Morgaine - Christine Arana Fader - E-Book

Morgaine E-Book

Christine Arana Fader

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Beschreibung

'Ich werde ihn nie vergessen, egal, wie alt ich werde, den Moment, als ich AVALON zum ersten Mal sah. 'Verheißungsvolle Prophezeiungen begleiten Morgaine schon von Kindheit an. Der Ruf Avalons verspricht ihr ein bedeutsames und auserwähltes Leben als Priesterin - in Ehren, voller Freude und wahrer Freundschaft. Doch auch die Schatten sollen sich bald offenbaren, und so fordern Krieg und Hingabe gleichermaßen ihren Tribut. Berührend, dramatisch und vor allem authentisch erzählt 'Morgaine' von einer Zeit, in der die Nebelschleier Avalons dünn, die Helden tapfer und die Liebe noch echt waren. Christine Arana Fader berichtet von einem vergangenen Leben, in dem der alte Zauber noch nichts von seiner Kraft verloren hat, denn für jene, die noch heute an seine Magie und sein geheimes Wissen glauben, wird Avalon das Tor zur Freiheit sein.

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CHRISTINE ARANA FADER

Das Leben einer Priesterin

von AVALON

Roman

Dieses Buch enthält Verweise zu Webseiten, auf deren Inhalte der Verlag keinen Einfluss hat. Für diese Inhalte wird seitens des Verlags keine Gewähr übernommen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich.

Originalausgabe

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten

ISBN 978-3-8434-6182-5

© 2014 Schirner Verlag, Darmstadt

1. E-Book-Auflage 2014

Umschlag: Simone Fleck, Schirner, unter Verwendung

eines Bildes von Anja Kostka sowie # 114987397 (Suppakij1017),

# 60965065 (David Carillet), # 140051110 (Johan Swanepoel),

www.shutterstock.com

Redaktion: Kerstin Noack, Schirner, unter Verwendung von

# 67073692 (tanik), www.shutterstock.com

E-Book-Erstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt, Germany

www.schirner.com

Im Herzen werden alle Kriege gewonnen,

dort ist der Schauplatz, an dem du dir entgegentrittst.

Dort beginnt der Weg des Glaubens und der Einweihung.

Dort öffnest du das Tor zur Freiheit.

Dieses Buch erzählt von Menschen, die mit der Kraft ihrer Herzen, mit ihrem unbezwingbaren Mut die unermessliche Ewigkeit überwanden.

Ihre Namen und ihre Taten gingen in unsere Geschichte ein und werden bis ans Ende aller Tage unsere Herzen berühren. Dieses Buch wurde geschrieben, damit wir uns erinnern, damit wir nicht aufgeben und uns – ihnen zu Ehren – immer und allgegenwärtig bewusst sind, dass es einzig um die Liebe geht. Helden, lebendig geblieben in unseren Herzen, von ihnen erzählt dieses Buch, wie tapfer sie kämpften und wie leidenschaftlich sie liebten.

INHALT

Vorwort

1

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6

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Bericht von Merlin

Über die Autorin

Das Geräusch von Pferdehufen im Innenhof hat mich vom Spielen hochschrecken lassen. Es ist ein wundervoller, sonniger Tag, und das Meer unterhalb der Burg ist heute außergewöhnlich friedlich. Schon gleich nach dem Mittagessen hat meine Mutter angeordnet, dass ich auf mein Zimmer gehen und dort bleiben solle, sie erwarte hohen Besuch und ich dürfe sie nicht stören. Hastig springe ich auf und laufe zum Fenster, doch da ich erst fünf Jahre alt bin und zudem für mein Alter nicht besonders groß, kann ich zwar vom Fenster aus den Himmel sehen, jedoch nicht in den Innenhof der alten Burganlage blicken. Mit all meiner Kraft schiebe ich meine Kleidertruhe unter das Fenster, und klettere hinauf.

Im Innenhof kann ich eine Gruppe Reiter sehen, die sich um die vom langen Ritt müden und geschwächten Tiere kümmert, alle schwer bewaffnet, es sind Krieger. Ich sehe einen stattlichen weißen Hengst, Sattel und Zaumzeug sind überaus wertvoll und prächtig. Das Tier wirft nervös den Kopf nach hinten und wiehert laut, als würde es meine Blicke spüren.

Plötzlich ergreift mich ein leichter Schwindel. Vor das Bild, das sich meinen Augen dort im Burghof bietet, schiebt sich ein anderes: Ich sehe diesen weißen Hengst mit weit aufgerissen Augen, wie er mit seinem Reiter in einer Schlacht kämpft, mutig, unerbittlich, beide sind mit Schlamm und Blut beschmutzt. Ein Banner, an dem der Wind reißt, rot, mit einem goldenen Drachen darauf. Ich sehe den starken Arm des Kämpfers und in dessen Hand ein aufblitzendes Schwert. Ich sehe, wie dieses Schwert herabsaust, bereit zu töten … Ich hole tief Luft und reibe mir die Augen. Es geschieht ab und an, dass ich Dinge sehe, die nicht wirklich real sind – zumindest nicht in der Gegenwart, in der ich mich gerade befinde –, doch ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Die Angst, ausgelacht zu werden, hält mich zurück, und so schweige ich – was ich ohnehin meist tue.

Die Dunkelheit ist hereingebrochen, der Duft von gebratenem Fleisch und frischem Brot steigt aus der Küche herauf, bis in mein Zimmer. Ich fühle mich so alleingelassen, sogar meine Mutter scheint mich vergessen zu haben. Tränen der Trauer, aber auch der Wut, steigen mir in die Augen. Nicht einmal das kleine Holzpferdchen, mit dem ich sonst am liebsten spiele, kann mich trösten – es ist schon ganz abgegriffen und leider wurde ihm bei einem zu wüstem Spiel ein Ohr abgebrochen. Mit dem kleinen Holzpferdchen in der Hand verlasse ich mein Zimmer und schleiche mit nackten Füßen die kalten Steinstufen hinunter.

Ein dicker Wollteppich verhängt den Eingang zu dem Saal, in dem Gäste empfangen und auch verköstigt werden. Ich höre meine Mutter lachen und das Stimmengewirr einiger Männer. Leise schleiche ich zu dem schweren Stoff, der den Eingang zum Saal verhängt, und schaue vorsichtig an ihm vorbei in den Saal hinein. Die Tafel ist üppig gedeckt, die Kämpfer sind ausgelassen und genießen die guten Speisen, auch Wein und Met. In beiden Kaminen prasselt das Feuer, und sogar die Hunde liegen zufrieden und mit gefüllten Bäuchen unter den Tischen. Mein Magen jedoch knurrt, denn ich habe seit dem frühen Mittagessen nichts mehr zu mir genommen.

