Mords Happen - U.L. Brich - E-Book

Mords Happen E-Book

U.L. Brich

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Beschreibung

Ein Sozialprojekt, bei dem sich die Leichen türmen, zersägte Frauen im Holzkontor oder eine Gruppe 13-Jähriger, die in der Wildnis auf einen Kinderschänder treffen: Die Geschichten in diesem Buch zeigen, dass Regionalkrimis nicht bieder sein müssen. Der Ton ist locker, doch das Blut zwischen den Seiten hat kaum Zeit zu gerinnen. Sogar Sachsens rätselhaftester Kriminalfall um eine spurlos verschwundene Frau findet in dieser Story-Sammlung eine – wenig appetitliche – Auflösung. In kurzen Making-Offs verrät der Autor zudem einiges über die Hintergründe der jeweiligen Story. Länge: zirka 300 Buchseiten.

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Seitenzahl: 269

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Ähnliche


U.L. Brich

Mords Happen

13 blutige Stories

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Strohwaise

Winterer

Knöllchenkrieg

Rollende Woche

Zwergengold

Kriecher

Der Schrat

Das Tal

Am Ende der Zeit

Der Teppichlude

Engelmacher

Mörderhaus

Fahrerflucht

Ebenfalls bei Electric Books

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Impressum neobooks

Strohwaise

Kevin Lehmann war nicht der angesagteste Junge in der 12b, und auch der Horrorfilmabend war nicht seine Idee gewesen. Die anderen hatten ihn dazu überredet, ihn regelrecht genötigt, bis er nicht anders konnte, als sie zu sich nach Hause einzuladen.

„He, Kev, ich habe gehört, deine Eltern sind verreist?“ Robert Steiner, ein Typ mit der Statur eines Holzfällerlehrlings, hatte ihn in einer Pause angequatscht. Robert war zwei Klassen unter ihm und würde die Zehn vermutlich auch in diesem Jahr nicht schaffen, aber an der Schule hatte er dennoch fast uneingeschränkt das Sagen. Die einzige Einschränkung hieß Janek Kowalski und war ebenfalls mit von der Partie. Janek sah gut aus, besaß fette Kohle und konnte reden wie ein Bundeskanzler. Er wickelte alle um den Finger. An der Schule ging das Gerücht um, er habe Frollein Gründler, die rattenscharfe Biologielehrerin, so lange zugetextet, bis sie sich selbst Nachhilfestunden verordnet und ihm einen gelutscht hatte als wäre es die Weltmeisterschaft im Lollivernichten.

Janek hatte keine Ausflüchte zugelassen: „Sturmfreie Bude? Da lässt sich was draus machen, Mann. Vertrau mir!“

Kevin hatte überall herumerzählt, dass sein Vater mit seiner neuen Frau Marisa und ihrem Sohn Erik nach Finnland flog, um an einem geschäftlichen Meeting teilzunehmen. Marisa und Erik wollten einen Kurzurlaub daraus machen. Kevin blieb allein in ihrem großen Haus draußen am Stadtrand von Annaberg-Buchholz, und plötzlich war er für die anderen interessant geworden. Nur wenige lebten in einem Haus, das aussah wie die Villa eines Drogenbarons, der sich einen Architekten als Leibeigenen hielt. Man hatte einen weiten Blick über Äcker und Wiesen, gesäumt von Baumreihen, deren Laub im Herbst in goldenen Farben leuchtete. Bis nach Königswalde und Jöhstadt konnte man sehen, wo allerdings ein paar Windräder wie riesige Vogelscheuchen den Blick verstellten. Hätte das Haus wirklich einem Drogenbaron gehört, hätte es sicher längst ein paar unerklärliche Explosionen gegeben.

Robert wollte die Horrorfilme besorgen, Janek die Mädchen klarmachen. „Sieh zu, dass genug Bier und Wein da sind, um die Tussen abzufüllen“, befahlen sie Kevin, der sich in diesem Augenblick fragte, ob das Ganze nicht ein Fehler war.

Janek und Robert brachten Nicole und Denise mit, die zweifellos zu den besten Bräuten gehörten, die ihre Schule zu bieten hatte, aber wenn Kevin richtig gezählt hatte, wären sie am Ende des Abends einer zu viel. Er konnte sich schon denken, wer das sein würde.

So lief es dann auch. Janek führte das große Wort, und Robert kommandierte Kevin herum, als wäre er nicht der Gastgeber, sondern eine Art Hausdiener in der Probezeit: „He, Kev, das Bier ist gar nicht richtig kalt!“ Denise kicherte hämisch, nur Nicole hielt sich zurück. Es schien ihr peinlich zu sein, aber nicht so peinlich, wie es Kevin war.

Die Horrorfilme drehten sich um Mädchen, die gut aussahen, wenig anhatten und ständig die falschen Entscheidungen trafen. Sie wollten in den Bergen wandern, bogen aber verkehrt ab und landeten dort, wo Typen mit Ledermasken und Kettensägen darauf warteten, ihnen die Nippel abzuschneiden. Denise kicherte noch immer. Sie hatte natürlich kapiert, dass es später um ihre Nippel gehen würde. Sie kuschelte sich an Robert, aber ihre Blicke forderten Janek heraus. Kevin hielt sie bloß ihr leeres Glas hin. „Ist noch Wein da?“

„Ich glaube nicht“, sagte Kevin.

