Mr. Vertigo - Paul Auster - E-Book

Mr. Vertigo E-Book

Paul Auster

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Beschreibung

Auf einem Jahrmarkt in Kansas spaziert im Jahre 1927 der zwölfjährige Waisenjunge Walter Clairborne Rawley durch die Lüfte. Es ist der Beginn einer wundersamen Karriere. Doch bald geraten Walter – frech, scharfzüngig und nie um einen Trick verlegen – und sein Lehrmeister Yehudi ins Visier der Schurken und Gangster Amerikas. Paul Austers abenteuerlicher Roman ist ein Gleichnis von ökonomischem Aufstieg und moralischem Verfall, ein Spiel mit den Mythen und Idealen eines Landes, das sich noch unschuldig wähnt, doch längst durch Gier und Übermut gefährdet ist.

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Seitenzahl: 451

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Paul Auster

Mr. Vertigo

Roman

Aus dem Englischen von Werner Schmitz

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

IMit zwölf Jahren ...Sie gaben mir ...Danach war ich ...Als es zum ...Drei Tage später ...IINoch am selben ...Meinen ersten öffentlichen ...Diesmal nahmen wir ...Ich hatte mir ...Ob ich froh ...Am nächsten Nachmittag ...Früh am nächsten ...IIIEs dauerte drei ...So begann meine ...Ich war damals ...IVDa meine Augen ...
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I

Mit zwölf Jahren bin ich zum ersten Mal übers Wasser gegangen. Das hat mir der Schwarzgekleidete beigebracht, und ich will nicht so tun, als hätte ich diesen Trick über Nacht gelernt. Als Meister Yehudi mich auflas, war ich neun, ein Waisenjunge, der auf den Straßen von Saint Louis betteln ging, und bevor er mich öffentlich auftreten ließ, hat er ganze drei Jahre mit mir gearbeitet. Das war 1927, das Jahr von Babe Ruth und Charles Lindbergh, das Jahr, in dem sich endgültig die Nacht über die Welt gesenkt hat. Ich habe damit weitergemacht bis ein paar Tage vor dem Schwarzen Freitag, und was ich geleistet habe, war phantastischer als alles, was sich diese beiden Herrschaften je hätten träumen lassen. Ich habe getan, was kein Amerikaner vor mir geschafft hat und seitdem auch niemand mehr.

Auf mich ist Meister Yehudi verfallen, weil ich der kleinste war, der schmutzigste, der elendste. «Du bist nicht besser als ein Tier», meinte er, «ein menschliches Nichts.» Das war der erste Satz, den er zu mir sagte, und seit dem Abend sind achtundsechzig Jahre vergangen, aber die Worte aus dem Mund des Meisters klingen mir noch heute im Ohr. «Du bist nicht besser als ein Tier. Wenn du bleibst, wo du bist, wirst du das Ende des Winters nicht erleben. Wenn du aber mit mir kommst, bringe ich dir das Fliegen bei.»

«Kein Mensch kann fliegen, Mister», sagte ich. «Die Vögel, die machen das. Seh ich vielleicht wie ’n Vogel aus?»

«Du weißt nichts», sagte Meister Yehudi. «Du weißt nichts, denn du bist nichts. Wenn ich dir bis zu deinem dreizehnten Geburtstag nicht das Fliegen beigebracht habe, kannst du mir mit einem Beil den Kopf abhacken. Das gebe ich dir gern schriftlich, wenn du willst. Sollte ich mein Versprechen nicht einlösen, liegt mein Schicksal in deinen Händen.»

Es war ein Samstagabend Anfang November, und wir standen vor dem Paradise Café, einem beliebten Schnapslokal in der Stadtmitte mit einer farbigen Jazzband und Zigarettenmädchen in durchsichtigen Kleidern. Dort trieb ich mich an den Wochenenden oft herum und schnorrte, machte Botengänge und besorgte Taxis für die feinen Pinkel. Anfangs hielt ich Meister Yehudi bloß für irgendeinen Betrunkenen, einen reichen Säufer, der in schwarzem Smoking und Seidenzylinder durch die Nacht torkelte. Er hatte einen seltsamen Akzent, drum nahm ich an, er sei nicht aus der Stadt; weiter reichte meine Phantasie nicht. Betrunkene reden dummes Zeug, und die Sache mit dem Fliegen war auch nicht dümmer als das meiste andere.

«Wenn man sich zu hoch in die Luft erhebt», sagte ich, «bricht man sich beim Runterfallen den Hals.»

«Über Techniken reden wir später», sagte der Meister. «Die Kunst ist nicht einfach zu erlernen, aber wenn du mir zuhörst und meinen Anweisungen folgst, werden wir beide es zu Millionären bringen.»

«Sie sind doch schon Millionär», sagte ich. «Wozu brauchen Sie mich da noch?»

«Weil ich, du mieser kleiner Gangster, kaum noch zwei Münzen in der Tasche habe. In deinen Augen bin ich vielleicht ein Großkapitalist, aber das kommt daher, dass du bloß Stroh im Kopf hast. Hör mir genau zu. Ich biete dir die Chance deines Lebens, aber du bekommst sie nur einmal. Ich habe einen Platz im Blue Bird Special gebucht, der geht um sechs Uhr dreißig, und wenn du dein Gerippe nicht in diesen Zug beförderst, siehst du mich jetzt zum letzten Mal.»

«Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet», sagte ich.

«Weil du die Antwort auf meine Gebete bist, mein Sohn. Deshalb will ich dich. Weil du die Gabe besitzt.»

«Gabe? Ich hab keine Gabe. Und wenn ich doch eine hätte, was könnten Sie schon drüber wissen, Münchhausen? Sie reden ja erst seit einer Minute mit mir.»

«Wieder falsch», sagte Meister Yehudi. «Ich beobachte dich seit einer Woche. Und falls du dir einbildest, deine Tante und dein Onkel wären traurig, wenn du weg wärst, dann weißt du nicht, mit wem du in den letzten vier Jahren zusammengelebt hast.»

«Meine Tante, mein Onkel?», sagte ich, und plötzlich ging mir auf, dass dieser Mann kein samstagabendlicher Betrunkener war. Er war was viel Schlimmeres: ein Beamter, der Schulschwänzern nachschnüffelte, oder ein Polizist, also steckte ich bis zu den Knien in der Scheiße.

«Dein Onkel Slim ist mir vielleicht einer», fuhr der Meister fort; jetzt, da er mein Interesse geweckt hatte, ließ er sich Zeit. «Ich hätte nie gedacht, dass ein Amerikaner dermaßen dumm sein könnte. Er riecht nicht nur schlecht, sondern ist obendrein auch noch böse und hässlich. Kein Wunder, dass du so ein abgefeimter Gassenjunge geworden bist. Wir hatten heute Morgen ein langes Gespräch, dein Onkel und ich, und er ist bereit, dich ohne jede Gegenleistung meinerseits ziehen zu lassen. Stell dir das vor, Junge. Ich habe nichts für dich bezahlen müssen. Und diese aufgedunsene Schlampe, die er sein Weib nennt, hat einfach dabeigesessen und kein Wort zu deiner Verteidigung gesagt. Wenn das das Beste ist, was einer für seine Familie tun kann, dann sei froh, dass du die beiden los bist. Die Entscheidung liegt bei dir, aber selbst wenn du mein Angebot ausschlägst, wärst du gut beraten, nicht zu ihnen zurückzugehen. Sie wären bestimmt ziemlich enttäuscht, dich wiederzusehen, das kann ich dir sagen. Sprachlos vor Kummer, falls du verstehst, was ich meine.»

Ich mag ja ein Tier gewesen sein, aber selbst das niederste Tier hat Gefühle, und die Neuigkeit, die mir der Meister da so plötzlich auftischte, traf mich wie ein Schlag in den Magen. Onkel Slim und Tante Peg waren gewiss nichts Besonderes, aber immerhin wohnte ich in ihrem Haus, und als ich hörte, dass sie mich nicht mehr haben wollten, fiel ich aus allen Wolken. Ich war schließlich erst neun Jahre alt. So abgebrüht ich für mein Alter auch gewesen sein mag, ich war doch längst nicht so abgebrüht, wie ich tat, und wenn der Meister nicht grade jetzt mit seinen dunklen Augen auf mich herabgeblickt hätte, wäre ich wohl mitten auf der Straße in Tränen ausgebrochen.

