Motus! - Jean Amila - E-Book

Motus! E-Book

Jean Amila

4,9

  • Herausgeber: Conte Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

»Ich ging los, immer am Ufer entlang. Wieder verspürte ich dieses seltsame Kribbeln, das Gefühl, das einem vor dem Fallschirmspringen in den Magen fährt. Oder, für die Feinfühligen unter uns, die von Vorahnungen besessen sind: Ich glaube, dass genau in diesem Moment bei mir eine Alarmglocke schrillte, und zwar nicht etwa wegen Coutres Knarre, ganz im Gegenteil. Das gehörte zur Bullenkomödie, ein typisches Krimiphänomen, das gab es im wirklichen Leben nicht.. nein, es war etwas anderes, das noch im Verborgenen lag: Etwas Dumpfes, das irgendwo wartete, etwas Dunkles, wie ein lauerndes Tier … « Unter den Schleusenarbeitern und den Schiffern am Kanal herrscht rauer Umgang. Aber Dédé kann nicht glauben, dass sein Chef Coutre mit drei Schüssen kaltblütig den Kapitän der Hématite erledigt haben soll. Schnell ist Dédé selbst verstrickt. Die Schlinge zieht sich zu, als ein Streit mit seinem Schwager schrecklich endet. »Man fragt sich, ob der Qualität und der Zeitlosigkeit seiner Texte, warum Amila so lange Zeit in Deutschland nicht lieferbar war.« literature.de Aus dem Französischen von Helm S. Germer

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Seitenzahl: 221

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Inhalt
Cover
Jean Amila - Motus!
Die Leuchtgaslampen …
Jetzt war ein Durchgang frei.
Impressum
Lesetipps

Die Leuchtgaslampen leuchten in der Abenddämmerung blutrot; das ist allgemein bekannt. Nach Einbruch der Nacht aber verbreiten sie einen gelben Lichtschimmer über den Kanal: Magie des Alltags.

Wenn man dann die Schleuse überquert, um etwas bei Meunier trinken zu gehen, verfärbt sich die Haut leichenhaft grau. Die Augen sitzen tief in ihren Höhlen, alle Farbe und alles Leben scheint aus ihnen entwichen; selbst die temperamentvollste Schifferin ist nun nicht mehr als ein wandelndes Skelett.

An diesem Abend herrschte dichter Nebel. Es war kurz vor neun: Ich trat meine Nachtschicht an.

»Ganz schön was los«, hatte mir der junge Coutre gesagt, der jetzt seine Schicht hinter sich hatte. »Wir haben seit drei Stunden einen Kurzschluss an der ›Kleinen‹. Mein Vater hat die Winden aufstellen lassen. Du bist reif für eine Nacht an der Kurbel!«

Es gab zwei Schleusenkammern: Die große mit hundertfünfzig Metern und die kleine mit sechzig. Im Prinzip funktionierten die Schleusentore und die Schleusen elektrisch, aber ein Drittel der Zeit waren sie gestört und man griff auf die Winden zurück.

Der alte Coutre war Schleusenmeister. Er verachtete die verantwortlichen Ingenieure aus vollem Herzen: Das »Kilowatt« und ein gestandenes »Mannsbild« waren für ihn als Maß absolut inkompatibel.

»Verdammt noch mal, fahrt doch mal so zehn Millionen Kilowatt hier auf und dann zeigt mir, wo da der Hammer hängt? Na, was meint ihr?«

Entweder man hat etwas auf dem Kasten oder nicht, war der Standpunkt des alten Coutre. Nach ihm hatten es die Ingenieure nicht; das ist alles! Deshalb wurde er eher schlecht angesehen von diesen halben Portionen, die ständig versuchten, ihm eins auszuwischen. Da sie nie etwas Schlechtes über seine Arbeit sagen konnten, griffen sie ihn hintenherum an und beschuldigten ihn der Sabotage.

»Gebt doch zu, dass er staatsfeindliche Propaganda macht«, kamen sie uns manchmal auffordernd fragen, mit dem Glas in der Hand, als wären sie Freunde.

Wir waren natürlich alle auf Coutres Seite, allein aus Opposition gegenüber den Büromenschen.