„Red keinen Scheiß, Mann“, lärmte Robert. „Ich wette, im Keller ist jede Menge davon. Ihr habt doch einen Keller?“

„Mmh“, brummte Kevin.

Janek spürte Kevins Unsicherheit. Er grinste. „Lass ihn, Robbie. Siehst doch, dass er Schiss hat. Kein Wunder bei den Filmen, die du anschleppst. Das ist harter Stoff, nichts für Weicheier.“ Übertrieben theatralisch stemmte er sich von der Couch hoch. „Ich werde das dann mal in die Hand nehmen. Also, wo geht’s zum Keller?“

„Ne, lass mal“, meinte Kevin. Er war jetzt die Ruhe selbst. Der Keller stellte kein großes Problem dar. Er musste sich sowieso davon überzeugen, dass alles seine Ordnung hatte.

„Vergiss den Wein nicht“, rief ihm Denise hinterher.

Was für ein Scheißtag, dachte Kevin, als er das Kellerlicht anknipste. Vater war mit dem Stuhl umgekippt, den Kopf in einer Pfütze aus Kotze, und rührte sich nicht mehr. Vermutlich hatte sein schwaches Herz schlappgemacht. Der Elektroschocker, die Fesseln, Wassermangel. Das war wohl ein bisschen viel auf einmal gewesen. Kevin wünschte, er hätte seinem Vater die Tortur ersparen können, aber ein Gespräch unter Männern hatte ja nicht gefruchtet: Vater wollte sich absolut nicht von Marisa trennen.

Seine Stiefmutter gab wütende Laute von sich. Wollte sich wieder aufspielen, doch unter dem Knebel hörte sie sich bloß kläglich an. Die Stricke quetschten ihre Titten, als hätte sich ein Ballonkünstler an ihnen zu schaffen gemacht. Kevin nahm den Elektroschocker von der Werkbank und verpasste ihr noch eine Ladung, sodass sie unter sich machte. Vielleicht sollte er die Pisse des Miststücks in Flaschen füllen und sie Denise als Riesling halbtrocken mit nach oben nehmen, überlegte Kevin, bevor er rüber zu Erik ging, um dessen Fesseln zu überprüfen.

Sie saßen straff. Die Hände des Fünfjährigen waren dunkelblau angelaufen. Vielleicht würden sie absterben, aber das wäre nur gerecht. Der kleine Egoist musste begreifen, dass er sich nicht alles in diesem Haus unter den Nagel reißen durfte, vor allem nicht, wenn die Sachen Kevin gehörten.

Alles in allem war das Ergebnis seines Kontrollganges zufriedenstellend. Keine Ahnung, wieso die anderen glaubten, er hätte ein Problem damit, in den Keller zu gehen.

„Hey, Kev.“ Nicole war ihm nach unten gefolgt. „Kann ich dir … Oh. Mein. Gott.“

Eine Erbsenprinzessin war Nicole nie gewesen, aber Kevin konnte es ihr nicht verdenken, dass sie beim Anblick seiner Familie die Contenance verlor, wie eine Diakonisse im Puff.

„Kev, was …“

Nicole war ein patentes Mädchen. Er bedauerte, dass er sie nun nicht mehr gehen lassen konnte. Beim Gedanken an Robert, Janek und Denise hielt sich sein Mitgefühl in Grenzen.

Ich werde noch Stühle brauchen, dachte Kevin schulterzuckend.

(Erstveröffentlichung dieser Story 2013 in „Mord-Ost“, Buchvolkverlag, ISBN 978-3981560435.)

Eine der Fragen, die auf Lesungen am häufigsten gestellt werden, lautet: Wie ist der Autor auf die Idee gekommen, ausgerechnet diese Story zu schreiben? Da viele Leser Vergnügen an den Antworten auf solche Fragen haben, will ich versuchen, im Laufe dieser Anthologie ein paar Einblicke zu geben.

Ausgerechnet bei dieser Auftakt-Story ist die Antwort allzu banal, wie ich fürchte: Die Geschichte ist ein Abfallprodukt. Ich wollte eine möglichst kurze Story schreiben, die schlimm beginnt und dann mit jedem Absatz schlimmer wird. „Strohwaise“ istnichtdiese Geschichte, nur eine Idee, mit der ich experimentiert habe und die ich später, weil sie mir trotzdem gut gefiel, zu einer eigenen Story ausgebaut habe. Der Titel der immer schlimmer werdenden Geschichte lautet „Fahrerflucht“. Sie finden Sie ganz hinten im Buch.

Winterer

Krischan sah heute beschissen aus.

Er war ein Mann in den Dreißigern, athletisch, mit vollem braunem Haar und dunklen Augen. Ein Frauenschwarm. Aber selbst so einer machte eine schlechte Figur, wenn ihm ein Stück Kopf fehlte. Murad hatte ihm mit dem Klappspaten ein Drittel des Schädeldachs weggehackt.

Murad war unser Türke. Ein aufgeschwemmter Dönerfresser, der von deutscher Stütze lebte, aber nichts von der Wildheit seiner Vorfahren im Pamirgebirge eingebüßt hatte, oder wie die Hügel dort unten heißen.