Wenn ich heute an diese Nacht zurückdenke, weiß ich noch immer nicht recht, ob er mir die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Er könnte mit meiner Tante und meinem Onkel gesprochen haben, aber er könnte die ganze Sache auch einfach erfunden haben. Dass er sie besucht hatte, steht außer Frage – seine Beschreibung traf haargenau zu –, aber wie ich meinen Onkel Slim kenne, halte ich es für ziemlich ausgeschlossen, dass er mich fortgelassen hätte, ohne dabei ein bisschen Bares rauszuschlagen. Ich will nicht behaupten, dass Meister Yehudi ihn verschaukelt hat, doch in Anbetracht der späteren Ereignisse muss sich der Mistkerl übervorteilt gefühlt haben, ob das Recht nun auf seiner Seite war oder nicht. Aber ich will meine Zeit jetzt nicht mit Rätselraten verschwenden. Am Ende habe ich mich jedenfalls durch das Gerede des Meisters breitschlagen lassen, und letztlich ist das die einzige Tatsache, die sich berichten lässt. Er hat mich davon überzeugt, dass ich nicht nach Hause zurückkonnte, und nachdem ich das geschluckt hatte, war mir alles andere egal. Genau das hat er wohl erreichen wollen – dass ich mich völlig durcheinander und verloren fühlte. Wenn man keinen Grund mehr sieht weiterzuleben, fällt es einem schwer, sich drum zu kümmern, was mit einem geschieht. Man sagt sich, am liebsten wäre man tot, und dann stellt man fest, dass man zu allem bereit ist – sogar zu der Verrücktheit, einfach mit einem Fremden in die Nacht zu verschwinden.

«Okay, Mister», sagte ich, senkte die Stimme um zwei Oktaven und musterte ihn mit meinem besten Ganovenblick, «wir sind uns also einig. Aber wenn Sie Ihre Zusagen nicht einhalten, können Sie sich von Ihrer Birne verabschieden. Ich bin vielleicht klein, aber mit leeren Versprechungen lasse ich mich nicht abspeisen.»

Es war noch dunkel, als wir in den Zug stiegen. Wir fuhren nach Westen in die Morgendämmerung, und während wir Missouri durchquerten, gab sich die schwache Novembersonne alle Mühe, durch die Wolken zu brechen. Seit der Beerdigung meiner Mutter war ich nicht mehr aus Saint Louis fortgekommen, und wie düster war die Welt, die ich an diesem Morgen entdeckte: öde und grau, und endlose Felder mit welken Maisstängeln zu beiden Seiten. Kurz nach Mittag dampften wir nach Kansas City hinein, aber in den vielen Stunden unseres Beisammenseins wird Meister Yehudi wohl kaum mehr als drei oder vier Worte zu mir gesagt haben. Die meiste Zeit schlief er, nickte, den Hut übers Gesicht gezogen, immer wieder ein, während ich vor Angst bloß ständig aus dem Fenster blicken konnte, die Landschaft vorbeigleiten sah und drüber nachdachte, in was für einen Schlamassel ich mich da geritten hatte. Meine Freunde in Saint Louis hatten mich vor Gestalten wie Meister Yehudi gewarnt: einzelgängerische Herumtreiber mit bösen Absichten, Perverse auf der Jagd nach kleinen Jungen, denen sie ihren Willen aufzwingen. Es war schon schlimm genug, mir vorzustellen, wie er mich auszog und an Stellen berührte, an denen ich nicht berührt werden wollte; aber das war noch gar nichts im Vergleich zu den anderen Befürchtungen, die mir im Schädel herumspukten. Ich hatte von einem Jungen gehört, der mit einem Fremden mitgegangen und seither spurlos verschwunden war. Später gestand der Mann, den Burschen in kleine Stücke geschnitten, gekocht und aufgegessen zu haben. Ein anderer Junge war in einem dunklen Keller an die Wand gekettet worden und hatte sechs Monate lang bloß Brot und Wasser bekommen. Einem anderen hatten sie bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen. Jetzt, da ich Zeit hatte, über mein Tun nachzudenken, malte ich mir für mich selbst ganz ähnliche Konsequenzen aus. Ich hatte mich in die Klauen eines Ungeheuers begeben, und wenn der Mann sich auch nur als halb so gespenstisch entpuppte, wie er aussah, sprach alles dafür, dass ich an dem Morgen zum letzten Mal die Sonne hatte aufgehen sehen.

Wir stiegen aus dem Zug und schoben uns durch die Menge über den Bahnsteig. «Ich habe Hunger», sagte ich und zupfte Meister Yehudi am Mantel. «Wenn Sie mir nicht gleich was zu essen besorgen, verpfeif ich Sie an den nächsten Bullen, der uns über den Weg läuft.»

«Was ist mit dem Apfel, den ich dir gegeben habe?», fragte er.

«Den hab ich aus’m Zugfenster geschmissen.»

«Aha, wir machen uns nichts aus Äpfeln, wie? Und was ist mit dem Schinken-Sandwich? Ganz zu schweigen von der gegrillten Hähnchenkeule und der Tüte Doughnuts.»

«Alles weggeschmissen. Sie erwarten doch nicht etwa, dass ich von Ihnen was zu essen annehme?»

«Und warum nicht, kleiner Mann? Wenn du nichts isst, wirst du einschrumpfen und sterben. Das weiß doch jeder.»

«Immerhin stirbt man auf die Weise langsam. Aber wenn man in was Vergiftetes beißt, verreckt man auf der Stelle.»

Zum ersten Mal, seit ich Meister Yehudi kennengelernt hatte, sah ich ihn lächeln. Ja, wenn ich mich nicht irre, lachte er richtig. «Du meinst also, du vertraust mir nicht?»

«Sie haben’s erfasst. Ich trau Ihnen nicht so weit, wie ich ein totes Muli werfen könnte.»

«Keine Bange, du Knirps», sagte der Meister und klopfte mir zärtlich auf die Schulter. «Du bist mein Kapital, schon vergessen? Ich werde dir kein Haar krümmen.»

Für mich war das bloß Gelaber; ich war nicht so dumm, auf dieses Süßholzgeraspel hereinzufallen. Aber dann griff Meister Yehudi in die Tasche, zog einen nagelneuen Dollarschein hervor und klatschte ihn mir in die Hand. «Siehst du das Restaurant da?», fragte er und zeigte auf einen Imbiss in der Bahnhofshalle. «Geh rein und bestell dir die größte Portion, die du dir reinstopfen kannst. Ich warte solange hier draußen.»

«Und was ist mit Ihnen? Haben Sie was gegen’s Essen?»

«Zerbrich dir nicht meinen Kopf», erwiderte Meister Yehudi. «Mein Magen kann für sich selbst sorgen.» Als ich grade losgehen wollte, fügte er hinzu: «Noch ein Wort, du Pimpf. Falls du vorhast wegzulaufen, tu es jetzt. Um den Dollar mach dir keine Gedanken. Den kannst du behalten, als Entschädigung.»

Ich ging also allein in die Gaststätte; diese Abschiedsworte hatten mich ein bisschen beruhigt. Wenn er irgendwelche finsteren Absichten hatte, warum bot er mir dann eine Chance zur Flucht? Ich setzte mich an die Theke und bestellte ein Komplettmenü Spezial und eine Flasche Sarsaparilla. Kaum einen Wimpernschlag später schob der Kellner einen Berg Corned Beef und Kohl vor mich hin. Es war die größte Mahlzeit, die ich je gesehen hatte, so groß wie der Sportsman’s Park in Saint Louis, und ich verschlang sie bis zum letzten Bissen, und dazu noch zwei Scheiben Brot und eine zweite Flasche Sarsaparilla. Ein nie erlebtes Wohlbehagen durchströmte mich an dieser schmierigen Imbisstheke. Nachdem ich mir den Bauch vollgeschlagen hatte, fühlte ich mich unbesiegbar, als ob mir nichts mehr was anhaben könnte. Gekrönt wurde dieses Gefühl, als ich, um die Rechnung zu begleichen, den Dollarschein aus der Tasche zog. Das Ganze kostete bloß fünfundvierzig Cents, und selbst nachdem ich dem Kellner fünf Cents Trinkgeld gegeben hatte, blieb noch ein halber Dollar für mich übrig. Das klingt nicht viel für heutige Verhältnisse, aber damals waren zwei Quarter ein Vermögen für mich. Das ist die Chance abzuhauen, sagte ich mir und sah mich, während ich vom Barhocker stieg, rasch in dem Laden um. Wenn ich mich durch den Nebeneingang verdrücke, kann der Mann in Schwarz warten, bis er schwarz wird. Aber ich tat es nicht, und damit war über mein ganzes Leben entschieden. Ich bin zu dem wartenden Meister zurückgegangen, weil er versprochen hatte, mich zum Millionär zu machen. Diese fünfzig Cent gaben den Ausschlag: Vielleicht lohnte es sich ja, abzuwarten, ob er seinen großen Worten Taten folgen lassen würde.