Ich erkenne den Krieger aus meiner Vision. Er sitzt neben meiner Mutter, die ihn ganz merkwürdig ansieht. Es hat den Anschein, als würden sie sich schon lange und gut kennen. Die Blicke, die meine Mutter dem fremden Mann schenkt, machen mit innerlich wütend.

Ingraine, meine Mutter, ist eine schöne Frau. Sie ist hochgewachsen, schlank, und ihr hellblondes Haar fällt in üppigen Wellen bis über ihre Hüfte. Sie trägt ein neues, smaragdgrünes Kleid, das sehr gut zu ihren hellgrünen Augen und ihrer hellen Haut passt.

»Ha, wen haben wir denn da!«, höre ich eine Männerstimme laut rufen. Plötzlich packen mich zwei starke Hände und reißen mich unsanft vom Boden hoch. Übler Atem schlägt mir entgegen, und ich verziehe das Gesicht.

Der Mann lacht und wirft mich einem anderen Mann zu, großes Gelächter bricht aus. Ich fliege durch den Raum, von Kämpfer zu Kämpfer bis hin zu jenem, den ich in meiner Vision gesehen habe. Er hält mich vor sich hin und schaut mir grinsend in die Augen. Sein Gesicht ist von der Sonne gebräunt, er hat blondes halblanges Haar, seine Augen sind braun, sein Blick hat Tiefe und auch einen Hauch von Traurigkeit.

»Morgaine!«, höre ich die verärgerte Stimme meiner Mutter. Sie ist nicht erfreut, mich hier zu sehen. Tief schaue ich dem grinsenden Krieger in die Augen.

»Du hast meinen Vater getötet«, kommt es eiskalt über meine Lippen.

Das Lachen des Kriegers verstummt, im Raum wird es still. Obwohl ich leise gesprochen habe, scheinen es alle, auf die eine oder andere Weise gehört zu haben. In mir ist irgendeine besondere Macht, ich habe sie schon oft spüren können. Mit diesem einen Satz beraube ich diesen stolzen, kraftvollen Krieger all seiner Energie. Ich spüre, wie sich eine Schwere in seinen starken Armen breitmacht, und sehe, wie der Glanz seiner Augen erlischt. Doch mein Herz ist kalt, und mit eben dieser Kälte bohrt sich mein Blick in die Augen des Mannes mir gegenüber.

Meine Mutter reißt mich an sich und eilt mit mir aus dem Raum. Sie sieht mich nicht an und spricht kein Wort mit mir. Hastig läuft sie in die Küche, drückt mich der dicken Köchin in den Arm und sagt: »Sorge dafür, dass sie etwas isst, und dann bring sie ins Bett. Du wirst vor ihrer Tür schlafen, auf dass ich sie heute ja nicht mehr sehe! Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

Die dicke Köchin nickt wortlos und verbeugt sich vor ihrer Herrin. Wütend dreht sich meine Mutter um und rauscht davon.

»Du armes Kind«, sagt die Köchin, drückt mich fest an ihre riesigen Brüste und streicht mir über die Haare. Komm, ich mach dir etwas ganz besonders Leckeres zu essen.« Sie setzt mich auf einen Schemel und lacht mich an: »Da kommt mir eine gute Idee«, spricht sie weiter. »Du wirst bei mir schlafen. Zu zweit ist es viel wärmer im Bett. Deine Mutter wird davon nichts bemerken, hat sie doch heute Nacht nur Augen für eine Person«, sie grinst breit. »Na ja, schön ist das nicht, da dein Vater doch erst seit Kurzem tot ist. Ja, und ausgerechnet dieser … ach, es ist wohl besser, wenn du nicht alles so genau weißt, du bist ja noch so klein.«

Die Wochen vergehen. Der Krieger mit dem weißen Hengst besucht uns ab und an. Ich muss dann immer in meinem Zimmer bleiben und darf mich nicht blicken lassen. Mittlerweile habe ich erfahren, dass er Uther Pendragon heißt, und unser Großkönig ist. Dass ich in meinen Turm verbannt werde, wenn sich der Großkönig ankündigt, stört mich nicht weiter, denn die dicke Köchin lässt mich an solchen Tagen bei ihr schlafen und verwöhnt mich mit Leckereien.

Die Monate vergehen. Bald werde ich sechs Jahre alt. Meine Mutter sieht anders aus, sie ist ganz dick geworden. Ich glaube, sie ist sehr krank, denn sie muss sich oft übergeben und sieht schlecht aus.

Es ist früh am Morgen, ich gehe in das Gemach meiner Mutter. In der Früh sitzt sie gerne am Fenster und stickt. Sie hat ihre Arbeit im Schoß liegen, den Kopf nach hinten gelehnt, und atmet schwer. Ihr Bauch ist riesengroß und wölbt sich mir entgegen, ich lege meine kleine Hand darauf. Da ist er wieder, dieser Schwindel. Ein Bild schiebt sich vor das der Realität: Ich sehe kleine Kinderfüße, fleischige, kräftige, kleine Oberschenkel. Erschrocken ziehe ich die Hand weg. Da ist ein Baby drin, denke ich.

Meine Mutter hat die Augen aufgeschlagen, sie schaut mich liebevoll an und sagt: »Du bekommst ein Geschwisterchen.«

»Ja«, erwidere ich mit gemischten Gefühlen, »Ich bekomme einen Bruder.«

»Weißt du, mein liebes Kind, wenn du sieben Jahre alt wirst, dann beginnt für dich ein ganz neues Leben. Du wirst nach Avalon gehen. Das ist ein ganz besonderer Ort für ganz besondere Mädchen. Dein Vater hätte dies nicht erlaubt, aber jetzt entscheide ich alleine, und ich wünsche, dass du dort ausgebildet wirst.« Sie schaut für einen Moment versonnen zum Fenster. »Als du geboren wurdest, kam der große Merlin zu uns, er wollte dich unbedingt sehen. Damals sagte er, du gehörest nach Avalon. Nun hat er mir vor einigen Tagen die Kunde zukommen lassen, dass er an deinem siebten Geburtstag kommen wird, um dich zu sich zu holen.«

Sie streicht mit der Hand liebevoll über ihren Bauch.