Vor einer Woche hatten wir unser Camp im Wald aufgeschlagen, auf dem Kamm des Erzgebirges, irgendwo im Osten. Was mich anging, konnte es ebenso gut der Pamir sein, denn es war viel zu weit von unserem Heim entfernt. Krischan und Claudia, unsere Betreuer, haben natürlich genau gewusst, auf welchem Berg wir waren. Immer alles unter Kontrolle, diese Sozialtherapeuten. Oder auch nicht, denn Krischan hatte nicht vorhergesehen, dass Murad derart ausflippen würde.

Unser Türke hatte ein Problem mit männlichen Autoritäten. Seine Brüder haben ihn jahrelang gequält, ihm Röcke angezogen und ihn den Abwasch machen lassen. Weiberarbeit! Für einen Kerl aus diesem Kulturkreis ist das die Hölle, und Murad hatte die Erniedrigungen nie verarbeitet. In Gegenwart anderer Männer war er scheu und misstrauisch, aber unter seiner teigigen Oberfläche brodelte Wut. Wenn man ihn herumschubste, explodierte er irgendwann.

Wie bei Krischan.

Ich war erwacht, weil ich Murad schnaufen hörte wie einen Wasserbüffel, der die Wasserkuh besteigt. Dann ein Geräusch wie Stahl, der auf einen Stein einhackt und ein Knirschen, das bestimmt nicht von einem Stein kam. Als ich aus dem Zelt lugte, war Krischans Kopf schon kaputt, und Murad prustete wie der Büffel, der es hingekriegt hat.

„Scheiße“, war das Scharfsinnigste, was mir einfiel.

„Scheiße“, echote Franko und blies Atemwölkchen in die kalte Luft. Wie ich war er zu spät aufgestanden, um etwas ausrichten zu können. „Verdammte Scheiße!“

Franko war ein umgänglicher Kerl. Grinste sich den ganzen Tag einen ab wie ein wichsender Schimpanse. Soweit war mit ihm alles in Ordnung. Bis auf eine Kleinigkeit. Er litt an maßloser Selbstüberschätzung. Keine Ahnung, wie die Krankheit heißt, aber wenn man Franko weismachte, er könne von der Brücke springen, ohne einen Kratzer davonzutragen, band er sich einen Gullydeckel um den Hals, ehe er runterhüpfte. Nur um zu zeigen, was für ein toller Typ er war.

Man sollte meinen, einer wie er würde nicht in einem Heim für psychisch Durchgeknallte leben. So wie unsere Gesellschaft drauf ist, hätte er es als Politiker ganz nach oben schaffen oder Chef der Deutschen Bank werden müssen. Aber Fehlanzeige. Franko war aus jedem Job geflogen, seine Frau war ihm weggelaufen, und er durfte seine kleine Tochter nicht mehr sehen. Hatte sich eingebildet, sie könne fliegen wie Supergirl, weil sie doch aus seinem Sperma gemacht ist.

„Murad ist stark“, sagte er mit einem Blick auf die Sauerei, die der Türke angerichtet hatte. „Aber ich bin stärker.“

Murad irrlichterte ihn aus wilden Augen an, aber Franko zeigte sein Affengrinsen, und der Türke beruhigte sich.

„Leg erst mal den Spaten weg“, sagte ich. Murad gehorchte: „Tut mir leid, Jo, der Kerl war fies zu mir.“

Eigentlich heiße ich Johannes, aber alle nennen mich Jo. Jo, ihr bester Kumpel. Jo, der keinem blöd kam. Der jeden für voll nahm, obwohl die Köpfe meiner beknackten Freunde ziemlich hohl waren, wie ich nur allzu gut wusste.

Und das hatte ich nun von meiner großherzigen Art: Wir waren allein in einem Wald im Erzgebirge, der Wetterbericht meldete Schneeregen, und wir hatten eine Leiche an der Backe. So wie die anderen mich anstarrten, glaubten sie, dass ich mich kümmern und alles ins Lot bringen würde.

Jo, der gute Onkel für eine Handvoll Insassen eines Heimes für Sozialtherapie aus Hinterschwabingen.

Ein gellender Schrei ließ mich herumfahren.

Claudia, unsere Psychotussi. Die hatte ich glatt ausgeblendet. Sie zeigte auf das weggesprungene Schädeldach und jammerte wie die blonde Frau hinter dem Duschvorhang in dem Film mit dem Mann und dem Messer.

„Beruhig´ dich erst mal“, sagte ich.

Letzte Nacht am Feuer hatte Claudia zu viel Glühwein getrunken. Ihre Haut war blass, ihre Lippen rot, und mit ihrem verstrubbelten schwarzen Haar sah sie aus wie Schneewittchen, das es den Zwergen besorgt hat.

Es war unpassend, so etwas zu denken, aber heimlich waren wir alle in Claudia verknallt.

Nicht, dass sie es herausgefordert hätte. Claudia war ein Bücherwurm, der sich durch armdicke Medizinschwarten bohrte. Mit Mitte dreißig wusste sie alles über Kopfkrankheiten, war aber nie auch nur in die Nähe einer Geschlechtskrankheit gekommen. Außerdem trug sie blutdrucksenkende Unterwäsche. In der zweiten Nacht hier draußen hatte ich es mit eigenen Augen gesehen. Trotzdem war Claudia schön, auf eine spröde, ihr selbst nicht bewusste Art, und kein Schlüpfer der Welt konnte das ruinieren.

