Morde und andere Gemeinheiten - Daniel Juhr - E-Book

Morde und andere Gemeinheiten E-Book

Daniel Juhr

4,8

Beschreibung

Das Oberbergische Land: schier endlose Wälder, sanfte Hügel, satte Weiden, kleine Flüsse und viele schöne kleine Städte und Orte. Doch der Schein trügt: Allerlei düstere Gestalten treiben ihr Unwesen, in den Wäldern, auf den Straßen und in den Häusern. Es sind Intriganten, verwirrte Amokläufer, seltsame Profikiller, energische Hobbydetektive und viele weitere Figuren, denen man von Radevormwald bis Marienheide, von Wipperfürth bis Gummersbach, von Nümbrecht bis Waldbröl begegnen wird. Durch den Kreis zieht sich ein Band spannender, humorvoller, melancholischer, interessanter und fesselnder Geschichten rund um große und kleine Schandtaten bis hin zum perfiden Mord. Die Autoren: Oliver Buslau, Irmgard Hannoschöck, Daniel Juhr, Christine Kaula, Daniel Kohlhaas, Martin Kuchejda, Frank Merken, Michael Schreckenberg und Andreas Wöhl.

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Seitenzahl: 339

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Morde

und andere Gemeinheiten

13 schaurig-schöne Geschichten aus Oberberg

Impressum

© 2015 by Oliver Buslau, Irmgard Hannoschöck, Daniel Juhr, Christine Kaula, Daniel Kohlhaas, Martin Kuchejda, Frank Merken, Michael Schreckenberg, Andreas Wöhl.

Wir bedanken uns bei allen Autoren.

Alle Nutzungsrechte dieser Ausgabe bei

JUHR Verlag

Daniel Juhr

Waldweg 34a

51688 Wipperfürth

www.juhrverlag.de

Lektorat: Irmgard Hannoschöck, Daniel Juhr

Korrektorat: Christine Kaula

Satz: Daniel Juhr

Covergestaltung: Daniel Juhr, Irmgard Hannoschöck

Cover-Artwork: Stefan Heilemann, www.heilemania.de

Coverreinzeichnung:www.oh-kommunikation.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Originalausgabe, 2. Auflage 2015. Das Werk ist vollumfänglich geschützt. Jede Verwertung wie zum Beispiel die Verbreitung, der auszugsweise Nachdruck, die fotomechanische Verarbeitung sowie die Verarbeitung und Speicherung in elektronischen Systemen bedarf der vorherigen Genehmigung durch den Verlag.

Alle Hauptfiguren und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

ISBN: 978-3-942625-38-8

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Irmgard Hannoschöck:

Die Vernehmung (Radevormwald)

Christine Kaula:

Putschertod (Wipperfürth)

Irmgard Hannoschöck:

Die Porzellanmalerinnen (Hückeswagen)

Andreas Wöhl:

Die Frau aus dem Nebel (Lindlar)

Frank Merken:

Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? (Marienheide)

Oliver Buslau:

Der tiefe Fall in Derschlag (Gummersbach)

Daniel Juhr:

Stadt der Engel (Engelskirchen)

Martin Kuchejda:

Morgen, wenn der Tag kommt (Bergneustadt)

Daniel Juhr:

Franzen findet was (Wiehl)

Irmgard Hannoschöck:

Mein Tod in Reichshof (Reichshof)

Daniel Kohlhaas:

Im Schatten der Türme (Nümbrecht)

Michael Schreckenberg:

Vasilisa (Waldbröl)

Daniel Juhr:

Rom sehen und sterben (Morsbach)

Weitere Bücher

Irmgard Hannoschöck

Die Vernehmung

Einführung: Paula und wie sie die Welt sieht

„Hör mal, haste das gelesen?“ Paula Petrova stellt den Putzeimer beiseite, der Boden hinter der Rezeption im Waldhotel ist jetzt langsam mal sauber genug, findet sie, und hält Ulla die Zeitung hin. Ulla macht heute auch hier sauber, wie jeden Mittwoch.

„Da, in Radevormwald. Da hört einer Schreie in der Wohnung der Nachbarin, tritt deren Tür ein, und da liegt der Vater von der armen Frau blutüberströmt in der Bude. Haste dafür Worte?“

Ulla zuckt die Schultern. „Kommt vor, woll.“

Paula kann es nicht fassen. „Wie, kommt vor? Jetzt stell du dir doch bitte mal vor, du besuchst den Hans von gegenüber …“

„Wie käm ich dazu, den Hans von gegenüber zu besuchen?“

„ … und dann liegt da ein Toter! Warte, vielleicht weiß man ja schon, ob es ein Mord war. Ah, guck, die haben natürlich die Beteiligten direkt nach der Tat alle vernommen. Mal sehen …“

Die Geschichte

Was haben Sie von dem Vorfall in der Wohnung von Frau Hermann mitbekommen, Herr Fuchs?

Ich war gerade mal eine halbe Stunde zu Hause und wollte einfach nur mal meine Ruhe haben. Hatte einen Stresstag, wissen Sie. LKWs ein- und ausladen im Hochsommer. Meine Kinder waren noch in der Grundschule in der Stadt, und meine Frau würde jeden Moment von der Arbeit zurück kommen. Ich sitze also auf der Couch, als unten in der Wohnung von den Hermanns ein furchtbares Geschrei losgeht. Der Alte schreit. Verdammt, denke ich, springe auf, stürze fast die Treppe hinunter. Wissen Sie, wir wohnen einen Stock höher. Ich bin schnell da und frage mich: Soll ich klingeln oder gleich die Tür eintreten? Innen höre ich ein furchtbares Geschrei. Da habe ich zugetreten. War mir in dem Moment egal. Ich laufe dahin, wo die Schreie aufhören. Dort liegt der Alte. Überall Blut. Da sehe ich sie. Ihre Augen haben solche Angst. Da heule ich nur noch: „Was hast Du getan? Was hast Du nur getan?“ Nein, ich schreie das.

Frau Fuchs, Sie sind dann dazu gekommen. Was genau haben Sie denn beobachtet?

