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"Beim Müll geht es ja immer um das Trennen. Darum sag ich, Müll beste Schule für das Denken. Weil du hast die Kategorien, sprich Wannen. Ohne die klare Trennung kannst du jedes Recycling vergessen. Und da bin ich noch nicht einmal bei den Problemstoffen." Auf einem der Wiener Mistplätze (dt.: Altstoffsammelzentrum) herrscht strenge Ordnung, bis eines Tages in der Sperrmüllwanne ein menschliches Knie gefunden wird. Schnell tauchen in anderen Wannen weitere Leichenteile auf, die entgegen der Mistplatzordnung und zum großen Leidwesen der Müllmänner allesamt nicht korrekt eingeworfen wurden. Nur vom Herz des zerlegten Toten fehlt jede Spur. Die Kripo weiß nicht weiter. Zum Glück ist unter den Müllmännern ein Ex-Kollege, der nicht nur das fehlende Herz samt Begleitschreiben findet, sondern auch nie vergessen hat, was man bei Mord bedenken muss. Und damit steckt Simon Brenner nicht nur in einem neuen Fall, sondern auch bis zum Hals in Schwierigkeiten.
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Seitenzahl: 328
Wolf Haas
Müll
Roman
Hoffmann und Campe
Vorigen Sommer bin ich einmal am See unten gesessen, die kleine Bucht da gleich neben der Straße, wo nie Leute sind, weil es so viele Glasscherben anschwemmt. Nur ein Vater mit einem kleinen Kind war noch da, so ein vierjähriges Mädchen dürfte das gewesen sein. Auf einmal hör ich sie fragen, warum da so viele Perlen auf dem Boden liegen. Weil keine scharfen Glasscherben, sondern schön vom Wasser abgeschliffen. Weiße und grüne Perlen zwischen den Kieselsteinen und auch ein paar braune, sprich goldene Perlen. Jetzt was sagst du als Vater auf so eine Frage, du kannst nicht gut die Wahrheit sagen, das verstehe ich schon. Er hat ihr erzählt, die Perlen gehören einer Prinzessin, die am Seegrund unten in einem Palast wohnt, und die hat so viel Schmuck, dass sie die Schatullen nicht mehr zubringt. Im Prinzip bin ich dagegen, dass man den Kindern solche Geschichten auftischt. Aber was soll ich machen? Ich kann nicht gut hinübergehen und dem Mädchen die Wahrheit sagen. Weil furchtbare Geschichte, da kannst du als Kind einen lebenslangen Schock davontragen, frage nicht. Aber dir kann ich es ja schnell erzählen.
Jetzt, wo es verjährt ist, muss man wenigstens keine Angst mehr haben, dass man was Falsches sagt. Mord verjährt natürlich nicht, das ist klar. Mord verjährt nirgends auf der Welt, und finde ich vollkommen richtig so. Für den Ermordeten gibt es auch kein Verjährt, da kannst du auch nicht daherkommen und sagen, ich hab jetzt das Totsein vorzeitig hinter mir, weil gute Führung im Jenseits. Darum sagt der Gesetzgeber, ein Raub verjährt, eine Erpressung verjährt, ein richtiger Betrug fängt überhaupt erst mit der sofortigen Verjährung an. Aber der Mord verjährt nicht, Mord ist Mord, da kennt der Gesetzgeber keinen Spaß.
Jetzt warum sage ich, es ist verjährt, obwohl es doch ein Mord war? Siehst du, darauf will ich gerade hinaus. Schön eins nach dem anderen. Man kann nicht alles gleichzeitig verstehen. Es braucht immer ein Hintereinander bei den Gedanken. Ein Hintereinander und ein Nebeneinander. Aber kein Durcheinander. Und am allerwichtigsten, eine klare gedankliche Unterscheidung. Das ist mir gerade am Mistplatz so aufgegangen. Beim Müll geht es ja immer um das Trennen. Darum sag ich, Müll beste Schule für das Denken. Weil du hast die Kategorien, sprich Wannen. Du hast die Wanne 1, du hast die Wanne 2, du hast die Wanne 3. Du hast Metall, du hast Plastik, du hast Sperrmüll, du hast Buntglas, du hast Weißglas, du hast Elektroschrott, du hast Kompost, du hast Styropor, du hast einfach alles am Mistplatz. Das geht hinauf bis 32, 33, es gibt für alles eine eigene Wanne, Bauschutt, Wellpappe und und und. Weil ohne die klare Trennung kannst du jedes Recycling vergessen. Und da bin ich noch nicht einmal bei den Problemstoffen.
Früher hat man überhaupt nur zwei Sachen unterschieden: den Müll und den Mist. Weil den Mist hat der Bauer noch brauchen können, und den Rest hat man einfach in den Bach geschmissen. Nur bei uns hat man nicht einmal das unterschieden, sprich in Wien alles Mist. Heute ist es dafür umgekehrt, weil heute Wien beste Mistplatzordnung auf der ganzen Welt. Bei uns musst du lange suchen, bis du eine Straßenkreuzung findest, wo der Wegweiser zum nächsten Mistplatz fehlt. Da kann man schon einen gewissen Miststolz ablesen. Weil du darfst eines nicht vergessen. Ohne die Wiederverwertung wäre die Welt schon längst untergegangen. Und der Kreislauf fängt bei der exakten Trennung an. Darum war es auch so eine heikle Sache, dass ausgerechnet am Mistplatz so ein Durcheinander ausgebrochen ist.
Die ersten Leichenteile sind in der Wanne 4 aufgetaucht. Also ein Knie war das Erste, ist ja eh alles in der Zeitung gestanden, muss ich jetzt nicht so im Detail. Rechtes Knie, soweit ich mich erinnere. Aber egal, rechtes oder linkes Knie, in Wanne 4 gehört kein Knie hinein. Da ist sogar egal, ob es ein menschliches Knie ist oder ein tierisches Knie, nicht einmal ein Titanknie darf da hinein, und das Knie von einer Wasserleitung auch nicht, weil Wanne 4 nur Sperrmüll.