„Krischan!“, schrillte sie. „Was habt ihr getan!“

Inzwischen war auch Lothar aus dem Zelt gekrochen. Er stupste Krischan an, und als der keinen Mucks von sich gab, begann er, an der Leiche zu rütteln. Als wolle er dringend wissen, was Krischan heute alles an Programm für uns geplant hatte.

Lothar war fast fünfzig. Er hatte noch nie eine Frau gehabt, was niemanden wunderte, der Lothar beim Essen gesehen hat. Über seinem Mondgesicht saß eine bunte Strickmütze, die er einem kleinen Mädchen abgenommen haben musste, was meiner Ansicht nach zeigte, dass er gewisse Bedürfnisse hatte.

Ich meine, Lothar war ein richtiger Mann. Er funktionierte, zumindest untenrum. Nur im Kopf war er zurückgeblieben. Man musste ihm jeden Handgriff vorbeten. Lothar, mach dein Bett. Lothar, geh Essen fassen. Lothar, Zeit zu kacken. Solange man nichts vergaß, kam er ganz gut klar.

„Lothar, lass Krischan in Ruhe“, sagte ich. Hinter mir schluchzte Claudia wie eine hyperventilierende Sirene. Murad stand mit gesenktem Kopf daneben, und Franko untersuchte den Klappspaten. Mir musste rasch etwas einfallen.

„Lothar“, sagte ich, „komm her.“ Ich legte seine Hand um Claudias Schulter und schob die beiden aus dem Dunstkreis der Leiche, in dem es nach Blut und Exkrementen stank, die der blöde Krischan nicht bei sich behalten hatte.

„Bring Claudia in ihr Zelt, Lothar!”

Mit sanftem Druck führte er sie weg, und Claudia ließ es geschehen. Ich sah sie zittern. Lothar streichelte sanft ihre Haare, was zumindest keine nachteilige Wirkung zeigte.

Auch Franko und Murad stellten im Augenblick keinen Blödsinn an. Ich atmete durch.

Ich fühlte mich diesem Haufen nicht wirklich zugehörig, aber es war unbestreitbar, dass auch ich einiges durchgemacht hatte und eine Auszeit brauchte, um zu mir selbst zu finden.

Ich war damals Anfang zwanzig und hatte im Haus meiner Eltern gewohnt, zusammen mit meinen jüngeren Geschwistern Kevin und Sophie. Kevin der Kotzbrocken und Sophie die Schlange. Mein kleiner Bruder litt am Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, meine Schwester darunter, dass sie die Aufmerksamkeit der ganzen Welt für sich beanspruchte. Ständig schleimte sie sich bei Verwandten und Nachbarn ein, die ihr alles überließen, was sie gerade in den Händen hielten. Schokolade und Kirschen und Fünfeuroscheine. Für Kevin und mich blieb kaum was übrig.

Mein Bruder vergaß natürlich sehr schnell, welche Kostbarkeiten Sophie ihm weggeschnappt hatte. Er hampelte durchs Haus und hinterließ einen Bombenteppich aus Spielsachen, die ich nachher aufräumen musste, weil Kevin sich nicht merken konnte, wo die Star-Wars-Schurken, die Transformers und der Playstation-Kram hingehörten. Seine Krankheit machte ihn immun gegen Hausarbeit.

Meine Mutter unterstützte ihn darin. Kevin hier, Kevin da. Nur Sophie durfte sich mehr herausnehmen. Zum Kotzen. Mein Vater hätte durchgegriffen, aber er war seiner Frau nicht gewachsen. Sie hatte ihm drei Kinder abgetrotzt, danach konnte er bloß noch froh sein, dass sie sich nicht scheiden ließ und das Haus, die Autos und seine Briefmarkensammlung mitnahm. Einig waren sich die zwei nur in einem Punkt: Dass ich studieren sollte, statt als Pizzabote zu jobben. Sie verstanden das nicht. Ein Pizzajunge geht nie hungrig zu Bett. Außerdem kommt er ganz schön herum.

Wie dem auch sei, eines Nachts hatte ich ein paar Bier gekippt und kam zu spät nach Hause. Ich sah die Flammen schon von Weitem. Unser Haus glühte wie der Schlot des Krakataus. In der fettigen Asche, die vom Himmel rieselte, waren Teile meiner Familie drin. Sie verbrannten alle.

Die Polizei fand heraus, dass das Feuer zwei Stunden nach Mitternacht ausgebrochen war. Ursache war ein defektes elektrisches Gerät, ein alter Radiowecker, der nie richtig funktioniert hatte. Mein Vater hatte das Ding auf seinem Briefmarkenalbum stehen, das als erstes Feuer fing. Falls er eine Mauritius besessen hatte, war der Wert der anderen Marken dieser Sorte in jener Nacht explodiert.

Für einen Jungen wie mich war es ein traumatisches Erlebnis, auf einen Schlag seine gesamte Familie und vielleicht sein wertvollstes Erbstück zu verlieren. Sie brachten mich ins Heim, wo ich Lothar, Franko und die anderen Wirrköpfe kennen lernte. Wir alle waren ein bisschen neben der Spur, und Leute wie Krischan und Claudia sollten machen, dass wir wieder in Tritt kamen.