Ich sehe das alles noch genauso vor mir, als ob es gestern gewesen wäre. Ich parke vor unserer Tür auf der Grabenstraße und schon beim Aussteigen höre ich ein fürchterliches Geräusch in unserem Haus, und dann schreit mein Mann irgendwas, was ich nicht verstehen kann. Da ist etwas Schlimmes zugange, wird mir sofort klar. Ich renne zu unserer Haustür und schließe sie zitternd auf, laufe die paar Stufen hoch, und da sehe ich auch schon die eingetretene Türe. Es ist inzwischen ganz still. Ich gehe durch die Tür, und da sehe ich meinen Mann und die Frau Hermann, unsere Mieterin. Ihr Vater liegt tot auf dem Boden. Blut überall. So viel Blut, dass mir schlecht wird und ich raus will. Aber ich kann nicht rausrennen, weil Wolfgang da ist. Was um Himmels Willen ist da passiert? Er sagt nichts. Schaut mich nur mit ganz leeren Augen an, vor denen ich Angst bekomme. Dann kann ich nicht anders. Ich schreie gegen diese Stille an: „Was ist hier los, Wolfgang?“ Und er schreit voller Verzweifelung, dass ich nach oben gehen und die Polizei anrufen soll. Und da wird mir klar, dass da ein Mord passiert ist. Ich konnte das überhaupt nicht fassen, dass mein Mann ein Mörder sein soll. Konnte das nicht fassen.

Warum sind Sie mit dem Brotmesser auf Ihren Vater losgegangen, Frau Hermann?

Seit ich ein Kind bin, denke ich darüber nach, ihn mit unserem Brotmesser in den Rücken zu stechen. Ich habe ihn mal gefragt, wo denn „Heide“ in Radevormwald liegt. Da wohnte damals eine Klassenkameradin von mir, die ich besuchen wollte. Damals wusste ich nicht genau, wo das ist. Er grinste mich nur an und sagt, dass das in der Lüneburger Heide liegt. Viel zu weit weg. Da könnte ich nicht hin. Ich solle gefälligst hier bleiben und meine Hausaufgaben machen. Da wusste ich sofort, dass er mir damit nur sagen wollte, wie dumm ich doch eigentlich bin.

Ich habe mich so lange zusammengerissen, aber das Band zwischen uns ist so dünn geworden, dass es gerissen ist. Ich konnte ihm einfach nicht mehr zuhören. Seine Worte waren nur noch Schmerz.

Ich stehe hinter ihm und steche zu. Eine aberwitzige Sache ist das mit dem Brotmesser. Er schreit mich an „Du blöde Kuh“ und was das solle. Selbst als er stirbt, hat er nur solche Worte für mich. So ist er. Er findet einfach keine lieben Worte. Nie. Kein einziges Mal hat er mich mit Worten lieb gehabt. Da habe ich so lange zugestochen, bis die Klinge abgebrochen ist. Und dann weiß ich noch, wie es laut gegen die Tür rumste und der Herr Fuchs hereinkam. Was ich da getan hätte, hat er mich gefragt und hat geheult. Und da standen wir beide, und ich konnte den Mann doch nicht in den Arm nehmen, der mir das Liebste auf der ganzen Welt ist. Ich war doch so voller Blut. Ich hätte ihn so gerne in den Arm genommen. Da habe ich auch angefangen zu weinen, und dann stand seine Frau plötzlich in der Tür.

Was für ein Verhältnis haben Sie zu Frau Hermann, Herr Fuchs?

Die Frau Hermann ist meine Blumenfrau. Das überrascht Sie, nicht wahr? Wegen ihres Balkons. Der ist völlig verwildert. Ich kenne das Grünzeug nicht, was da wächst. Bäume, die sich selbst ausgesät haben - so viele wie ein kleiner Wald. Sie strecken ihre Baumkronen bis zu unserem Balkon hoch. Unkraut wächst da, das blüht ganz bunt. Hängende Erdbeeren und Tomaten, die sich wild zu meinem Balkon hochziehen. Und schön sieht sie aus, meine Blumenfrau, wenn sie so da steht, wenn wir miteinander sprechen, während ich den Müll rausbringe und ich nicht von ihr weg will.

Als ich meine Sterilisation hatte, war sie die einzige Frau – außer meiner Frau natürlich – der ich davon erzählt habe. Der ich davon erzählen konnte. Ich bin danach mit so dicken Eiern rumgelaufen wie Django. Da hat sie mich gefragt, was mit mir sei. Beinahe hätte ich sie gefragt: „Wollen Sie mal die Schnitte sehen?“, aber das ging ja nicht. Aber vor ihr hätte ich mich nicht geniert. Nee, vor ihr nicht.

Warum haben Sie denn gedacht, dass Ihr Mann der Mörder ist, Frau Fuchs?

Bei mir lief sofort ein Film ab. Der brennt mit ihr durch und lässt mich allein. Ich weiß das schon lange, dass er sie liebt. Wissen Sie, wie sich das anfühlt, wenn der Mann, mit dem Sie verheiratet sind, mit dem Sie zwei Kinder haben, nur noch Augen hat für Ihre Mieterin?

Erst ganz langsam habe ich begriffen, dass die Tür eingetreten war und die Frau Hermann ja voller Blut war. Erst dann wurde mir klar, dass Wolfgang damit nichts zu tun hat, dass Wolfgang unschuldig ist. Dass sie es ist, die in den Knast wandert. Dass Wolfgang bei mir bleibt und bei den Kindern. Da habe ich das erste Mal wieder geatmet, glaube ich. Ich meine, so durchgeatmet.

Wie war denn das Verhältnis zwischen Frau Hermann und Ihrem Vater, Herr Fuchs?

Über den hat sie nie viel geredet. Nur über ihre Mutter, die vor ein paar Jahren gestorben ist. Seitdem lebte sie hier alleine mit ihrem Vater. Ich war nicht oft da drin; nur wenn da was repariert werden musste. Ich bin nie gerne drin gewesen, wenn nur ihr Vater da war.

Einfach stell ich mir das Leben mit ihm nicht vor. Wenn Sie mich fragen, mit dem wollte ich keinen einzigen Abend verbringen. War ein mürrischer Kerl. Hatte an dem Balkon immer was auszusetzen. Eigentlich an allem.

Sie haben mit Ihrem Vater zusammengelebt, Frau Hermann. Wie war das für Sie?