»Ich werde dich nicht dorthin bringen können, doch bei Merlin bist du in guten Händen.«

Noch in dieser Nacht höre ich das Wehklagen meiner Mutter und kurz nach Sonnenaufgang den Schrei eines Kindes. So schnell ich kann, laufe ich den Korridor hinunter und stürme in ihr Gemach. Schlaff und erschöpft liegt sie in den Kissen. Die alte, magere Hebamme mit den wirren Haaren säubert das neugeborene Kind. Ich gehe zu ihr, um mir den neuen Erdenbewohner anzuschauen.

Das Kind schreit, wimmert und schlottert am ganzen Körper. Ich lege meine Hand auf sein zartes Köpfchen – und augenblicklich wird es ganz ruhig. Die Hebamme lächelt mir zu, wickelt meinen Bruder in eine warme Decke und legt ihn mir in den Arm.

»Bring ihn zu deiner Mutter, er hat sicher Hunger«, sagt sie mit sanfter Stimme. Und so gehe ich durch den Raum und kann meine Augen nicht von diesem Kind wenden. Tiefe Liebe durchströmt mich, und ich bin unendlich glücklich.

Die Wochen vergehen schnell. Wenn Artus schreit, weil er Bauchweh hat, kann nur ich ihn beruhigen. Sobald ich meine Hand auf seinen Bauch lege und diese tiefe Liebe in mir spüre, hört er auf zu weinen, und so kommt es, dass mein kleiner Bruder oft bei mir im Bett schläft.

Doch der Tag des Abschieds naht. Ich hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht, doch eines Abends, die Sonne steht schon sehr tief am Himmel, kommt ein Reiter in den Hof: ein alter Mann mit weißem, langem Haar auf einem schönen, dunkelbraunen Pferd, dessen Fell im Sonnenlicht glänzt. Glücklich sitze ich mit dem schlafenden Artus im Arm auf der untersten Steinstufe der Eingangstür, die zur großen Halle führt. Voller Liebe wiege ich ihn leicht und halte ihn fest an mein Herz gedrückt. Der alte Mann sieht uns an, steigt langsam vom Pferd und kommt auf uns zu.

»Du bist Morgaine«, sagt er. »Mein Name ist Merlin. Ich bin gekommen, um dich nach Avalon zu begleiten.«

»Ich weiß«, erwidere ich, »kann Artus mit mir kommen?«

»Oh, um ihn musst du dir keine Sorgen machen. Du wirst dort, wohin du jetzt gehst, viel lernen. Es ist besser, wenn dein Bruder noch eine Zeit lang hier bleibt. Ich werde mich solange um ihn kümmern und ihn dann an seinem vierten Geburtstag holen.«

Merlin übergibt sein Pferd dem Stallburschen, der schon auf uns zugeeilt kommt, um den hohen Besuch zu begrüßen, und sagt: »Bei Sonnenaufgang brechen wir auf. Sorge dafür, dass mein Pferd und eins für Lady Morgaine bereitstehen.«

Der Himmel zeigt sich in wunderschönen Rottönen, die Sonne geht gerade auf. Als mich der Stallbursche unsanft auf das weiß-braun gefleckte Pony hebt, höre ich Artus im Hauptgebäude der Burg weinen. Wut, Zorn und Abschiedsschmerz machen sich in mir breit. Tränen steigen mir in die Augen, und meine Unterlippe bebt. Wenn ich mal groß bin, wird niemand mehr über mich bestimmen, schwöre ich mir. Nichts habe ich mitgenommen, sogar mein geliebtes Holzpferdchen habe ich zurückgelassen – ich habe es Artus geschenkt. Ich möchte nichts bei mir haben, was mich an Tintagel erinnert. Wir verlassen den Innenhof der Burg. Merlin reitet voran. Traurig blicke ich auf meine Hände, die die Zügel fest umklammert halten, eine Träne fällt auf sie herab. Schweigend reiten wir in Richtung Südosten.

Es regnet leicht.

Wir reiten in eine Siedlung ein, rechts von uns liegt ein kleiner Fischteich. Merlin steigt vom Pferd, und ich tue es ihm gleich. Mittlerweile haben wir uns angefreundet. Merlin hat mir auf unserer Reise von Avalon und von dem Heiligen See erzählt. Er hat mir die Wirkung einiger Heilpflanzen erklärt, die wir unterwegs gesehen haben, und mir von dem alten Wissen und von der Magie der Bäume berichtet. Ich liebe es, ihm zuzuhören, seine Stimme ist sanft und tief, und er weiß, wie man kleine, unglückliche Mädchen zum Lachen bringt.

Mein Pony ist von der mehrtägigen Reise sehr erschöpft. Voller Sorge lege ich meine Arme um seinen Hals und drücke es an mich.

»Merlin, wir müssen einen Tag Pause machen. Schau nur, wie müde das arme Tier ist, bitte«, mit flehenden Augen schaue ich Merlin an.

»Wir sind angekommen, mein Kind, dein Pony kann sich jetzt ganz lange ausruhen.«

Abrupt lasse ich das Pony los und schaue mich um. »Das ist Avalon?«, frage ich etwas enttäuscht.

»Nein, das ist die Siedlung, die vor Avalon liegt, die Pferde werden hierbleiben, und wir gehen das letzte Stück zu Fuß. Aber nicht, bevor wir anständig gegessen haben, mir knurrt schon seit Stunden der Magen.« Schwungvoll nimmt er mich auf den Arm und zwickt mich in die Seite, sodass ich laut auflachen muss.

Das Dorf ist klein und scheint unglaublich alt zu sein. Beim Schmied bekommen wir eine dicke Suppe mit Pilzen und dazu warmes, lecker duftendes Brot. Merlin steckt dem Schmied einen Beutel mit Münzen zu, dieser verneigt sich leicht und bedankt sich. Mein Pony wird hierbleiben und versorgt werden.

Gestärkt von der üppigen Mahlzeit gehen Merlin und ich von der Siedlung aus durch ein Waldstück, und dann über eine große Lichtung. Auf die Lichtung folgt ein weiteres Wäldchen, das etwas Zauberhaftes hat: Dicke alte Bäume stehen dort, der Boden ist ganz weich und die Luft, ja, sie ist süß, ohne schwer zu sein, eher belebend.

Schließlich kommen wir zum Ufer des Heiligen Sees, und mein Blick fällt auf die Insel in der Mitte.

Ich werde ihn nie vergessen, egal, wie alt ich werde: den Moment, in dem ich Avalon zum ersten Mal sah.