»Dazu müsste man erstmal wissen, ob es denn staatsfeindlich ist, sich gewerkschaftlich zu organisieren!«

»Natürlich nicht!«, sagten sie. »Was den Beruf betrifft, muss man euch natürlich recht geben, Jungs, aber die Politik bleibt strikt draußen, klar? Findet ihr nicht, dass Coutre auch ein wenig Politik macht – da nicht ganz unparteiisch ist? Was?«

All das ging mir so an diesem Abend durch den Kopf, während ich meine müden Knochen auf der Mole des Kanals entlang schleppte. In ähnlichen Fällen, mit ein bisschen Abstand, spielt man dann den Cleveren und sagt: »Ich hatte da schon so eine Vorahnung.« Aber nein, überhaupt nicht! Ich hatte überhaupt keine Vorahnung! Ich ärgerte mich nur etwas darüber, die ganze Nacht über kurbeln zu müssen.

Hier hat noch keiner einen Elektriker erlebt, der sich noch um neun Uhr abends in Bewegung setzt. Es war nicht damit zu rechnen, dass die kleine Schleuse vor dem kommenden Tag wieder instand gesetzt würde. Die Kraft war also die alles entscheidende Frage; aber nicht die Elektrokraft, sondern die Muskelkraft.

Gut! Ich treffe also auf den alten Coutre, der mir sagt: »Also, da bist du ja, Dédé!«

Unsere nächtlichen Mienen leuchteten im Schein künstlichen Lichts; wie eine Leiche, die zur anderen spricht. Wir waren es gewohnt, und so erschien es uns nicht ganz so brutal. Auch beanspruchte die Arbeit sofort unsere ganze Aufmerksamkeit. Keine Zeit, um Hamlet zu spielen.

Tuuuut! heulte plötzlich eine Sirene auf: Ein Frachtkahn kam gerade den Fluss hoch und der Kapitän verlor im Nebel so langsam die Geduld. Und die anderen standen ihm in nichts nach: Es hupte, klingelte und heulte aus allen Rohren auf dem Kanal.

»Schnauze!«, schrie Coutre.

Er hätte genauso gut x Megaphone haben können, was nichts geändert hätte. Das Gute an dem Nebelhorn ist nicht die Lautstärke, sondern die besonders günstige Wellenlänge, die alles, was ihr in die Quere kommt, übertönt; dagegen kommt einfach kein anderes Geräusch an. Man hat nur die Wahl, es hinzunehmen oder nicht. Wenn ja, bringt es nicht nur die kleinen Gehörknöchelchen zum Vibrieren, sondern den ganzen Körper. Man nimmt es sozusagen in sich auf und schenkt ihm schließlich keine Beachtung mehr. Widersetzt man sich ihm aber, nun ja, dann sollte man sich wohl lieber einen anderen Job suchen, da man sonst nach drei Nächten verrückt wird.

Coutre zeigte zum Ende der Mole: Ich solle zur Hilfswinde gehen und sie in Gang setzen. Er ging in sein Schleusenwärterhäuschen und schlug drei Mal mit der Faust auf STOP: Das rote Signal da hinten flussabwärts würde den aufwärts kommenden Frachtern schon klar und deutlich machen, dass der Schleusenmeister hier das Sagen hat.

»Grüß dich, André!«, sagte Soulas, während er sich in die Hände spuckte. »Dann kanns ja losgehen! Bereit für eine Nacht an den Kurbeln?«

Er war schon an der Winde und hatte die Leine auf den Steg geworfen.

Den musste ich nun überqueren, um an meine Winde auf der anderen Seite zu gelangen. Ich war schlecht gelaunt. Und als ein Frachtkahn seinen Scheinwerfer auf mich richtete, blieb ich mitten auf dem Steg stehen und beschimpfte ihn. Da ließ er auch schon seine Sirene aufheulen, sodass ich mit meinem Geschrei so viel Aufmerksamkeit erregte, wie ein Mäusepiepsen inmitten einer Elefantenherde.

Die Betätigung der Winde war im Prinzip einfach. Wir befestigten das Stahlseil nahe der Torflügelverbindung und dann hieß es einfach nur kurbeln. Die Winde war passend untersetzt und forderte nur starke Arme. Das schwere Schleusentor öffnete sich langsam nach innen. Anfangs ging noch alles gut. Die Winde gab ihr vertrautes Knarren von sich, ließ ihr metallenes Lied durch die Nacht erklingen, ein klein wenig schneller, als die von Soulas im Hintergrund. Die Schleusentore näherten sich langsam und ohne Zwischenfälle dem Ufer: Schon waren die nahenden Dieselmotoren der Frachtkähne zu hören.

Doch da plötzlich: ein Widerstand an der Winde, anfangs leicht, dann stärker, bald schon unüberwindbar.

Es tat einen kleinen, harten Schlag: Ein »Fremdkörper« steckte zwischen Schleusentor und Schleusenmauer, der unter dem fordernden Heulen der Sirenen mithilfe eines Bootshakens entfernt werden musste.

