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Polizeimann Müller muss nach Altstetten hinaus, weil es aus einer Maisonettewohnung ungünstig riecht. Die Identität des Toten: völlig unklar. Im Abfalleimer der kahlen Wohnung liegt ein Drohbrief, eingeleitet durch ein Zitat aus der Apokalypse. Vielleicht weiß der wirre Rocker Blacky etwas. Oder spielt der Investor und Lokalpolitiker Christian Guggemos eine Rolle? Müller muss einmal mehr die Stadt auf den Kopf stellen, um die Wahrheit ans Tageslicht zu befördern.
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Seitenzahl: 335
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Raphael Zehnder wurde 1963 in Baden AG geboren und arbeitete als Schallplattenverkäufer, Nachtwächter und Musikjournalist, bevor er Französisch und Latein studierte und in französischer Sprach- und Literaturwissenschaft promovierte. Er arbeitet als Redaktor beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF, ist Miterfinder und -organisator der Zürcher Kriminalnacht im Theater Rigiblick in Zürich und Autor von fünf Kriminalromanen um den Polizeimann Müller Benedikt. Für «Müller und der Mann mit Schnauz» erhielt er 2015 den Zürcher Krimipreis.
Die Ratschläge in diesem Buch sind vom Autor sorgfältig erfunden und erlogen worden. Sie bieten keinen Ersatz für kompetenten polizeilichen Rat. Alle Angaben in diesem Buch erfolgen daher ohne Gewährleistung oder Garantie seitens des Verlags, des Autors, einer auftretenden Person oder der Polizei Zürich. Eine Haftung des Autors, des Verlags, einer auftretenden Person, der Polizei Zürich oder eines oder einer Beauftragten einer der vorgenannten Partien für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ebenfalls ausgeschlossen. Wer dieses Buch oder einen Teil seines Inhalts glaubt, hat dies selber zu verantworten. Nur Zürich ist real und wahr, die Polizei auch und natürlich das Verbrechen.
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© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: depositphoto.com/mcarrel Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH) eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-150-5 Originalausgabe
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To my little German rose, Lady W., et bambinibus nostris
«Wahre Männer töten keine Koyoten.»
Kiedis/Flea/Sherman/Martinez
«Make laws, not war.»
Bucher Manfred
«Der Name täuscht: Die Süsskartoffel ist botanisch mit der Tomate verwandt.»
Unbekannt
Omnis homines, qui sese student praestare ceteris animalibus, summa ope niti decet, ne vitam silentio transeant veluti pecora, quae natura prona atque ventri oboedientia finxit. Sed nostra omnis vis in animo et corpore sita est: Animi imperio, corporis servitio magis utimur magisque animi imperio utitur:
Müller Benedikt (46), Abteilung Gewaltverbrechen, Polizei Zürich
Alterum nobis cum dis, alterum cum beluis commune est. Quo mihi rectius videtur ingeni quam virium opibus gloriam quaerere et, quoniam vita ipsa, qua fruimur, brevis est, memoriam nostri quam maxume longam efficere. Memoria hominum sequentium Turicensium:
Altstetten Basterds, Ex-Rap-Crew, 8952 Schlieren
Baldinger-Kronbichler Aeneas (34), Professor für Neuralheuristik, Universität Zürich
Barmettler Dylan («Gucci», 31), Abteilung Gewaltverbrechen, Polizei Zürich
Bitterli Reto (49), «Bitterli Treuhand AG», 8002 Zürich
Blacky (56), Mitglied des «Thunderstorm MC», Zürich
Brogli Heather (28), Abteilung Gewaltverbrechen, Polizei Zürich
Bucher Manfred (46), Abteilung Gewaltverbrechen, Polizei Zürich
Buess Patrick (33), Abteilung Gewaltverbrechen, Polizei Zürich
Catanzaro Rocco (30), Abteilung Gewaltverbrechen, Polizei Zürich
Guggemos Christian (42), «Guggemos Law & Consulting», Rechtsanwalt/Unternehmer/Investor/Politiker, 8048 Zürich-Altstetten
Hächler Meinrad (32), IT-Fachmann, 8048 Zürich-Altstetten
Hartmann Reinhard (46), Dr. iur., Staatsanwaltschaft Zürich
Hauser Michael (31), Musikjournalist, 8003 Zürich
Honegger Robbie (52), Kulturunternehmer, 8005 Zürich
Hossli Janine (29), Abteilung Gewaltverbrechen, Polizei Zürich
Lombriser Lena (34), Kauffrau, 8048 Zürich-Altstetten
Marquardt Brenda, Dr. (circa 35), Pathologin, privat: 8032 Zürich
Meier Gregor (42), Leiter Kommunikation, Polizei Zürich
Mösch Jason (32), Optiker, 8803 Rüschlikon
Moosberger Michael (44), Dr. iur., Staatsanwaltschaft Zürich
Müller Doris (42), Schwester vom Müller, 4054 Basel
Oberholzer Gaudenz (37), kaufmännischer Angestellter, 8048 Zürich-Altstetten
Owen Howard John Frederick Arthur (58), Engländer, 8048 Zürich-Altstetten
Stojanovic Arnold (44), Nachtwächter, 8304 Wallisellen
Vogt Ralph (43), Hauptmann, Chef Abteilung Gewaltverbrechen, Polizei Zürich
Vukic Rosanna (34), Abteilung Gewaltverbrechen, Polizei Zürich
Weiermann Gustav (58), Abteilung Gewaltverbrechen, Polizei Zürich
Wyss Manuela (34), Mitarbeiterin Catering, 8048 Zürich-Altstetten
Et aliorum cuiuscumque sexus plures.