Augenblicklich wird mein Herz weit, und eine so hohe Liebesenergie erfasst mich, dass ich mich und den Boden unter meinen Füßen nicht mehr spüren kann. Meine Aura dehnt sich aus, nichts um mich herum kann ich noch wahrnehmen – außer Avalon. Der See ist glatt wie eine dunkle Glasscheibe, und ich spüre in jeder Zelle meines Körpers, dass er mich willkommen heißt. In diesem heiligen Moment leuchtet die Insel für mich auf, es ist wie eine Hochzeit. Ich weiß nicht, wie lange wir dort gestanden haben. Irgendwann legt Merlin sanft seine Hand auf meine Schulter. »Hierhin gehörst du, mein Kind, hier findest du deine Bestimmung, hier, in Avalon.«

Mit einem Boot fahren wir über den See. Ich kann meinen Blick nicht mehr von der Insel abwenden und bin plötzlich schrecklich aufgeregt. Wir fahren auf eine Holzplattform zu, an der Merlin das Boot festmacht. Ich klettere heraus, stehe auf der Holzplattform und habe plötzlich große Angst, den Boden von Avalon zu betreten.

»Was hast du, Morgaine? Komm, wir werden erwartet!«

»Wenn ich auch nur einen Fuß auf das Land von Avalon setze, werde ich auf ewig mit diesem Land verwurzelt sein«, sage ich zu Merlin.

Mit aufgerissenen Kinderaugen schaue ich ihn an, ich zittere am ganzen Körper.

»Mein liebes Kind, du hörst dich manchmal an wie eine alte, weise Priesterin.« Liebevoll lächelt er mir zu. »Glaube mir, für dich gibt es kein Zurück mehr.«

Dies ist nun mein Zuhause, denke ich, und dieser Gedanke macht mich glücklich. Die Tür des großen Gebäudes öffnet sich und eine hochgewachsene Frau mit honigblondem langem Haar kommt schnellen Schrittes auf uns zu. Die letzten Meter legt sie im Laufschritt zurück. Vor mir angekommen sinkt sie auf die Knie und legt ihre schmalen kühlen Hände auf meine Schultern.

»Du bist Morgaine!«, strahlt sie mich an, und ich denke, dass sie Mutter sehr ähnlich sieht, sie ist nur größer und auch etwas älter als sie.

»Ich bin Vivian, deine Tante. Oh, wie ich mich freue, dich hier begrüßen zu dürfen. War Merlin freundlich zu dir? Wenn nicht, ziehe ich ihm die Ohren lang.« Sie lacht laut auf und schaut keck zu Merlin hin. Merlin schlägt mit einem Lächeln in den Mundwinkeln die Augen nieder.

»Merlin war außerordentlich höflich und freundlich zu mir, es ist nicht nötig, an seinen Ohren zu ziehen«, erwidere ich. »Auch hat er dafür gesorgt, dass es meinem Pony gut erging und dass die Reise kurzweilig war.«

»Erstaunlich!«, Vivian zieht die Augenbrauen hoch und schaut mich an. »Nun, dann zeige ich dir dein neues Zuhause.«

Avalon ist einfach wundervoll, schnell habe ich mich eingelebt. Nur nachts, wenn alle anderen schlafen, weine ich leise, weil mir Artus so sehr fehlt. Der Gedanke, dass er unglücklich sein könnte, weil ich nicht mehr in Tintagel bin, quält mich. Vivian erlaubt mir, regelmäßig in die Siedlung zu gehen, um nach meinem Pony zu sehen. Ich reite dann lange aus und erkunde die Umgebung.

Ich lerne viel, die alten Legenden und die Geschichte des Landes. Wie die Römer nach ihrer Invasion zunächst vertrieben wurden, dann aber doch unser Land zu großen Teilen eroberten. Vivian erzählt mir, dass Mama meinen Vater geheiratet hatte, um Avalon zu schützen. Ich lerne alles über die Heilkräfte der Natur, über die Kraft der Himmelsrichtungen und der Elemente – das alles ist sehr aufregend. In uns, den jungen angehenden Priesterinnen, wird ein Bewusstsein geweckt, das sich nicht in Worte fassen lässt. Wir meditieren oft am Ufer des Heiligen See, der Avalon umgibt, und führen immer wieder rituelle Waschungen mit seinem heiligen Wasser durch. Ich liebe den See. Wir Menschen sind Wesen, die aus dem Wasser geboren wurden, jenem Element, das die Wiege allen Lebens ist. Es ist das Element des Westens, das Element der untergehenden Sonne, das Element der Nacht und der Mondgöttin.

Weniger aufregend ist der Unterricht, in dem ich weben und spinnen lernen soll. Leider habe ich hierfür kein Talent. Ich lerne auch schreiben und rechnen. Vivian, meine Tante, ist eine der drei Hohepriesterinnen von Avalon. Die beiden anderen, Sandreia und Marla, sind weitaus älter als Vivian. Alle sind außerordentlich lieb zu mir, daran muss ich mich erst noch gewöhnen. Die Hohepriesterinnen geben ihr Amt stets innerhalb ihrer Blutlinie weiter. Wenn eine Hohepriesterin keine eigenen Kinder hat, geht es an eine Schwester, Enkelin oder auch an eine Nichte.

Obwohl mein Leben hier wunderschön und auch spannend ist, bleibt eine gewisse Leere in meinem Herzen. Oft bin ich traurig und einsam. Dann streife ich in den Wäldern umher und spreche mit den Bäumen. Mit schwerem Herzen klage ich ihnen mein Leid, dass ich meinen Bruder, den kleinen Artus, so sehr vermisse. Die Bäume hören mir zu, und sie trösten mich. Sie lassen mein Herz ruhig werden. Ich kann mich an sie anlehnen und die kraftspendende Energie fühlen, die von ihnen ausgeht. Ich kenne jeden Baum in der Umgebung Avalons und des alten Dorfes. Deutlich habe ich das Gefühl, dass auch die Bäume mich mittlerweile kennen – oft meine ich zu spüren, wie sie mich begrüßen, mir ihre kräftigende Energie senden, ihre tiefe Liebe und Verbundenheit.

An einem sonnigen Tag im März – ich bin nun schon seit mehr als drei Jahren in Avalon – führt mich einer meiner Streifzüge zur großen Lichtung. Dort, am Rande der Lichtung, stehen zwei sehr alte dicke Eichen. Ich kenne diesen besonderen Ort sehr gut und gehe schnellen Fußes auf ihn zu. Plötzlich spüre ich tief in meinem Herzen, dass ich nicht alleine bin. Konzentriert nehme ich einen tiefen Atemzug, schließe meine Augen für einen Moment und kann Merlin vor meinem inneren Auge sehen. Er sitzt, an den Baumstamm der dicken Eiche gelehnt, auf dem weichen Waldboden. Voller Freude öffne ich meine Augen und renne los.