In drei Berufsjahren hatte ich den Fall schon mehrere Male erlebt: Balken, die in der Schleusenkammer trieben, Kanister, Hühnerkäfige hatten sich eingeklemmt. Ich war auf alles gefasst, außer auf eine prächtige Leiche am Ende meines Hakens. Eine echte, schwere, noch nicht aufgequollene Leiche, nicht zerfleddert, ganz frisch.

Soulas stand auf der anderen Seite und gestikulierte wild herum. Der Spinner von der Véda blendete mich weiterhin mit seinem Scheinwerfer, betäubte meine Ohren mit seiner Sirene. Ich gab ihm ein Zeichen, damit er endlich begriff, dass er den Scheinwerfer absenken solle. Der grelle Lichtstrahl ließ schließlich von mir ab und begann über die Wasseroberfläche zu wandern.

Nun sah ich, dass es ein Mann war; höchstwahrscheinlich ein Schiffer. Er war tot, mausetot: Sein Kopf war unter Wasser; von einem seiner Arme, wahrscheinlich durch eine Schiffsschraube von seinem Körper abgetrennt, war nur noch ein blutgetränkter Stumpf übrig, der in einem zerfetzten Ärmel steckte.

Der Kapitän der Véda schaltete abrupt die Sirene aus und ließ den Motor verstummen. Ich hörte, wie Soulas mir zubrüllte, ich solle mich nicht bewegen. Dann sah ich ihn auch schon auf der Mole herhumpeln. Er zog sein Hinkebein hinter sich her und ging in Richtung Schleusenwärterhäuschen, zum alten Coutre, der sich der Verantwortung stellen musste, weil er der Chef war.

Alles, was ich tun konnte, war, die am anderen Ende meines Bootshakens hängende Leiche festzuhalten. Außer Frage, sie die drei Meter hohe, steile Ufermauer hochzuziehen.

»Wer ist es?«, fragte mich der Kapitän der Véda vom Bug seines Kahns.

Mich beschlich ein mulmiges Gefühl mit diesem Ding da am Ende meiner Stange. Ich forderte ihn auf, selbst nachsehen zu kommen. Er rief: »Ich komme!«, und ich hörte, wie er sein Beiboot zu Wasser ließ. Da kam Coutre auch schon in Begleitung von zwei anderen Kollegen auf die Mole.

»Wer ist es?«, rief er mir fragend über die Schleuse hinweg zu.

So langsam wurden alle etwas nervös. Woher sollte ich das denn wissen?

Das Beiboot der Véda erreichte in diesem Moment den Bootshaken. Zwei Männer befanden sich an Bord; die beiden Brüder von der Véda, verschlossene, stämmige Kerle, die wir bei Meunier schon einmal bei einer Prügelei gesehen hatten, als sie ein Glas zu viel getrunken hatten.

»Ihr kommt genau richtig!«, empfing sie der alte Coutre. »Schaut doch mal, ob ihr erkennen könnt, wer das ist!«

Sie fuhren näher hin. Einer der Brüder bückte sich nun vor und drehte den Toten in den gelben Lichtschein.

»Hab ihn schon mal irgendwo gesehen«, meinte er. »Paulot, schau ihn dir mal an!«

Paulot ließ das Ruder fallen, ging zum Bug des Beibootes und bückte sich seinerseits.

»Schon mal gesehen!«, meinte auch er. »Isn Typ von hier!«

Jetzt sah ich sein Gesicht, das auch nicht fahler war als die anderen im Schein des künstlichen Lichts, jedoch den verzerrten Ausdruck eines Gefolterten hatte. Auch mir kam es irgendwie so vor, als ob ich ihn schon einmal gesehen hätte: Möglicherweise hatte ich schon einmal mit dem Typ da angestoßen!

»Hör mal!«, rief Soulas vom anderen Ufer rüber. »Sieht so aus wie der von der Hématite«.

»Die Hématite!«, sagte Coutre seinerseits. »Ja, genau, das is er, Mensch!«

Da erkannte auch ich ihn; genau, das stimmte hundertprozentig: Der Kapitän der Hématite.

Dann trat Stille ein. Wir wussten nicht mehr, was tun.

»Hm, unglaublich!«, sagte jemand.