Aus naheliegenden Gründen regelten die beiden im Moment jedoch überhaupt nichts, und so musste ich mir etwas einfallen lassen, damit sich die Dinge hier draußen im Wald nicht in die falsche Richtung entwickelten.

„Murad, pack mal mit an!“ Ich wies auf Krischans Körper, der aufgehört hatte, in der kalten Morgenluft zu dampfen.

„Franko, du auch. Schaffst du das?“

„Null Problemo, Jo“, sagte Franko in einem Ton, der andeutete, dass er stark genug war, zehn Leichen zu schleppen. Er packte den Toten bei den Füßen; Murad nahm die Schultern. Der Türke schaute weg, als ich ihm das Rotztuch aus der Tasche zog und Krischans Schädeldach vom Boden klaubte. Ich hatte den Knochen noch nicht richtig eingewickelt, als Claudia wieder zu schreien anfing. Diesmal klang sie nicht bloß hysterisch. Es hörte sich an, als würde sie von etwas heimgesucht, das glühende Augen, Reißzähne und einen haarigen Arsch hatte.

Das kam nur annähernd hin.

Ich riss die Plane an ihrem Zelt beiseite, und da hockte Lothar. Sein Arsch hatte kaum Haare. Ich musste unwillkürlich an einen Mond mit Krätze denken. Einen Mond, dem Marionettenglieder aus den Ohren wuchsen, nur dass das die Beine von Claudia waren, die zuckten, während Lothar zwischen ihnen pumpte wie eine Ölförderanlage in Texas.

Claudia schrie jetzt nicht mehr, denn hinter ihr hockte Maik, der sich heimlich ins Zelt gezwängt haben musste. Er presste unserer Therapeutin eine schmutzige Hand auf den Mund und erstickte ihre Gegenwehr im Keim, während Lothar seine eigenen Keime in sie pflanzte. Er schien diesmal mit einem Minimum an Anleitung auszukommen.

Verdammter Maik! Ich nannte den Kerl die Ratte.

Keiner wusste, was in Maiks Schädel vor sich ging. Er war blass, hatte dünnes Haar von unbestimmter Farbe und einen schmalen Oberlippenbart, der aussah wie bei einem Zwölfjährigen, der gerade anfing, sich für die Titten seiner Lehrerin zu interessieren. Ich hätte darauf gewettet, dass Maik seiner Lehrerin nicht nur auf die Titten gestarrt hatte, aber wie lange das her war, konnte ich nicht mal schätzen. Der Kerl war irgendwie alterslos. Er konnte siebzehn sein oder siebenundvierzig, keine Ahnung. Genau haben das nur Krischan und Claudia gewusst, aber die sind beide tot.

Ja, Claudia auch. Es tut mir leid, davon berichten zu müssen, denn ich war echt verschossen in unsere Psychotante.

Aber wie sie so in ihrem Zelt lag, keuchend und jammernd, mit Lothar in sich drin und ohne Chance, auf jemanden einzureden, da hat sie Maik in die Hand gebissen. Sie war wohl echt verzweifelt. Maik brach ihr das Genick. Nicht mit einem Ruck, wie es Profis im Film machen, wenn sie das Böse auslöschen. Er bog ihren Kopf zur Seite, bis es nicht mehr ging, und dann bog er immer noch weiter. Vielleicht wollte er, dass sie ihn nicht mehr beißen konnte. Vielleicht hatte er aber auch auf das trockene Knacken gewartet, das sich erst spät einstellte. Bei Maik wusste man nie.

Wir nannten uns die Winterer. Ein Name, der spannend genug war, um Typen wie uns zu begeistern. Ich weiß nicht, ob Krischan ihn sich ausgedacht hatte oder Herr Tatzelhauer, der Heimleiter. Es war ein erlebnispädagogisches Projekt, mit dem man auf Kongressen glänzen konnte, falls es funktionierte. Eine Woche lang sollten wir draußen in der Natur und weit weg von zu Hause über die Runden kommen. Zusammenleben. Selbstvertrauen tanken. Arbeitsteilung entwickeln. Gewissermaßen den aufrechten Gang noch mal erfinden. Hinterher sollten wir bereit sein, unser Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Aus dem Wald ins Arbeitsamt: Wer mit der Axt umgehen kann, kommt in beiden Welten zurecht. Ich glaube aber nicht, dass sie darauf hinauswollten.

Wir fuhren in den Osten, wo Krischan mal Skiurlaub gemacht hatte. Es war April. Der Winter konnte uns jetzt nicht mehr umbringen, das Wetter würde uns aber auch nicht wie Urlaub vorkommen. So begründete es Herr Tatzelhauer. Aus einem Gespräch zwischen Krischan und Claudia habe ich aber herausgehört, dass auch Fördergelder eine Rolle spielten, die Anfang Mai verfallen wären.

Wir reisten in einem alten VW-Bus, den wahrscheinlich schon die RAF benutzt hatte. Herr Tatzelhauer suchte noch nach einem Sponsor für ein neues Fahrzeug. Wir waren sieben Leute mit fünf Zelten und genug Dosensuppen, um eine Speisung von fünftausend durchzuführen.