In der Kaiserstraße hat ein Frühstückscafé, das „Brunch-Haus“ neu aufgemacht, und manchmal hatte ich richtig Lust da auf eine Tasse Kaffee hinzugehen. Ja, das kam vor. Einmal habe ich ihn dazu überreden können, mit mir mitzugehen. Nachher habe ich gedacht: er ist nur mitgekommen, um mir das Café mies zu machen. Die Bedienung hat etwas länger gebraucht, bis die uns bedient hat, und da wollte er unbedingt nach Hause, weil er das nicht aushalten wollte, dass die Frau erst bei den anderen Gästen abkassiert hat. Der Kaffee wäre sowieso billiger zu Hause. Er hat das so laut gesagt, dass man das an allen Tischen hören konnte. Die Bedienung hat sich geschämt, und ich habe weggeguckt. Wissen Sie, wir wohnen ja nur zehn Minuten entfernt, aber manchmal muss man einfach mal raus und was anderes sehen.

Zu Hause lag das Geld in der Bibel. Lauter Hunderter. „Diebe schauen nicht in Bibeln nach“, kam er sich schlau vor. Nachdem meine Mutter gestorben war, fanden wir noch Hundertmarkscheine in Babyschuhkartons von mir, als ich noch klein war. Da hätten Diebe auch nicht reingeschaut, aber wir fast auch nicht.

Meine Mutter war seine zweite Frau. Und ich war das Kind mit ihr. Manchmal denke ich: „Wäre besser gewesen, wenn Du auch tot wärst wie Deine tote Schwester. Aber ich war nicht tot wie Mariechen, dafür hatte ich eine Seele, aus der es blutete.“

Wie war denn Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater, Frau Hermann?

„Glaub’ bloß nicht, was in Büchern steht. Ist alles erstunken und erlogen. Du glaubst aber auch jeden Mist, den du liest“, sagte mein Vater immer, wenn ich mit einem Buch im Wohnzimmer saß und mir ein bisschen Gesellschaft wohl getan hätte. Aber mein Vater war keine Gesellschaft. Mein Vater war sich Gesellschaft genug und hing seinen Gedanken nach. Hing wahrscheinlich irgendwo fest – irgendwo um den Zweiten Weltkrieg herum, als er noch jung war. Während des Krieges hat er seine erste Frau Margot geheiratet. Sie kam auch aus Radevormwald, von Bergerhof. Mein Vater wurde eingezogen, kam zuerst nach Wuppertal, dann ist er mit einer Sanitätseinheit in den Osten. Der Arzt war ein Schüler von Dr.Sauerbruch. Ein Halbgott war das damals. Mein Vater als Schüler eines Schülers von Dr.Sauerbruch. Wie ich diese Heldengeschichte hasse.

Wer ist denn Mariechen, Frau Hermann?

Direkt nach dem Krieg wird Margot das erste Mal schwanger. Mariechen hat nur ein paar Tage gelebt wegen Folsäuremangel wahrscheinlich. Wer damals in Radevormwald keinen Garten hatte oder sich Kaninchen und Hühner halten konnte, war arm dran, hat mein Vater immer erzählt. Die Rationen, die man auf Lebensmittelkarten nach dem Krieg bekommen hat, reichten gerade mal, um nicht zu verhungern. Mein Vater ist abends immer losgezogen und hat auf den Feldern genommen, was er finden konnte. Ein Bauer hätte ihn bei einem seiner Beutezüge mal deswegen aus Wut beinahe erschossen. Er konnte aber auch noch nie jemanden um Hilfe bitten. Lieber hat er gestohlen und sein schlechtes Gewissen mit sich selber ausgemacht.

Es gibt kein einziges Bild von Mariechen. So hat sie auch in meinen Träumen nie ein Gesicht. Als ich noch klein war, hat mir meine Mutter einmal ihr Grab auf dem Friedhof auf der Kaiserstraße gezeigt. Später wusste dann keiner mehr so genau, wo es lag. Später, als die anderen Mariechen ganz vergessen hatten. Nur ich habe sie nie vergessen. Habe in Gedanken oft mit ihr geredet, aber das waren traurige Gedanken.

Im Haus meines Vaters waren damals noch Flüchtlinge untergebracht, und Mariechen kam als Hausgeburt auf die Welt. Wer den Krieg und alles überlebt hatte, überlebte noch lange nicht sein totes Kind und eine tote Frau. Margot starb Jahre später im Johanniter Krankenhaus auf der Intensivstation. Mein Vater konnte meine Schwester und seine Frau nicht retten. Konnte sie nicht retten, so wie er seine Kameraden im Krieg gerettet hatte, die ohne ihn ihr Leben verloren hätten.

Er konnte damals so kurz nach dem Krieg keinen Sarg für Mariechen bekommen. Er hat bei Keusen dann doch noch einen aufgetrieben. Es war mitten im Winter. Die Erde war so tief gefroren gewesen, dass die Männer noch nicht einmal mehr ein Loch für einen Kindersarg graben konnten. Als ich geboren war, wurde er so krank, dass meine Mutter dachte, dass er ihr wegstirbt. Da wurde er von den Ärzten „kaputt geschrieben“.

Damals haben sie ihm alles genommen, was ihn zusammengehalten hat.

Wie stehen Sie zu Herrn Fuchs, Frau Hermann?

Im Sommer hat er einen Sessel ganz alleine nach oben in seine Wohnung getragen. „Soll ich mit anpacken?“, habe ich ihn gefragt, und er hat mich nur angelächelt und ihn alleine weiter getragen. Er ist einfach eine Sonne für mich, und ich spüre Wärme, wenn ich an ihn denke. Wir sehen uns nur, wenn ich auf dem Balkon bin, die Straße fege oder wenn ich mal wieder nicht genug Eier für den Kuchen habe, und ich seine Frau fragen muss, ob sie mir aushilft. Einmal hat er mich nach einem Cinch-Stecker gefragt. „Was ist das denn?“ fragte ich ihn. „Ein Stecker für einen Lautsprecher.“ Das ist das schönste Geschenk, das er mir je gemacht hat. Er hat das Vertrauen, dass ich das habe, was er braucht.

Erzählen Sie mehr von ihrem Zusammenleben mit Ihrem Vater, Frau Hermann, damit wir uns ein Bild machen können von Ihnen.