»Wir müssen ihn in den Nachrichtenraum bringen«, befahl Coutre. «Nehmt ihn in euer Boot, ihr zwei!«

Für einen ganz normalen Ertrunkenen hätten die Brüder von der Véda es sicherlich nicht gemacht; aber ein Kerl der Zunft war ihnen nicht einfach so gleichgültig. Sie zogen ihn an Bord und stellten fest, dass es ihn übel erwischt hatte.

Paulot machte sich wieder ans Rudern, während sein Bruder die Leiche vorne auf das Dollbord legte. Der Armstumpf hatte etwas Erschreckendes in dem gelben Licht. Vermutlich hing noch ein Stück von ihm in einem Schleusentor; es sei denn, der Arm wäre vollständig von einer Schiffsschraube zerstückelt worden.

Na ja, das war nichts Besonderes! Wieder so ein Besoffener, der ins Wasser gefallen ist: Bestenfalls, oder schlechtestenfalls, eine kleine Abrechnung eben. Vorläufig war eigentlich nur wichtig, dass die Véda die ankommenden Frachtkähne solange blockieren würde, wie wir benötigten, den Leichnam zum Nachrichtenraum zu bringen.

Ich war auf der Uferseite, wo Meuniers Kneipe lag. Ich dachte, das Beste, was man jetzt tun könne, wäre sich einen hinter die Binde zu kippen und die Geschichte allen zu erzählen.

Man ließ mich gegen Mitternacht rufen. Ich war ein Privilegierter, ich war Zeuge; ich war derjenige, der die Leiche entdeckt hatte.

In der Spedition traf ich auf den hässlichen Schmerbauch Fumet in Person, diesen alten Volltrottel. Hundertzehn Kilo schwabbeliges Fett auf einem Hocker und winzige Schweinsäuglein: Damit der Brigadier der Gendarmerie bereit war, seine übergewichtigen Fettzellen mitten in der Nacht von der Stelle zu bewegen, brauchte es schon etwas mehr als einen Ertrunkenen, soviel war mir sofort klar.

Ich war ganz allein mit ihm in dem großen Zimmer, das als Schiffspostamt dient. Ich teilte ihm mit, dass es ungefähr neun Uhr gewesen sei, als ich die Leiche entdeckt hätte und dass ich glaubte, dass es sich dabei um den Kapitän der Hématite handle.

»Soweit«, sagte er, »ist das exakt. Es ist tatsächlich Hubert, der Kapitän der Hématite. Los, Hosen runter! Wie erklärst du dir, dass Hubert, der seinen Kahn gegen vier Uhr nachmittags im Kanal flussaufwärts vertäut hat, um neun Uhr als Leiche innerhalb der Schleuse auftaucht, und das flussabwärts? Hä!«

Ich gab zurück, dass ich, wenn ich über ein solches Talent verfügte, Detektiv geworden wäre statt Kurbeldreher.

»Aber zählen kannst du?«

Ich hatte nicht die Absicht, mich von diesem Riesenschwabbel duzen zu lassen.

»Kannst dus denn?«, gab ich zurück.

»Zwischen vier Uhr nachmittags und neun Uhr abends liegen immerhin fünf Stunden. Das ist eine Menge Zeit! Mein kleiner Finger hat mir verraten, dass besagter Hubert sich gegen sieben Uhr abends noch gemütlich bei Meunier volllaufen ließ – kannst du mir folgen?«

»Einfach genial!«, antwortete ich. »Hubert ist demnach zwischen sieben und neun ins Wasser gefallen.«

»Gefallen? – Wieso gefallen?«

Tja, mein kleiner Finger hatte mir ebenfalls einiges geflüstert; zum Beispiel, dass der Kapitän der Hématite sich mit Coutre Senior gehörig in die Wolle gekriegt hatte. Das wussten alle bei Meunier. Die beiden Männer waren dann mit einigen Minuten Abstand hinausgegangen.

»Glaubst du nicht vielmehr, dass ihn jemand gestoßen hat? Nein? – Verstehst du, worauf ich hinauswill?«

Ich sagte ihm, dass kaum ein Tag verging, an dem sich die Leute von der Schleuse nicht in die Haare bekamen; das war eher ein Beweis dafür, dass sie noch ganz richtig im Oberstübchen waren.

»Noch ganz richtig im Oberstübchen?«, fragte er entrüs­tet. »Du hast vielleicht Nerven! Mischst du da nicht vielleicht selbst mit, so ab und an? – Ihr Schleusenleute haltet doch zusammen wie Pech und Schwefel! Aber ich garantiere dir, um Fumet zu täuschen, braucht es ein ganzes Dutzend von deiner Sorte!«

Ich konnte es mir nicht verkneifen, ihm einen ironischen Blick zuzuwerfen, worauf er sich erhob, auf einmal wütend wie eine Brummhummel:

»Ich rate dir dringend, mach dich nicht über mich lustig, Kleiner!«

Ich bin nicht gerade ein Absolvent der Militärakademie, aber das Schicksal wollte es, dass ich mit dem Ton und der Ausdrucksweise, die bei dieser Art von Dummköpfen Eindruck machen, gut genug vertraut war.