Ursprünglich sollte auch Gunnar mitkommen, aber den hatte Maik auf dem Gewissen. Maik hatte den Müll rausbringen müssen, fünf Tage hintereinander. Gunnar war bloß dreimal dran gewesen. Maik hielt ihm den Mülleimer hin, aber Gunnar, der ungefähr so schnell dachte wie ein Pantoffeltierchen auf Radedorm, hatte ihn bloß angeglotzt.

Maik drosch mit dem Eimer so lange zu, bis dieser so leer wie Gunnars Kopf war. So war dieser Maik. Hatte als Kind wohl bloß saure Muttermilch bekommen. Er durfte vermutlich nur mit ins Winterlager, weil Herr Tatzelhauer den unberechenbaren Kerl aus dem Heim haben wollte.

Die Stadt, zu der wir fuhren, hieß Johanngeorgenstadt. Ein von Gott und Bergleuten verlassener Ort, der mal groß gewesen war, als im Mittelalter Erze gefunden wurden. Als nach dem Krieg die Russen kamen, waren Silber und Zinn alle, aber es war noch Uran da, und das holten sie sich, um es in Atomraketen zu stopfen. Zurück blieben eine Milliarde Löcher unter der Stadt und ein paar Einheimische, die Schwibbögen schnitzten und auf Skifahrer warteten.

Claudia erzählte, dass hier auch eine berühmte Band lebte, De Randfichten. Drei Männer in Kniehosen und schwulen Socken. Für mich klangen ihre Lieder wie Windrauschen in einer Fichtenmonokultur. Aber ich will nicht urteilen, denn immerhin stand ich mal auf Mayhem, und das sind Satanisten.

Johanngeorgenstadt liegt an der tschechischen Grenze. Da gibt es Wald soweit man blicken, und weiter als Gretel laufen kann. Dort wollten wir campen. Claudia hantierte mit der Wanderkarte. Krischan fuhr nach ihren Anweisungen. Wenn Claudia nicht hinsah, schüttelte er genervt den Kopf, aber letztlich fanden wir doch noch die richtige Gegend.

Ein Orkan war hier durchgefegt und hatte Bäume geknickt wie altbackene Salzstangen. Die gefallenen Riesen lagen durcheinander wie in einem Mikadospiel.

„Orkan?“, fragte Lothar.

„Wind“, erklärte ihm Krischan. „Stark blasen.“ Dabei schaute er Claudia komisch an, aber die merkte nichts, sondern stellte fest: „Wahrscheinlich Kyrill.“

Maik horchte auf. Er hatte was gegen Ausländer. Nur Murad respektierte er, weil der Türke ein echter Koloss war.

„Wer weiß“, sagte ich, „vielleicht hieß der Orkan ja Lothar.“ Das gefiel unserem Mondmann. Aufgeregt knetete er die Bommeln seiner Strickmütze. „Wirklich, Jo?“

„Klar, warum nicht. Lothar, der Orkan.“

Wir fanden eine Stelle, wo Lothar, oder wie der Sturm geheißen hatte, zwei Fichten aus der Erde gerissen hatte. An ihren Wurzeln hing noch der ganze Waldboden dran, mit Nadeln, Moos, irgendwelchen Flechten, totem Holz und Eichhörnchenscheiße. Von Weitem sah es aus wie der Erdwall eines Wehrdorfes. Von Nahem stellte es einen exzellenten Windfang dar. Hier schlugen wir unsere Zelte auf.

In der Nähe war ein Gasthof, der Henneberg hieß, nach einer Siedlung, die es dort mal gegeben hatte. Krischan handelte aus, dass wir zum Duschen in die Herberge kommen durften. Außerdem für Geschäfte, die man üblicherweise in groß und klein einteilte. Die Wirtsleute waren nett. Sie versorgten uns mit warmem Tee und rasteten nicht gleich aus, wenn Lothar in seinen dreckigen Schuhen quer durch die Gaststube latschte, um die Hauskatze zu belästigen. Er liebte Tiere. Dreckige Fußböden waren ihm egal.

Am zweiten Tag machten wir einen Ausflug ins Moor. Es war nach einem großen Vogel benannt worden, einem Kranich, Storch oder Strauß. Ich erinnere mich nicht genau. Es war kein Moor wie im Kino, mit schwarzem Schlamm, der einen runterzog und tausend Jahre später als Mumie wieder ausspuckte. Man konnte sich dieses Moor als grünen Bergsee vorstellen. Statt auf Wasser blickte man auf ein Meer aus Moorkiefern, Heidekraut und mickrigen Sträuchern. Man ging auf einer schwankenden Decke, aber man versank nicht.

„Gibt’s hier Bambis, Jo?“, wollte Lothar wissen. Ich nahm an, dass im Frühjahr vor allem die Mücken rauskamen und einen aussaugten, bis man eine Transfusion brauchte, aber ich sagte: „Sicher, ein paar vielleicht“, und Lothar war glücklich.

Der Wind pfiff über die Krüppelbäume und blies uns Eiskörner ins Gesicht. „Wunderschön“, fand Claudia, aber als Murad ihr mit einem Eisklumpen die Kapuze vom Kopf schoss, war sie sauer.

„Pass auf, was du tust!“, schimpfte Krischan.

Franko wollte Claudias Ehre wiederherstellen, indem er Murad eine Ladung Schneematsch ins Gesicht warf. Der Türke nahm ihn in den Schwitzkasten, und Claudia musste ihre gesamte Autorität und ihre schrille Stimme einsetzen, damit Franko nicht erstickte.