„Der ist eine Schande für das Haus“, beschwerte sich mein Vater ständig über meinen Balkon. „Der Balkon ist meine Sache. Das ist unsere Abmachung“, erwiderte ich scharf. „Eine Schande!“ Er musste immer das letzte Wort haben. Ich ging auf den Balkon und drückte die Tür hinter mir zu. Sperrte ihn aus.

Später kommt Herr Fuchs und bringt den Müll raus. Trägt statt einer Jeans eine Jogginghose und läuft träge und breit. „Was ist los?“, frage ich, und er erzählt mir von seiner Sterilisation. „Ist ja ein kleiner Eingriff für einen Mann“, sage ich und denke, dass ich das nie gedacht hätte, dass er das für seine Frau machen würde. Wir reden miteinander, bis er zu ihr wieder nach oben muss. Abends habe ich dann nachgeschlagen, wo die Samenstränge in den Eiern entlanglaufen. Die Schnitte hätte ich ja gerne einmal gesehen. Wo sie genau sind, und ob die so klein sind, wie ich sie mir vorstelle.

Wie kamen Sie dazu, Ihren Vater mit dem Brotmesser umzubringen?

Als ich noch ein Kind war, sind mein Vater und ich zu meiner Tante nach Lindlar gefahren. Da sitze ich auf dem Rücksitz mit meinem Vater allein im Auto, sehe das brutale Profil seines Gesichts. Ich habe solche Angst vor ihm. Eine Angst, für die ich gar keinen Namen habe.

Wenn ich mein Geburtstagsgeschenk bekommen habe von meiner Mutter, hat sie mir immer gesagt, dass ich mich bei meinem Vater bedanken soll. Und es ist klar: Ich soll ihm einen Kuss geben. Aber ich kann das nicht. Ich mag ihn nicht küssen. Aber ich musste das tun.

Unser Brotmesser läuft vorne so spitz zu. Ich habe ihn in Gedanken hunderte Male erstochen. Mein Vater hat mein Leben jeden Tag mit seiner Freudlosigkeit und seinem Scheißhumor umgebracht. Für ihn war ich im Grunde genommen so tot wie Mariechen.

Warum haben Sie denn überhaupt mit Ihrem Vater zusammengelebt, Frau Hermann?

Ich konnte meine Mutter doch nicht mit ihm alleine lassen. Er war ein schwieriger Mensch, wissen Sie. Er konnte doch nichts dafür, dass ihn das Leben so gemacht hat. Es gibt Fotos von ihm, als er noch ein ganz junger Mann war. Darauf sehe ich einen strahlenden Mann am Radevormwalder Bahnhof. Damals gab es ihn ja noch. Das Leben hat ihn aus der Bahn geschleudert. Hilfe wollte er auch nicht, wollte nicht zum Seelenklempner oder nach Marienheide in die Klapse. Er wollte alles mit sich alleine abmachen.

Da treffe ich einen Freund von mir Jahrzehnte später in der Stadt, und der sagt: „Ich habe Deine Eltern am Busbahnhof gesehen.“ „Aha.“ „Sie standen händchenhaltend an der Haltestelle.“ „WAS?“ Mehr brachte ich nicht heraus. So kannte ich meine Eltern nicht. Ich kannte nur den Entzug, aber ich begriff nun, dass es auch Liebe gab. Liebe, die entzogen werden konnte.

Frau Fuchs, haben Sie von den Spannungen zwischen Frau Hermann und Ihrem Vater etwas mitbekommen?

Wie soll ich es sagen: das Verhältnis war angespannt. Ja, das habe ich bemerkt. Herr Hermann war ein lustiger Mann, hat seine Späße mit mir gemacht und mich immer „junge Frau“ genannt. Er war ein Charmeur, würde man sagen. Gut, habe ich mir gedacht, er ist ein älterer Herr. Lass ihm seinen Spaß. Im Grunde genommen war das alles harmlos. Seine Frau hat mal zu mir gesagt: „Bei Ihnen benimmt er sich wie ein junger Gott.“ Das hat ganz schön bitter geklungen, als sie das sagte, aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Damals wusste ich ja noch nicht, wie das alles endet.

Warum sind Sie denn nicht ausgezogen, Frau Hermann?

Mein Vater pisste ins Waschbecken im Bad, verstehen Sie? Er kam vom Klo nicht mehr so gut hoch. Meine Mutter hat ihm dann ein Behindertenklo einbauen lassen. Da hat er so lange Theater gemacht. „Ich bin kein Behinderter!!!“ Bis sie es wieder ausbauen ließ.

So genau wollen wir das nicht wissen, Frau Hermann!

Doch, so genau müssen Sie das wissen! Er pisste nämlich daneben. Und wenn meine Mutter oder ich ihm das sagten, dann brüllte er, wir würden lügen und würden ihn immer schlecht machen.

Frau Hermann, bitte, so genau …

Ich habe seine Pisse weggewischt. Als ich einmal die Schnauze voll hatte, habe ich ihm gesagt, er solle gefälligst aufs Klo gehen, da hat er mir die Fernbedienung an den Kopf geworfen. Einmal hat er seine Tasse Kaffee nach meiner Mutter geworfen. Da haben wir ihm die Medikamente gegeben, die wir für ihn vom Arzt bekommen haben. Ich wollte nicht, dass er in ein Altenheim kommt. Dort hätten sie ihn mit Medikamenten abschießen müssen. Anders hätten sie meinen Vater nicht ertragen. Er hat das nicht verdient, nach all dem, was er im Leben durchgemacht hat. Ich wollte ihm das ersparen.

Herr Fuchs, was passierte zwischen Ihrem Eintreffen am Tatort und dem Eintreffen der Kollegen von der Mordkommission?

Ich habe meine Blumenfrau in den Armen gehalten.

Die Autorin: Irmgard Hannoschöck

Irmgard Hannoschöck lebt und arbeitet in Hückeswagen. Sie ist mit Leidenschaft Fachkraft für Suchtvorbeugung, Künstlerin, Autorin und Lektorin. Zahlreiche ihrer Kurzgeschichten hat sie bereits bei Lesungen vorgestellt.

