handelt es sich möglicherweise um eine Sechzehnjährige aus Sulzbach, die seit gestern vermisst wird.«

Scheiße! Eine tote Sechzehnjährige. Pia seufzte. Christoph würde nicht sehr erfreut sein, wenn sie ihm mitteilte, dass sie ihn leider nicht zu dem wichtigen Termin begleiten konnte. Aber vielleicht schaffte es ihr Chef doch noch irgendwie mit seinem Porsche vom Gutshof mitten im Wald bis zur Landstraße, dann konnte sie wieder verschwinden.

»Wer hat die Einsatzleitung?«

»POK Rothaus von der Polizeistation Eschborn. Seit heute Morgen ist eine Hundertschaft von der BePo aus Mühlheim vor Ort.«

»Alles klar. Ich bin noch mit dem Hund unterwegs. Wo muss ich hin?«

»Zum Tennisklub in Schwalbach«, sagte der KvD. »Brauchst du eine Adresse?«

»Nein danke, ich weiß, wo das ist.«

Pia pfiff nach Beck’s, der mit weit heraushängender Zunge und glücklich leuchtenden Augen angelaufen kam. Sie klippte die Leine wieder ins Geschirr und überlegte. Wahrscheinlich war sie von hier aus schneller zu Fuß bei der Tennishalle in Schwalbach, als wenn sie erst durch den ganzen Wald zurück nach Hause laufen würde, um von dort mit dem Auto nach Schwalbach zu fahren. Christoph konnte sie nicht abholen, er war schon in den Zoo gefahren. Und selbst wenn, wäre er mit dem Auto wahrscheinlich gar nicht bis hierher gelangt. Aber anrufen musste sie ihn trotzdem. Sie tippte auf seine Nummer und wappnete sich innerlich. Christoph meldete sich prompt mit einem »Na, ist irgendwo eine Leiche gefunden worden?«. Als könnte er hellsehen.

»In der Tat«, erwiderte Pia. »In Schwalbach. Leider habe ich heute Bereitschaft, und mein Chef kommt wegen des Schnees nicht vom Hof.«

»Wieso hast du Bereitschaft? Du weißt doch schon seit ein paar Wochen von dem Brunch! Ich gehe doch recht in der Annahme, dass du mich angerufen hast, um mir zu sagen, dass du es nicht rechtzeitig schaffen wirst.« In Christophs Stimme schwang ein sarkastischer Unterton mit, den er ihr gegenüber in letzter Zeit häufiger anschlug.

»Es tut mir leid. Ich muss vergessen haben, den Dienstplan zu ändern«, sagte sie und ärgerte sich sofort darüber. Christoph entschuldigte sich nie dafür, wenn er als Direktor im Zoo Überstunden machen oder Wochenenddienste übernehmen musste, was erheblich öfter vorkam als in Pias Job, und sie hatte ihm noch nie Vorwürfe gemacht, wenn er gemeinsame Pläne über den Haufen warf, weil wieder irgendetwas Unvorhergesehenes im Zoo passiert war und er glaubte, ohne ihn würde dort der komplette Betrieb zusammenbrechen.

»Hoffentlich vergisst du nicht, den Dienstplan für Weihnachten zu ändern.«

»Das habe ich längst getan.« Am 20. Dezember würde Christophs Tochter Annika samt Familie für vier Wochen aus Australien anreisen. Zwar würden sie bei Toni und Lukas unterkommen, weil die ein größeres Haus hatten, aber Christophs älteste Tochter Andrea aus Hamburg würde bei ihnen wohnen, und am ersten Weihnachtsfeiertag hatte Christoph seine drei Töchter inklusive Familien zum Mittagessen eingeladen. »Und ich versuche auf jeden Fall noch zum Brunch zu kommen.«

»Das glaube ich nicht. Du wolltest doch von Anfang an nicht hingehen«, unterstellte er ihr. Das war ungerecht. Und es stimmte nicht.

»Ich wäre wirklich lieber bei einem Brunch in einem gemütlichen Restaurant, als mir bei dieser Kälte eine tote Sechzehnjährige anzugucken und ihre Eltern zu informieren«, entgegnete Pia verärgert.

»Na, mal wieder die Leichenkarte. Die sticht ja immer«, sagte Christoph süffisant und beendete das Gespräch.

Kopfschüttelnd stapfte Pia weiter. Es wäre übertrieben, zu behaupten, sie hätte sich auf diesen Brunch gefreut, aber sie hatte fest vorgehabt mitzugehen, ja, sie hatte sogar gestern Abend schon ihre Garderobe bereitgelegt und war extra früh mit dem Hund rausgegangen.

Eine knappe Dreiviertelstunde später hatte Pia die Tennishalle in Schwalbach erreicht. Auf dem großen Parkplatz standen mehrere Streifenwagen, ein Notarztwagen und Busse der Bereitschaftspolizei. Viele Uniformierte waren vor Ort, aber auch jede Menge Zivilisten. Beim Anblick der Beamten der Hundertschaft, die bereits im Aufbruch begriffen waren, schob Pia alle Gedanken an Christoph und den Sponsorenbrunch beiseite, und ihr Gehirn schaltete in den Polizistenmodus. Wie immer, wenn sie zu einem Leichenfundort gerufen wurde, verspürte sie ein leichtes Flattern im Magen. Die Fälle, mit denen das K11 zu tun bekam, waren nie angenehm, aber wenn es um Kinder und Jugendliche ging, fiel es besonders schwer, die dringend notwendige innerliche Distanz zu wahren.

Pia blickte sich auf der Suche nach Kollege Rothaus um, konnte den Dienststellenleiter der Polizeistation Eschborn aber nirgendwo entdecken. Da löste sich ein Mann aus einer Gruppe von Bereitschaftspolizisten und kam quer über den Parkplatz auf sie zugestiefelt. Pia erkannte Polizeihauptkommissar Ewald »die Legende« Fritsche, Leiter der Hundertschaft der Bereitschaftspolizei Mühlheim. Den Spitznamen trug er, seitdem er vor zwanzig Jahren bei einem von der US-Army jährlich veranstalteten Scharfschützenwettbewerb einen Rekord aufgestellt hatte, den nie jemand gebrochen hatte. Fritsche, drahtig und durchtrainiert wie ein Dreißigjähriger, war schon Ausbilder bei der BePo und Dozent an der Polizeihochschule gewesen, als Pia im Herbst 1989 bei der Polizei angefangen hatte. Man munkelte, er habe jede Möglichkeit der vorzeitigen Pensionierung ausgeschlagen, aber im nächsten Jahr wurde er zweiundsechzig, und dann musste er in Pension gehen, ob er wollte oder nicht, denn das war Vorschrift.