»Merlin!«, rufe ich laut, laufe los und erreiche schwer atmend die alten Eichen. Merlin bleibt ganz ruhig sitzen und sagt: »Mein liebes Kind, was schreist du hier so herum, dies ist ein heiliger Platz, ein Ort der Ruhe.«

»Merlin!«, schreie ich erneut, trample mit den Füßen auf dem Boden herum und lache immerzu. Merlin springt auf, nimmt mich in die Arme und wirbelt mich in der Luft herum. Nun lachen wir beide.

Knapp über ein Jahr habe ich ihn nicht gesehen, und so ist die Freude übergroß. Merlin hält mich mit ausgestreckten Armen von sich weg und betrachtet mich eingehend. »Du bist gewachsen, na ja, ein wenig jedenfalls.«

Ich mache mich aus seiner Umarmung los.

»Ich bin es leid, ständig geneckt zu werden, nur weil ich klein bin. Na und? Ihr werdet euch noch alle wundern, denn Größe hat überhaupt nichts mit Körperlänge zu tun«, erwidere ich barsch.

Merlin streicht sanft über meine wilden, schwarzen Locken: »Oh ja, da hast du natürlich recht. Wie geht es dir, mein liebes Kind?«, fragt Merlin. »Ich kann so oft dein trauriges Herz spüren. Jeder hier weiß, wie sehr du Artus vermisst, und jeder kann diese alte, unglaublich starke Liebe spüren, sogar die Bäume sprechen davon.«

Wir setzen uns unter eine der alten Eichen. Merlin lehnt sich an den Baumstamm und legt väterlich seinen Arm um mich. »Liebe ist etwas Kostbares, etwas Wertvolles. Liebe ist kein Grund zum Weinen und Wehklagen. Ich bin auf dem Weg, Artus zu holen, seine Zeit der Schulung beginnt bald. Er wird einige Jahre von mir unterrichtet werden, er wird dort, wohin ich ihn bringe, auch das Kämpfen lernen.«

Merlin schweigt für einen Moment.

»Mein liebes Kind, eure Herzen sind sehr stark verbunden. Wenn du weinst, kann Artus dies fühlen. Du, Morgaine, hast dich für Avalon entschieden. Tief in deinem Herzen weißt du, dass es für dich nur diesen einen Ort gibt. Avalon ist deine große Liebe. Und so bitte ich dich, in den nächsten Jahren das Glücklichsein zu lernen, um Artus' willen. Es ist wichtig, dass er sich von nichts ablenken lässt, seine Ausbildung wird ihm viel abverlangen. Konzentration, Kraft und Mut.«

»Kann ich mitkommen?«, frage ich. »Ich würde ihn so gerne sehen und mit ihm sprechen.«

»Nein, Morgaine.«

Ich spüre, dass es keinen Sinn hat zu betteln, dieses Nein ist eindeutig und kühl. »Als Priesterin von Avalon, die du bald sein wirst, hast du die Pflicht, dein Wohl hinter das der anderen zurückzustellen, denke immer daran. Du hilfst Artus nicht, wenn du traurig bist und weinst, weil er dir so sehr fehlt. Vertreibe in Zukunft solche Gedanken und konzentriere dich auf deine Ausbildung. Es wird der Tag kommen, an dem ihr euch wiederseht, und dann werdet ihr beide all eure Kraft und all euer Wissen brauchen.«

Entschlossen blicke ich zu Merlin auf, ich schaue ihm fest in die Augen.

»Ich verspreche dir, nichts zu tun, was Artus schwächen oder ihm hinderlich sein könnte. Und ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, was nötig ist, um ihn zu unterstützen.«

Merlin lächelt mich an und drückt mich an sich, er streicht liebevoll über mein Haar und sagt: »Du bist das mutigste kleine Mädchen, das ich kenne, und du wirst einmal die mutigste Frau sein, die ich je kannte.«

Bei den letzten Worten wird sein Blick ernst. Fragend schaue ich in seine Augen – ist da Traurigkeit zu sehen? Er wendet seinen Blick ab und schlägt die Augen nieder. Ich frage nicht, denn mein Herz fühlt, dass ich es jetzt noch nicht wissen möchte, nichts von alldem, was in Zukunft sein wird, nein, ich lebe jetzt. Mit einem Satz springe ich auf meine Füße und sage: »Dann will ich heute gleich beginnen, das Glücklichsein zu üben. Weißt du, Merlin, ich bin natürlich sehr froh, dich zu sehen, aber unser Gespräch hat so etwas Schweres. Lass uns etwas unternehmen. Komm, steh auf, lass uns ausreiten!«

»Nun gut, wenn es dir Freude macht. Aber ich habe noch nicht erwähnt, dass ich eine Überraschung für dich habe.« Merlin dreht sich um und geht langsam in Richtung Dorf. Fassungslos stehe ich wie versteinert da, ich kann nicht glauben, dass er nicht damit herausrückt. »Was für eine Überraschung?«, rufe ich laut, renne hinter ihm her und zerre wie wild an seinem Ärmel. »Was für eine Überraschung? Sag schon! Endlich ein richtiges Pferd? Bald bin ich zu groß für das alte Pony. Oder ein Kleid? Ich möchte nicht immer diese langweiligen Kleider tragen. Ich finde, ich könnte auch etwas Schmuck gebrauchen.«

Ich lache laut auf.

»Ach, Merlin, eigentlich brauche ich ja gar nichts: Ich bin bald eine Priesterin von Avalon – und ich habe dich so lieb.«

Merlin legt seinen Arm um meine schmalen Schultern, und wir gehen gemeinsam zum Dorf, schweigend und voller Freude in unseren Herzen.