Christine Kaula

Putschertod

Einführung: Paula und wie sie die Welt sieht

Es ist warm an diesem Mittwoch. Während Ulla sich in den ersten Stock verzogen hat, um da die Zimmer sauber zu machen, nimmt sich Paula den Flur vor. Von der Rezeption her hört sie es klingeln. „Ja, hier ist das Waldhotel in Marienheide“, vernimmt sie die angenehme Stimme der jungen Dame am Empfang, deren Namen sie sich einfach nicht merken kann. „Ja, Herr Putscher, das machen wir. Zwei Personen für drei Nächte. Sehr gerne.“

Paula durchzuckt es plötzlich: Putscher. Da war doch was. Diese alte Figur in Wipperfürth, wo sie mal im Hansecafé geputzt hat. Damals erlebte sie die düsteren Ereignisse hautnah mit, die sich in der Hansestadt zutrugen. Unerfüllte Liebe, Machtbesessenheit und Eifersucht vermengten sich zu einem gefährlichen Cocktail. Und dann war da ja noch dieser Zeitungsreporter, der dem Ganzen auf die Spur ging. Sie schaudert noch heute, wenn sie daran zurückdenkt …

Die Geschichte

April

„Mama, ich treffe mich heute Abend mit Till“, rief Katja durch die geschlossene Badezimmertür ihrer Mutter zu, die gerade ein ausgiebiges Wannenbad nahm. „Äwer kumm nicht te späh, morne musste wir arbeien“, Uschi sprach noch das urtümliche Wipperfürther Platt. Katja lächelte. Es hatte wieder mal geklappt. Die gertenschlanke Achtzehnjährige verdrehte die Augen, schlug die Tür hinter sich zu und rannte vom Hochhaus hinunter in die Stadt, wo am Surgères Platz ein schwarzes BMW-Coupé auf sie wartete. Sie wusste, ihre Mutter würde am Abend bestimmt wieder beim Fernsehen einschlafen und erst am anderen Morgen auf der Couch wach werden. Ein paar Gläser Wein garantierten ihr eine friedliche Nachtruhe. „Seit gestern bin ich volljährig“, dachte sie stolz, „und ich will endlich raus aus diesem Kaff.“ Uschi rekelte sich in der Badewanne und goss noch etwas Badeöl nach. Es gab doch nichts Besseres, um sich zu entspannen! Gleich würde sie es sich auf der Couch bei einem Glas Wein und ihrer Lieblingsserie gemütlich machen.

Im Brauhaus stand Till an der Theke und schüttete sich verbissen ein Kölsch nach dem anderen hinter die Binde. Er hatte Katja in das Auto einsteigen sehen und ihm war alles klar.

„Wohin fahren wir?“, fragte das Mädchen. Unterwegs hatte sie den Pferdeschwanz gelöst, so dass ihre dunklen Locken bis über die Schulter fielen. Katja hatte sich mit ihrer engen Jeans aufgebrezelt und ihr bauchfreies Top angezogen, bei dem ihr Nabelpiercing so schön zur Geltung kam. „Oh, ich werde dich überraschen. Heute zeige ich dir was Tolles“, versprach Paul. Aus dem Handschuhfach holte er eine kleine Schachtel. Neugierig riss sie das Papier ab und öffnete sie. „Ohrringe“, strahlte sie, „die sind aber schön!“ Ungeduldig entfernte sie ihre kleinen Creolen und befestigte die neuen versilberten Stecker, die wie Herzchen geformt waren. Rasch küsste sie ihn auf die Wange. „Zum Geburtstag. Echt Platin“, versicherte Paul. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Er wusste, er hatte wieder einmal gewonnen. Paul war sechsunddreißig und kannte das Leben. Volles, dunkles Haar, schlanke Figur, Dreitagebart und perfekt in Schale, darauf fuhren sie alle ab. Er brauchte nur mit dem kleinen Finger zu zucken. Und nicht nur bei Mädchen funktionierte das. Er fuhr gern zweigleisig durchs Leben, hatte sich nie endgültig für eine Richtung entscheiden können. Was soll’s denn, sagte er sich, man lebt eben nur einmal. Katja kuschelte sich auf ihrem Sitz zusammen. So mussten sich die Reichen und Schönen fühlen, so sicher, so aufgehoben. Sie war das Leben bei ihrer Mutter, die nicht über den Tellerrand hinweg schauen konnte, so unendlich leid, dazu noch die schäbige Wohnung, der ewige Geldmangel. Ihr Aushilfsjob in einer Bäckerei war ihr von Anfang an verhasst gewesen. Aber etwas Besseres hatte sie mit ihrem Schulabschluss so rasch nicht gefunden. Sie wollte ein anderes, ein richtiges Leben, raus aus dem Mief. Paul holte aus dem Handschuhfach einen Piccolo heraus und öffnete es. „Hier, zur Einstimmung“, bot er an. „Oh. Sekt. Klasse“, freute sie sich und nahm einen Schluck.

„Ich zeige dir meine neue Wohnung. Habe mir ein Loft gekauft. In Wuppertal, große Klasse“, strich er seine neue Errungenschaft heraus, ließ den Motor aufheulen und brauste los.

Mai

Carsten trat aus dem Bad und schloss die Tür hinter sich. Im Wohnzimmer stand Max am Fenster und starrte hinunter auf die Klosterstraße. Er drehte sich nicht um, als Carsten hinter ihn trat. „Willst du es dir nicht noch mal überlegen?“, hörte er seine brüchige Stimme. Als er seine Hand auf seiner Schulter spürte, wich er ihm aus und tat ein paar Schritte seitwärts in den Raum hinein. „Nein, es ist endgültig. Und überhaupt …“, er verschluckte den Satz, den er sagen wollte, stattdessen kam ein lahmes „gegen seine Gefühle kann man nichts machen“, heraus. Ein paar Takte aus „Rise Like A Phoenix“ ertönten. Ehe das Motiv ganz verklungen war, hatte Max sein Handy schon am Ohr. „Ja, gleich“, hörte Carsten ihn sagen, „ja, ich habe es ihm gesagt. Ja, heute Abend. Ich freue mich auch, ja, ich dich …“. Die Schlafzimmertür schlug zu. Carsten starrte Max hinterher. Während der letzten Tage mit den endlosen Streitereien und Diskussionen hatte er es geschafft, ruhig zu bleiben. Nun stieg mit der Gewissheit des Verlustes pure Verzweiflung in ihm auf. Max trat in die Tür, hinter ihm im Flur standen zwei gepackte Reisetaschen und ein Koffer. Lässig zog er ein Bündel Scheine aus der Tasche und warf sie auf den Tisch. „Das ist das Geld, das du mir für meinen Wagen geliehen hast. Abgezählt, brauchst nicht nachzählen.“ Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Carsten starrte ihm nach, überrascht und enttäuscht von dieser letzten Geste. Drei Jahre waren sie Lebensgefährten gewesen, sein Freund und er. Das sollte jetzt alles vorbei sein? Mit beiden Händen fuhr er sich durch sein schon etwas schütteres, graumeliertes Haar. Es tat weh, verdammt weh! Seine Gefühle waren so verletzt. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er einmal wegen eines Kerls so leiden würde. Es ist doch ewig dasselbe mit der Liebe. Man glaubt, sie für immer gefunden zu haben, und dann stellt sich doch heraus, dass alles gelogen war. Was sollte er tun?