›Noch jemand, der sich für unersetzlich hält‹, dachte Pia zynisch.

»Na, Pia. Geht’s gut?« Er grinste. »Zufällig mit dem Hund in der Gegend?«

»Hallo, Ewald.« Pia ignorierte die blöde Bemerkung. »Wo ist Kollege Rothaus? Der KVD sagte mir, dass er den Einsatz leitet.«

»Rothaus ist am Leichenfundort.« Fritsche klärte Pia in knappen Worten über die Lage auf. Die sechzehnjährige Larissa Böhlefeld aus Sulzbach war am gestrigen Samstag von ihren Eltern auf der Polizeidienststelle Niederhöchstadt als vermisst gemeldet worden. Die angeforderte Hundertschaft hatte zunächst das Gebiet östlich von Schwalbach abgesucht. Heftiger Schneefall hatte den Einsatz eines Hubschraubers mit Wärmebildkamera unmöglich gemacht und die Suche erschwert. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte man abbrechen müssen, zumal nicht klar gewesen war, wo man überhaupt suchen musste. Heute hatte man bei Sonnenaufgang die Suche fortgesetzt, aber es war der Hund eines Spaziergängers gewesen, der hinter einem Marienbildstock unter vierzig Zentimetern Schnee eine weibliche Leiche erschnüffelt hatte, und das an einer völlig anderen Stelle als der, an der man gesucht hatte.

»Wir haben die Leiche nicht angefasst, nur den Schnee entfernt«, schloss Fritsche seinen Bericht. »Die Kleidung stimmt mit der Beschreibung überein, die die Eltern gegeben haben. Wir gehen deshalb davon aus, dass es sich um die gemeldete abgängige Person handelt.«

Die abgängige Person. Das trockene Behördendeutsch konnte wirklich gruselig sein.

»Eure SpuSi-Leute und der Rechtsmediziner sind übrigens schon vor Ort.« Er wandte sich zum Gehen. »Wir rücken jetzt ab. Fünf Mann habe ich Rothaus zur Tatortsicherung zugesagt.«

»Okay, danke.« Pia nickte. »Ach, Ewald, wo ist der Spaziergänger, der die Leiche entdeckt hat?«

»Ich habe ihn nicht gesehen. Dem war’s wohl zu kalt.« Fritsche schnaubte verächtlich.

»Hat jemand seinen Namen und seine Adresse notiert?«

Der Leiter der Bereitschaftspolizei runzelte die Stirn.

»Was für einen Hund hatte er dabei?«

»Keine Ahnung. Den habe ich auch nicht gesehen.«

»Weiß das vielleicht einer von deinen Leuten?«

»Möglich.« Ohne Pia aus den Augen zu lassen, rief er einen Namen. Ein junger Kollege kam sofort angelaufen.

»Wer hat mit dem Typen gesprochen, dessen Köter die Leiche entdeckt hat?«

»Äh … ich … ich weiß es nicht«, antwortete der junge Beamte unsicher.

»Warum nicht, du Null?«, schnauzte Fritsche ihn an. »Rausfinden! Sofort!«

Der junge Mann errötete bis unter die Haarwurzeln und entfernte sich eilig. Pia verspürte Mitleid mit ihm.

»Wie habt ihr erfahren, dass die Leiche gefunden wurde?«, wollte sie wissen. »Ihr habt doch eigentlich an einer ganz anderen Stelle mit der Suche angefangen, oder?«

Fritsche schob das Kinn vor. Sein Gesicht rötete sich, und zwischen seinen buschigen Augenbrauen erschien eine Falte. Mindestens so legendär wie seine Schießkünste war sein Jähzorn.

»Was soll das hier werden, Mädchen?«, blaffte er und stemmte die Hände in die Seiten. »Willst du mir was unterstellen?«

»Warum so empfindlich, du altes Arschloch?«, dachte Pia und ließ die diskriminierende Anrede unkommentiert. Früher war es für viele Vorgesetzte gang und gäbe gewesen, Polizeibeamtinnen herabzusetzen und zu schikanieren, weil sie der Meinung waren, Frauen hätten bei der Polizei nichts zu suchen. Fritsche, dieser Dinosaurier in Uniform, war glücklicherweise einer der letzten dieser aussterbenden Art von Macho-Chefs. Seine aggressive Reaktion weckte Pias Argwohn. Gab es irgendein Versäumnis?

»Nein, warum sollte ich das tun?«, entgegnete sie betont harmlos. »Das war nur eine Frage. Ich muss mir einen Überblick über die Lage verschaffen, denn mein Chef will sicher gleich Details von mir erfahren.«

Sie standen sich gegenüber und starrten sich an. Pia hatte nicht vor, den Alten die Oberhand gewinnen zu lassen. Beck’s spürte die plötzliche Spannung. Sein Körper versteifte sich, ein dumpfes Knurren drang aus seiner Kehle, und als Fritsche einen halben Schritt auf Pia zu machte, ging er mit gefletschten Zähnen nach vorne.

»Aus!«, kommandierte Pia scharf, und Beck’s wich gehorsam zurück, ließ den Leiter der BePo aber nicht aus den Augen.

»Pass auf dein Scheißvieh auf!«, zischte Fritsche wütend.

»Gib mir so schnell wie möglich Bescheid, wenn du herausgefunden hast, wie der Spaziergänger heißt und wo er wohnt«, sagte Pia. »Schönen Sonntag noch!«

Damit ließ sie den vor Zorn kochenden Fritsche stehen und stapfte los.

»Du bist doch der Allerbeste!«, raunte sie ihrem Hund zu. »Von mir aus hättest du den alten Deppen ruhig mal in den Hintern zwicken können.«

»Wau!«, machte Beck’s und wedelte mit dem Schwanz.