Wir bestiegen einen anderen Zug und gegen Ende der Reise einen dritten, der uns um sieben Uhr abends nach Cibola brachte. So schweigsam Meister Yehudi den ganzen Vormittag gewesen war, so redselig war er für den Rest des Tages. Ich lernte bereits, dass man über sein Tun oder Lassen lieber nicht spekulierte. Kaum glaubte man ihn festgenagelt zu haben, machte er kehrt und tat genau das Gegenteil von dem, was man erwartet hatte.

«Du kannst mich Meister Yehudi nennen», sagte er, womit er mir zum ersten Mal seinen Namen nannte. «Oder auch einfach Meister, wenn du willst. Aber niemals, unter keinen Umständen, darfst du Yehudi zu mir sagen. Ist das klar?»

«Ist das Ihr richtiger Name», sagte ich, «oder haben Sie sich diesen Spitznamen selber zugelegt?»

«Meinen richtigen Namen brauchst du nicht zu wissen. Meister Yehudi reicht vollkommen.»

«Also, ich heiße Walter. Walter Claireborne Rawley. Aber Sie können Walt zu mir sagen.»

«Das muss du schon mir überlassen. Wenn ich dich Wurm nennen will, dann tue ich das. Wenn ich dich Schwein nennen will, dann tue ich das. Verstanden?»

«Mann, ich kapier überhaupt nicht, wovon Sie reden.»

«Und ich dulde keine Lügen oder Falschheiten. Keine Ausreden, keine Klagen, keine Widerrede. Wenn du das mal kapiert hast, wirst du der glücklichste Junge auf der ganzen Welt sein.»

«Klar. Und wenn ein Beinloser Beine hätte, könnte er im Stehen pinkeln.»

«Ich kenne deine Geschichte, Kleiner. Du brauchst dir also keine Märchen für mich auszudenken. Ich weiß, dass dein Pa 1917 bei einem Gasangriff umgekommen ist, und ich weiß auch über deine Ma Bescheid: wie sie damals in East Saint Louis für einen Dollar die Nummer die Beine breitgemacht hat, und die Geschichte vor viereinhalb Jahren, als ein durchgedrehter Bulle ihr mit seinem Revolver das Gesicht weggepustet hat. Glaub nicht, ich hätte kein Mitleid mit dir, Kleiner, aber du darfst dich nicht vor der Wahrheit drücken, solange du es mit mir zu tun hast, sonst wird nie was aus dir.»

«Okay, Mr. Schlauberger. Wenn Sie so gut unterrichtet sind, warum halten Sie dann nicht mal die Luft an? Wozu erzählen Sie mir Sachen, die Sie sowieso längst wissen?»

«Weil du mir immer noch kein Wort glaubst. Du denkst, was ich dir vom Fliegen erzählt habe, ist alles leeres Stroh. Du wirst hart arbeiten, Walt, härter als du je gearbeitet hast, und du wirst mir fast täglich weglaufen wollen, aber wenn du mir vertraust und dranbleibst, kannst du in ein paar Jahren fliegen. Ich schwör’s dir. Du wirst dich vom Boden erheben und wie ein Vogel durch die Luft fliegen.»

«Ich bin aus Missouri, schon vergessen? Wir sind ziemlich misstrauische Leute.»

«Aber das hier ist nicht Missouri, Freundchen. Sondern Kansas. Und ein platteres, trostloseres Land hast du noch nicht gesehen. Als Coronado und seine Leute 1540 auf der Suche nach den Goldstädten hier durchmarschiert sind, haben sie sich so verirrt, dass die Hälfte von ihnen wahnsinnig geworden ist. Hier gibt es nichts, woran man sich orientieren kann. Keine Berge, keine Bäume, keine Unebenheiten. Die Gegend hier ist platt wie ein Pfannkuchen, und wenn du erst mal eine Zeitlang hier gelebt hast, wirst du begreifen, dass man sich hier nur nach oben bewegen kann – dass der Himmel hier dein einziger Freund ist.»

Als wir in den Bahnhof einfuhren, war es dunkel, drum konnte ich des Meisters Beschreibung meiner neuen Heimat nicht überprüfen. Soweit ich sah, unterschied sich der Ort in nichts von dem, was man von irgendeiner Kleinstadt erwarten konnte. Ein bisschen kälter vielleicht und mehr als ein bisschen dunkler als das, was ich gewöhnt war, aber da ich noch nie in einer Kleinstadt gewesen war, konnte ich auch nicht wissen, was ich erwarten sollte. Alles war neu für mich: Jeder Geruch war mir fremd, jeder Stern am Himmel schien mir unvertraut. Genauso gut hätte mir einer sagen können, ich sei soeben im Land Oz angekommen.

Wir gingen durch das Bahnhofsgebäude, blieben draußen vor der Tür kurz stehen und inspizierten das dunkle Dorf. Es war erst sieben Uhr abends, aber der ganze Ort hatte schon dichtgemacht; bis auf ein paar Lichter in den Häusern gegenüber gab es nirgendwo Anzeichen von Leben. «Keine Sorge», sagte Meister Yehudi, «wir werden gleich abgeholt.» Er versuchte mich bei der Hand zu nehmen, aber bevor er noch zupacken konnte, riss ich meinen Arm weg. «Behalten Sie Ihre Pfoten bei sich, Mr. Meister», sagte ich. «Sie denken vielleicht, ich gehör Ihnen jetzt, aber da haben Sie sich geschnitten.»

Ungefähr neun Sekunden später erschien am Ende der Straße ein vierrädriger Wagen, der von einem grauen Pferd gezogen wurde. Das Ding erinnerte mich an einen Tom-Mix-Western, den ich diesen Sommer im Filmtheater gesehen hatte, aber verdammt noch mal, wir hatten 1924, und als ich dieses altmodische Vehikel auf uns zurumpeln sah, kam es mir vor wie eine Erscheinung. Doch siehe da, Meister Yehudi winkte, der graue Klepper machte genau vor uns halt und rückte mit schwer dampfenden Nüstern an den Bordstein heran. Das Wesen auf dem Kutschbock, eine dicke, untersetzte Gestalt, trug einen breitkrempigen Hut und war in Decken gehüllt, sodass ich zunächst nicht ausmachen konnte, ob es Männlein oder Weiblein war oder ein Bär.

«Hallo, Mutter Sue», sagte der Meister. «Sieh mal, was ich gefunden habe.»

Die Frau musterte mich ein paar Sekunden lang mit leerem, eisigem Blick und zauberte dann aus dem Nichts das herzlichste, freundlichste Lächeln auf ihr Gesicht, das ich je die Freude hatte, gewährt zu bekommen. Sie hatte höchstens noch zwei oder drei Zähne im Mund, und das Funkeln ihrer dunklen Augen ließ mich annehmen, dass sie eine Zigeunerin war. Mutter Sue, die Zigeunerkönigin. Und Meister Yehudi ihr Sohn, der Fürst der Finsternis. Sie entführten mich auf das Schloss ohne Wiederkehr, und wenn sie mich nicht gleich heute zum Abendessen verspeisten, würden sie mich zu ihrem Sklaven machen, einem unterwürfigen Eunuchen mit einem Ring im Ohr und einem Seidentuch um den Kopf.