EINS
Das hier ist nicht Bullerbü, es ist Altstetten. Und die erste Person, von der wir erfahren, über die schreibe ich: Die Existenz spiegelt sich in ihr, merkst du, stahlhart sieht sie aus, aber gut, «attraktiv» langweiliges Klischeewort dafür. Etwas müde, dunkle Ringe unter den Augen, Fältchen, wenn Sie genauer hinsehen. Zwei Augen blau wie Stahl. Und so existenzgehärtet, wie sie aussieht, ist sie und muss sie sein. Weil Claudio, sie hätte es seit Langem wissen müssen, wusste es schon lange, er taugte nichts. Drei Buchstaben hatte sein Lieblingswort, zuerst ein I, dann ein C und ein H. Und weg war er.
Jetzt lebt sie mit den zwei Kindern allein. Sie liebt sie, keine Frage. Die Wohnung kostet so was von, sogar hier draussen, und sie hat nur diesen Job: Nachtarbeit, Brötchen streichen für den Caterer der SBB, manchmal eine Zusatzschicht. Sandwiches mit Käse, Schinken, Salami oder Schinken-Käse. Wenn Sie im Zug eines vom Wägelchen kaufen, der Minibar, vielleicht hat sie es bestrichen und das Cornichon artgerecht aufgeschnitten, drapiert und eingeklemmt. Bringt ihr netto CHF 1700.-, nicht Vollzeit und wirklich nicht Topverdienersegment. Claudio müsste 2000.- zahlen jeden Monat. Manchmal kommt das Geld sogar. Dass es pünktlich eintrifft, ist halleluja auch schon vorgekommen. Aber es reicht nirgends hin. Nachts, wenn sie arbeitet, passt manchmal ihre Schwester Veronika auf, manchmal spitzt die Nachbarin die Ohren, die alte Frau Büttikofer, und horcht durch die Wand hindurch, falls Lea oder Cyril einen bösen Traum hätten oder Sehnsucht nach Zuspruch.
Manuela Wyss weiss, es ist nicht gut, dass die Kinder so oft so lange so allein sind, und es zerreisst ihr jedes Mal das Herz, wenn sie abends aus dem Haus muss. Obwohl schon zehn und neun und tapfer, das erwartest du nicht, Lea und Cyril. Sie geben acht, dass ihre Siebensachen nicht hopsgehen, weil wenn das Velo kaputt ist und irreparabel, wäre es kaputt und definitiv bye-bye. Die Krankenkasse kostet, trotz der kantonalen Vergünstigung, einen schönen Ausflug sollen die Kinder mit ihr ja auch mal machen, Alpamare ist nicht drin, und die Füsse wachsen, die Schuhe, die Hosen, sechsmal geflickt, irgendwann reissen sie für immer. Trotzdem alleweil alles besser, all das, als weiterhin mit Mister Ich, der eines Tages mit seiner kompletten Manchester-United-Originalausrüstung und dem Mega-HD-Giga-Flachbildfernseherwunder die Fliege gemacht hat.
Es heisst, die Minibar in den Zügen werde bald eingestellt, was soll sie dann? Weil wenig Ausbildung, ja, sie weiss, Abschlüsse, Diplome hat sie nicht. Sie war halt jung und optimistisch und vielleicht zu … aber irgendwie … keine Ahnung, wie. Es wird sich schon was auftun. «Auf dem Mond scheint immer die Sonne» (Kopernikus).