Seit neuestem glaubt ja jeder, er kann mitreden beim Müll. Wo die Menschen früher über den eigenen Kreislauf gejammert haben, sprich Kreislaufstörung, geht es heute nur mehr um den Müllkreislauf. Da wird ein Recycling und eine Wiederverwertung heruntergebetet, Müllbuddhismus nichts dagegen. Aber reden kann man leicht. Machen muss man es auch richtig! Wenn du schon am Anfang das Zeug in die falsche Wanne schmeißt, alles umsonst. Knie in Wanne 4, da kannst du von einem Kreislauf nur träumen. Menschliches Knie wäre natürlich, wenn schon, Biomüll. Wanne 19. Oder zur Not, zur äußersten Not von mir aus Kompost. Wanne 12. Also abgesehen davon, dass ein menschlicher Körperteil am Mistplatz sowieso nichts zu suchen hat, das muss ich hoffentlich nicht extra sagen. Menschliche Körperteile: Magistratsabteilung 43, Friedhöfe. Und nicht Magistratsabteilung 48, Abfallwirtschaft. Aber rein von den Wannen her gedacht, sag ich: Wanne 12, Wanne 19, da lass ich mit mir reden, aber sicher nicht Wanne 4.
Darum sind die Mistler ja so heikel, wenn die Leute hereinfahren. Da kommt keiner am Empfangschef vorbei. Also, Empfangschef, das ist nur so untereinander, wer halt gerade eingeteilt ist. Einer muss den Portier spielen, sonst fahren die Leute unkontrolliert herein und schmeißen ihre Sachen irgendwohin, das kannst du dir nicht vorstellen. Aber normalerweise immer alles unter Kontrolle. Da ist einmal der Schmid Empfangschef, einmal der Novak, einmal der Udo, weil dem seine Mutter war ein wahnsinniger Fan vom Udo Jürgens, und der Udo hat gesagt, ich kann ihn ruhig namentlich erwähnen, weil ihn kennt eh jeder, seit sein Foto mit dem Knie in der Zeitung war. Die Kollegen natürlich neidig, ja was glaubst du. Warum ist der Udo mit dem Knie in der Zeitung, und der Novak mit dem abgetrennten Kopf nicht in der Zeitung. Aber das ist am Foto gelegen, weil den Novak hat keiner fotografiert, wie er den Kopf aus dem Elektroschrott gefischt hat. Und bevor er an das Foto gedacht hat, war dann schon die Polizei da.
Der Udo hat in den nächsten Wochen nicht den Empfangschef spielen können, das ist klar. Du kannst nicht eine Berühmtheit zur Einfahrt stellen, sonst ist der Stau schon fertig. Aber jeden Praktikanten kannst du auch nicht hinstellen, sondern nur einen Erfahrenen. Weil wenn du nicht aufpasst, kommen die Leute mit dem Anhänger auch noch herein. Du musst wissen, am Mistplatz gilt die eiserne Regel, ein Kofferraum gebührenfrei. Ein Kofferraum ist nicht ein ganzer Bus. Ein Kofferraum ist nicht ein Anhänger. Ein Kofferraum ist nicht ein Kleinlastwagen. Wer mehr als einen Kofferraum voll hat, muss zum Gebührenmist, sprich Rinterzelt, da gibt es keine Ausnahme.
Natürlich gibt es Zweifelsfälle. Zweifelsfälle gibt es immer im Leben, wer das bestreitet, ist kein Mensch. Der Kombi hat keinen Kofferraum in dem Sinn, jetzt musst du das Augenmaß haben, da darf man nicht päpstlicher sein als der Papst, weil Dienst am Bürger. Aber heutzutage die SUVs, die Vans, das glaubst du nicht, wie viel Müll in denen anreist. Und die glauben, sie können das einfach alles gebührenfrei hereinschütten. Aber nichts da. Die haben die Rechnung ohne den Udo gemacht. Weil der Udo sagt immer, SUV Abkürzung für sozial unterentwickeltes Vehikel, und bei uns lädt der nicht ab. Da freu ich mich schon immer, wenn die aussteigen. Weil so schnell schauen die gar nicht, sind sie schon Richtung Rinterzelt unterwegs, sprich gebührenpflichtige Ablademöglichkeit.
Manchmal kann bei Zweifelsfällen auch ein Trinkgeld helfen, da will ich jetzt gar nicht reden, aber im Prinzip musst du alle gleich behandeln. Ob das ein junger Mensch ist oder ein alter, ob der in einer Rostschüssel vorfährt oder im neuesten Ferrari, ob das ein Mann ist oder eine Frau, vor dem Mist sind alle Menschen gleich. Höchstens im Umgangston, da will ich jetzt die Müllmänner nicht heiliger hinstellen, als sie waren. Es sind schon Sachen vorgekommen. Wenn da die Richtige hereingekommen ist, hat man vielleicht schon einmal ein bisschen freundlicher gegrüßt als bei einem Mann. Da hat es schon vorkommen können, dass man nicht nur gesagt hat »Was haben wir da?«, sondern vielleicht auch einmal »Was bringen Sie mir Schönes?«. Oder man hat sogar das Gespräch gesucht mit einem freundlichen »Können Sie das nicht noch brauchen? Sind Sie sich sicher, dass Sie das wegschmeißen wollen?«. Oder sogar »weggeben« statt »wegschmeißen«, weil klingt doch einfühlsamer.
Und du darfst eines nicht vergessen. Die orange Arbeitskluft ist so was wie eine Uniform. Da stehst du ganz anders da als Mann. Sicher, Orange steht nicht jedem, aber wenn es einem steht, eins a. Dem Udo ist das Orange überhaupt nicht gestanden, das muss ich ganz ehrlich sagen, weil der Udo blonder Typ. Sogar rotblonder Typ, wenn man ganz ehrlich ist. Es war ihm aber nicht bewusst, dass ihm das Orange nicht steht, und das war sein großer Trumpf. Weil wenn du dich schön fühlst, dann hast du die Ausstrahlung, egal ob dir das Orange steht oder nicht. Und der Udo eine wahnsinnige Freude mit sich gehabt, wenn der mit seinem Zopf über den Mistplatz spaziert ist, hat jeder sofort gewusst, der Udo ein Glückskind. Wenn du mich fragst, hat er sogar seine Zahnlücke noch für die besondere Note gehalten, weil der Udo immer extra breit gegrinst, damit die Zahnlücke zur Geltung kommt.