»Herr Fumet«, erwiderte ich, »mein Name ist André Lenoir: Sergeant André Lenoir, ausgezeichnet und drei Mal bei der Armee ehrenvoll erwähnt bei Kampfhandlungen im Fernen Osten. Ich wäre Ihnen unendlich dankbar, wenn Sie sich eines angemessenen Tones bedienten!«

Ich hatte mich nicht getäuscht, dieser Gendarm war die Sorte Mensch, die vor jedem verchromten Auto ihr Käppi zog, ohne zu wissen, ob überhaupt einer drinsaß. Er feixte, um sein Gesicht zu wahren, und fragte, ob ich wirklich glaubte, ihm damit imponieren zu können.

»Was tust du dann hier, wenn du so dekorativ bist?«

»Das ist allein meine Angelegenheit, Herr Fumet. Stellen Sie mir höfliche und präzise Fragen, dann werde ich Ihnen höflich und präzise antworten.«

»Höflich, soso!«

Er bedachte mich mit ungläubigen Blicken, nun nicht mehr so sicher, dass er mich beeindrucken konnte. Doch er wollte einen eindrucksvollen Treffer landen und wirkte plötzlich sehr entschieden.

»Schau doch mal!«

Er schob mich ins benachbarte Zimmer, wo sich die Leiche befand. Ein Gendarm in Uniform hockte schlaff auf dem Tisch, seine Arme baumelten zwischen den Knien. Von der Decke hing eine schwache Glühbirne und tauchte das Zimmer in ein trauriges, rötliches Licht.

Die Leiche lag auf drei, vier Jutesäcken auf dem Kachelboden. Man hatte sie nicht ausgezogen; sie sah noch ungefähr so aus, wie ich sie gesehen hatte, als sie aus dem Wasser gezogen worden war. Die Säcke sahen aus wie vollgesogene Wischlappen, von der Pfütze schmutzigen Wassers, die sich auf den Fliesen bildete, lief ein schmales Rinnsal ab, das man übersteigen musste.

»Schau mal!«, befahl mir Fumet. »Vielleicht bist du ja dekoriert und hast im Krieg Tote gesehen, aber den Quatsch mit dem Oberstübchen kaufe ich dir nicht ab!«

Ich breitete gelassen die Arme aus, um ihm zu zeigen, dass mich seine Meinung eher kalt ließ.

»Jaja«, fuhr er fort, »man hat keinen Respekt mehr vor den Toten. Ich will Ihnen etwas sagen, Sergeant, ja genau, Sie dreifach bei der Armee lobend erwähnter Sergeant. – Übrigens würde ich gelegentlich wirklich gern einen Blick in dein Soldbuch werfen; reine Formsache natürlich!«

»Das habe ich nicht bei mir.«

»Reine Formsache. – So, eines will ich Ihnen sagen, Sergeant. Wenn eine Generation keinen Respekt mehr vor den Toten hat, dann ist das wie ein allgemeiner Werteverfall. Denken Sie mal darüber nach, Herr dreifach dekorierter Sergeant!«

Er sah so zufrieden aus, als hätte er sich als Mann von Welt erwiesen. In erster Linie wollte er damit wohl vor seinem Untergebenen glänzen.

»Eine Frage«, sagte er. »Sie sind seit drei Jahren hier, nicht wahr? Kennen Sie Coutre?«

»Senior oder Junior?«

»Alle beide. – Ich habe mir sagen lassen, dass sie ziemlich cholerisch veranlagt sind. Stimmt das?«

»Das ist korrekt! Sie haben eine große Klappe, und die Faust sitzt ihnen recht locker. – Einen betrunkenen Mann ins Wasser zu stoßen, zeugt jedoch eher von Arglist, was genau das Gegenteil wäre.«

»Bravo!«, antwortete Fumet mit ironischem Unterton. »Dekoriert und Psychologe gleich noch dazu! Genau das, was man braucht, um eine Kurbel zu drehen! Ich würde zu gerne Ihre Lebensgeschichte hören, junger Mann. Ich bin überzeugt, dass dann einige Ungereimtheiten ans Licht kämen!«