Auf dem Dorfplatz steht ein Menhir, ein ehrwürdiger Monolith, der aussieht, als stünde er dort schon seit Menschengedenken. Kinder haben einen Kreis aus dicken runden Steinen um ihn herum gelegt. Ein großer, kräftiger Junge steht lässig an den Menhir gelehnt und schnitzt gelangweilt mit einem viel zu großen Messer an einem kleinen Ast herum. Als der junge Mann merkt, dass Merlin auf ihn zukommt, steckt er hastig das Messer weg und wirft das kleine, malträtierte Holzstück hinter sich. Dann kommt er uns einige Schritte entgegen. Er ist groß und kräftig, hat Sommersprossen und ein breites Gesicht mit einem noch breiteren Grinsen. Seine Haare sind rot und wild, er hat sie zu einem Zopf zusammengebunden. »Darf ich euch bekannt machen«, sagt Merlin und schaut mich an. »Das ist der junge Sir Gawain«, nun zeigt er auf mich. »Und dies ist Lady Morgaine.«

Sir Gawain verbeugt sich tief vor mir und sagt: »Es ist mir eine Ehre, euch kennenzulernen, Lady Morgaine.« Ich bekomme einen roten Kopf, und weil ich nicht so recht weiß, was ich sagen soll, verstecke ich mich hinter Merlins Arm.

»Sir Gawain«, erklärt Merlin, »ist hier, um dir etwas beizubringen. Das ist die Überraschung – und ich hoffe sehr, dass du viel Freude an seinem Unterricht haben wirst und er dich vom Trübsal blasen etwas ablenkt. Also, nicht so schüchtern, ihr werdet in den nächsten Monaten viel Zeit miteinander verbringen und euch hoffentlich gut verstehen. Ich würde es sehr schätzen, wenn ihr euch schon bald in tiefer Freundschaft begegnen würdet.«

Es dauert nicht lange, und Gawain und ich sind tatsächlich wie alte Freunde. Was er mir beibringen soll, hat mich allerdings sehr überrascht, nämlich das Kämpfen mit einem Schwert. Oft frage ich ihn, ob er wisse, warum ich dies lernen soll, aber er behauptet immer wieder, er habe keine Ahnung. Ich glaube ihm kein Wort und beschimpfe ihn dann meist unflätig, was aber auch nichts hilft. Gawain hat zwei Holzschwerter mitgebracht, mit denen wir jeden zweiten Tag mehrere Stunden lang üben. An diesen Tagen werde ich vom Unterricht für Weben und Spinnen freigestellt. Vivian meint, das hätte sowieso keinen Sinn bei mir. Ha, was für ein Glück. Auch in Avalon übe ich, sooft ich kann, mit dem kleinen Holzschwert und hüpfe damit zwischen den Apfelbäumen umher.

Einige Monate später zeigt mir Gawain eine Überraschung, die er für mich vorbereitet hat: ein Übungsgelände im Wald. Hier soll ich nun lernen, mit dem Pferd hindurchzugaloppieren und einige Dinge, die von den Bäumen hängen, mit dem Schwert zu treffen. Ich bin begeistert, mein altes Pony weniger. Obwohl Gawain erst siebzehn Jahre alt ist, habe ich das Gefühl, er beherrscht den Schwertkampf perfekt. Er erzählt mir, dass er seine Ausbildung mit vier Jahren begonnen habe und es heute nur wenige Männer gäbe, die sich mit ihm messen könnten.

Nach der ersten Woche im Übungsgelände erkläre ich Gawain, dass ich mich weigere, mein armes altes Pony weiter zu quälen, und so gibt er mir zum Üben sein Streitross.

Oje, was für ein Unterschied! Zuerst habe ich den Eindruck, auf einem Haus zu sitzen, so hoch kommt es mir vor. Doch das Reiten auf dem feurigen dunkelbraunen Wallach macht mir bald viel Spaß. Und so lerne ich nebenbei auch noch den Umgang mit einem ausgebildeten Streitross und bin sehr beeindruckt, was dies alles kann. Es legt sich zum Beispiel völlig regungslos mit dem Reiter ins hohe Gras, um sich zu verstecken.

Der Nachteil an dieser Ausbildung ist, dass ich meine Zeit mehr und mehr mit Gawain in den Wäldern verbringe und in Avalon ein wenig zur Außenseiterin werde, doch das stört mich nicht weiter. Jene Mädchen, die hinter meinem Rücken über mich sprechen, werden ohnehin nicht in Avalon bleiben. Das ist die Art Mädchen, die vom Heiraten träumen und von einem stattlichen jungen Mann, der sie entführt. In meinem Herzen kann ich solche Wünsche nicht finden – aber sicher kommt das noch, denke ich.

Die Wochen und Monate vergehen schnell, die Julnacht steht vor der Tür. Vom Üben mit dem Schwert in eisiger Kälte bin ich sehr krank geworden. Meine Lungen brennen und ich glühe am ganzen Körper. Immer wieder habe ich Visionen im Fieber. Vivian sitzt vier Nächte und Tage an meinem Bett, legt mir eiskalte Umschläge um die Beine und sorgt dafür, dass ich genügend Tee und kräftige Brühe zu mir nehme.

Heute ist ein guter Tag, denn ich fühle mich besser, Vivian kommt an mein Bett und legt ihre kühle Hand auf meine Stirn. »Das Fieber ist weg«, sagt sie lächelnd. »Dennoch, einen Tag bleibst du noch liegen. Du wirst alles essen und trinken, was du heute gebracht bekommst, dann darfst du morgen wieder aufstehen. Und bitte lass dir dann heißes Wasser machen und wasch dich ordentlich!« Sie rümpft unmissverständlich die Nase und ich lächle sie verlegen an.

»Du hattest im Fieber viele Visionen, dein zweites Gesicht zeigte sich mir so sehr deutlich, liebe Morgaine. Nun, es wird Zeit, dass wir dich ausbilden, damit du das zweite Gesicht zu beherrschen lernst und es einsetzen kannst, wenn es vonnöten ist. In zwei Tagen feiern wir das Fest der Julnacht. Um dir eine Freude zu machen, haben wir Gawain eingeladen, mit uns zu feiern. Er hat sehr oft nach dir gefragt, allerdings haben wir einem Besuch an deinem Krankenbett nicht zugestimmt. Nach der Julnacht wird eine besondere Ausbildung beginnen, und du wirst in dieser Zeit keinen Schwertkampfunterricht nehmen. Wir werden Gawain für drei Monate entlassen, er kann nach Hause reisen. Keine Angst, er wird wiederkommen, um deinen Kampf- und Reitunterricht fortzusetzen.«

Ich hole tief Luft, um zu protestieren, doch Vivian hebt die Hand – und so schweige ich.