Irgendwie war es schon typisch, dass dem Udo der erste Teil untergekommen ist. Er hat gerade einer Renaultfahrerin beim Ausladen von ihrem Garderobenspiegel geholfen, weil neu gekauft und beim Transport zerstört. Jetzt hat ihr der Udo zum Trost beim Abladen geholfen. Normalerweise gibt es kein Helfen, weil wo kommen wir da hin. Aber der Udo einen guten Tag gehabt und sogar an einem Trostspruch gearbeitet. Der Spruch wäre in die Richtung gegangen, dass ein zerbrochener Spiegel nicht in jedem Fall Unglück bedeuten muss, weil andererseits sagt man ja auch wieder, Scherben bringen Glück. Und dass sich ihr Glück vielleicht in Gestalt einer netten Bekanntschaft namens Udo einstellt, hätte sich automatisch aus dem weiteren Gespräch ergeben.
Aber nichts da. Kein Wort hat er herausgebracht. Weil das Unglück war schon da, und die einzige Bekanntschaft, die der Udo gemacht hat, war die mit dem Knie, das er in der Wanne 4 entdeckt hat. Die Renaultfahrerin hat nur noch das Handyfoto gemacht, wie der Udo das Knie herausholt. Das war ja das Foto, das dann überall aufgetaucht ist. Sie selber hat sich nie mehr blickenlassen, aber der Udo war ihr nicht böse, und er hat es seinen Fans, die seine Geschichte immer wieder hören wollten, so erklärt: »Leichenfund beim ersten Date betrachtet jede Frau als schlechtes Zeichen.«
Ein besonderes Foto war es nicht, der Udo nicht gut getroffen. Er hat das Knie in der Hand gehalten und blöd gegrinst mit seiner Zahnlücke. Im Hintergrund hat man die Wannenaufschrift gesehen. Aber nicht Sperrmüll, sondern dahinter die Wanne 7, sprich Folien. Ich erwähne es nur, weil dann in der Wanne 7 die Finger aufgetaucht sind. Der Praktikant hat die gefunden.
Finger bei den Folien ist natürlich ein Witz, da lasse ich mir noch das Knie beim Sperrmüll eher gefallen.
Eine Viertelstunde nach dem ersten Knie ist die Polizei aufgetaucht. Und ob du es glaubst oder nicht. In dieser Viertelstunde zwischen Knie und Polizei haben die Müllmänner schon den halben Menschen zusammengesetzt gehabt, Puzzlemeister Hilfsausdruck. Weil natürlich der Ehrgeiz. Wenn der Udo ein Knie gefunden hat, wenn der Praktikant Finger bei den Folien herausgefischt hat, dann will ein Novak oder ein Schmid auch etwas finden, da ist in einem Tempo gearbeitet worden, gut, dass das der Betriebsrat nicht weiß.
Aber für den kompletten Menschen dann doch zu früh die Polizei da. Zuerst sind sie nicht beim Tor hereingekommen, weil die Mistler natürlich sofort zugesperrt, Kunden hinausgeschmissen und Tor zu. Aber nicht dass du glaubst, einmaliges Toraufsperren hätte genügt für die Polizei. Die Herrschaften natürlich nach und nach gemütlich eingetrudelt. Zuerst Tor auf, Tor zu für den Streifenwagen, zehn Minuten später Tor auf, Tor zu für die Kripo, dann Tor auf, Tor zu für die Spurensicherung. Wenigstens der Suchtrupp ist dann gemeinsam gekommen und nicht jeder einzeln, da muss man schon dankbar sein.
Aber unter uns gesagt, die waren nicht halb so schnell beim Finden wie die Müllmänner. Die Mistler haben jetzt nicht mehr helfen dürfen, sondern ab ins Büro und auf die Befragung durch die Kripo warten. Natürlich schon ein gewisser Wettbewerb, wer ist der Wichtigere, ist der Udo der Wichtigste, weil ihm als Erster etwas aufgefallen ist, sprich Knie in der Wanne 4, oder ist der Schmid der Wichtigere, weil er am meisten herausgezogen hat, sprich beide Arme aus dem Styropor, wo man noch zusätzlich sagen muss, da hat er extra die Schachtel aufgerissen, sonst wären die Arme für immer weg gewesen, oder ist doch der Novak der Wichtigste, weil wie draußen schon die Polizeisirene näher gekommen ist, hat dem Novak im Elektroschrott der Kopf entgegengelacht, und da könnte ein Novak mit Recht sagen, mit dem Kopf hab ich gewonnen, da hab ich das erste Recht auf ein Verhör.
Aber glaubst du, die Kripo wendet sich als Erstes an den Novak und sagt, gut, dass Sie den Kopf des Ermordeten gefunden haben, das bringt uns viel? Das würde man doch als normaler Staatsbürger erwarten. Aber nichts da. Nicht einmal eine Belobigung für den Novak. Kein Wort des Dankes für den Udo, dass er mit offenen Augen durch die Welt geht und ein Knie entdeckt. Ausgerechnet an den Platzchef haben sie sich gewendet! Da hätten sie noch besser den Praktikanten ausgesucht, der hat immerhin die Finger bei den Folien gefunden. Aber nein, den Praktikanten übersehen sie genauso. An den Platzchef müssen sie sich wenden, der überhaupt nichts gefunden hätte, wenn ihm der Schmid nicht extra den linken Fuß bei der Teerpappe versteckt hätte, damit er auch etwas hat und nicht wieder tagelang spinnt und alle Trinkgelder für das nächste Mistfest einkassiert.
Aber belobigt hat die Kripo den Platzchef wenigstens nicht, sondern zusammengeschissen.
»Sie sind dafür verantwortlich, dass keiner Ihrer Männer draußen herumläuft«, hat der jüngere der beiden Polizisten den Platzchef belehrt, als wäre er der Praktikant. Später hat der Udo gesagt, dass ihn der junge Kripomann mit seinem Bärtchen und seiner Frisur an diesen bosnischen Fußballer erinnert hat, der einmal halb nackt auf seinem Autodach getanzt hat. Aber pariert hat der Udo genauso vor ihm wie der Platzchef, weil der sportliche Jungpolizist hat so eine exakte Art gehabt, wo du sofort gewusst hast, du spielst dich besser nicht auf. Wie eine Kindergartengruppe haben sie brav im Aufenthaltsraum auf die Befragung gewartet. Es hat nicht viel gefehlt, und sie wären von der Kripo alle miteinander als Schaulustige hingestellt worden, und das ist nicht schön, wenn du der Finder bist und wie ein Schaulustiger dastehst. Dabei waren die Kripoleute selber die Schaulustigen. Die sind auf dem Mistplatz spazieren gegangen wie die reinsten Mülltouristen.