»Glauben Sie mir, da gibt es keinerlei Ungereimtheiten!«

»Ich bin ganz Ohr!«

»Pardon«, sagte ich. »Ich teile Ihnen gerne meine Nachnamen, Vornamen und Berufe mit, aber gibt es etwa ein Gesetz, das mich zu derlei Vertraulichkeiten verpflichtet?«

»Es liegt gewiss in Ihrem Interesse, uns dabei zu unterstützen, den Schuldigen zu entlarven, junger Mann. Solange wir keinen Schuldigen haben, ist jedermann verdächtig. Sie sollten mir also lieber freiwillig Ihre Lebensgeschichte erzählen. Es werden in jedem Fall sämtliche Zeugen in Bezug auf Ihren Leumund vernommen.«

Das war ja eine lausige Nacht. Von draußen waren die Dieselmotoren der Frachtkähne zu hören, die weiter durch die große Schleuse tuckerten. Das Geräusch schien von weit her zu kommen, wie gedämpft, und dennoch erfüllte es alles mit einem stetigen Vibrieren, das sogar auf dem blutleeren Gesicht des Toten zu erkennen war.

»Meine Geschichte ist schnell erzählt«, fing ich an. »Ich bin verheiratet und habe zwei kleine Kinder. Im Krieg hatte ich Knarren, um Eindruck zu schinden und Orden zu sammeln: Keine Knarren mehr, kein ganzer Kerl mehr – das ist alles! Ich denke, da bin ich beileibe nicht der Einzige.«

Aufgrund Ihrer Fähigkeiten eignen Sie sich doch aber zu anderem als dieser Kurbelei ...«

»Mag sein! Haben Sie sich schon mal einen Boxkampf angesehen, Monsieur Fumet?«

»Das ein oder andere Mal.«

»Wissen Sie, was ein Mann macht, wenn er die Nase voll hat von Schlägen? Er klemmt den Kopf zwischen die Arme und wartet darauf, dass die Runde zu Ende ist. – Genau das mache ich hier. Ich stehe im Ring, jedoch werfe ich nicht das Handtuch und ich kann nicht disqualifiziert werden; aber ich habe aufgehört zu kämpfen! Hätte ich nicht für zwei Kinder zu sorgen, wäre ich längst Landstreicher. – Gibt es weitere Fragen, die Sie mir stellen möchten?«

»Nein!«, sagte Fumet.

Der Gendarm, der die Leiche bewachte, schien aus seiner Trägheit zu erwachen.

»Jetzt erkenne ich Sie«, sagte er lächelnd zu mir. »Sie sind der Papa der beiden Knirpse! Ihre Angetraute ist aus gutem Hause, nicht? Wenn ich sonntags auf der Insel bei meiner Schwägerin reinschaue, sprechen wir manchmal über Sie ...«

»Also gut!«, mischte sich Fumet ein. »Sie sind also im Viertel als ehrenwerter Mensch bekannt. – Eine letzte Frage, Lenoir. Coutre ist Ihr Vorgesetzter, nicht wahr?«

»Ja.«

»Darunter verstehe ich, dass es an Coutre liegt, ob Sie einen Vorschuss erhalten, oder gar eine Gehaltserhöhung. – Also ist es ganz normal, dass Sie ihn nicht belasten wollen, oder?«

Ich beäugte den Toten schon seit einer geraumen Weile, und etwas stach mir ins Auge. Ich hatte schon Folteropfer zu Gesicht bekommen, vor allem in Indochina während der ersten Besatzungstage. Drei junge Vietminh, die von einem Weißhelm umgebracht worden waren. Ein Kumpan war bei mir, gebläht vom Alkohol und vom Hass auf die Vietminh, und er konnte der Versuchung nicht widerstehen, den gesamten Inhalt seines Magazins in die Leichen zu ballern. – Ich habe seinen Namen vergessen, jedoch nicht das heftige Zucken der Körper unter den Kugeln, noch die winzigen Löcher für die Ewigkeit in ihrem leichenblassen Fleisch, das aufgehört hatte zu bluten.

An Huberts Leichnam konnte man etwas oberhalb des Adamsapfels genau dasselbe blutleere Loch erkennen.

Um mich zu vergewissern, ging ich näher heran und beugte mich über ihn. Der Geruch von modrigem Wasser stieg mir in die Nase.

»Aha?« höhnte Fumet. »Sie machen sich schlau?«

Ich sagte ihm, dass ich gespannt wäre zu hören, was ein Arzt dazu zu sagen hätte.