»Mein liebes Kind, diese Ausbildung ist sehr wichtig für dich. Wer mit solch einer Gabe gesegnet wird, muss lernen, sie zu beherrschen, sonst kann sie dich sehr verwirren oder dich sogar krank machen. Du bist nicht nur etwas sensitiv oder hast nur eine ausgeprägte Intuition, nein, du hast das zweite Gesicht. Du musst verstehen, was das bedeutet und welche Macht darin liegt. Freue dich.« Vivian streichelt sanft über meine Wange, steht auf und geht.

Im Laufe des Tages werde ich gemästet. Alle Stunde kommt jemand anderes mit Leckereien an mein Bett und plaudert etwas mit mir. So ist es ein recht kurzweiliger Tag. Als die Sonne untergeht bin ich sehr müde und schlafe so tief und ruhig wie schon seit Wochen nicht mehr.

Am nächsten Morgen öffne ich mit dem Sonnenaufgang meine Augen, ich fühle mich glücklich und zufrieden. Mit meiner Decke um die Schultern geschlungen schleiche ich in die große Küche, hier ist es schön warm. Die Küche hat zwei Feuerstellen und über beiden hängen große Kessel. Es ist noch Glut unter der Asche, und so lege ich schnell einige Holzscheite hinein und puste. Oje, ich fühle mich doch noch schwach. Im nächsten Moment züngeln die Flammen und das Feuer brennt. Versonnen schaue ich in die Flammen, als ich plötzlich zusammenzucke: Eine Hand legt sich auf meine Schulter – es ist Marla, die älteste der Hohepriesterinnen.

Ihre Augen blitzen belustigt auf. Sie hat schneeweißes, glattes Haar, das ihr bis über die Taille reicht und in das immer etwas aus der Natur hineingeflochten ist. Heute hat sie aus ihrem Deckhaar mehrere Zöpfe geflochten, und in jeden Zopf ist eine lange Efeuranke kunstvoll hineingearbeitet. Marla ist sehr alt, ihr Gesicht ist voller Falten und von der Sonne gebräunt. Sie ist ein Kind des Waldes und kennt jede Pflanze und alle Heilkräfte der Natur.

»Morgaine, meine Schöne«, sagt sie mit zarter Stimme, »Ich freue mich, dass du wieder wohlauf bist. Ich werde dir beim Waschen helfen, komm, setz dich und trinke einen Tee mit mir, bis das Wasser heiß genug ist.«

Wir setzen uns an den großen, alten Holztisch, und als ich Marla in die Augen schaue, ist er auf einmal wieder da, der Schwindel. Marla wird vor meinen Augen wie durchsichtig und ein leuchtendes, helles Licht strömt von ihr aus. Es scheint, als wolle sie sich in Licht auflösen, denn feine, leuchtende, hellblaue Energiefäden fließen von ihr weg. Ich bekomme Angst, schlage die Hände vors Gesicht und atme hektisch ein und aus. »Es ist schon gut, Morgaine, nimm die Hände vom Gesicht und schau mich an.« Ich tue, was sie mir sagt.

»Du siehst hier einen Menschen vor dir, dessen Lebenszeit abläuft, aber das ist kein Grund, sich zu fürchten, es ist ein Grund zum Feiern. Der Tod ist das Ziel und der Höhepunkt des Lebens. Meine Zeit wurde bereits ein wenig verlängert, denn du warst lange krank, und ich habe noch eine letzte Aufgabe – und diese Aufgabe betrifft dich. Deine Tante Vivian wird dich in den nächsten Wochen persönlich unterweisen und danach wirst du eine große Einweihung erhalten. Mein geliebtes Kind, ich freue mich sehr für dich, aber ich freue mich auch für Avalon. Lange Zeit hat es kein Mädchen mehr gegeben, bei der die Gabe des zweiten Gesichts so stark ausgeprägt war wie bei dir.« Sie trinkt einen Schluck Tee. Marla lächelt glücklich und ich erwidere dieses Lächeln.

Unsere Zweisamkeit wird jäh unterbrochen, als einige der jungen Priesterinnen kichernd und sich zankend in die Küche gerannt kommen. Sie begrüßen uns, nehmen sich Tee und Gebäck und setzen sich an den zweiten großen Holztisch. Marla holt einen Holztrog aus der Ecke und bindet mir das dichte Haar nach oben. Ich lasse die Decke und das Nachtgewand fallen, stelle mich frierend in den Trog und Marla übergießt mich mit warmem Wasser. Schnell wird mein Körper mit Ziegenmilchseife eingeseift und wieder mit einem Schwall Wasser abgespült. Sie hüllt mich in ein großes Tuch und schickt mich fort, damit ich mich anziehe, um mir anschließend noch die Haare waschen zu können. Ich hasse es, die Haare zu waschen, und zu kämmen ist für mich eine Tortur bei meinen dicken, langen Locken. Mittlerweile herrscht ein reges Treiben in der Küche. Die Frauen lachen und freuen sich auf das bevorstehende Julfest. Marla gibt mir ein Zeichen, mich vor den Trog zu knien. Gehorsam beuge ich meinen Kopf darüber, lasse mir von ihr die Haare waschen und anschließend auch kämmen. Ein wohliges Gefühl breitet sich in mir aus, ich fühle mich so verwöhnt. Marla ist zärtlich und achtet darauf, dass es nicht allzu sehr ziept.

»Du bleibst hier am Feuer sitzen, bis deine Haare trocken sind, verstanden?«, sagt sie bestimmend, drückt mir einen weitere Tasse mit heißem Tee in die Hand und geht zu den anderen Frauen. Sie fangen an, Brot und Gebäck für den morgigen Tag zu backen. Eine deftige Suppe wird auch vorbereitet. Es gibt immer viel zu tun, wenn in Avalon ein Fest bevorsteht, denn es kommen immer einige Gäste, Freunde aus dem Dorf oder auch Menschen von weit her, die Rat bei den Hohepriesterinnen suchen oder um Heilung bitten. Zum Julfest steht das Haus jedem offen, jeder ist willkommen.

Die zwölf Nächte nach dem Julfest sind heilige Nächte, in denen es den Menschen möglich ist, etwas über ihre Zukunft zu erfahren. Diese zwölf Nächte unterliegen nicht der Zeit, so wie wir sie kennen. In diesen Nächten hat die Zeit über nichts und niemanden Macht. Ich liebe sie, ich kann es nicht erklären, aber es ist so, als wäre ich ein Kind der sogenannten Rauhnächte und als würde ich in diesen Tagen von einer unsichtbaren Mutter besonders geliebt werden. Obwohl diese Zeit immer kalt und neblig ist, fühle ich Wärme und liebende Geborgenheit in meinem Herzen. Schon als ich noch ganz klein war, und die Winterstürme in Tintagel die See aufpeitschten, konnte mich nichts im Zimmer halten. Es war, als würde die liebende Stimme einer unsichtbaren Mutter meinen Namen rufen und ein Licht in meinem Herzen entzünden.