Noch immer Mai

Max, knapp bekleidet mit Tanktop und Tanga, rekelte sich auf der breiten Couch. Es gefiel ihm außerordentlich gut in Pauls Wohnung. Allein in dem riesigen Wohnraum hätte eine Großfamilie leben können. Nebenan gab es noch Schlafräume, Bäder, Hauswirtschaftsräume und eine Wendeltreppe, die hinauf zu einer Dachterrasse führte. Gern wäre er hier eingezogen, aber Paul hatte das abgelehnt, als er ihm den Vorschlag gemacht hatte. In der Nähe hatte er ihm ein Appartement gemietet und besaß dafür einen Zweitschlüssel, so dass er zu jeder Zeit zu ihm kommen konnte, Max dagegen hatte er keinen Schlüssel zu seinem Loft überlassen. Er war der Dominierende und bestimmte, wann und wo sie sich trafen. Im Gegenzug hatte er ihm erlaubt, ein Semester seines Studiums auszusetzen. Max war im vierten Semester, hatte aber wenig Lust am Jurastudium, würde gern etwas anderes beginnen. „Hunger?“, fragte Paul und beugte sich über seinen Lover. „Mhm, ja ein bisschen“, Max schmollte, „du hast so wenig Zeit für mich.“ Paul schaute ihn an: „Einer muss ja das Geld verdienen, oder? Wir fahren jetzt in die Stadt. Ich habe da ein geschäftliches Treffen. Du fährst mit und kannst meine Geschäftsfreunde kennenlernen. Vielleicht interessiert dich ja, wo das Geld für unser üppiges Leben herkommt. Zieh dich schick an, ich will mit dir angeben.“ Als ob ihm gerade erst dieser Gedanke gekommen wäre, bemerkte er: „Und wenn du willst, habe ich einen guten Job für dich!“

Juni

Inzwischen konnte Carsten wieder etwas klarer denken. Er hatte sich intensiv mit seiner Situation auseinandergesetzt. Dabei hatte ihm – so komisch es auch schien – seine Berufserfahrung geholfen. Sein Job als Sozialarbeiter brachte ihn mit vielen Menschen zusammen. Manchem hatte er auch in vertrackten Lebenssituationen geholfen, nun versuchte er, sich selbst zu therapieren. Nach dem Rasieren betrachtete er sich kritisch im Spiegel. Sein Gesicht, nun, das war nicht mehr faltenlos, aber markant mit einem ausgeprägten Kinn und wachen Augen, die noch nichts von ihrem strahlenden Blau eingebüßt hatten. Für einen Mann Anfang sechzig noch ganz ordentlich, oder? Nachdenklich betrachtete er das breite Bett. Es schmerzte noch immer. Wie gern hätte er gewusst, mit wem Max jetzt zusammen war. Er hatte versucht, ihn anzurufen, aber ganz offensichtlich hatte Max eine neue Handynummer. Auch seine neue Adresse konnte er nicht ausfindig machen, laut Einwohnermeldeamt hatte Max sich nicht umgemeldet. Den Kerl, der ihn jetzt hatte, würde er gern kennenlernen. Was hatte er, was ihm abging? Aber allein wollte er nicht bleiben, auf gar keinen Fall. Carsten wählte einen Sportdress, weil er ins Fitnessstudio wollte, verließ das Haus und betrat die Klosterstraße. Er liebte die enge, abschüssige Straße mit ihrem fast anachronistischen Gepräge.

Nach wenigen Schritten befand er sich am Wipperfürther Marktplatz mit dem imposanten Rathaus. Schon immer hatte er sich für die Stadtgeschichte von Wipperfürth interessiert, deren Ursprünge nachweislich bis ins 12. Jahrhundert und ohne Zweifel darüber hinaus noch weiter zurückreichten. Freitags war normalerweise Wochenmarkt, und immer, wenn es seine Arbeit erlaubte, verbrachte er seine Mittagspause am Fischstand. Er mochte den Marktplatz, besonders aber im Sommer, wenn man draußen verweilen konnte, sich mit Freunden in den umliegenden Gaststätten zum Essen oder zum Bier verabredete. Draußen zu sitzen, bedeutete für ihn ein Gefühl von Freiheit.

Bei einem dieser Mittagspausen hatte er Max kennengelernt. Schon bei ihrer ersten Begegnung war alles klar gewesen. Anfangs war es zweifellos pure Geilheit gewesen, die sie aufeinander zugetrieben hatte. Später war es mehr geworden, für beide, wie er es viel zu gern geglaubt hatte. Jetzt war alles vorbei. Ihre Liebe war ein Irrtum gewesen, eine Berechnung von Max. Er überquerte den Marktplatz, schritt die Gasse zwischen Hansecafé und Kreissparkasse hindurch und lief über die Untere Straße hinweg durch die Kirchgasse hindurch auf den Platz vor der Kirche. Einen Augenblick schaute er zum überragenden Turm hoch, dann bog er auf den Hausmannsplatz hinter der Kirche Richtung Wupper ein.