Sie liefen an der Tennishalle und den verschneiten Tennisplätzen vorbei, immer in einer der beiden Fahrspuren, die wahrscheinlich der VW-Bus von Krögers Team hinterlassen hatte. Den Weg am Bach und auch das vergitterte Marienbildnis in einem weiß getünchten Häuschen kannte Pia, denn sie ging hier gelegentlich mit dem Hund spazieren oder Fahrrad fahren. Sie war gerade auf Höhe des Tierheims, als hinter ihr ein seltsames Schnarren ertönte, und sie drehte sich um. Ein autoähnliches Gebilde in Olivgrün knatterte durch die Fahrspuren auf sie zu, und Pia staunte nicht schlecht, als sie hinter dem Lenkrad ihren Chef erkannte. Sie trat zur Seite und hätte im tiefen Schnee das Gleichgewicht verloren, wenn sie sich nicht an der Hundeleine hätte festklammern können. Bodenstein bedeutete ihr, auf die andere Seite zu gehen und einzusteigen. Pia musste kräftig an der Beifahrertür rütteln, damit sie sich öffnen ließ. Mit einem eleganten Satz sprang Beck’s in das Gefährt und begrüßte Bodenstein überschwänglich. Pia ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und klopfte ihre Stiefel aneinander, um den Schnee unter den Sohlen loszuwerden.

»Gurte gibt’s nicht«, informierte Bodenstein sie. »Und Vorsicht – der Sitz könnte nach hinten kippen.«

»Klingt ja vertrauenerweckend.« Pia schob Beck’s zwischen ihre Knie und griff nach der Haltstange, die vor das Handschuhfach montiert war. Sie sah sich im Fahrzeuginnern um. Bodenstein trat die Kupplung, das Getriebe ächzte, aber das Auto tuckerte los. »Was ist das für ein Ding?«

»Ein DKW Munga«, antwortete Bodenstein. »Baujahr 1961. Genauso alt wie ich also. Mein Vater hat das Auto vor vierzig Jahren aus Bundeswehr-Beständen gekauft. Es wird eigentlich nur benutzt, um damit im Wald herumzufahren. Aber es hat permanenten Allradantrieb mit immerhin 44 PS und kommt überall durch. Im Gegensatz zu meinem Porsche.«

Er trug einen gefütterten Overall mit Tarnflecken, eine Pelzmütze mit Ohrenklappen und Handschuhe.

»Der Waldarbeiter-Look steht dir.« Pia musterte ihren Chef amüsiert von Kopf bis Fuß. »Irgendwie kernig. Der Mann aus den Bergen.«

»Leider funktioniert die Heizung ungefähr seit 1976 nicht mehr.« Bodenstein grinste schief. »Ich wollte mir keine Lungenentzündung holen, deshalb habe ich mir von meinem Bruder die richtigen Klamotten für eine Winterfahrt mit dem Munga geliehen.«

Mühelos pflügte das kleine Fahrzeug durch den tiefen Schnee.

»Was hast du mit Kollege Fritsche angestellt? Ich habe angehalten, um ihn zu begrüßen, aber er hat mich nur angeraunzt, du wüsstest schon alles und er habe keine Zeit, mir alles noch mal zu erzählen.«

»Ich habe ihn bei einem Fehler ertappt.« Pia gluckste belustigt. »Er hat wohl versäumt, Namen und Adresse des Spaziergängers aufzunehmen, dessen Hund die Leiche gefunden hat.«

»Oh. Okay.«

»Hat es mit deinem Scheidungstermin geklappt am Freitag?«, fragte Pia.

»Ja, hat es«, antwortete Bodenstein. »Kurz und schmerzlos. Scheidung Nummer zwei habe ich hinter mir.«

»Glückwunsch ist wohl nicht das richtige Wort, aber so was in der Richtung«, sagte Pia.

»Da hast du leider recht.« Bodenstein verzog das Gesicht. »Danke.«

Mit einer zweiten gescheiterten Ehe war er keine Ausnahme im Kollegenkreis. In kaum einem anderen Beruf war die Scheidungsrate so hoch wie bei der Polizei. Pia hatte selbst bereits eine Scheidung hinter sich, und in ihrer zweiten Ehe kam es in letzter Zeit auch öfter zu Spannungen. Vermutlich lag das auch an ihrem Ex-Mann, genauer gesagt an dessen Krimis, in denen ein fiktiver Frankfurter Rechtsmediziner und seine Ex-Frau, eine Kriminalhauptkommissarin, die Hauptrollen spielten. Henning gab sich keine große Mühe, das Personal seiner Bücher zu verfremden, und Eingeweihte erkannten natürlich die lebenden Vorbilder seiner Figuren, die Schauplätze und auch die Kriminalfälle, die er in seinen Romanen verarbeitete. Beim K11 in Hofheim war man stolz darauf, das reale Vorbild für die Krimis zu sein, die höchst erfolgreich und immer in den Bestsellerlisten zu finden waren, Christoph indes ärgerte sich darüber, dass der Zoodirektor in Hennings Büchern ein komischer Sidekick war, eine durchaus liebenswerte, aber unbeholfene Figur, die dem echten Christoph in keiner Weise entsprach.

Erst vor ein paar Wochen war Hennings dritter Krimi erschienen und sofort auf Platz 1 der Bestsellerliste geschossen, mittlerweile gab es Anfragen zu Filmrechten und Lizenzverkäufe in andere Länder, und Christoph hatte die Nase voll davon, mit dem Namen der Romanfigur angesprochen zu werden. Pia argwöhnte jedoch, dass sein eigentliches Problem die Tatsache war, dass sie beruflich immer noch mit Henning verbunden war. Außerdem hatte es Christoph noch nie so richtig gefallen, dass sie beim K11 ständig mit Mord und Totschlag zu tun hatte. Ein paarmal hatte sie in den letzten zwölf Jahren eher halbherzig erwogen, sich ihm zuliebe in ein anderes Kommissariat versetzen zu lassen, aber sie war Mordermittlerin mit Leib und Seele. Außerdem mochte sie ihre Kollegen. Kai, Cem, Kathrin, Tariq, Christian und nicht zuletzt Bodenstein und Nicola Engel waren im Laufe der Jahre zu ihrer »Arbeitsfamilie« geworden. Man kannte und schätzte sich und konnte sich zu hundert Prozent aufeinander verlassen, wenn es darauf ankam.

»Was wissen wir bisher?«, fragte Bodenstein.

Pia schüttelte die Gedanken an Christoph und Henning ab und wiederholte die Fakten, die Fritsche ihr genannt hatte.

An der Wegabzweigung stand eine uniformierte Beamtin und öffnete das Polizeiabsperrband, als sie Bodenstein trotz seiner Ohrenklappen-Fellmütze erkannte. Auf dem Hügel oberhalb des Bachlaufs hatten sich bereits erste Schaulustige eingefunden. Einige stapften über die verschneiten Wiesen hügelabwärts; in ihrer Sensationslust und der Gier auf makabre Details ließen sie sich nicht von Schnee und Eis und am wenigsten von Polizeiabsperrungen abhalten. Es würde ganz sicher nicht mehr lange dauern, bis eine erste Drohne über dem Leichenfundort kreiste.