«Steig ein, Junge», sagte Mutter Sue. Sie hatte eine so tiefe, männliche Stimme, dass ich zu Tode erschrocken wäre, wenn ich nicht zuvor ihr Lächeln gesehen hätte. «Hinten sind ein paar Decken. Wenn du klug bist, nimmst du sie dir. Wir haben eine lange kalte Fahrt vor uns, und du musst dir ja nicht unbedingt den Arsch abfrieren.»

«Er heißt Walt», sagte der Meister, als er neben sie auf den Bock kletterte. «Verkorkster Gassenjunge aus der übelsten Gegend. Wenn mein Gefühl mich nicht täuscht, ist er der, nach dem ich all die Jahre gesucht habe.» Dann drehte er sich nach mir um und sagte schroff: «Das ist Mutter Sue, Kleiner. Wenn du nett zu ihr bist, wird sie es dir mit Güte vergelten. Aber ein falsches Wort, und du verfluchst den Tag deiner Geburt. Mag sie auch fett und zahnlos sein, eine bessere Mutter als sie kannst du dir nicht wünschen.»

Wie lange wir bis zum Haus gebraucht haben, weiß ich nicht. Es lag irgendwo draußen auf dem Land, sechzehn, siebzehn Meilen außerhalb, aber das erfuhr ich erst später; denn kaum hatte ich mich unter die Decken gelegt und der Wagen sich in Bewegung gesetzt, war ich eingeschlafen. Als ich die Augen wieder aufschlug, waren wir schon da, und wenn der Meister mich nicht mit einem Klaps auf die Wange geweckt hätte, hätte ich wohl bis zum nächsten Morgen durchgeschlafen.

Während Mutter Sue den Gaul ausspannte, führte er mich ins Haus. Das erste Zimmer, das wir betraten, war die Küche: ein kahler, schlecht beleuchteter Raum mit einem Holzofen in der einen Ecke und einer flackernden Petroleumlampe in der anderen. Am Tisch saß ein etwa fünfzehn Jahre alter Schwarzer und las in einem Buch. Er war nicht braun wie die meisten Farbigen, die ich von zu Hause her kannte, sondern pechschwarz, so schwarz, dass es schon fast ins Blaue spielte. Ein echter Äthiopier, ein Negerkind aus den Dschungeln des finstersten Afrika, und mir blieb fast das Herz stehen, als ich ihn erblickte. Er war ein zierlicher, dünner Bursche mit vorquellenden Augen und wulstigen Lippen, und als er von seinem Stuhl aufstand, um uns zu begrüßen, sah ich, dass seine Knochen völlig krumm und schief waren, dass er den verdrehten, buckligen Körper eines Krüppels hatte.

«Das ist Äsop», sagte der Meister zu mir, «der beste Junge, der je gelebt hat. Sag hallo zu ihm, Walt, und gib ihm die Hand. Er wird dein neuer Bruder sein.»

«Mann, ich geb doch ’m Nigger nicht die Hand», sagte ich. «Wohl verrückt geworden, so was von mir zu erwarten.»

Meister Yehudi ließ einen langen lauten Seufzer hören. Womit er nicht Abscheu bekundete, sondern Kummer, ein gewaltiges Schaudern aus den Tiefen seiner Seele. Dann krümmte er mit äußerster Bedachtsamkeit und Ruhe den Zeigefinger seiner Rechten zu einem starren Haken und platzierte die Spitze dieses Hakens unter mein Kinn, genau an die Stelle, wo Fleisch und Knochen zusammentreffen. Und dann begann er zu drücken, und plötzlich schoss mir ein entsetzlicher Schmerz durch den Nacken in den Schädel. So was von Schmerz hatte ich noch nicht erlebt. Ich wollte schreien, aber meine Kehle war wie zugeschnürt, so dass mir bloß ein ächzendes Würgen entfuhr. Der Meister drückte weiter, und gleich darauf hob ich mit den Füßen vom Boden ab. Ich schwebte hoch, stieg in die Luft wie eine Feder, was den Meister offenbar nicht die geringste Mühe kostete, als sei ich für ihn nicht schwerer als ein Marienkäfer. Schließlich waren unsere Gesichter auf gleicher Höhe, und ich sah ihm direkt in die Augen.

«So wird bei uns nicht geredet, Junge», sagte er. «Alle Menschen sind Brüder, und in dieser Familie wird jeder mit Respekt behandelt. Das ist Gesetz. Damit wirst du dich abfinden müssen. Gesetz ist Gesetz, und wer dagegen verstößt, wird zur Schnecke gemacht und kann sich den Rest seiner Tage im Dreck wälzen.»

Sie gaben mir Essen, Kleidung und ein eigenes Zimmer. Ich bekam weder Schläge noch Prügel, weder Fußtritte noch Ohrfeigen, doch so erträglich meine Lage sein mochte, ich hatte mich noch nie so niedergeschlagen gefühlt, so voller Bitterkeit und aufgestauter Wut. In den ersten sechs Monaten dachte ich bloß an Flucht. Ich war ein Stadtkind, mit Jazz im Blut aufgewachsen, ein Straßenjunge, der immer nur an sich selbst gedacht hatte; das Gewühl der Menge, das Quietschen der Straßenbahnen, der Puls der Neonlichter, der Gestank von geschmuggeltem Whiskey in den Rinnsteinen – das war mein Lebenselixier. Ich war ein Schlingel, dem der Boogie in den Beinen steckte, ein kleiner Scatsänger mit flinker Zunge und hundert Ideen, und da saß ich nun am Ende der Welt und lebte unter einem Himmel, der nichts anderes zu bieten hatte als Wetter – und das war meistens schlecht.

Meister Yehudis Grundbesitz umfasste fünfzehn Hektar unbebautes Land, ein zweigeschossiges Farmhaus, einen Hühnerstall, einen Schweinekoben und eine Scheune. Er hatte ein Dutzend Hühner, zwei Kühe, das graue Pferd und sechs oder sieben Schweine. Es gab weder Strom noch fließend Wasser, weder Telephon noch Radio, weder ein Grammophon noch sonst was. Einzige Quelle der Unterhaltung war ein Klavier im Wohnzimmer, aber bloß Äsop konnte darauf spielen, und der stümperte selbst bei den simpelsten Stücken einen solchen Murks zusammen, dass ich jedes Mal aus dem Zimmer ging, sobald er sich anschickte, in die Tasten zu greifen. Das Haus war einfach grauenhaft, die Welthauptstadt der Langeweile, und schon nach einem Tag hatte ich die Nase gestrichen voll davon. Nicht mal mit Baseball kannten sich diese Leute aus, ich hatte keinen, mit dem ich über meine geliebten Cardinals reden konnte, was damals so ziemlich das einzige Thema war, wofür ich mich interessierte. Ich kam mir vor, als sei ich durch ein Zeitloch in die Steinzeit gestolpert, in ein Land, durch das noch die Saurier streiften. Mutter Sue erzählte, Meister Yehudi habe die Farm ungefähr sieben Jahre zuvor bei einer Wette von irgendeinem Kerl in Chicago gewonnen. Muss ja ’ne tolle Wette gewesen sein, sagte ich. Der Verlierer entpuppt sich als Gewinner, und der Trottel von Gewinner vermodert für den Rest seines Lebens im hintersten Kaff von Amerika.

Ich war ein dummer kleiner Hitzkopf damals, das will ich gern zugeben, aber ich denke nicht dran, mich zu rechtfertigen. Ich war eben, wie ich war, ein Produkt der Menschen und Orte, von denen ich herkam, und es hat keinen Sinn, jetzt darüber zu lamentieren. Am meisten beeindruckt mich an diesen ersten Monaten, wie geduldig die Leute waren, wie gut sie mich zu verstehen und sich mit meinen Mätzchen abzufinden schienen. Viermal bin ich in diesem ersten Winter weggelaufen, einmal bis nach Wichita; und jedes Mal haben sie mich zurückgeholt, ohne Fragen zu stellen. Ich war kaum mehr als ein Nichts – ein paar Moleküle weniger, und ich wäre überhaupt kein Mensch gewesen, und da der Meister mir allenfalls die Seele eines Tieres zugestand, fing er auch dort mit mir an: bei den Tieren im Stall.