Eine halbe Stunde haben sie die Mistler dunsten lassen auf Steuerzahlerkosten, dann ist endlich ein bisschen Bewegung hineingekommen. Die Streifenpolizisten sind wieder abgefahren, wieder schön das Tor aufsperren, das hat der Udo übernommen, Tor hinter ihnen wieder zusperren, einen Gruß oder ein Bitte oder gar ein Danke kannst du dir aufzeichnen. Wie das Tor zu war, kommt der Einsatzleiter auf die Idee, dass der halbe Suchtrupp nicht mehr gebraucht wird. Du musst wissen, so viele Teile waren es nicht, und sie haben den kompletten Menschen schön langsam beisammengehabt. Ein paar von ihnen sind geblieben und haben noch in den restlichen Wannen alles zweimal umgedreht, aber im Grunde hat man ihnen angesehen, sie rechnen nicht mehr damit, dass sie noch etwas finden. Und dann ist ja auch schon das Spezialfahrzeug gekommen, sprich Tor auf, Tor zu für den Leichenwagen.
Geblieben sind nur die beiden Kripomänner, die immer noch den Mistplatz inspiziert haben. Man hat nicht sagen können, welcher von beiden der Chef war, weil der sportliche Friseurweltmeister fast zu jung für Chef, und der Ältere wieder zu mollig für Chef, also nicht einfach chefmäßig fett, sondern von der ganzen dings her zu weich, ein molliger Typus mit breiten Hüften, an dem sich beim Beruferaten alle die Zähne ausgebissen hätten. Weil auf Kripomann wärst du bei dem zuletzt gekommen, eher Gärtner oder Krankenpfleger, auf dessen Kosten die Chirurgenwitze gehen, und sogar auf dem Mistplatz hättest du den eher gesehen als bei der Kripo.
Jetzt musst du eines wissen. Bei den städtischen Betrieben gibt es immer ein paar Posten für Leute, ich will jetzt nichts Falsches sagen, aber sagen wir einmal so: Es fehlt wem ein Arm, es ist einer blind, es zieht einer das Bein nach, solche Sachen, dann kriegst du da leichter einen Posten, weil Gesetz. Der Gesetzgeber sagt, eine gewisse Anzahl von Stellen für diese Leute. Und so einen Posten hat der Schmid gehabt. Weil der hat fast nichts gehört. Durch eine Explosion bei seiner früheren Stelle, aber der Schmid wahnsinnig Glück gehabt, weil sieben Tote, und der Schmid unkündbare Stelle am Mistplatz. Aber pass auf, was ich dir sage. Mit dem hast du normal reden können! Weil der Schmid Eins-a-Lippenleser, das lernst du im Gehörlosen-Institut, das ist ganz super.
Und wie die beiden Kripomänner von ihrem Spaziergang zurückgekommen sind und sich dem Aufenthaltsraum genähert haben, ist der Schmid am Fenster gestanden und hat den Kollegen vorgelesen, was die Polizisten draußen geredet haben.
»Hast du den Mistler mit dem Zopf gesehen?«, hat der Schmid dem jungen Kripomann von den Lippen gelesen.
Und der Udo halb geschmeichelt, halb empört: »Was ist mit meinem Zopf?«
»Zopf und Zahnlücke«, hat der Schmid vorgelesen.
»Und der andere mit der Wampe im orangen Arbeitsmieder«, hat der junge Bulle gelacht. Also das Lachen haben die Mistler mit eigenen Augen gesehen, weil ein wunderschönes Lachen gehabt, dieser unverschämte Mensch, aber gehört haben sie ihn über die Schmid-Stimme. Wer mit der Wampe gemeint war, haben sie sich denken können, entweder der Novak oder der Platzchef.
»Da wartest du nur, dass ihm das Leuchtmieder aufreißt«, hat der Schmid weiter vorgelesen. »Das ist vielleicht eine Freakshow. Jetzt bin ich echt neugierig, was die uns erzählen.«
Und in dem Moment sind sie schon bei der Tür hereingekommen, sogar brav angeklopft, obwohl die Tür nur angelehnt war, aber eben demonstrativ, wir sind die korrekten Staatsdiener. Das war der junge Bulle, der angeklopft hat, weil der hat so eine exakte Art gehabt, und den dicklichen hat er vorausgehen lassen, bei den beiden hat man es einfach nicht sagen können, welcher der Boss war.
»Kriminalpolizei«, hat der junge Friseurweltmeister sich vorgestellt. »Sie haben unsere Arbeit erheblich erschwert. Wer von Ihnen hat den Fund bei der Polizei gemeldet?«
»Ich!«, hat der Udo herausgerufen wie ein Streber in der Schule. »Das Knie in Wanne 4. Ich hab sofort angerufen bei Ihrem Kollegen.«
»Kollegin«, hat der Dressman ihn korrigiert.