»Ich frage mich immer, woher die Leute so schnell wissen, wenn irgendwo was passiert ist«, wunderte sich Pia.

»Facebook, Instagram.« Bodenstein zuckte die Schultern. »Und wenn irgendwo eine Hundertschaft mit Suchhunden aufkreuzt, fällt das auf.«

»Ja, das ist mir schon klar. Ich lebe ja nicht hinter dem Mond«, erwiderte Pia. »Aber warum sie gleich losrennen und gaffen müssen, das werde ich wohl nie verstehen.«

»Vielleicht haben sie einfach ein langweiliges Leben«, vermutete Bodenstein. »Und sowas peppt es auf.«

Unter dem Schnee befand sich ein asphaltierter Weg, der dem Lauf des Schwalbachs nach Sulzbach folgte und unterhalb der Kleingärten vorbei an der Ausflugsgaststätte Ponderosa nach Sossenheim, zum Arboretum und nach Eschborn führte. Im Sommer bildeten die hohen Bäume einen schattig grünen Tunnel, und der Weg war bei Spaziergängern, Joggern oder Radfahrern gleichermaßen beliebt. Jetzt hatte der Frost die Landschaft in ein Winterwunderland verwandelt.

Hinter einer Kurve in einer Senke parkten die beiden blauen VW-Busse der Spurensicherung, zwei Streifenwagen, ein Einsatzfahrzeug der Freiwilligen Feuerwehr Schwalbach und ein schwarzer SUV mit Frankfurter Kennzeichen.

»Na, schau einer an. Herr Dr. Kirchhoff ist persönlich hergekommen«, stellte Bodenstein fest. Seitdem Pias Ex-Mann vor einigen Jahren die Leitung des Rechtsmedizinischen Instituts in Frankfurt übernommen hatte, fuhr er nur noch selten selbst zu Leichenfundorten, sondern überließ diese Arbeit seinen Mitarbeitern.

»Wahrscheinlich braucht er Stoff für einen neuen Krimi«, brummte Pia.

Bodenstein hielt hinter Hennings Auto an. Einige Beamte der Bereitschaftspolizei sicherten den Fundort gegen Schaulustige. Unter der Aufsicht von Christian Kröger, dem Leiter des Ermittlungsdienstes bei der RKI Hofheim, waren mehrere Feuerwehrleute gerade damit beschäftigt, Holzplanken vom Weg bis hinter den Marienaltar in den Schnee zu legen. Bodenstein stieg aus. Beck’s stemmte die Vorderpfoten gegen das Armaturenbrett und blickte neugierig durch die Windschutzscheibe.

»Lass bloß den Hund im Auto, Pia!«, rief Kröger. »Das würde noch fehlen, wenn der hier herumrennt. Die übereifrigen BePos haben mir schon den ganzen Fundort kontaminiert!«

»Du hast es gehört«, sagte Pia zu ihrem Hund. »Du bleibst schön hier.«

»Sie haben doch wirklich den Schnee weggekratzt und die Jacke, die über dem Gesicht der Leiche lag, entfernt«, beschwerte Kröger sich. Die Spurenlage an einem Fund- oder Tatort zu verändern, bevor alles fotografiert und exakt dokumentiert worden war, war in seinen Augen ein Sakrileg.

»Von uns war’s keiner«, mischte sich eine Beamtin der BePo ein.

»Dann war’s ganz sicher die Legende«, knurrte Kröger verärgert. »Fritsche glaubt ja immer, er könnte alles besser als jeder andere.«

Die jungen Polizisten grinsten verstohlen.

Pia ging zu ihrem Chef, der mit Martin Rothaus, dem Leiter der Polizeistation Niederhöchstadt, sprach. Rothaus war erleichtert, dass die Kriminalpolizei übernehmen würde, und brachte sie auf den neuesten Stand. Gestern, gleich nachdem die Eltern die Vermisstenanzeige erstattet hatten, hatten Rothaus und eine Kollegin die Freundinnen der verschwundenen Larissa Böhlefeld befragt, aber keine von ihnen hatte gewusst, wo sich ihre Freundin aufhalten könnte. Rothaus hatte eine Hundertschaft, Suchhunde und einen Hubschrauber angefordert. Er hatte alles richtig gemacht und trotzdem keine Chance gehabt, das Mädchen lebend wiederzufinden. Nicht zum ersten Mal fragte Pia sich, warum die Kollegen aus Niederhöchstadt nicht sofort die Kripo eingeschaltet hatten, die mit solchen Großlagen bedeutend mehr Erfahrung hatte als die Schutzpolizei.

In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte Anne Böhlefeld in einem Zustand zwischen Albtraum und Hölle gelebt, jetzt war sie innerlich vollkommen taub. Das, was um sie herum geschah, fühlte sich nicht real an. Sie überließ es Jörg, mit all den Menschen zu sprechen, die in ihr Haus eingedrungen waren, in ihr Nest. Die Polizisten hatten Lissys Zimmer betreten; sie hatten all ihre Sachen angefasst und fotografiert und sich Notizen gemacht, sie hatten einfach alle Schubladen geöffnet und durchsucht, in die Schränke geschaut, sogar die Matratze von Lissys Boxspringbett umgedreht, als ob dort irgendeine Information versteckt sei, die ihnen helfen würde, ihre Tochter zu finden. Anne hatte im Türrahmen gestanden und ihnen zugesehen, die Arme vor der Brust verschränkt, so fest, dass ihre Fingernägel sich in ihre Oberarme gegraben hatten, weil sie sonst auseinandergebrochen wäre und diese Leute angeschrien hätte. Das Zimmer war Lissys Reich, selbst ihren Eltern gewährte sie nur eingeschränkt Zugang, und sie respektierten das, denn Lissy war kein kleines Kind mehr, sondern eine junge Frau, die ihren Rückzugsort und ihre kleinen Geheimnisse brauchte und haben durfte. Was jetzt mit ihrem Zimmer geschah, fühlte sich an wie eine Vergewaltigung, und Anne war machtlos dagegen, sie konnte es nicht verbieten, denn diese Menschen wollten ja nur helfen, Lissy zu finden.

Ihre Lissy. Ihr Kind. Ihre Tochter, die seit achtundvierzig Stunden verschwunden war.