Sosehr ich es verabscheute, mich um Hühner und Schweine zu kümmern, ihre Gesellschaft war mir doch lieber als die der Leute. Ich konnte mich kaum entscheiden, was mir mehr zuwider war, und brachte meine Abneigungen täglich in eine andere Reihenfolge. An Mutter Sue und Äsop ärgerten mich ihre ständigen Sticheleien, aber meinen größten Zorn und Unwillen erregte schließlich doch der Meister. Er war der Schuft, der mich dort hingelockt hatte, er trug die Hauptschuld an meiner beschissenen Lage. Am meisten fuchste mich sein Sarkasmus, die Seitenhiebe und Beleidigungen, mit denen er mich ständig überschüttete, die ewigen Schikanen und Piesackereien, die nur dazu dienten, mir meine Nichtsnutzigkeit zu beweisen. Während er zu den beiden anderen stets höflich war, ein Muster von Anstand, ließ er mir gegenüber selten die Gelegenheit aus, irgendeine Gemeinheit von sich zu geben. Das fing am allerersten Morgen an und ging so weiter. Ich merkte bald, dass er keinen Deut besser war als Onkel Slim. Sicher, er hat mich nicht verprügelt wie Slim, aber seine Worte glichen Fausthieben und taten nicht weniger weh als jede Kopfnuss.

«Nun erzähl mir mal, du zartbesaiteter Schlingel», sagte er an diesem ersten Morgen zu mir, «was du so alles draufhast.»

«Hä?», gab ich zurück. «Wie meinen?»

«Ich rede von der Schule, Dummkopf. Hast du je deinen Fuß in ein Klassenzimmer gesetzt – und falls ja, was hast du da gelernt?»

«Ich brauch doch zum Lernen die Schule nicht. Da kann ich was Besseres mit meiner Zeit anfangen.»

«Ausgezeichnet. Du sprichst wie ein echter Gelehrter. Aber drück dich etwas genauer aus. Was ist mit dem Alphabet? Kannst du die Buchstaben des Alphabets schreiben oder nicht?»

«Ein paar. Die, die mir nützlich sind. Die anderen interessieren mich nicht. Die sind mir nur lästig, also kümmere ich mich nicht drum.»

«Und welche sind dir nützlich?»

«Also, mal sehen. Das A, das gefällt mir, und das W. Dann, wie heißt das Ding noch mal, das L, und das E, und das R, und dann dieser eine, der aussieht wie ein Kreuz. Das T. Wie in T-Bone-Steak. Das sind meine Freunde, und der Rest kann von mir aus in der Hölle braten.»

«Du kannst also deinen Namen schreiben.»

«Sie haben’s erfasst, Chef. Ich kann meinen Namen schreiben, ich kann zählen, so weit Sie wollen, und ich weiß, dass die Sonne ein Stern am Himmel ist. Außerdem weiß ich, dass Bücher was für Weiber und Waschlappen sind, und falls Sie vorhaben, mir irgendwas aus Büchern beizubringen, können wir die ganze Sache gleich abblasen.»

«Keine Bange, Kleiner. Was du mir da eben gesagt hast, ist Musik in meinen Ohren. Je dümmer du bist, desto besser für uns beide. Denn so habe ich weniger rückgängig zu machen, und das spart uns eine Menge Zeit.»

«Und was ist mit dem Flugunterricht? Wann fangen wir damit an?»

«Wir haben schon damit angefangen. Von jetzt an ist alles, was wir tun, Teil deiner Ausbildung. Das wird dir nicht immer einleuchten, also schreib’s dir hinter die Ohren. Vergiss es nicht, dann wirst du auch durchhalten können, wenn’s mal schwierig wird. Wir haben einen weiten Weg vor uns, Junge, und als Erstes werde ich deinen Willen brechen müssen. Ich wünschte, es ginge auch anders, aber da ist nichts zu machen. Freilich dürfte die Aufgabe nicht allzu schwierig sein, wenn man bedenkt, aus was für einem Sumpf ich dich gezogen habe.»

Drum durfte ich nun täglich im Stall Scheiße schippen und mir die Ohren abfrieren, während die anderen warm und gemütlich im Haus hockten. Mutter Sue kümmerte sich ums Kochen und sonstige Hausarbeiten, Äsop lümmelte sich lesend auf dem Sofa, und Meister Yehudi tat gar nichts. Seine Hauptbeschäftigung schien es zu sein, von morgens bis abends auf einem unbequemen Holzstuhl zu hocken und aus dem Fenster zu schauen. Von seinen Gesprächen mit Äsop abgesehen, war das das Einzige, was ich ihn bis zum Frühjahr habe tun sehen. Manchmal hörte ich den beiden bei ihren Unterhaltungen zu, wurde aber nicht schlau daraus. Sie benutzten so viele schwierige Wörter, dass es sich wie eine Geheimsprache anhörte. Später, als ich mich ein bisschen besser eingelebt hatte, erfuhr ich, dass sie studierten. Meister Yehudi hatte es auf sich genommen, Äsop eine gründliche Allgemeinbildung zu verschaffen, und die Bücher, die sie lasen, behandelten alle möglichen Themen: Geschichte, Naturwissenschaften, Literatur, Mathematik, Latein, Französisch und so weiter. Mir wollte er das Fliegen beibringen, aber aus Äsop wollte er einen Gelehrten machen, und soviel ich sehen konnte, lag ihm Letzteres weit mehr am Herzen. Wie der Meister selbst einmal eines Morgens kurz nach meiner Ankunft sagte: «Er war noch viel schlimmer dran als du, Rotznase. Als ich ihn vor zwölf Jahren aufgelesen habe, ist er in Lumpen auf einem Baumwollfeld in Georgia herumgekrochen. Er hatte seit zwei Tagen nichts gegessen, und seine Mama, selbst noch ein Kind, lag tot, an Tbc gestorben, in ihrer Hütte, vierzehn Meilen die Straße runter. So weit war der Junge von zu Hause weg. Er phantasierte schon vor Hunger, und wenn ich ihn nicht zufällig gefunden hätte, wäre sein Schicksal besiegelt gewesen. Sein Körper mag verunstaltet sein, aber dafür funktioniert sein Hirn umso prächtiger, und auf den meisten Gebieten hat er mich längst überholt. In drei Jahren will ich ihn aufs College schicken. Dort kann er seine Studien fortsetzen, und wenn er seinen Abschluss hat und in die Welt hinausgeht, wird er ein Führer seines Volkes werden, ein leuchtendes Beispiel für alle unterdrückten Schwarzen in diesem brutalen Land der Heuchler.» Ich verstand kein Wort von dem, was der Meister da sagte, aber die Liebe, mit der er sprach, brannte sich mir unauslöschlich ein. Bei all meiner Beschränktheit, so viel verstand ich nun doch: Er liebte Äsop wie seinen eigenen Sohn, und ich war ein Depp, ein räudiges Stück Vieh, das man anspuckte und im Regen stehen ließ.

Dass Mutter Sue ebenso unwissend, ungebildet und arbeitsscheu war wie ich, hätte uns einander näherbringen können, tat es aber nicht. Zwar begegnete sie mir nicht mit offener Feindschaft, doch war mir ihre Gegenwart unheimlich, und ich brauchte fast noch länger, mich auf sie und ihre Schrullen einzustellen, als mich an die beiden anderen zu gewöhnen – die ebenfalls kaum als normal bezeichnet werden konnten. Auch wenn sie nicht in Decken gehüllt war und keinen Hut auf dem Kopf trug, fiel es mir schwer, sie einem bestimmten Geschlecht zuzuordnen. Das beunruhigte mich irgendwie, und selbst, nachdem ich sie durchs Schlüsselloch ihrer Tür mal nackt gesehen und mich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, dass sie tatsächlich mit zwei Brüsten ausgestattet war und ihr kein Pimmel aus dem Schamhaar baumelte, war ich mir noch immer nicht ganz sicher. Ihre Hände waren hart wie Männerhände, sie hatte breite Schultern und wahre Muskelpakete an den Oberarmen, und wenn sie nicht grade, was selten vorkam, ihr schönes Lächeln aufblitzen ließ, war ihre Miene so unnahbar und ausdruckslos wie ein Stück Holz. Genauer gesagt: Was mich eigentlich verunsicherte, war vielleicht eher ihr Schweigen, ihr Blick, der durch mich hindurchzugehen schien, als sei ich gar nicht vorhanden. Da ich in der Hackordnung des Haushalts unmittelbar unter ihr stand, hatte ich mit Mutter Sue mehr zu tun als mit allen anderen. Von ihr bekam ich meine Hausarbeiten zugeteilt, von ihr wurde kontrolliert, ob ich mir vor dem Schlafengehen das Gesicht gewaschen und die Zähne geputzt hatte; aber in all den vielen Stunden, die ich in ihrer Gesellschaft verbrachte, fühlte ich mich trotzdem einsamer, als wenn ich wirklich allein gewesen wäre. In ihrer Gegenwart hatte ich immer ein hohles Gefühl in der Magengrube, als ob mich ihre Nähe schrumpfen ließ. Es spielte keine Rolle, wie ich mich benahm. Ich konnte rumhüpfen oder stillstehen, ich konnte mir die Lunge aus dem Hals schreien oder den Mund halten – die Folgen waren immer die gleichen. Mutter Sue war eine Wand, und sobald ich mich dieser Wand näherte, wurde ich in eine Rauchwolke verwandelt, ein Häuflein Asche, das der Wind zerstreut.