Maik sah mit dünnlippigem Grinsen zu.

Am dritten Tag kam der Jäger. Im Morgendunst tauchte er im Lager auf und fing an, mit seinen Bergstiefeln gegen die Zeltwände zu treten. „Aufwachen!“

Als wenn das nicht laut genug gewesen wäre, kläffte auch noch sein Köter los als hätte er Fehlzündungen.

Ich schob meinen Kopf aus dem Zelt und starrte dem Untier direkt in die Fänge. Es war ein großer Jagdhund, der nur aus rotem Fell, roter Zunge und roten Augen zu bestehen schien.

Inzwischen regten sich auch die anderen. Der Jäger fing mit Krischan eine Diskussion an, die sich darum drehte, was wir in seinem Wald verloren hatten. Krischan redete etwas von Absprachen mit dem Landratsamt, doch der Jäger wollte davon nichts wissen. Er war alt und verbohrt.

Lothar ging auf den Hund zu, um ihn zu streicheln, aber das rothaarige Monster grollte ihn an, was gefährlicher klang, als wenn Murad einen Batzen Schleim hochwürgte.

„Warte“, rief Franko, „ich werd´ ihn dressieren!“

Der Hund schnappte nach ihm und riss ein Dreieck aus seinem himmelblauen Daunenanorak. „Das bezahlst du“, murmelte Franko, hielt sich von da an aber im Hintergrund.

Maik starrte schweigend das Gewehr des Jägers an, eine Bockflinte mit drei Läufen, einer bösartiger als der andere.

Claudia holte ein Schriftstück aus ihrem Zelt, irgendwas Offizielles, denn der Mann studierte es mit aufeinander gepressten Lippen und gab es ihr mit einem einsilbigen Brummen zurück. Dann fixierte er uns, als seien wir ein Rudel Frischlinge. „Ich fass es nicht“, knurrte er. „Hirnis im Wald.“

Er versuchte erst gar nicht zu verbergen, dass wir ihn anwiderten. Na gut, Lothar lief der Rotz aus der Nase und Murads Schwabbelbauch war nur von einem bleichen Turnhemd bedeckt. Ein unschöner Anblick, aber kein Grund, ausfallend zu werden. Er selbst sah auch nicht wie ein Unterwäschemodel aus. Aus seinen Ohren wuchsen graue Haarbüschel und aus seinem Hut ein Rasierpinsel.

„Böser Mann“, brabbelte Lothar, als der Jäger außer Hörweite war. Ich nickte: „Er schießt Bambis tot.“

Claudia schaute mich an, als hätte ich etwas Gemeines gesagt, aber vermutlich kannte auch sie keinen Typen, der Jäger geworden war, um den Wald aufzuräumen.

Krischan winkte ab: „Reden wir von was anderem.“

„Mein Radio ist im Eimer“, sagte Claudia.

Ich hatte mir vorgenommen, die Woche im Wald auf meinem frierenden Arsch abzusitzen und mich nur so weit einzubringen, wie es nötig war, um nicht aufzufallen. Aber ich fühlte mich schuldig, weil ich Claudias pädagogische Bemühungen bei Lothar untergraben hatte. Ich wollte ihr gefallen. Also sagte ich: „Ein Radio? Zeig mal her!“

Es war ein billiges Ding, das man ihr in einem Elektromarkt nachgeworfen hatte. Ich checkte als Erstes die Batterien, aber die schienen in Ordnung zu sein. Deshalb borgte ich mir von Krischan Werkzeug aus dem Auto. Er gab mir auch eines von diesen Multitools, mit denen man in Notsituationen ein Raumschiff bauen und davonfliegen kann.

Während ich werkelte, warf er mir kritische Blicke zu. Ich denke, er wollte, dass ich scheiterte, damit ich bei Claudia keine Pluspunkte sammelte. Schließlich war er es, der sie flachlegen wollte. Aber ich scheiterte nicht. Ich fand einen unterbrochenen Kontakt zwischen Batteriefach und Leiterplatte, keine große Sache. Ich ließ mir Zeit mit der Reparatur, um mich um die Lagerarbeit zu drücken.

Krischan schickte Maik zum Holzhacken, aber der konnte sich nicht vorstellen, was das Horten harzverklebter Äste mit Alltagstüchtigkeit zu tun haben sollte. Er würde später ohnehin nur in eine Wohnung mit Zentralheizung ziehen.

„Geh einfach“, sagte Krischan. „Los!“ Als Pädagoge taugte er so viel wie ein Pinguin als Eisbärenköder. Maik blieb stur.

Claudia redete eine Weile auf ihn ein, mit der Geduld und den Lippen eines Engels. Ich bin sicher, auch Maik war vernarrt in sie, aber er hatte seinen Stolz, verschränkte die Arme vor der Brust und murmelte etwas, das wie Fick dich, Fotze klang. Claudia schnappte nach Luft.

Krischan trat vor. Meister Streng. „Und wie stellst du dir das vor, Maik?“ Er hatte wohl mal einen Kurs belegt, in dem man den Teilnehmern beibrachte, schwierigen Klienten die Absurdität ihrer Forderungen vor Augen zu führen.

Unser Türke rettete die Situation.

„Ich geh Holz holen“, erklärte Murad leise.