Wann haben Sie Ihre Tochter zuletzt gesehen? Wann haben Sie zuletzt von ihr gehört? Mit ihr gesprochen? Wann hat sie Ihnen das letzte Mal geschrieben oder eine Sprachnachricht geschickt? Was hatte Larissa am Freitagabend vor? Mit wem war sie unterwegs? Hatten Sie Streit mit Ihrer Tochter? Ist sie vielleicht weggelaufen? Gibt es jemanden, zu dem sie hingehen würde? Hat sie einen Freund, von dem Sie vielleicht nichts wissen? Hat sie möglicherweise Liebeskummer? Wurde sie gemobbt?

Mit jeder Frage, die die Polizisten Jörg und ihr gestellt hatten, war ihr Lissy ein bisschen mehr entglitten, und sie hatte sich furchtbar geschämt, weil sie zu ihrer Bestürzung gemerkt hatte, dass sie auf die meisten dieser Fragen keine Antworten hatte. Immer wieder hatten Jörg und sie sich ratlos angeschaut und die Schultern gezuckt. Wurde Lissy gemobbt? Gab es jemanden, in den sie verliebt war? War sie wirklich mit ihren Freundinnen auf der Eislaufbahn am Skulpturenpark in Niederhöchstadt gewesen oder vielleicht ganz woanders? Rauchte Lissy? Nahm sie Drogen? Wurde sie von irgendwem bedroht? Hatte sie vor jemandem oder irgendetwas Angst? Hat sie sich in letzter Zeit verändert?

Anne hatte geglaubt, ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis zu Lissy zu haben und sie zu kennen, aber da hatte sie sich getäuscht. Sie wusste überhaupt nichts. Sie kannte von ihrer sechzehnjährigen Tochter nur das, was diese sie sehen ließ, und die Fragen der Polizisten machten ihr das schmerzhaft deutlich. Für was für eine Sorte Eltern mussten die sie halten?

»Wo bist du, Lissy?«, fragte sie sich immer wieder. »Warum kommst du nicht nach Hause?«

Ihre Tochter war so arglos, so kindlich noch, völlig unvorbereitet auf die Grausamkeiten, die das Leben mit sich bringen konnte. Selbst mit ihren sechzehn Jahren war sie manchmal noch ein kleines Mädchen, das jeden Abend für ein paar Minuten kuscheln wollte und auf ihre Wunschliste zu Weihnachten unter anderem eine Einhorn-Fleecedecke und eine Harry-Potter-Studiotour in London geschrieben hatte.

Anne hatte sich mit Lissys Lieblingskuscheltier, einem zerknautschten Schäfchen, auf die oberste Stufe der Treppe gesetzt, um all den wohlmeinenden Menschen zu entkommen. Ihre Mutter war da. Und ihre Schwester, die gestern Abend trotz des Schnees extra aus Koblenz gekommen war. Jörgs Bruder Jonas und seine Frau Susi. Werner und Karin, die Nachbarn links. Sabine und Freya, das Lesbenpärchen von gegenüber. Timo und Tanja, die Nachbarn rechts. Fremde. Polizisten, die dauernd etwas wollten: Kaffee, das WLAN-Passwort, Klopapier.

Jörg ging es besser, wenn er redete. Das war schon immer so gewesen. Er war der Gesprächige von ihnen beiden, sie diejenige, die mit wenigen Worten auskam. Sie hörte seine Stimme. Sie wusste, dass er im Wohnzimmer war, wo der Fernseher ohne Ton lief.

»Frau Böhlefeld? Kann ich irgendetwas für Sie tun?« Diese Polizistin in Zivil tauchte am Fuß der Treppe auf. Die Opferbeauftragte. Was für eine schreckliche Berufsbezeichnung. »Wollen Sie etwas essen?«

»Nein. Ich will einfach nur hier sitzen«, erwiderte Anne abweisender als beabsichtigt. Sie konnte all diese Menschen nicht mehr ertragen, ihr Getuschel, die verstohlenen mitleidigen Blicke, die sie dazu zwangen, sich zu beherrschen, statt sich einfach gehen zu lassen, zu weinen und die Angst um ihr einziges Kind herauszuschreien. Unablässig bedrängten sie sie. Möchtest du einen Tee? Magst du dich mal etwas hinlegen? Kann ich etwas für dich tun?

Nein. Nein. NEIN.

Die Polizistin ging in die Küche. Als Opferbeauftragte war sie sicherlich einiges gewohnt.

Anne lehnte den Kopf an die Wand. Sie wusste, dass sich nichts verändert hatte, aber wie unter Zwang rief sie immer wieder Lissys WhatsApp-Chat auf und die Wo ist?-App. Sie wusste, dass es keine Wunder gab. Jeder hier wusste das. Anne kannte die Fälle, in denen Kinder und Jugendliche spurlos verschwanden, aus der Presse, und sie kannte die Statistik. Neunundneunzig Prozent aller verschwundenen Jugendlichen tauchten wohlbehalten wieder auf, die meisten schon innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden nach ihrem Verschwinden. Aber es gab eben auch dieses eine Prozent, für das es nicht gut ausging. Immer, wenn sie über solche Fälle wie den der sechzehnjährigen Rebecca Reusch gelesen oder etwas im Fernsehen gesehen hatte, hatte sie insgeheim gedacht: Gott sei Dank ist es nicht mein Kind! Wurde sie jetzt für diese egoistischen Gedanken bestraft?

Wieder klingelte es an der Haustür. Irgendwer öffnete. Eine aufgeregte Stimme. Unruhe. Jemand kam die Treppe hoch. Jörg. Er ergriff ihre Hand. Er weinte. Anne hatte ihren Mann noch nie weinen sehen.

»Nein«, bat sie ihn. »Nein, nein, bitte sag es nicht, sag es nicht!«

»Sie haben sie gefunden«, flüsterte Jörg mit tränenerstickter Stimme. »Anne, sie haben unsere Lissy gefunden. Sie ist tot.«

Kröger und seine Techniker fotografierten die Leiche und sicherten so viele Spuren, wie es ihnen möglich war.

»Dürfen wir mal schauen?«, fragte Bodenstein.