»Pigeon kommt morgen früh. Mach dir keine Sorgen, ein Leichnam erkältet sich nicht!«

»An Ihrer Stelle«, sagte ich, »würde ich versuchen herauszubekommen, ob noch weitere Kugeln in der Leiche stecken.«

»Weitere Kugeln?«

Dieser stumpfsinnige Fettkloß hatte in seinem Leben noch nichts gesehen, soviel war klar. Jetzt beugte er sich selbst schnaufend über die Leiche bis zu der Stelle, auf die mein Finger deutete.

»Der hat ordentlich was abbekommen!«, keuchte er. »Ich glaube, er ist von einer Schiffsschraube zerfleischt worden.«

Mit der Fingerspitze berührte er das winzige Loch, was ihn augenscheinlich anekelte, dann schwieg er einen kurzen Moment lang. Der andere Gendarm war neugierig nähergekommen.

»Komisch!« sagte der Fette, als er sich aufrichtete. »Hör mal, Bégout, den musst du mir ausziehen!«

»Ich bin ganz und gar nicht scharf auf diese Art von Arbeit!«, gab Bégout zurück. »Sowas von nass, kalt und klebrig!«

Dennoch machte er sich an die Arbeit, das heißt, er versuchte zumindest, Hubert das schwere Tuch seiner Matrosenbluse mit einem Messer vom Leib zu schneiden. Dies gelang ihm nicht ohne weiteres. Es war wohl doch etwas schwieriger, als eine Konservendose zu öffnen.

»Besitzt Coutre eine Waffe?«, wollte der dicke Fumet wissen.

»Ich habe keine Ahnung! Auf jeden Fall ist er der letzte, der einem Leichnam eine Kugel verpassen würde!«

Der dicke Brigadier sah mich so ausdrucksvoll an wie ein Tiefseefisch.

»Du scheinst mir ne ganze Menge darüber zu wissen! Markier gefälligst nicht den Schlauberger und sag mir alles, was du weißt. Dadurch gewinnen wir etwas Zeit!«

»Was soll ich Ihnen denn sagen? Eine einfache, gewissenhafte Untersuchung hätte Ihnen ebensoviel verraten wie mir!«

Das hätte ich nicht sagen dürfen; es ist nutzlos, sich Feinde zu machen.

»Wir sehen uns wieder!«, fauchte der Fettkloß. »Du kannst jetzt Leine ziehen und weiterarbeiten, du dekorierter Sergeant!«

Der alte Coutre wartete am Ausgang auf mich. So als sei es die normalste Sache der Welt, machte er sich um Mitternacht an den Anschlägen für den Schiffsverkehr zu schaffen. Er wirkte ruhig, aber seine bloße Anwesenheit, während sich nur wenige Schritte entfernt der ermittelnde Beamte befand, verriet seine Anspannung.

»Und?«

»Nichts«, gab ich zurück. »Er wollte wissen, ob Sie einen Revolver haben.«

»Einen Revolver?«

Coutre brach in dröhnendes Gelächter aus. Er schien es eher beruhigend zu finden, dass gefragt worden war, ob er eine Knarre besäße.

»Klar hab ich einen, nämlich in der Schreibtischschublade. Warum will er das wissen? Denkt er, ich will mich umbringen?«

»Ich weiß nicht.«

Wir standen nicht mehr direkt in dem grässlichen gelben Lichtkegel, jedoch konnten wir noch immer den Schiffsverkehr an der großen Schleuse sehen. Das Rasseln der Winden ließ darauf schließen, dass ein Stück weiter flussabwärts das Schleusentor geschlossen wurde. Ein Hochseeschiff mit norwegischer Flagge überragte den Kai mit seinem enormen Aufbau.

»Hör mal, Dédé«, sagte Coutre. »Ich wars nicht, okay? Das weißt du doch genau! Hubert ist zwar ein verdammter Aasgeier, und ich hab ihm vielleicht die Faust zwischen die Zähne geschoben, aber ich hab ihn nicht ins Wasser geschmissen. Ehrenwort!«

»Sind Sie zu ihm hin, als Sie von Meunier rausgekommen sind?«

»Vielmehr hat er mich abgepasst. Wir haben uns ein bisschen geprügelt. Er hat sich nicht lumpen lassen und mir so eins aufs Ohr gegeben, dass ich sogar jetzt noch schlecht höre. Ich hab ihm, glaub ich, eins in den Magen verpasst. Er ist die Böschung hinuntergefallen. Aber nicht ins Wasser, hörst du, Dédé, nicht ins Wasser! Es waren bestimmt noch gut zehn Meter bis dahin! Wenn ich das dem Fumet erzähle, glaubt ers mir ja doch nicht!«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Mich beunruhigt noch etwas anderes«, sagte er. »Ich war gerade auf der Hématite, die ist dort hinten beim Militärgelände vertäut. Es ist nämlich meine Aufgabe, seine Frau in Kenntnis zu setzen, und ich werde ihr auch gleich unter vier Augen stecken: ›Ich wars nicht!‹. Denkst du nicht auch, Dédé?«