Der Einzige, der richtig nett zu mir war, war Äsop, doch gegen den war ich voreingenommen, da mochte er tun und sagen, was er wollte, auf mich hatte es keine Wirkung. Ich konnte nicht anders. Es lag mir im Blut, Verachtung für ihn zu empfinden, und angesichts der Tatsache, dass er das hässlichste Exemplar seiner Gattung war, das meine leidgeprüften Augen je erblickt hatten, kam es mir geradezu grotesk vor, mit ihm unter einem Dach leben zu müssen. Es verstieß gegen jedes Gesetz der Natur, es war ein Angriff auf alles Heilige und Anständige, und das konnte ich mir einfach nicht durchgehen lassen. Dazu kam erstens, dass er redete wie kein anderer farbiger Junge auf der ganzen Welt – eher wie ein englischer Lord als wie ein Amerikaner –, und zweitens, dass er der Liebling des Meisters war, und wegen alldem stieg schon die große Wut in mir auf, wenn ich bloß an ihn dachte. Dass ich in seiner Gegenwart den Mund halten sollte, machte alles nur noch schlimmer. Ein paar passende Bemerkungen hätten mir sicher geholfen, ein bisschen Dampf abzulassen, aber ich hatte den Finger des Meisters unter meinem Kinn nicht vergessen und war nicht geneigt, mich dieser Folter noch mal zu unterwerfen.

Das Schlimmste dabei war, dass meine Verachtung Äsop offenbar völlig kalt ließ. Ich studierte ein ganzes Repertoire finsterer Blicke und Grimassen für ihn ein, aber wann immer ich ihm eine zeigte, schüttelte er bloß den Kopf und schmunzelte in sich hinein. Ich kam mir vor wie ein Trottel. Sosehr ich mich bemühte, ihn zu verletzen, er ließ sich nie aus der Fassung bringen, verschaffte mir nie die Befriedigung, einen Treffer gelandet zu haben. Er gewann nicht bloß einfach den Krieg zwischen uns, nein, er gewann jede einzelne Schlacht dieses verdammten Krieges. Dass ich bei einem fairen Austausch von Beleidigungen nicht mal so einen schwarzen Teufel schlagen konnte, überzeugte mich davon, dass die ganze Prärie von Kansas verhext war. Sie hatten mich in ein Land der bösen Träume verschleppt, und je mehr ich zappelte, um endlich aufzuwachen, desto unheimlicher wurde der Albtraum.

«Du strengst dich zu sehr an», sagte Äsop eines Nachmittags zu mir. «Du bist so eingenommen von deiner Rechtschaffenheit, dass du für die Dinge in deiner Umgebung blind geworden bist. Und wenn du nicht sehen kannst, was dir vor der Nase liegt, wirst du dich niemals selbst betrachten und herausfinden können, wer du bist.»

«Ich weiß, wer ich bin», sagte ich. «Das kann mir keiner nehmen.»

«Der Meister nimmt dir nichts weg. Er schenkt dir die Gabe der Größe.»

«Tu mir einen Gefallen, ja? Sprich nie von diesem Gauner, wenn ich in der Nähe bin. Ich kriege Zustände, wenn ich diesen deinen Meister sehe, und je weniger ich an ihn denken muss, desto besser fühle ich mich.»

«Er hat dich sehr gern, Walt. Er glaubt mit jeder Faser seines Herzens an dich.»

«Von wegen. Dieser Betrüger kümmert sich doch nicht die Bohne um irgendwas. Ein Zigeunerkönig, das ist er, und falls er überhaupt ein Herz hat – was für mich noch sehr die Frage ist –, dann ist es durch und durch böse.»

«Zigeunerkönig?» Äsops Augen traten verwundert hervor. «Ist das dein Ernst?» Er fand das offenbar sehr komisch, denn gleich darauf prustete er los und hielt sich den Bauch vor Lachen. «Du hast wirklich gute Witze auf Lager», sagte er und wischte sich die Tränen aus den Augen. «Wie bist du denn bloß auf diese Idee gekommen?»

«Na ja», sagte ich und spürte, wie mir die Wangen vor Verlegenheit rot anliefen, «wenn er kein Zigeuner ist, was zum Teufel ist er dann?»

«Ein Ungar.»

«Ein was?», stammelte ich. Es war das erste Mal, dass ich dieses Wort zu hören bekam, und ich war so perplex, dass es mir vorübergehend die Sprache verschlug.

«Ein Ungar. Er wurde in Budapest geboren und kam als kleiner Junge nach Amerika. Aufgewachsen ist er in Brooklyn, und sein Vater und sein Großvater waren Rabbiner.»

«Und was ist das nun wieder, vielleicht so ’ne Art Nagetier?»

«Ein jüdischer Lehrer. So etwas wie ein Priester oder Geistlicher, nur für Juden.»

«Na bitte», sagte ich, «da hast du’s. Das erklärt doch wohl alles. Also noch schlimmer als Zigeuner – der alte Finsterling ist Jude. Was Schlimmeres gibt’s auf dem ganzen miesen Planeten nicht.»

«Das solltest du ihn lieber nicht hören lassen», sagte Äsop.

«Ich weiß schon, was ich darf», sagte ich. «Und von einem Juden lass ich mich nicht rumschubsen, das schwör ich dir.»

«Immer mit der Ruhe, Walt. Sonst kommst du in Teufels Küche.»

«Und was ist mit dieser Hexe, Mutter Sue? Ist das etwa auch so eine?»

Äsop schüttelte den Kopf und sah zu Boden. Meine Stimme kochte dermaßen vor Wut, dass er sich nicht traute, mir in die Augen zu sehen. «Nein», sagte er. «Sie ist eine Sioux vom Stamm der Oglala. Ihr Großvater war der Bruder von Sitting Bull, und in ihrer Jugend war sie die beste Voltigiererin in Buffalo Bills Wildwest-Show.»

«Du willst mich verarschen.»

«Das würde mir nicht im Traum einfallen. Was ich dir sage, ist die reine, ungeschminkte Wahrheit. Du wohnst mit einem Juden, einem Schwarzen und einer Indianerin unter einem Dach, und je eher du die Tatsachen akzeptierst, desto wohler wirst du dich hier fühlen.»