»Jaja. Kollegin.«
»Und die Kollegin hat Ihnen gesagt, Sie sollen nichts am Fundort verändern, oder?«
»Wir haben nichts verändert in dem Sinn. Wir haben ja nur geschaut, ob wir noch was finden.«
Die Stimmung war gleich so beschissen, dass einer von den Mistlern aufgestanden ist und die Kaffeemaschine angeworfen hat. Das war ein Spitzengerät mit einem italienischen Namen. Erst vor einem Monat aus der Trinkgeldkasse angeschafft, und seither Kaffeekonsum verdreifacht, frage nicht. Und du darfst eines nicht vergessen. Die Mühle war wahnsinnig laut, Metallzerkleinerer nichts dagegen. Jetzt hat die Kaffeemühle dem Kripomann das Wort abgeschnitten. Das hat den wahnsinnig gegiftet. Weil nach so einer Kaffeemühlenewigkeit ist eine Situation oft schon ein bisschen entschärft. Und wie die Mühle endlich die letzte Bohne zermahlen gehabt hat und der Lärm verklungen war und der Kaffee schon in die Tasse gelaufen ist, dreht der Müllmann sich mit seiner randvollen Snoopy-Tasse um und sagt: »So schlimm wird das nicht sein, dass ihr die Teile nicht in der Originalverpackung serviert kriegt.«
Mein lieber Schwan. Der Dressman war so baff, dass er mit seiner scharfen Zurechtweisung nicht weiter gekommen ist als bis zum Einschnaufen der Zurechtweisungsluft, während der Müllmann mit der Snoopy-Tasse in aller Ruhe fertig geredet hat: »Schließlich habt ihr euch eh die Kamerabilder schon gesichert. Da könnt ihr alles nachverfolgen. Wenn’s sein muss, in Zeitlupe.«
Seine Kollegen genauso baff wie die Kripo. Die haben ihn groß angeschaut, die einen mehr bewundernd, die anderen mehr ängstlich, und alle schadenfroh über den Zusammenschiss, den er gleich kassieren wird. Recht hat er ja gehabt, weil natürlich alles überwacht am Mistplatz, sechs Kameras insgesamt, sonst schütten dir die Leute über Nacht so viel Zeug herein, dass du am nächsten Morgen das Tor nicht mehr aufbringst. Aber sie haben trotzdem erwartet, dass die Kripoleute sich diesen Ton nicht gefallen lassen.
Der junge Kripomann war aber zu schlau, der hat genau gewusst, jetzt ist es zu spät, um seine eingeschnaufte Zurechtweisung herauszulassen. Der war nicht so blöd, eine aufgewärmte Belehrung zum falschen Zeitpunkt hinterherzutragen, jetzt hat er es gut sein lassen und den frechen Menschen nur angestarrt, quasi wir sprechen uns noch.
Gesagt hat nur sein alter Kollege etwas, oder alt in dem Sinn war der eigentlich nicht, ich würde eher sagen, ältlich. Ältlich war der und rundlich und genauso baff wie sein junger Kollege. Aber nach einer Schrecksekunde räuspert sich der mollige Kripomann und fragt ungläubig: »Sag einmal, bist du nicht der Brenner?«
Die anderen Mistmänner natürlich Augen gemacht, frage nicht. Woher kennt der Kieberer den Brenner? Das hast du ganz ohne Lippenlesen aus den Mistlergesichtern herunterlesen können, quasi Inschrift. Der Novak hat nachher sogar zugegeben, dass er im ersten Moment geglaubt hat, der Kripomann kennt den Brenner womöglich von der anderen Seite, sprich der Brenner ein Vorleben als Gesetzesbrecher. Sie haben ja keinen Schimmer gehabt, dass ihr neuer Kollege früher einmal bei der Kripo war. Aber was heißt »früher«. In der Steinzeit, müsste man sagen, sprich voriges Jahrtausend. Wie der alte Bulle noch ein junger Bulle war und sein gut frisierter Kollege noch nicht einmal geboren.
»Kopf«, hat der dicke Kripomann sich vorgestellt, »erinnerst dich an mich? Kopf Alexander. Du warst einmal mein Ausbildner.«
Der Brenner hat sich fast die Zunge abgebissen, damit er nur nickt und ihn nicht fragt, ob er ihn aus dem Bauch heraus erkannt hat. Du musst wissen, dieser ewige Spruch war das Erste, was ihm zu seinem früheren Kollegen eingefallen ist. Weil wenn du Kopf heißt, bist du als junger Polizist natürlich arm dran bei den Kollegen, und der hat sich das damals dauernd anhören dürfen. Egal, was er gesagt hat, irgendein Kollege hat immer geantwortet: »Der Kopf sagt das nur aus dem Bauch heraus.«
Natürlich hätte es den Brenner gejuckt, den alten Spruch sofort wieder herauszulassen, aber bei solchen Sachen hilft doch das Alter, man muss nicht jede Gemeinheit sofort sagen, und der Brenner hat sich zusammengerissen.
»Das ist der Brenner«, hat der Kopf zu seinem jungen Kollegen gesagt, »ein ehemaliger Kollege von uns.«
Und ob du es glaubst oder nicht, der Fußballer gibt dem Brenner die Hand und sagt absolut korrekt: »Savic. Freut mich.«
Weil der Savic immer gutes Benehmen, dem ist es auf die Nerven gegangen, wie seine Kollegen sich aufgeführt haben, sprich Machotheater, und von klein auf der Savic Lebensmotto: Als Ausländer werde ich denen einmal zeigen, wie man sich benimmt. Kleidungsmäßig der Savic auch immer tipptopp, sprich wahnsinnig modebewusst, bei den Kursen immer beste Note, quasi neue Generation. Das einzig Angeberische an ihm war diese Marotte, dass er sich selber immer als Ausländer bezeichnet hat, und schauen wir einmal, wie die Leute reagieren.
»Ich hab schon gehört, dass du nicht mehr dabei bist«, hat der Kopf zum Brenner gesagt, rein aus Verlegenheit, weil wenn ein Mensch seit Jahrzehnten nicht mehr bei der Polizei ist, muss man das nicht als Neuigkeit verkünden.
Jetzt interessant. Der Kopf war immer noch zehn Jahre jünger als der Brenner, aber er war jetzt zehn Jahre älter als der Brenner damals bei der Kripo. Wenn du einen anschaust, der gleichzeitig jünger und älter ist als du, da wirst du verrückt im Hirn, da legst du dich am besten gleich beim Albert Einstein persönlich auf die Couch und stehst nicht mehr auf. Weil in diesem verrückten Zeitspalt ist das halbe Leben vom Brenner gelegen, wenn nicht das ganze.
Am liebsten hätte er den ehemaligen Kollegen getröstet, es muss dir nicht peinlich für mich sein, dass ich auf dem Mistplatz gelandet bin. Für den Exkollegen hat Müllmann natürlich nicht nach einer Traumkarriere ausgesehen, das gebe ich schon zu. Aber für den Brenner war es der beste Job, den er jemals gehabt hat. Gesellschaftlich ja auch viel anerkannter. Das war vielleicht früher einmal so, dass die Müllarbeit nur für das Wegräumen der Vergangenheit gestanden ist. Aber heute: Recycling hin, Kreislauf her, sprich Zukunft gestalten. Darum war die Arbeit auf einmal so gut angeschrieben. Zehnmal besser als Kriminalpolizei. Heutzutage weiß jedes Kind, Müll verantwortungsvolle Tätigkeit. Das lernen sie schon in der Volksschule, allgemeiner Erstickungstod vor der Haustür, wenn der Müllmann nicht wäre, der alles in den Kreislauf einspeist, weil Kreislauf Geheimnis des Daseins. Kreislauf sagt dir heute nicht nur der Herzchirurg, Kreislauf sagt dir nicht nur der Buddhist, den entscheidenden Kreislauf garantiert dir heute einzig und allein der Müllmann.