»Ja«, antwortete Kröger. »Aber bleibt auf den Planken. Es sind sowieso schon zu viele Leute hier herumgetrampelt.«

»Natürlich«, beruhigte Bodenstein den Chef der Spurensicherung. Er balancierte vorsichtig um das Häuschen herum, das den Marienaltar beherbergte, und Pia folgte ihm. Dahinter ging es einen mit Bäumen und Unterholz bestandenen Abhang hoch. Die Spurensicherer hatten das Gestrüpp abgeschnitten und die Leiche sorgfältig vom Schnee befreit. Die tote junge Frau lag in einer Kuhle zwischen Abhang und Mauer. Sie lag auf der Seite, als ob sie schlafen würde, die Knie angezogen, der linke Arm abgeknickt unter dem Kopf.

»Sie muss vor Einsetzen des Schneefalls abgelegt worden sein, denn unter ihrem Körper befand sich kein Schnee«, sagte Kröger. »Über Kopf und Oberkörper lag die Jacke. Als ob man sie zugedeckt hätte.«

Er deutete auf eine cremeweiße Daunenjacke mit Kapuze und Kunstfellkragen, die ein Stück weit entfernt auf dem Boden lag, daneben steckte die kleine Tafel mit der Nummer 2 im Schnee.

»Gibt es Hinweise auf Fremdeinwirkung?«, fragte Bodenstein. Er hatte die Fellkappe unter dem Kinn aufgeknotet und die Ohrenklappen standen von seinem Kopf ab wie die Henkel einer Tasse.

»Auf den ersten Blick nicht«, räumte Kröger ein.

»Das heißt, sie könnte sich hierhergelegt und die Jacke selbst über sich gezogen haben?« Gerade zu Beginn von Ermittlungen musste man in jede Richtung denken, und Jugendliche taten oft die seltsamsten Dinge, besonders unter dem Einfluss von Drogen oder Alkohol.

»Theoretisch ja.« Kröger schürzte nachdenklich die Lippen. »Aber hätte sie sich nicht eher in das Häuschen gelegt statt dahinter?«

Pia ging in die Hocke und betrachtete das tote Mädchen aus der Nähe. Die blauen Lippen, die sich nie mehr zu einem Lächeln verziehen würden. Die Finger, die nie wieder etwas anfassen würden. Das dunkelblonde, zu einem Zopf geflochtene Haar, das nie mehr im Wind flattern würde. Wie mochte die junge Frau ausgesehen haben, als sie gelebt hatte? Auf jeden Fall schien sie Wert auf ihr Äußeres gelegt zu haben: Die Wimpern waren getuscht, auf den geschlossenen Lidern klebten Reste von bronzefarbenem Lidschatten. Sie trug einen farblich darauf abgestimmten Pullover in einem warmen Braunton, und selbst die Farbe ihrer Ohrstecker, winzige Blütenblätter, passte zu Lidschatten und Pullover. Dagegen bildete der jeansblaue Baumwollschal, der um ihren Hals geschlungen war, einen deutlichen Kontrast.

Pia wurde schwer ums Herz. Ohne zu ahnen, dass sie sterben würde, hatte sich die junge Frau geschminkt, ihr Haar zu einem Zopf geflochten und sich angezogen. Was hatte sie vorgehabt? Wen hatte sie getroffen? War sie von jemandem enttäuscht worden und hatte sich deshalb hier verkrochen? Hatte sie vielleicht sterben wollen? Erfrieren war ein vergleichsweise angenehmer Tod, besonders dann, wenn man von Alkohol oder Drogen benebelt war.

In über zwanzig Jahren beim K11 hatte Pia schon viel gesehen, aber der Tod eines Kindes oder Jugendlichen vermochte sie noch immer zu erschüttern. Es war das Schlimmste in ihrem Job: ein junges Leben, das brutal zerstört worden war, bevor es hatte gelebt werden können.

»Handelt es sich bei ihr um die vermisste Person?«, hörte sie Bodenstein fragen.

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit ja«, antwortete Kröger. »Die Ohrstecker und die Kleidung stimmen mit dem überein, was die Eltern bei der Vermisstenmeldung angegeben haben.«

»Habt ihr ein Handy gefunden? Ausweispapiere? Eine Tasche?«

»Nein, nichts. Liegt womöglich alles unter dem Schnee. Und frag mich nicht nach irgendwelchen Spuren. Wegen des Schnees ist die Spurenlage eine Katastrophe. Ich kann auch momentan nicht sagen, ob der Fundort der Tatort ist.«

Pia ging zurück zum Weg. Sie sog tief die frostkalte Luft in ihre Lungen und zog die Kapuze ihrer Daunenjacke über den Kopf. Henning Kirchhoff stand unter dem Dach des Bildstocks, neben ihm der Alukoffer mit seinem Equipment. Er hatte sich bereits einen weißen Overall angezogen und schien ganz versunken in den Anblick des Marienbildes.

»Na, Henning«, begrüßte Pia ihren Ex-Mann. »Wieder mal auf der Suche nach Inspiration, oder was führt dich an einem Sonntagmorgen hierher?«

»Hallo, Pia!« Henning drehte sich zu ihr um, ohne auf ihre spitze Bemerkung einzugehen. »Wusstest du, dass dieses Bildnis eine Darstellung des sogenannten Kreuzes der Einheit ist? Auf der Rückseite des Originals stehen drei Sätze in lateinischer Sprache, einer davon lautet Clarifica te.« Er wies auf den Schriftzug unterhalb des Bildes. »Aber dort steht Clarifica me, Johannes, 17. Siehst du das? Das ist ein Fehler.«

»Wieso ein Fehler? Was meinst du?« Pias Blick wanderte über das Marienbild, das durch Gitterstäbe vor Vandalismus geschützt war. Auf einem Bord unterhalb des Bildes und auf dem Fußboden standen zahlreiche Grablichter, erloschene Kerzen und Vasen mit erfrorenen Blumen. Obwohl sie schon Dutzende Male mit dem Hund an diesem Altar vorbeigelaufen war, hatte sie diese Details nie richtig wahrgenommen. Hatte es wohl irgendeine Bedeutung, die sie nicht erkannte, weshalb die Leiche des Mädchens ausgerechnet hier lag?

»Es müsste korrekterweise Clarifica te heißen«, fuhr Henning fort. »Wörtlich übersetzt heißt das Verherrliche dich. Es soll so viel bedeuten wie Mach dich deutlich, zeige, welche Macht du im Reiche Gottes hast, und bezieht sich auf Maria, die Mutter Jesu. Deshalb steht dieser Satz häufig an Marienaltären. Aber hier steht Clarifica me, Johannes, 17.«

»Ja. Und? Me oder te, wen interessiert das schon?« Pia beschäftigten ganz andere Dinge. Wieder mal typisch für Henning, sich über eine solche Haarspalterei Gedanken zu machen.