Nahe dem Ufer des Flusses stand die kleine Steinfigur des „Putschers“, eines Wipperfürther Sonderlings, der zu Lebzeiten Fritz Hamel geheißen hatte, und viele Jahre lang Tag für Tag durch die Stadt gezogen war. Man konnte ihm überall und an den unmöglichsten Orten der Stadt begegnen. Abends hatte er sich in eine Schlafstelle verkrochen, die ihm mitleidige Menschen zur Verfügung gestellt hatten. Jeder hatte ihn gekannt. Manche Leute mochten ihn, manche spotteten über ihn, machten sich auch über ihn lustig oder fanden ihn einfach nur eklig. Nach seinem Tod hatte ein Wipperfürther Gastwirt für die Errichtung eines steinernen Denkmals gesorgt. So war der „Putscher“ im Gedächtnis der Bevölkerung geblieben.

Dicht dabei lag das Fitnessstudio, das Carsten nun schon lange nicht mehr besucht hatte. Kurzentschlossen trat er ein und meldete sich an. Es waren gerade einige Geräte frei, so dass er gleich mit seinem Training beginnen konnte. Sein Blick schweifte durch den Raum, wo sich mehrere Männer an den Geräten abarbeiteten und blieb an einem gutaussehenden Blonden hängen. Das war Sven, den er noch von früher kannte. Sven war schwul, das wusste er definitiv. Was für eine Chance, dachte er. Wenn Sven keinen Partner hat, dann könnte es vielleicht etwas werden.

Juli

Uschi klopfte an die Tür von Jasmin, ihrer Freundin. Wand an Wand lebten sie im sogenannten Hochhaus auf der Sanderhöhe, einer Siedlung, die nördlich vom Zentrum lag, durch die Wupper getrennt. „Hässe ins Tid för’n Kaffee?“, rief sie durch die geschlossene Tür. Die Frauen passten eigentlich überhaupt nicht zusammen. Jasmin war das aber egal. Bei Uschi konnte sie sich leger und ungezwungen geben, brauchte sich nicht zu verstellen. „Ich bin in der Unterhaltungsbranche“, sagte sie jedes Mal, wenn sie nach ihrem Beruf gefragt wurde. Was sich hinter dieser illustren Bezeichnung verbarg, wusste nur sie. In Wahrheit arbeitete sie für eine Begleitagentur. Gutes Aussehen, sicheres Auftreten und eine klare Artikulierung waren hier sehr wichtig. Darüber hinaus besaß sie noch einige nützliche Talente mehr. Geld hatte sie reichlich, denn sie hielt ihre Euros zusammen. „Ich mache das noch ein paar Jahre“, sagte sie sich immer, „ich muss schließlich für meine Rente sorgen.“ Uschi war da ganz anders. Bei Aldi an der Kasse verdiente sie ganz ordentlich; aber sie war eben nur halbtags beschäftigt. Zu einem Zusatzjob hatte sie keine Lust. Bei ihrem gesunden Phlegma brauche sie Zeit für sich selbst, dazu stand sie. Und diese Stunden verbrachte sie gern mit einem netten Plausch mit Bekannten, Freunden oder aber mit Jasmin, wenn diese wieder einmal im Lande war. War sie in der Stadt zum Einkaufen, konnte es gut vier Stunden dauern, bis sie wieder oben in ihrer Wohnung war. Einen Kaffee im Hanse, ein Bierchen in der Penne, das brauchte nun mal seine Zeit. Sie war nun einundfünfzig, und ihre Figur ähnelte der einer Walküre. Dagegen wirkte Jasmin filigran mit ihrer schlanken Taille und den zarten Gesichtszügen, die eine schokoladenfarbene Haarpracht umrahmte. Sie trat auf den Korridor hinaus. Der dunkle Kaschmirmantel kleidete sie vorzüglich. Lässig schwang sie eine Umhängetasche von Chloé über die Schulter. „Sorry, Schatz, ich habe es eilig“, sagte sie zu Uschi, „muss sofort weg, bin schon spät dran.“ Sie zuckte bedauernd die Schulter, lächelte ihr entschuldigend zu und lief die Treppe hinunter. „Keine Zeit, muss dringend zu einem Termin nach Wuppertal. Morgen bin ich wieder da.“ „Un wat maak ik jetz?“, fragte sich Uschi laut.

Katja saß auf der breiten Couch in Pauls Wohnung. „Ich will das nicht“, rief sie aufgebracht, „ich will nach Hause. Sofort!“ Paul ließ sich neben ihr auf dem Lager nieder. „Schau mal“, begann er wieder und versuchte, so viel Gefühl wie es ihm möglich war, in seine Worte zu legen. „Ich helfe dir und deiner Mutter. Die zehntausend Euro kriegst du am Freitag, damit ist doch alles gut. Und dafür begleitest du mich zu Freunden. Du brauchst ja nur ein bisschen nett zu ihnen zu sein, ein bisschen flirten, sonst nichts. Ich will doch mit dir angeben und zeigen, was ich für eine tolle Freundin habe. Liebst du mich denn nicht mehr, Hase?“ Sanft strich er ihr über den Rücken. Sie starrte ihn an: „Sonst nichts?“, fragte sie, „bestimmt nicht?“

„Ganz bestimmt nicht, Schatz“, beteuerte er und nahm sie in die Arme. Er küsste sie, erst sanft und zärtlich, dann fordernd und hart und legte sich neben sie. Aufgewühlt vergrub sie den Kopf an seinem Hals und klammerte sich an ihn. Sie liebte ihn doch so sehr, und er liebte sie doch auch. Und wenn man sich liebte, konnte man sich doch alles sagen. Deshalb hatte sie ihm auch von den Geldsorgen ihrer Mutter erzählt und von Till. Und jetzt würde er sie wieder glücklich machen. Stets wusste er, was sie mochte. Er grinste an ihrem Kopf vorbei und wusste, es würde wohl kaum Schwierigkeiten geben. Langsam schob er ihren Pullover hoch. Erwartungsvoll hielt sie den Atem an. Er hatte sie gelehrt, dass Sex Spaß machte. Später half er ihr auf und drückte ihr einen raschen Kuss auf die Wange. „Am Freitag hole ich dich ab, dann kannst du das Geld haben. Abends begleitest du mich zu einer Party. Deiner Mutter sagst du einfach, Till habe dir das Geld geliehen. Wenn sie so ist, wie du sie schilderst, macht sie sich um die Rückzahlung keine Gedanken und wird ihn nie darauf ansprechen.“ Er brachte sie bis zum Kölner-Tor-Platz und raste in Windeseile wieder zurück. Er wollte noch mit Max zu einer Party fahren.