Bis dahin hatte ich drei Wochen lang durchgehalten, aber nach dieser Unterhaltung mit Äsop stand für mich fest, dass ich Schluss machen musste. Noch in der gleichen Nacht habe ich das Weite gesucht – erst gewartet, bis alle schliefen, dann bin ich aus dem Bett gekrochen, leise die Treppe hinunter und auf Zehenspitzen hinaus in die eisige Dezemberfinsternis. Kein Mond am Himmel, kein einziger Stern, der mir leuchtete, und kaum war ich über die Schwelle, wurde ich von einem heftigen Windstoß erfasst und an die Hauswand zurückgeschleudert. Gegen diesen Wind waren meine Knochen nicht kräftiger als Watte. Die Nacht war in lärmendem Aufruhr, es brauste und dröhnte, als würde die Stimme Gottes brüllend ihren Zorn auf jedes Wesen herabschleudern, das töricht genug war, sich dagegen aufzulehnen. Ich war ein solcher Tor, und immer wieder stemmte ich mich vom Boden hoch, warf mich in den Rachen des Mahlstroms und versuchte mich Schritt für Schritt, kreiselnd wie ein Windrädchen, durch den Garten zu kämpfen. Nach zehn, zwölf Versuchen war ich vollkommen erschöpft, ausgelaugt und am Ende. Ich hatte es bis zum Schweinestall geschafft, und grade als ich mich wieder hochrappeln wollte, wurde mir schwarz vor Augen, und ich verlor das Bewusstsein. Stunden vergingen. Als ich im Morgengrauen erwachte, sah ich mich von vier schlummernden Schweinen umringt. Ohne die Tiere wäre ich in dieser Nacht wohl erfroren. Aus heutiger Sicht kommt mir das wie ein Wunder vor, aber als ich an dem Morgen die Augen aufschlug und sah, wo ich war, sprang ich nur auf, spuckte aus und verfluchte mein verdammtes Pech.

Ich hegte keinen Zweifel, dass Meister Yehudi dafür verantwortlich war. In diesem Frühstadium unserer gemeinsamen Geschichte schrieb ich ihm alle möglichen übernatürlichen Kräfte zu; für mich stand fest, dass er diesen wilden Sturm entfesselt hatte, um meine Flucht zu vereiteln. In den Wochen danach gingen mir eine Menge wüster Theorien und Spekulationen durch den Kopf. Die unheimlichste davon hatte mit Äsop zu tun – mit meiner zunehmenden Gewissheit, dass er als Weißer auf die Welt gekommen war. Eine schreckliche Vorstellung, für die jedoch alles zu sprechen schien. Redete er nicht wie ein Weißer? Handelte er nicht wie ein Weißer, dachte er nicht wie ein Weißer, spielte er nicht Klavier wie ein Weißer? Seine Haut war schwarz, aber warum sollte ich meinen Augen trauen, wenn mir mein Gefühl was anderes sagte? Es gab nur eine Antwort: Er war als Weißer auf die Welt gekommen. Vor vielen Jahren hatte der Meister ihn als ersten Schüler in der Kunst des Fliegens ausersehen. Er hatte ihm befohlen, vom Dach der Scheune zu springen, und Äsop war gesprungen – doch statt auf den Windströmungen zu reiten und durch die Luft zu segeln, war er zu Boden gestürzt und hatte sich sämtliche Knochen im Leib gebrochen. Das erklärte seine erbärmliche schiefe Gestalt; doch damit nicht genug: Meister Yehudi hatte ihn für sein Versagen auch noch bestraft. Die Macht von hundert jüdischen Dämonen beschwörend, hatte er den Finger auf seinen Schüler gerichtet und ihn in einen grässlichen Nigger verwandelt. Äsops Leben war zerstört, und ich zweifelte nicht daran, dass mir das gleiche Schicksal bevorstand. Am Ende würde ich nicht bloß schwarz und verkrüppelt, sondern auch noch gezwungen sein, den Rest meines Lebens mit dem Studium von Büchern zu verbringen.

Das zweite Mal riss ich an einem Nachmittag aus. Da mir die Nacht mit ihrer Magie einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, konterte ich mit einer neuen Strategie und verdrückte mich am helllichten Tag; wenn ich den Weg vor mir sähe, rechnete ich mir aus, würde ich irgendwelchen Kobolden schon ausweichen können. In den ersten ein, zwei Stunden verlief alles nach Plan. Gleich nach dem Mittagessen verließ ich heimlich die Scheune und machte mich raschen Schritts nach Cibola auf, um vor Einbruch der Dunkelheit dort einzutreffen und einen Güterzug zu besteigen, der mich in den Osten zurückbringen sollte. Wenn alles gutging, konnte ich in vierundzwanzig Stunden über die Boulevards des guten alten Saint Louis schlendern.

Da trabte ich also in Gesellschaft von Krähe und Feldmaus die flache staubige Straße entlang und wurde mit jedem Schritt zuversichtlicher, bis ich irgendwann einmal aufblickte und weit vor mir einen Pferdekarren auf mich zukommen sah. Er hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Wagen, der Meister Yehudi gehörte, aber den hatte ich eben noch in der Scheune gesehen; Zufall, dachte ich und ging weiter. Als ich bis auf ungefähr zehn Meter herangekommen war, blickte ich von neuem auf. Die Zunge klebte mir am Gaumen; die Augen fielen mir aus den Höhlen polternd vor die Füße. Denn es war natürlich doch Meister Yehudis Wagen, und auf dem Bock saß niemand anders als der Meister selbst, der mit breitem Grinsen auf mich herabblickte. Er brachte den Wagen zum Stehen und tippte lässig, aber nicht unfreundlich an seinen Hut.

«Hallo, Kleiner. Bisschen kalt heut Nachmittag für einen Spaziergang, findest du nicht?»

«Das Wetter passt mir ausgezeichnet», sagte ich. «Hier draußen kann man wenigstens mal durchatmen. Wenn man zu lang an einem Ort bleibt, erstickt man am Ende an seinen eigenen Ausdünstungen.»

«Ja, das kenne ich. Jeder muss sich mal die Beine vertreten. Aber jetzt ist der Ausflug vorbei, wird Zeit, nach Hause zu gehen. Steig auf, Walt, wollen mal sehen, ob wir nicht zurückkommen können, bevor die anderen merken, dass wir überhaupt weg waren.»

Was blieb mir anderes übrig; ich kletterte auf den Sitz neben ihm, ein leichter Schlag mit den Zügeln, und das Pferd zog wieder an. Immerhin behandelte er mich nicht mit der üblichen Grobheit, und bei allem Ärger über das Scheitern meiner Flucht wollte ich ihn nicht wissen lassen, was ich im Schilde geführt hatte. Wahrscheinlich hatte er es ohnehin erraten; jedenfalls ließ ich mir nichts von meiner Enttäuschung anmerken und tat lieber weiter so, als hätte ich bloß einen Spaziergang gemacht.

«Es ist nicht gut für einen Jungen, so oft eingesperrt zu sein», sagte ich. «Das macht ihn traurig und schlechtgelaunt, und dann kann er sich nicht im rechten Geist seinen Aufgaben widmen. Lässt man ihn aber ein bisschen an die frische Luft, dann macht er sich umso freudiger an die Arbeit.»

«Ich höre, was du sagst, Freundchen», erklärte der Meister, «und ich verstehe jedes Wort.»

«Und, wie sieht’s aus, Käpt’n? Ich weiß, Cibola ist nicht grade ’ne Traumstadt, aber ein Kino oder so was wird’s da doch geben. Wär schön, da mal abends hinzugehen. Kleine Spritztour, bisschen Abwechslung in den Alltag bringen. Vielleicht haben die sogar ’ne Baseballmannschaft, und wenn’s nur die unterste Liga wäre. Im Frühjahr könnten wir uns doch mal ein paar Spielchen ansehen? Muss ja nichts Großartiges sein wie die Cardinals. Ich hab nichts gegen Provinzvereine. Solange die Jungs einen Schläger halten können, soll’s mir recht sein. Man kann nie wissen, Sir. Ich finde, wir sollten’s mal riskieren, vielleicht haben Sie ja auch ein bisschen Spaß dabei.»

«Ganz bestimmt sogar. Aber wir haben eine Menge Arbeit vor uns, und so lange müssen wir uns bedeckt halten. Je weniger wir uns blicken lassen, desto besser für uns. Ich will dir keine Angst machen, aber in der Gegend hier ist mehr los, als man meinen sollte. Wir sind von mächtigen Feinden umgeben, die von unserer Anwesenheit nicht gerade begeistert sind. Viele von ihnen hätten nichts dagegen, wenn uns plötzlich etwas zustoßen würde, und wir brauchen sie nicht noch zu reizen, indem wir ihnen vor der Nase herumspazieren.»

«Was gehen uns die Leute an, wenn wir uns bloß um unsere Angelegenheiten kümmern?»

«Das ist es ja eben. Manche Leute meinen, unsere Angelegenheiten gingen sie durchaus etwas an. Und von denen will ich mich möglichst fernhalten. Kannst du mir folgen, Walt?»