»Et nunc clarifica me tu Pater apud temet ipsum claritatem quam habui priusquam mundus esset apud te«, zitierte er in fließendem Latein. »Das ist die Stelle aus Kapitel 17 des Johannes-Evangeliums, in der eindeutig Gott, der Vater, angesprochen wird. Das passt nicht zu einem Marienaltar, verstehst du?«

»Nicht so wirklich.« Pia verdrehte die Augen. Ihr Ex-Mann war zweifellos einer der gebildetsten Menschen, denen sie jemals begegnet war. Nicht ohne Grund hatte sie sich während der sechzehn Jahre ihrer Ehe ständig unzulänglich gefühlt, denn in intellektueller Hinsicht hatte sie ihm und seinen gelehrten Freunden nie das Wasser reichen können.

»Leider kann ich kein Latein, wie du weißt. Aber wenn du auf Hebräisch aus der Bibel zitieren würdest, wäre ich echt beeindruckt«, frotzelte sie.

»Das Neue Testament wurde ursprünglich in griechischer Sprache aufgezeichnet. Vielleicht in Teilen auch auf Aramäisch. Aber nicht auf Hebräisch«, entgegnete Henning mit dieser milden Nachsicht, mit der er sie früher sofort auf die Palme gebracht hatte. Heute störte es sie nicht mehr.

»Was sind das bloß für Leute, die hierherkommen, Blumen hinstellen und Kerzen anzünden?«, wunderte sich Pia.

»Menschen, die Trost suchen.« Henning betrachtete sie prüfend. »Wie geht’s dir?«

»Gut. Und dir?«

Nie und nimmer würde sie ausgerechnet ihrem Ex-Mann sagen, dass sie Streit mit Christoph hatte.

»Auch gut. Ist alles okay?«

»Abgesehen davon, dass hinter dieser Hütte eine tote Sechzehnjährige liegt und wir ihren Eltern das mitteilen müssen, geht’s mir gut«, antwortete Pia ruppiger als beabsichtigt. Bevor Henning darauf antworten konnte, tauchte Kröger auf.

»Wir sind fertig, Doc«, sagte er. »Sie können jetzt an die Leiche. Aber wenn es Ihnen lieber ist, können wir sie auch hierherbringen.«

»Danke«, erwiderte Henning. »Hier könnte ich tatsächlich besser arbeiten als im Schnee.«

»Gut, dann holen wir sie.«

Die von Herzen kommende Feindschaft, die die beiden Männer jahrelang kultiviert hatten, gehörte der Vergangenheit an, genauso wie ihre kindischen Streitereien an Schauplätzen von Verbrechen, die alle Beteiligten stoisch ertragen hatten. Bodenstein hatte die Theorie, dass Kröger sich von Kirchhoff endlich angemessen wertgeschätzt fühlte, weil er sich in der fiktiven Figur Kris Krüger, dem durchaus positiv gezeichneten Chef der Spurensicherung in Hennings Kriminalromanen, wiedererkannte. Aber in Wirklichkeit wusste niemand, warum die beiden ihr Kriegsbeil begraben hatten.

Henning streckte die Hand aus, als ob er Pia berühren wollte, besann sich aber anders und ließ den Arm wieder sinken. Sein Blick fiel auf Bodenstein, und er hob eine Augenbraue. »Hallo, Oliver! Bist du auf einer Polarexpedition?«

»Mit jedem Winter scheint mir die Kälte mehr auszumachen«, erwiderte Bodenstein. Sein Handy begann zu klingeln, und er ging ein Stück zur Seite, um zu telefonieren. Pia steckte ihre Hände in die Jackentaschen und sah zu, wie Christian Kröger und zwei seiner Mitarbeiter die Leiche der jungen Frau auf dem Fußboden vor dem Marienbildnis ablegten. Es war ein grotesker Anblick, denn Leichenstarre und Minusgrade sorgten dafür, dass ihr steifer Körper in derselben Stellung blieb, in der sie aufgefunden worden war.

Kirchhoff begann mit der Leichenschau.

Bodensteins Schritte knirschten im Schnee. Er wirkte verärgert.

»Das war Merle Grumbach«, sagte er. »Sie ist seit gestern Nachmittag bei den Eltern von Larissa Böhlefeld und sagt, gerade habe jemand an der Haustür geklingelt und den Eltern mitgeteilt, dass man die Leiche ihrer Tochter gefunden hat.«

»Wie bitte?« Pia drehte sich um. »Woher weiß dieser Jemand das denn?«

»Ach, verdammt!« Bodenstein schnalzte ärgerlich mit der Zunge. »Christian, wie sicher bist du, dass es sich um das vermisste Mädchen handelt?«

»Ganz sicher.« Kröger zückte sein Smartphone und rief das Foto auf, das die Eltern für die Vermisstenanzeige zur Verfügung gestellt hatten. Bodenstein und Pia betrachteten es und verglichen es mit dem Gesicht der Toten.

»Ja, das ist sie«, bestätigte Pia.

»Gut. Dann sollten wir zu den Eltern fahren, bevor sie hier auftauchen«, beschloss Bodenstein.

»Wartet noch einen Moment«, hielt Henning sie zurück. Er hatte den Schal vom Hals des Mädchens entfernt. »Kommt mal her.«

Bodenstein, Kröger und Pia traten näher an die Leiche heran.

»Seht ihr das? Das ist eine deutliche Drosselspur, die höchstwahrscheinlich von einer Drosselhandlung mit dem Schal stammt.« Henning wies auf einen bläulichen Streifen, der sich um den Hals der Leiche zog. Dann deutete er auf die rechte Gesichtshälfte des Mädchens. »Hier sind Spuren von Gewalteinwirkung gegen den Gesichtsschädel zu erkennen. Lasst euch nicht davon irritieren, dass die Leichenflecken hellrötlich sind. Das liegt an der Kälte und hat etwas mit der Reoxygenierung des Hämoglobins zu tun. Sobald die Leiche in die Wärme kommt, werden die Leichenflecken nachdunkeln. Am Hinterkopf finden sich unterhalb der Hutkrempenlinie ebenfalls Spuren stumpfer Gewalt, die jedoch eher für einen Sturz aus geringer Höhe sprechen. Genaueres kann ich euch erst nach der Obduktion sagen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die junge Frau durch äußere Gewalteinwirkung gestorben ist und nach ihrem Tod hier abgelegt wurde.«

Bodenstein richtete sich auf und stieß einen Seufzer aus. Bisher hatten sie es nur mit einer Vermisstensache zu tun gehabt, aber jetzt ging es um ein Verbrechen, womöglich sogar um Mord.