Heute vergeht der Tag nur schleppend, meine Haare werden und werden nicht trocken. Ungeduldig rücke ich noch näher ans Feuer, bis es unangenehm riecht, weil ich mir eine dicke Strähne angesengt habe. Leider bin ich noch schwach, das merke ich, als ich einige Male in der Küche helfe und mich schwer atmend immer wieder hinsetzen muss. Nach einer Tasse Suppe am frühen Abend falle ich müde ins Bett und sinke sofort in einen tiefen, langen und traumlosen Schlaf.

Noch vor Sonnenaufgang bin ich wach, heute ist Julfest! Oh, wie schön, denke ich. Freudig schlüpfe ich aus dem Zimmer und husche in die Küche, in der es nach allerlei Leckereien duftet. Ich schüre das Feuer erneut und mache Tee. In meinen langen Capemantel gehüllt gehe ich hinaus. Es hat ein wenig geschneit, die Welt sieht aus wie mit Mehl bestäubt. Den Zauber von Avalon in meinem Herzen spürend, gehe ich zu den Apfelbäumen, lege meine Stirn an einen der alten Bäume und begrüße sie.

»Ich habe euch vermisst«, flüstere ich leise, »ich war sehr krank, doch jetzt fühle ich mich wie neu. Habt ihr mich auch vermisst?«

Zwei trockene Blätter fallen vom Baum in die hauchdünne Schneeschicht. Ich muss lächeln – ja, sie haben mich vermisst. Selig schlinge ich meine Arme um den Stamm des Apfelbaumes und flüstere leise in die Stille der aufgehenden Sonne hinein: »Avalon, ich liebe dich.«

Der Vormittag vergeht schnell, es gibt noch allerhand zu tun. In der Mittagszeit treffen die ersten Gäste ein, auch Gawain. Als ich ihn sehe, laufe ich schnell auf ihn zu, er hebt mich hoch und wirbelt mich in der Luft herum.

»Kind«, sagt er, »ich hab mir wirklich Sorgen gemacht! Hm … na ja, scheint noch alles dran zu sein an dir. Aber schrecklich mager bist du geworden, warst ja vorher schon dürr, aber jetzt – bekommst du hier nichts zu essen?«

»Gawain, lass mich runter«, erwidere ich ärgerlich »Hast du schon mal was von Höflichkeit oder Charme gehört?«

»Nö«, lacht er.

Ich boxe ihn in die Rippen, er lässt sich umfallen und jammert schrecklich, sodass ich lachen muss und alle sich nach uns umdrehen.

Gawain und mich verbindet eine tiefe Freundschaft. Er ist so stark und seine Hände sind so groß, dass ich immer behaupte, ich könnte darin schlafen, was natürlich nur ein Spaß ist.

Der Tag ist einfach wunderbar, und auch der Abend ist so schön. Es wird gesungen und getanzt, alles ist mit Efeu und Misteln geschmückt. In dieser Nacht wird die Wiedergeburt des Lichtes, der Sonne, gefeiert, denn die Tage werden ab jetzt wieder länger. Zu später Stunde spricht die Mondgöttin durch eine der Hohepriesterinnen zu uns. Dies ist der Höhepunkt aller Feste, die auf Avalon gefeiert werden.

Heute Nacht spricht die Mondgöttin durch Marla. Alles wird still, Marla steht mitten unter uns. Jeder kann es spüren, wenn die Mondgöttin ihre Energie sendet. Ich spüre wieder den Schwindel und sehe Marla, wie sie durchsichtig wird und sich ein heller Lichtschein um sie legt. Bläuliche Energie fließt wie in dünnen Fäden von ihr weg ins Universum hinein. Mein Blick ist starr und ich kann mich nicht bewegen. Sie hebt ihre Hände und zeigt mir deren Innenseite, von wo ein großes Leuchten ausgeht, so hell, dass es mir in den Augen schmerzt. Sie nimmt die Hände wieder herunter, lächelt mir zu, neigt leicht ihren Kopf zur Seite und sagt:

»Ich, die Göttin des Mondes, grüße euch, meine Schwestern, und ich grüße euch, Freunde von Avalon. Das Leben in jedem von euch ist heilig und nur geliehen. In euch allen liegt das Erbe der großen Göttin und des großen Gottes – du bist das Kind, der Sohn oder die Tochter. In euch hat die Quelle die Hoffnung gelegt, denn der Sohn oder die Tochter sind die Hoffnung. Ihr seid die Träger von Mut, ihr seid die Träger der Zukunft von allem, was kommt. Und doch werden Jahr für Jahr in den Rauhnächten nach dem Julfest die Schicksalsfäden neu verwoben. Heute Nacht ist alles offen, heute Nacht schenke ich, die Mondgöttin, dir eine Zeit, die wie ein unbeschriebenes Blatt ist. Betet zwölf Nächte lang und bittet die Schicksalsweberinnen um Gnade, führt rituelle Waschungen durch mit dem heiligen Wasser des Sees von Avalon. Jetzt beginnt das Schicksalsrad deiner Zukunft erneut sich zu drehen. Und so lege die rechte Hand auf dein Herz, und lasse dich fallen in den Raum deines Herzens. Ich, die Mondgöttin, frage dich: Was willst du?«

Stille überall.

Einige Sekunden später spricht Marla weiter.

»Was willst du? Sprich es aus und sei dir gewiss, die Schicksalsweberinnen werden dich erhören, also sprich aus dem innersten Kern deines Herzens heraus. Und so frage ich dich erneut: – Was willst du?«

Energie breitet sich in meinem Herzen aus, die wie eine Druckwelle von innen nach außen fließt. Dieser Druck presst Worte oder, besser gesagt, Laute aus mir heraus. Als wäre ich in tiefer Trance, kommen plötzlich Worte – oder besser gesagt Laute – aus meinem Mund: »Dddd … Dddrrrrr … Draaa … che.«

Ich muss heftig husten. Erschrocken von meinen eigenen Worten bin ich sofort wieder im Hier und Jetzt. Keiner hat mich gehört, alle sind tief berührt von ihren eigenen Wünschen und heimlichen Träumen, nur Marla schaut in meine Richtung. Tief dringt ihr Blick in meine Seele vor, sodass es mir äußerst unbehaglich wird.