Der ehemalige Kollege Kopf aber noch ganz der Alte, der dürfte das noch nicht begriffen haben mit der neuen Zeit. Jedenfalls ist kein rechtes Gespräch zustande gekommen, sondern beide gleichzeitig: »So sieht man sich wieder.«
Gottseidank der Savic Eins-a-Gespür, der hat den beiden aus der Patsche geholfen, indem er den Brenner gefragt hat: »Wie schätzen Sie denn den Vorfall hier ein?«
»Heute verstehe ich die Zeiten ja nicht mehr«, hat der Brenner behauptet, sprich: Mach deine Arbeit schön selber.
»Und wie hätten Sie es früher eingeschätzt?«
Der Brenner kurz überlegt, soll ich ihn blöd sterben lassen, aber dann hat er ihm doch den Gefallen getan: »Früher hätten wir gesagt: Wahrscheinlich hat er die Frau verlassen wollen. Dann hat sie bei seinem Auszug einen Zorn gekriegt, wie sie gesehen hat, dass er die guten Messer auch noch eingepackt hat. Womöglich ein Hochzeitsgeschenk. Und ihr hat er nur das schlechteste Küchenmesser gelassen. Dann hat sie ihm das schlechte Küchenmesser in den Rücken gesteckt und ihn anschließend auf seine eigenen Umzugsschachteln verteilt.«
Die Mistleute haben Augen gemacht, ja was glaubst du.
»Wie kommst du darauf?«, hat der Exkollege Kopf gefragt.
»Was soll sonst dahinterstecken? 95 Prozent aller Morde Beziehungstat, oder gilt das heute nicht mehr?«
»Doch klar, das gilt heute auch noch.«
»Da muss man nicht unbedingt bei den 5 Prozent anfangen. Aber wie gesagt«, hat der Brenner sich wieder an den Savic gewandt. »So war das früher. Heutzutage werdet ihr wohl einen Profiler brauchen, damit er euch erklärt, dass es sich um eine Beziehungstat handelt.«
Da war das Eis natürlich endgültig gebrochen, frage nicht. Weil gemeinsames Feindbild immer gut, und Profiler bestes Feindbild für einen Kripomann seit Erfindung der Schmauchspur, viel besser als zum Beispiel Betrüger oder Mörder, weil dem normalen Kripomann ist jeder anständige Mörder am Arsch lieber als ein Profiler im Gesicht.
Ausgerechnet in dem Moment, wo die Stimmung etwas besser geworden wäre, sind die Bilder von den Überwachungskameras hereingekommen. Auf das Handy vom Kopf sind sie gekommen, aber der Savic hat gesagt, schick sie mir weiter auf mein iPad, und auf dem iPad haben sie dann die Fotos in der Runde herumgezeigt, sprich: Habt ihr den schon einmal gesehen, ist euch der schon einmal aufgefallen?
Weil man hat den Transporter ganz genau gesehen, der mehrmals an diesem Tag zum Mistplatz gekommen ist und die Müllsäcke und Umzugskartons in die Wannen verteilt hat. Und als wäre es ihm darum gegangen, möglichst auffällig zu sein, hat der Transporter sogar eine Beschriftung gehabt. Ob du es glaubst oder nicht, auf dem weißen Transporter ist in großen roten Buchstaben gestanden: TOBIAS. WIR SIND LEGENDE.
Wie der Savic den Werbespruch der Transportfirma Tobias laut vorgelesen und dann das Bild in die Runde gezeigt hat, ist das betretene Schweigen im Aufenthaltsraum sehr laut geworden. Weil wenn fünf ausgewachsene Müllmänner in den Boden hineinschweigen, dann ist das lauter als jeder Altglascontainer, der um fünf Uhr früh vor deinem Schlafzimmerfenster in den Laster geleert wird.
»Immer wenn ich so einen Tobias-Wagen sehe, ärgere ich mich über die blöde Aufschrift«, hat der Udo sich aufgepudelt. »Ich frag mich, was das überhaupt heißen soll.«
Aber die Ablenkung hat nichts genützt, ein Blinder hätte ihnen an den Nasenspitzen angesehen, dass sie den Fahrer kennen. Weil zum Schweigen ist noch das Erröten gekommen. Und erröte einmal über einer orangen Arbeitskluft, das ist eine farbliche Mischung, die von jedem Gericht der Welt als Geständnis anerkannt wird.
Ich muss ganz ehrlich sagen, so groß war das Verbrechen der Belegschaft auch wieder nicht. Sondern normalste Sache der Welt. Der Fahrer vom Tobias hat die Mistler geschmiert, damit er ein bisschen mehr Müll dalassen kann als nur einen Kofferraum voll. Das waren schon eher, wie soll ich sagen, Kofferräumlichkeiten. Und in den letzten Wochen hat der Mengen abgeladen, das willst du gar nicht wissen. Den hätten sie jeden Tag zehnmal weiterschicken müssen zum Rinterzelt, aber natürlich Augen zugedrückt und Kaffeemaschine gekauft. Und darum jetzt die Mistleute auf einmal so still, Schweigekartell Hilfsausdruck.
»Die Kollegen haben schon angerufen bei der Firma Tobias«, hat der Savic ihnen erklärt. »Die bestreiten gar nicht, dass sie bei Ihnen die Umzugskartons abgegeben haben. Über den Inhalt war ihnen natürlich nichts bekannt. Wir werden jetzt einmal mit dem Chef der Firma Tobias reden. Und mit dem Fahrer. Sie können sich inzwischen eine gute Ausrede überlegen, warum der so viel Müll bei Ihnen abgeben durfte.«
»Na ja, wenn nicht viel los ist«, hat der Novak auf Unschuldslamm gemacht, quasi menschliche Hilfsbereitschaft.