Ich sagte ja, verstand aber in Wahrheit gar nichts. Ich hatte nur begriffen, dass es Leute gab, die mir ans Leder wollten, und dass ich nicht zum Baseball gehen durfte. Der wohlwollende Tonfall, in dem der Meister zu mir sprach, machte mir die Sache auch nicht gerade verständlicher, und während der ganzen Rückfahrt sagte ich mir immer wieder: Sei stark, nur nicht aufgeben. Früher oder später wirst du einen Ausweg finden, früher oder später wirst du diesem Voodoo-Zauberer durch die Finger schlüpfen.

Mein dritter Versuch schlug genauso jämmerlich fehl wie die beiden anderen. Diesmal ging ich morgens los und schaffte es bis an den Ortsrand von Cibola, wo ich aber wiederum von Meister Yehudi erwartet wurde; da hockte er auf seinem Wagen und grinste mich selbstzufrieden an. Ich war völlig fassungslos. Denn anders als beim letzten Mal konnte ich seine Anwesenheit nun nicht mehr als Zufall abtun. Es war, als hätte er schon gewusst, dass ich weglaufen wollte, ehe ich selbst es wusste. Der Mistkerl saß in meinem Kopf und saugte mir die Säfte aus dem Hirn; nicht mal meine heimlichsten Gedanken konnte ich vor ihm verbergen.

Trotzdem gab ich nicht auf. Ich musste mich eben einfach schlauer anstellen, mit mehr System zu Werke gehen. Nach ausgiebigem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass der Hauptgrund für meine Schwierigkeiten die Farm selbst war. Ich kam nicht weg, weil dort alles so gut organisiert war, weil wir völlig autark lebten. Milch und Butter bekamen wir von den Kühen, Eier von den Hühnern, Fleisch von den Schweinen; wir hatten Gemüse im Keller und reichlich Mehl, Salz, Zucker und Tuch eingelagert, so dass keiner in den Ort musste, um die Vorräte aufzufüllen. Aber wie wär’s, wenn uns irgendwas ausginge, fragte ich mich, wie wär’s, wenn uns plötzlich was fehlen würde, ohne das wir nicht auskommen konnten? Dann musste der Meister doch wohl Nachschub holen? Und sobald er aus dem Haus war, würde ich mich verdrücken und das Weite suchen. Es war so einfach, ich wäre fast geplatzt vor Freude, als ich mir das ausgedacht hatte. Inzwischen muss es Februar gewesen sein, und in den nächsten vier Wochen dachte ich fast nur noch an Sabotage. Mir schwirrten zahllose Pläne und Anschläge im Kopf herum, ich träumte von unerhörten Terrorakten und Verwüstungen. Zunächst wollte ich klein anfangen – vielleicht ein paar Mehlsäcke aufschlitzen oder ins Zuckerfass pinkeln –, aber wenn das nicht zum erwünschten Ergebnis führte, würde ich auch vor eindrucksvolleren Akten des Vandalismus nicht zurückschrecken: Ich konnte zum Beispiel die Hühner aus dem Stall freilassen oder den Schweinen die Kehle aufschlitzen. Mir war jedes Mittel recht, um dort wegzukommen; notfalls hätte ich sogar das Stroh angezündet und die Scheune niedergebrannt.

Nichts davon klappte so, wie ich es mir ausgemalt hatte. Nicht dass es an Gelegenheiten mangelte, aber jedes Mal, wenn ich einen Plan ausführen wollte, verließ mich rätselhafterweise der Mut. Die Angst fuhr mir in die Lungen, mein Herz flatterte, und wenn ich die Hand schon zur Tat erhoben hatte, raubte mir irgendeine unsichtbare Macht jede Kraft. So was war mir noch nie passiert. Ich war immer ein ausgefuchster Ränkeschmied gewesen, der seine Launen und Regungen unter Kontrolle gehabt hatte. Wenn ich was tun wollte, dann tat ich es einfach, packte die Sache mit der Rücksichtslosigkeit des geborenen Banditen an. Aber jetzt war ich mattgesetzt, blockiert von einer seltsamen Willenslähmung; ich führte mich auf wie ein Feigling, verachtete mich dafür und konnte nicht begreifen, wie ein Herumtreiber meines Kalibers so tief hatte sinken können. Wieder war mir Meister Yehudi zuvorgekommen. Er hatte mich zu einer Marionette gemacht, und je heftiger ich mich gegen ihn wehrte, desto fester zog er an den Fäden.

Einen Monat lebte ich in Angst und Schrecken, ehe ich den Mut zu einem weiteren Versuch aufbrachte. Diesmal schien das Glück auf meiner Seite. Ich war noch keine zehn Minuten unterwegs, als mich ein Autofahrer einsteigen ließ. Er brachte mich nach Wichita und war so ziemlich der netteste Mensch, der mir je begegnet war, ein College-Schüler auf dem Weg zu seiner Verlobten; wir verstanden uns auf Anhieb und vertrieben uns die ganzen zweieinhalb Stunden mit Geschichtenerzählen. Seinen Namen habe ich leider vergessen. Er war ein rotblonder Schlaks mit Sommersprossen um die Nase und trug eine schicke kleine Ledermütze. Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich an den Namen seiner Freundin, Francine, wohl weil er so viel von ihr gesprochen hat, vor allem und sehr ausführlich von ihren rosenroten Brustwarzen und ihrer spitzenbesetzten Unterwäsche. Ledermütze fuhr einen glänzenden neuen Ford Roadster, und er jagte damit den leeren Highway runter, als ob es kein Morgen gäbe. Ich fühlte mich so frei und glücklich, dass ich loskichern musste, und je länger wir rumblödelten, desto freier und glücklicher fühlte ich mich. Diesmal hast du’s wirklich geschafft, sagte ich mir. Die Flucht hat geklappt, und von jetzt an kann dich nichts mehr aufhalten.

Ich kann nicht genau sagen, wie ich mir Wichita vorgestellt habe, aber auf alle Fälle nicht als das langweilige Kuhdorf, das ich an diesem Nachmittag im Jahre 1925 zu Gesicht bekam. Es war das allerletzte Kaff, so fesselnd wie ein Pickel auf einem bleichen Arsch. Wo waren die Saloons, die Revolverhelden, die berufsmäßigen Falschspieler? Wo war Wyatt Earp? Was immer Wichita früher gewesen war, in seinem jetzigen Leben war es ein nüchternes, trostloses Durcheinander von Geschäften und Wohnhäusern, eine Stadt, die so flach am Boden klebte, dass man, sobald man sich am Kopf kratzen wollte, mit dem Ellbogen an den Himmel stieß. Ich hatte gedacht, ich könnte dort ein bisschen absahnen, ein paar Tage rumhängen und mein Sparschwein auffüllen und dann so richtig stilvoll nach Saint Louis zurückreisen. Ein kurzer Rundgang überzeugte mich davon, dass ich mir das abschminken konnte, und eine halbe Stunde nach meiner Ankunft machte ich mich auf die Suche nach einem Zug, der mich da rausbringen sollte.

Mutlos und niedergeschlagen, wie ich war, merkte ich gar nicht, dass es zu schneien angefangen hatte. Im März gab es in dieser Gegend die schlimmsten Stürme, aber der Tag hatte so klar und heiter angefangen, dass ich mit einem Wetterumschwung nicht gerechnet hatte. Es begann mit einem leichten Schneegestöber, ein bisschen Weiß, das aus den Wolken rieselte, doch während ich auf der Suche nach dem Bahnhof durch die Straßen ging, fielen die Flocken immer dicker und dichter, und als ich fünf oder zehn Minuten später stehen blieb, um mich zu orientieren, stand ich schon bis zu den Knöcheln in dem Zeug. Es schneite wie aus Eimern. Und ehe ich Schneesturm sagen konnte, schlug mir der Wind den Schnee aus allen Richtungen gleichzeitig um die Ohren. Richtig unheimlich, wie schnell das ging. Eben war ich noch durch die Straßen von Wichita spaziert, und jetzt tappte ich blind und hilflos durch einen weißen Orkan. Ich hatte keine Ahnung mehr, wo ich war. Der Sturm tobte wie wild, und ich, zitternd in meinen durchnässten Sachen, stolperte mittendrin im Kreis herum.