»Klar doch.«

»Stell dir vor, auf der Hématite ist keine Menschenseele! Oder sie wollen nicht antworten. Der Landungssteg ist eingezogen, und da ist bloß ein Hund, der die Nacht anbellt. Kein Licht, nichts!«

»Vielleicht sind sie im Beiboot an Land gegangen?«

»Ja, vielleicht, aber dann weiß ich nicht, wo ich sie finden soll. Sie sind nicht mal gekommen, um die Leiche zu identifizieren. In den Kneipen hat sie auch keiner gesehen.«

»Haben Sie das auch diesem anderen Fettwanst von Bullen gesagt?«

»Ja. Ist dem scheißegal!«

Wir gingen langsam flussaufwärts den Kai entlang. Das beleuchtete Zifferblatt der großen Uhr zeigte zwanzig Minuten nach Mitternacht an.

»Hör mal weiter«, sagte Coutre. »Ich will nochmal zum Kahn und nachsehen, aber im Moment hab ich Bammel ganz allein. Vorhin war alles noch frisch, da hätt ich locker mit der Witwe reden können, aber jetzt, fürchte ich, bin ich genauso eloquent wie ein Stück Holz. Kommst du mit? Ich bin sicher, du wirst die richtigen Worte finden.«

Solche Pflichten liebte ich nun nicht gerade, aber so, wie Coutre es formuliert hatte, schien ich von Nutzen sein zu können.

»Also gut, gehen wir!«

Da hörten wir, wie jemand hinter uns hergerannt kam. Es war der Gendarm Bégout, der einen auf wichtig machte.

»Heda! He, ihr da!«

Oje, da schien mir schon das nächste Verhör zu blühen. Ich drehte mich um.

»Was gibts?«

»Nicht Sie«, sagte der Polizist. »Der da!«

Der andere, damit war Coutre gemeint, der genau so schnell kombinierte wie ich.

»›Der steht im Stall und macht Muh! Ich habe einen Namen! Kennst du mich etwa nicht mehr?«

»Es gibt was Neues«, ließ der Gendarm nicht locker. »Kommen Sie!«

Coutre machte auf dem Absatz kehrt, und ich folgte ihm, obwohl ich nicht ausdrücklich dazu aufgefordert worden war.

»Und was gibts Neues?«, fragte Coutre. »Ist er wiederauferstanden?«

»Keine Sorge, das nicht!«, gab der Bulle zurück. »Der ist tot, und zwar für die Ewigkeit, wenn nicht noch länger!«

»Ich glaub, ich weiß, was los ist«, sagte ich zum Schleusenaufseher. »Jemand hat sich den Spaß erlaubt, Hubert mit ner Knarre zu durchlöchern.«

»Toller Spaß!«, sagte Coutre nur.

Wir betraten das Büro direkt über die Treppe. Ich fühlte mich unwohl, nicht so sehr wegen des bevorstehenden Verhörs, sondern weil der Platz vor der Tür völlig menschenleer war. Eine tote Katze hätte mehr Interessenten angezogen. Irgend etwas war faul an der Sache!

Die Leiche hatte sich verändert, seit sie aus dem Wasser gezogen worden war. Sie war inzwischen von ihrer Kleidung befreit worden: Wir blickten auf den muskulösen und gebräunten Oberkörper eines Mannes, der viel an der frischen Luft gewesen war. Der Armstumpf war vor lauter Lumpen nicht zu sehen, der andere Arm war intakt. Sein Bauch war kaum aufgebläht. Zwischen der dichten Brustbehaarung waren zwei schwarze Brustwarzen zu sehen.

Fumet schien in Habachtstellung und wirkte recht feierlich hinter seiner Theke. Mein Anblick schien ihn zu verdrießen, denn er öffnete den Mund, wie um mich hinaus zu komplimentieren, nahm sich dann jedoch zusammen.

»Macht nichts. Bleib ruhig hier, du Badewannenkapitän! Dich werden wir als Zeuge gebrauchen können.«

»Was gibts denn nun?«, fragte Coutre.