Der Kopf hat ihnen einen Zettel hingelegt, da hat jeder seinen Namen eintragen müssen und Telefonnummer und Wohnadresse, sprich Formular.
»Sind wir eigentlich verdächtig?«, hat der Udo gefragt.
Und der Kopf natürlich: »Wer fragt, ist immer verdächtig.«
Sie haben der Reihe nach ihre Adressen in das Formular eingetragen, und der Brenner ein bisschen zu schwitzen angefangen, weil was soll er für eine Adresse angeben? Nicht dass er keine gehabt hätte. Er hat schon eine Adresse gehabt, sogar eine sehr noble, aber er kann sie ja nicht gut angeben. Da hätte er sich gleich selber anzeigen können beim Kopf oder beim Savic. Aber das ist das Gefährliche. Darum sage ich immer. Eine kleine Unregelmäßigkeit ist nicht das Schlimmste auf der Welt, ob das ein harmloses Nebengeschäft mit einem Fahrer ist oder meinetwegen ein Adressproblem, wo mit dem Meldeamt nicht alles hundertprozentig geregelt ist. Im Normalfall kriegst du damit keine Probleme, solange du dich nicht in der Nähe einer großen Unregelmäßigkeit aufhältst wie zum Beispiel Mord.
Während der Brenner seinen Namen in das Formular schreibt, schön lesbar, zuerst »Brenner« und dann »Simon«, und überlegt, was er in die Adresszeile schreiben soll, sagt der Kriminalpolizist Kopf: »Und eure Kaffeemaschine habt ihr mit der Provision vom Tobias-Fahrer bezahlt.«
Der Udo gleich ein paar Zentimeter kleiner geworden. Er war es ja, der diese kleinen Nebengeschäfte mit ein paar Kunden eingefädelt hat, weil der Udo immer Sonnenschein, da kommst du einfach durch das Reden automatisch mit den Leuten zusammen. Es waren zwar nur Groschengeschäfte, aber es hat sich dann doch zusammengeläppert, sprich Kaffeemaschine.
»Hast das jetzt aus dem Bauch heraus erkannt?«, hat der Brenner den Kopf gefragt und nebenbei die Adresse vom Mistplatz als private Wohnadresse in das Formular eingetragen.
Und ob du es glaubst oder nicht. Dem Savic ist vor Lachen über den Kommentar vom Brenner fast das Handy auf den Boden gefallen. Und da hat der Brenner begriffen, dass dieser alte Spruch über den Kopf sich über Jahre und Jahrzehnte und über Generationen von Polizeibeamten hinweg bei der Kripo erhalten hat, und da war er doch wieder froh, dass er damals auf die Polizeikarriere geschissen hat und seinen eigenen Weg gegangen ist.
In der Nacht hat der Brenner nicht einschlafen können. Einerseits die Leiche, andererseits der Exkollege. Weil die Leiche war wieder einmal so ein typischer Toter. Tagsüber sind sie schnell weggeräumt, Arzt, Sarg, Leichenwagen, da gibt es gar nichts, das geht zackzack, aber in der Nacht besuchen sie dich. Und der Exkollege auch so ein typischer Exkollege, sprich Vergangenheit, da schaust du als ein Brenner im Normalfall auch, dass du so wenig wie möglich damit zu tun hast. Du hast es längst abgehakt, und auf einmal wieder schöne Grüße von der Vergangenheit. Gefürchtet hat er sich aber nicht vor der Vergangenheit, sondern vor der Zukunft. Vor dem nächsten Tag hat er sich gefürchtet, vor den orangen Kollegen am Mistplatz, sprich Hilfssheriffs. Er hat sich ihre Mördergeschichten schon vorstellen können, den ganzen Tag Verdächtige, Spuren, Indizien, einer gescheiter als der andere.
Darum hat er sich im Bett herumgewälzt und überlegt, ob er sich einen Tag freinehmen soll. Oder überhaupt gleich ein paar Tage. Lieber eine Woche warten, bis Gras über die Sache gewachsen ist, hat er sich gesagt. Die Kripo hat eine Beziehungstat normalerweise in zwei Tagen geklärt, und danach wird es schnell ruhig werden. Bis dahin kann er einmal seine schöne Wohnung genießen. Weil der Brenner zum ersten Mal in seinem Leben richtig elegant gewohnt. Edelstahlküche, Geschirrspüler, Dunstabzugshaube, Mikrowelle, Thermomix, Abfallmanagement, amerikanischer Toaster, Umweltkühlschrank, alles! Und dieselbe Espressomaschine wie am Mistplatz, weil da war es ja sogar der Brenner, der den Kollegen den Einkaufstipp gegeben hat.
Nicht dass seine vorherige Wohnung so schlecht gewesen wäre. Im Gegenteil, sehr gemütlich gewesen. Aber Wohnung der Freundin, und da fliegst du schnell einmal hinaus, wenn du die Socken an der falschen Stelle liegen lässt. Oder um die ganze Wahrheit zu sagen, eigentlich war es nicht die falsche Stelle, sondern die falschen Socken, sprich Socken von der Freundin der Freundin. Mit dem Katzenbild drauf. Darum ist der Brenner noch am selben Tag auf der Straße gestanden, weil getrennte Befragung, und die Freundin der Freundin sofort umgefallen, da nützt es dir gar nichts, wenn du als Brenner noch so ein Abstreitweltmeister bist.
Unter der Brücke ist er nicht gelandet, aber in einer eigenen Wohnung auch nicht. Pass auf, er hat sich an den Immobilienverwalter erinnert, der ihn einmal auf einen Mietnomaden angesetzt hat. Damals hat der Brenner viel gelernt. Es gibt die Nomaden, die regulär mieten und dann nicht zahlen, aber es gibt auch die Gespenster. Die Surfer. Die Bettgeher. Die heimlichen Mitbewohner. Und im Gegensatz zum Nomaden, der etwas Unverschämtes hat wie ein Zechpreller, sind ihm diese heimlichen Mitbewohner nicht unsympathisch gewesen.