Krischan gab ihm ein nagelneues Campingbeil mit einer Schneide so scharf wie eine Zahnarztgattin und einem neongelben Kunststoffgriff. Falls man das Beil in den Wald schmiss, kam es zwar nicht von alleine zurück, aber man würde es selbst dann noch wiederfinden, wenn man sich zuvor ein Auge ausgehackt hatte. Es war ein großartiges Beil.

„Nein, ich gehe“, bestimmte Maik. Sie durften dann beide gehen, denn Krischan hatte zwei von den Dingern im Wagen.

Das Holz war für das Lagerfeuer, das Krischan und Claudia für diesen Abend geplant hatten. In der Stadt kauften sie Toast und anderthalb Meter Bratwürste. Sie spendierten auch ein paar Tetrapaks Glühwein, den wir in einem Topf zum Dampfen brachten. Als ich ihr das Radio gab, bedankte sich Claudia überschwänglich, obwohl das Erste, was sie hörte, der Wetterbericht war, und der sagte Schneeregen voraus.

„Ich wusste gar nicht, dass du dich mit elektrischem Zeugs auskennst, Johannes“, meinte Krischan beiläufig. Er tat, als hätte Claudia mir einen Heiratsantrag gemacht.

Ich zuckte nur mit den Schultern.

Franko rief: „Ich hätte das auch hingekriegt! Viel schneller als Jo!“ In gewissem Sinne rettete unser Möchtegern damit den Tag, und ich nickte ihm zu: „Klar, weiß ich doch.“

Es wurde ein schöner Abend. Sieben Gestalten, erhellt vom warmen Schein des Feuers, der uns alle gleich erscheinen ließ. Sogar Lothar unter seiner bunten Bommelmütze sah gesund aus. Claudia fragte, was wir in den Tagen hier draußen gelernt hätten. Sie wollte hören, dass wir in der Gruppe stark waren, notfalls aber auch allein klarkämen und dass wir die anderen tolerierten, selbst, wenn sie nachts im Zelt furzten.

Lothar sagte, dass Winter doof sei, Maik runzelte bloß die Stirn und Franko verlangte mehr Glühwein. Es muss ziemlich desillusionierend gewesen sein, zumindest, bis Murad sich ein Herz fasste und mit leiser Stimme erklärte, dass wir alle seine Freunde seien. Ich hatte das Gefühl, er meinte es ernst.

Danach quatschten, aßen und tranken wir frei von der Leber weg. Vier Tetrapaks später fing Krischan ein bescheuertes Spiel an. Es hieß: Was wir uns wünschen. Er hoffte wohl, Claudia würde eine Ansage machen, dass sie die Nacht nicht alleine verbringen wollte. Aber sie wünschte sich bloß, dass wir später alle mal Jobs fänden. Sie hatte echt eine soziale Ader. Franko sagte, er wolle seine kleine Tochter wiedersehen. Mitfühlend schwiegen wir, bis Lothar erklärte, er werde nie wieder zeitig zu Bett gehen. Krischan, der Stress auf sich zukommen sah, versuchte, ihm das auszureden.

„Jeder Mensch muss schlafen, Lothar.“

„Ich nicht.“

„Auch du, Lothar. Du bist doch ein Mensch, oder?“

„Später vielleicht.“

Dass die anderen nun anfingen, aufzuzählen, wer schon mal wie lange ohne Schlaf ausgekommen war, stärkte Krischans Position nicht gerade. Ich räusperte mich: „Also ich, Leute, ich bin noch nie später als Mitternacht heimgekommen.“

„Ehrlich, Jo?“, fragte Lothar.

„Ehrlich. Als ich noch Pizzabote war, habe ich mich immer für die Nachmittagsschicht eintragen lassen, damit es abends nicht zu spät wurde. Da könnt ihr meinen Boss fragen.“

Obwohl Lothars Schlafstreik damit vom Tisch war, schaute Krischan mich seltsam von der Seite her an. Der Mann hatte wirklich Komplexe. Es begann zu graupeln.

Als alle schlafen gegangen waren, musste ich noch mal raus zum Pinkeln. Der Schnee hatte eine dünne Decke gebildet, und so sah ich die Fußspuren. Sie führten von Krischans Zelt zu Claudias Schlafplatz. Hatte der Kerl also einen Vorstoß gewagt. Aber vielleicht wollte er sich auch nur einen Salzstreuer borgen und über hartgekochte Eier reden.

Leise schlich ich näher, um zu hören, wie es klang, wenn ein Pädagoge und eine Psychotussi intimes Zeug laberten.

Eigenartigerweise schienen sie wirklich nur zu reden. Darüber, wie sie Maik in den Griff bekamen, wie gut Murad sich machte und dass Franko ein Erfolgserlebnis brauchte.

Und dann fiel mein Name.

Zurück im Zelt, lag Lothar wach.

„Jo“, sagte er.

„Ja, Loth’?“

Er hatte gegrübelt. Über das, was Maik zu unserer engelsgleichen Betreuerin gesagt hatte.

„Claudia ist hübsch“, sagte Lothar.

„Das ist sie.“

„Ich mag sie.“

„Das ist ein wertvolles Gefühl, Lothar.“

„Jo?“

„Mmh“, brummte ich.

„Was ist eine Fotze?“

Am nächsten Morgen explodierten die Emotionen in unserem Winterlager.