Uschi schaute sich in ihrem Wohnzimmer um. Schäbig sah das alles aus, die zerschlissene Couch im Wohnzimmer, die dunkle Schrankwand aus den Achtzigern, der verschrammte Tisch. Das würde nun alles anders werden. Nach dem Ausgleich des Mietrückstands war noch Geld übrig geblieben, davon würde sie eine neue Wohnzimmereinrichtung kaufen. Aber etwas ganz Tolles, Schickes, moderne helle Möbel auf jeden Fall. Super, dass Till Katja so viel Geld geliehen hatte. Die beiden waren wohl wirklich ganz dicke zusammen. Eigentlich könnten sie doch bald schon heiraten, fand sie. „Jung gefreit, nie gereut“, hatte ihre Mutter doch immer gesagt. Na ja, es hatte in ihrem Fall nicht gestimmt, aber was soll’s? Sie lief über den Flur zu Jasmins Wohnung und klingelte zweimal kurz, ihr vereinbartes Signal. „Hallo, Jasmin“, rief sie ihr entgegen, kaum, dass ihre Freundin geöffnet hatte, „ik mut die wat vertellen.“ Als die beiden bei einem Glas Sekt beieinander saßen, begann Uschi mit ihrem Bericht von den zehntausend Euro, die Katja von ihrem Freund bekommen hatte. „Un janz ohne Zinsen, un mie soot dä Vermieter janz schön im Jenick. Fö kottem wullte ik dik alt aanpumpen, äwer nu bin ik froh, dat et so jekommen is. Stell die vö, jetz häv ik noch Jeld üwerich. Dovan koop ik mie in neu Möbele für de joode Stuff. Is dat nich dull?“ Jasmin schaute sie nachdenklich an. „Freust du dik nich vö mik?“, fragte Uschi, beinahe beleidigt. „Ich weiß nicht“, Jasmin wusste nicht ob sie sich wirklich mit ihrer Freundin freuen sollte. „Du musst das doch wieder zurückzahlen. Gib doch lieber das übrige Geld sofort zurück, was meinst du?“ Uschi war nun wirklich beleidigt. „Ik häv et doch nu ins enmool un die Chance, endlich doch ins wat Neues te häven. Jünn mi dat doch eenfach ins.“ Jasmin öffnete ihre Handtasche. „Schau, ich gebe dir fünfhundert, und die brauchst du mir nicht zurückzugeben. Sag Katja, sie soll Till das Geld wieder zurückgeben.“ Uschi stand auf. „Van die neämm ik nix. Jeld matt ne Freundschaft kaputt.“

„Und Till?“, wollte Jasmin fragen, „der ist doch Katjas Freund?“, aber sie schwieg, um die Stimmung nicht noch mehr aufzuheizen. Uschi ging bald hinüber in ihre eigene Wohnung, ihre Freude über das viele Geld hatte einen gehörigen Dämpfer bekommen. Jasmin hatte ihr den ganzen Spaß verdorben.

Die Wohnungstür klappte, Katja war nach Hause gekommen. Sie lief ihr durch den Flur entgegen. „Schätzchen, schön dat du doo bis. Wull vie ins jlick Möbelkatalore dürchkieken? Et is doch noch Jeld üwerich.“ Katja schaute sie mit einem seltsamen Blick an. „Möbelkataloge? Wieso Möbelkataloge?“, fragte sie. „Et is doch noch Jeld üwerich“, wiederholte Uschi, „ik dachte, vie künnt ins noo neuen Wohnzimmermöbeln …“

„Wohnzimmermöbel!“, höhnte Katja, ohne sie aussprechen zu lassen, „hast du denn keine anderen Sorgen? Wohnzimmermöbel!“ Damit klappte die nächste Tür und Katja war in ihrem Zimmer verschwunden. Uschi starrte ihr mit offenem Mund nach. Was war denn mit dem Kind los? So war Katja ja noch nie mit ihr umgesprungen. Ihr erster Impuls war, ihr nachzugehen, dann aber blieb sie stehen. Lieber nicht, dachte sie, sonst flippt sie mir ja noch ganz aus. Aber was hat sie nur?

August

Till wartete im Brauhaus am Marktplatz auf Katja, die ihn angerufen hatte. „Till, können wir uns treffen, bitte?“, hatte sie gebeten. Außer Atem kam sie angeradelt. „Meine Mutter“, keuchte sie, „es ist schrecklich mit ihr. Ich halte es nicht mehr aus. Du musst mir helfen.“ Sie setzten sich an einen Tisch. Katja sah blass aus, übernächtigt und irgendwie krank. Sie bestellten zwei Cola. „Du bist gut“, sagte er bedächtig, „einmal sagst du, es ist aus und bist mit dem komischen Sportwagen-Typen zusammen. Jetzt auf einmal willst du wieder was von mir wissen?“ Sie tat ihm leid. Ihre Stimme hatte am Telefon so merkwürdig geklungen, irgendwie hilflos. Und damit hatte sie ihn ins Innerste getroffen. Sie war immer „sein Mädchen“ gewesen, schon seit der Schulzeit hatte er sie geliebt, und seine Gefühle für sie waren mit den Jahren weiß Gott nicht kleiner geworden. Katja standen die Tränen in den Augen. „Ich weiß, es war blöd von mir. Wahrscheinlich habe ich mir etwas vorgemacht, weil er so ein geiles Auto hat und die riesige Wohnung und so. Aber jetzt“, sie schluchzte auf einmal laut auf, „er ist ganz anders, als ich dachte.“

„Dann mach Schluss mit ihm und fertig.“ Schnell war er mit seinem Rat bei der Hand. Er begriff sie nicht. Katja stand auf und wandte sich zur Tür. „Du willst das nicht verstehen, so einfach ist das nicht. Es tut mir leid, dass ich dich angerufen habe.“ Schon war sie draußen. Er warf eine Münze auf den Tisch und rannte ihr über den Vorplatz hinterher. Zu spät, sie war schon fort. Am Abend stand wieder der schwarze BMW auf dem Surgères Platz.

September

Immer öfter hatte er sie angerufen, um sie zu seinen Partys nach Wuppertal zu holen. Katja konnte nicht mehr, war verzweifelt und begann sich ernsthaft zu wehren. „Lass mich in Ruhe, ich