»Kann man herausfinden, wann es am Freitagabend angefangen hat zu schneien?«

»Habe ich schon überprüft«, erwiderte Kröger. »Laut meteorologischen Daten hat der Schneefall hier am Freitagabend gegen 21:30 Uhr eingesetzt. Wir lassen uns den genauen Zeitpunkt natürlich noch vom Deutschen Wetterdienst bestätigen.«

»Ich habe das ganze Team informiert«, sagte Pia. »Cem ist noch auf dem Rückweg von einer Hochzeitsfeier in Berlin, aber Kai, Kathrin und Tariq fahren gleich ins Büro.«

»Kai soll Frau Dr. Engel und die Presseabteilung informieren.« Bodenstein saß vorgebeugt hinter dem Lenkrad des Munga und hielt Ausschau nach einem Parkplatz, aber die Straße in dem Neubaugebiet am Ortsrand von Sulzbach, in der sich das Haus von Larissa Böhlefelds Eltern befand, war hoffnungslos zugeparkt, und zwischen den parkenden Autos türmten sich Schneeberge. Beck’s lag zufrieden auf der Rückbank. Er mochte es, wenn er dabei sein durfte.

»Den beiden habe ich natürlich auch geschrieben«, antwortete Pia. »Hier findest du keinen Parkplatz. Stell dich doch einfach an die Bushaltestelle.«

»Das ist verboten.« Bodenstein kämpfte mit dem Schalthebel. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es ihm schließlich, den Rückwärtsgang einzulegen, und er fuhr zurück bis auf die Hauptstraße.

»Bushaltestelle – oder Fußmarsch durch den Schnee«, sagte Pia, ohne von ihrem Handy aufzublicken.

»Du verführst mich zu illegalen Handlungen.« Bodenstein lenkte den Munga in die Haltebucht der Bushaltestelle, stieg aus, setzte die Pelzmütze mit den Ohrenklappen ab und entledigte sich des gefütterten Tarnoveralls, was er sofort bedauerte. Die eisige Kälte drang durch sein Sakko und die dünne Stoffhose.

»Hast du keine Jacke dabei?«, fragte Pia.

»Mhm«, brummte er nur. »Komm, sehen wir zu, dass wir das hinter uns bringen.«

Die Nachricht vom Tod eines Angehörigen zu überbringen, gehörte zu den unerfreulichsten Aufgaben in ihrem Beruf. Es war furchtbar, sehenden Auges das Leben oft ganzer Familien zu zerstören, und obwohl er nur der Bote war, verspürte Bodenstein jedes Mal ein schlechtes Gewissen.

Die Bürgersteige waren gewissenhaft vom Schnee befreit worden, auch vor dem Haus der Böhlefelds hatte jemand Schnee gefegt und gestreut. Hauptkommissarin Merle Grumbach erwartete sie im Vorgarten.

»Was machst du denn eigentlich hier?«, wollte Bodenstein von ihr wissen.

»Kollege Rothaus aus Eschborn hat mich gestern angefordert. Aber ich muss zu einem KIT-Einsatz nach Idstein. Verkehrsunfall mit zwei Toten«, erwiderte Merle. »Hier kann ich sowieso nicht mehr viel ausrichten. Die Eltern haben komplett dichtgemacht. Seid ihr ganz sicher, dass es Larissa ist?«

»Ja, leider«, sagte Pia. »Und so, wie es aussieht, ist sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen.«

»War ja zu befürchten.« Merle Grumbach setzte sie rasch über die familiären Zusammenhänge in Kenntnis. »Jörg Böhlefeld, der Vater, Ingenieur in der Automobilbranche, beruflich viel unterwegs. Hoch emotional und hyperaktiv. Anne Böhlefeld, die Mutter, Apothekerin, arbeitet in der Taunus-Apotheke in Schwalbach. Sie ist ungefähr zehn Jahre jünger als ihr Mann. Schwer einzuschätzen, hat sich und ihre Gefühle bisher eisern im Griff. Früher haben sie übrigens in Schwalbach gewohnt, sind erst vor zwei Jahren in dieses Haus gezogen. Larissa ist – oder war – ihr einziges gemeinsames Kind, der Vater hat aber aus einer früheren Beziehung noch eine ältere Tochter, Mitte zwanzig ungefähr. Sie ist auch da.«

»Wer ist noch im Haus?«, erkundigte sich Pia.

»Die Mutter von Anne Böhlefeld, die Schwester, der Bruder von Jörg Böhlefeld mit Frau, mehrere Freunde und Nachbarn und die ältere Tochter von Larissas Vater«, zählte Merle auf. »Bis auf die Schwester von Anne Böhlefeld wohnen alle hier in der Nähe, die meisten in Sulzbach. Die Eltern sind also betreut, werden mit Essen versorgt. Sie lehnen beide professionelle Hilfe ab. Gestern hatte ich den Eindruck, dass sie …«

Im Haus wurden Stimmen laut. Die Haustür wurde aufgerissen. Es gab ein Handgemenge. Mehrere Männer versuchten, einen bulligen Glatzkopf daran zu hindern, das Haus zu verlassen.

»Der mit der Glatze ist Jörg Böhlefeld, der Vater«, sagte Merle mit gesenkter Stimme.

»Lasst mich los, lasst mich los!«, schrie Böhlefeld und wehrte sich heftig, aber zwei Männer hielten ihn unerbittlich an den Armen fest. »Ich muss zu Lissy, ich muss zu meinem kleinen Mädchen, lasst mich doch los!«

Der Mann war völlig außer sich. Tränen liefen über sein gerötetes Gesicht.

»Herr Böhlefeld«, sprach Merle Grumbach den Tobenden an. »Das hier sind meine Kollegen Hauptkommissar Bodenstein und Hauptkommissarin Sander vom K11 in Hofheim. Sie leiten die Ermittlungen.«

Böhlefeld hielt keuchend inne. Ungeachtet der Kälte trug er nur Jeans und ein schwarzes T-Shirt, das beeindruckend muskulöse Arme sehen ließ, und hätte Merle vorhin nicht seinen Beruf erwähnt, hätte Bodenstein den Mann für einen Bauarbeiter gehalten, für einen Landschaftsgärtner oder für jemanden aus dem Milieu.