Der Bettgeher richtet keinen Schaden an. Er ist ja kein Vandale, sondern der Bettgeher elegant. Weil er nutzt nur die Leere. Und du darfst eines nicht vergessen. So wie ein Auto fast immer steht, ist eine Wohnung fast immer leer. Die Leute in der Arbeit, die Leute auf Urlaub, die Leute im Zweitwohnsitz, die Leute im Krankenhaus oder die Leute überhaupt tot. Da kann man sich, während die Wohnung leer steht, die Wohnung ausleihen. Das merken die regulären Bewohner gar nicht! Man zerstört ja nichts als anständiger Bettgeher. Im Gegenteil, man verwandelt das Möbellager in eine belebte Wohnung. Der Bettgeher bringt erst den Geist in die vier Wände, der erweckt die tote Wohnung regelrecht zum Leben. Und er tut keinem weh, weil er geht nur dorthin, wo gerade keiner ist, so wie man sich auf eine Parkbank setzt, wenn kein anderer dort sitzt, das ist auch kein Verbrechen.
Heutzutage ist das eine beliebte Wohnform, weil sehr preisgünstig und flexibel. Ganz früher hat man gehabt Großfamilie, dann hat man gehabt Kleinfamilie, dann hat man gehabt Wohngemeinschaft, dann hat man gehabt Sekte, dann hat man gehabt Patchwork. Aber hat sich alles nicht bewährt. Weil überall sind die Leute verrückt geworden. Und heute gibt es immer mehr Leute, die sagen, eigene Wohnung muss überhaupt nicht sein, weil nur Belastung. Du musst nur den Mut haben, in die Leere hineinzugehen. Wenn die Familie in die Arbeit geht, die kleinen Kinder in den Kindergarten, die großen Kinder Schule, Geige, Magersuchtklinik, dann sind die alle nicht in der Wohnung. Die Leute ahnen gar nicht, wer bei ihnen wohnt, während sie im Wochenendhaus sind. Geschickt machen musst du es natürlich schon. Wenn sie es beim Zurückkommen merken, kannst du die Wohnung in Zukunft vergessen. Wer nicht sauber wohnt, ist nicht lang im Geschäft. Aber wenn du es ordentlich machst, ist es besser als jedes Eigentum.
Durch seine Berufserfahrung war es für den Brenner natürlich leicht, die richtige Wohnung herauszufinden, sprich Geldpaar auf Urlaub. Er hat sogar noch am selben Tag, wo er bei seiner Freundin hinausgeflogen ist, etwas sehr Schönes gefunden. Nur vier Sachen besichtigt, und dann in die allererste zurückgekehrt und eingezogen, weil das war die beste.
Der Luxus hat ihn sogar ein bisschen gestört, weil was braucht ein Brenner zweihundert Quadratmeter, offenen Kamin, Kunstwerke, Whirlpool, Designerlampen und ein Bett, aus dem du durch das bodentiefe Fenster einen Panoramablick auf die halbe Stadt hast und vor Angst nicht schlafen kannst, wenn die Scheibe zu sauber geputzt ist. Aber die Lage hat ihn überzeugt, weil günstiger Fluchtweg über die Terrasse, falls doch einmal etwas gewesen wäre. Und die drei wichtigsten Kriterien für den Wert einer Immobilie: erstens der Fluchtweg, zweitens der Fluchtweg, drittens der Fluchtweg. Weil goldene Regel: Wo du leicht hineinkommst, kommst du auch leicht hinaus, sprich Terrasse.
Aber da sieht man schon, wie ahnungslos der durchschnittliche Wohnungseigentümer heutzutage ist. Seine Gastgeber haben offenbar geglaubt, man arbeitet sich als Einbrecher durch die gut gesicherte Eingangstür. Hör zu, gleich bei der Wohnungstür war ein Garderobentischchen, und auf das haben sie ein Kuvert mit zehn Hundert-Euro-Scheinen gelegt, und auf das Kuvert haben sie geschrieben: »Liebe Einbrecher. Bitte zerstören Sie die Wohnung nicht. Nehmen Sie dieses Geld, weitere Wertgegenstände befinden sich nicht in der Wohnung.«
Und ob du es glaubst oder nicht, das Ganze in sieben Sprachen, Deutsch, Englisch und die fünf Haupteinbrechersprachen. Da hat sich einer viele Gedanken gemacht, wie er mit dem Einbrecher einen Deal macht, quasi Win-win-Situation. Und dann das Kuvert vor die falsche Tür gelegt. Vor die Eingangstür! Bis du als Einbrecher von der Terrassentür zur Wohnungstür kommst, hast du ja schon die halbe Wohnung zerlegt. Da siehst du schon, auch wenn ein Wohnungseigentümer sich bemüht, ein bisschen mitzudenken, so ganz begreift er den Einbruch doch nicht. Typisch auch, dass sie nur mit einem altmodischen Einbrecher gerechnet haben, der es wegen dem Geld macht. Der entweder das Geld nimmt oder die ganze Wohnung davonträgt und auf jeden Fall so schnell wie möglich wieder verschwindet. Sie haben nicht mit dem friedlichen Mitbewohner gerechnet, mit dem unsichtbaren Untermieter, der den Müll trennt und am Freitag staubsaugt.
Das Geld hat der Brenner liegen gelassen, wo es war, er hat ja anständig verdient beim Mist. Aber weil er jetzt nicht und nicht eingeschlafen und dann noch einmal aufgestanden ist, hat er das Kuvert genommen und seinen Computer aufgedreht. Um sich von dem Toten am Mistplatz abzulenken, hat er nachgeforscht, welche Sprachen das auf dem Kuvert waren. Und auf einmal hat es ihn wahnsinnig gejuckt, das Geld in die entsprechenden Währungen umzuwechseln. Er hat sich vorgestellt, wie die Wohnungseigentümer zurückkommen und das Geld im Kuvert komplett vorfinden, aber nicht die Euroscheine, die sie hineingetan haben, sondern Dinar, Leu, Forint, Zloty und Rubel.
Da siehst du schon, dass die Sache am Mistplatz ihn mehr aufgeregt hat, als er sich vielleicht selber eingestehen wollte. Er ist immer wacher geworden, es ist regelrecht rundgegangen in seinem Hirn, und zu allem Überfluss hat dann auch noch sein Telefon geklingelt. Aber das war auch schon egal, wahrscheinlich hätte er auch so nicht einschlafen können, wenn ihn nicht auch noch sein Exkollege Kopf angerufen hätte.
»Das hätte ich mir fast denken können, dass du keine korrekte Wohnadresse in das Formular schreibst«, hat der Kopf in das Telefon gelacht.