Und die Kinder, nachts, wenn sie bei der Arbeit ist, die im Telefon einprogrammierte Nummer, da wissen sie, im Falle, dass … könnten sie sie auf dem Natel erreichen, mit ihr einige Wörter oder Worte wechseln, wenn nötig. Eine Lösung ist das nicht, weil das geht nicht, und es geht wirklich nicht, aber es muss. Und morgens, wenn die Kinder aufstehen, beide sind längst Experten im Selbstweckmanagement. Sie müssen gehauen oder gestochen um acht in der Schule sein, auch wenn ihre Mutter kaum aus dem Bett kommt, weil Brötchen bis 04:00 Uhr oder später. Stundenlohn, auf Abruf, heute Nacht mehr Stunden, weil eine Kollegin ausgefallen ist. Unten Butter, dann Fleisch oder Käse oder Schinken-Käse, die elegant aufgefächert eingeschnittene Gurke. Am Morgen, manchmal kann sie einfach nicht mehr, schon gar nicht Brote fürs Znüni parat machen. Und die Kinder manchmal knapp, spät aus der Wohnung in Richtung Schule, sicher zerzaust und vielleicht mal mit verschiedenen Socken links und rechts. Immerhin immer ein Frühstück im Bauch und mit Liebe imprägniert. Das Leben ist manchmal viel, zu viel, ohne Atempause.
Aber ist das ein Grund?
Geht das irgendwen auch nur ein Komma an hinter der Perzentile?
«Das hier hatte ich heute im Briefkasten», sagt sie und legt den Brief auf den Tresen.
Die Polizistin hinter dem Korpus, der im Polizeiposten Zürich-Altstetten den Kunden- vom Polizeibereich trennt, streckt die Hand aus und nimmt das Blatt entgegen.
«Er weiss, wo ich wohne, wann ich was mache, wer ich bin.»
Die Polizistin liest den Brief. Den Ausweis gibt sie ihr zurück. Name: Wyss, Manuela. Alter: 34. Wohnhaft, sagt sie: «Bristenstrasse».
«Und er kennt die Namen meiner Kinder: Lea und Cyril.»
Mittwoch, 29. März, 15:40 Uhr, Eröffnung eines Aktenvorgangs:
«Ich erstatte Strafanzeige. Wegen Drohung. Und vielleicht haben Sie einen Vorschlag, welche Paragrafen dieser Brief sonst noch betreffen könnte. Ich kenne mich nicht aus.»
ZWEI
«This is not beautiful», sagt bei solchen Gelegenheiten dem Müller sein Kollege Rob Levey, Detective Inspector, der sich im Perimeter Stamford Hill in N15, N16 und E5 dem Verbrechen entgegenstemmt. Sogar ein «f*****ing ugly» könnte ihm entfahren, denn Rob ist ein kerniger Mann, einfach aufgewachsen, der Vater trank das «London Pride» zu Hause direkt aus der Flasche. Rob läge richtig, aber er ist weit weg. Denn hier ist 8048. Zürich-Altstetten, Badenerstrasse, Lindenplatz, wo der 2er Richtung Farbhof fährt, die Restaurants Lindentreff, Allen-Wohl und Memo Can heissen, die Kinderkrippe Güxi, eine grosse Migros-Filiale und Geldautomaten an jeder Ecke. Alles, was du brauchst.
Heranzoomen: 670er Hausnummer, Architekturverbrechen der sechziger Jahre, Funktion ohne Form, ein Geschäftshaus, drin, dachten alle, ausschliesslich Büros bis oben hin, auf vier Etagen. Und deshalb hat’s so lange gedauert, bis jemand etwas gemerkt hat. Dieser Jemand trägt einen Namen, er heisst Arnold Stojanovic, Nachtwächter der Firma «Total Control Security». Firmenbezeichnung selbsterklärend, Vorname durch Popularität von «Conan» oder «Terminator» bei seinem Vater, Familienname durch Tradition. Was hat er bemerkt? Den Geruch, und da kommt obiger Leitgedanke von Detective Inspector Levey rund ins Rollen: «not beautiful».
Am Donnerstagabend, 30. März, 23:35 Uhr, als Stojanovic erstmals den Verwesungsgeruch feststellt, denkt er sich nicht viel dabei. Ein Gedanke bloss: Durchs offene Fenster zum Hinterhof (er schliesst es) könnte der Geruch ins Treppenhaus eingedrungen sein. Dort hinten weilen die Abfallcontainer mit den Überschüssen von Privat- und Unternehmensexistenzen des frühen 21. Jahrhunderts, und die feuchteren und organischen Elemente des Containerfüllguts zersetzen sich teils unter Freisetzung von Faulgasemissionen. Stojanovic die Treppe hoch, die Eingangstüren zu den Etagen kontrollieren. Gehören zur Verwaltung der Kantonalbank, weiss er laut Auftragsanweisungen und Notfalltelefonnummer auf seiner Liste, aber nirgendwo nichts angeschrieben, kein Wort, weder aussen am Gebäude noch auf den Türen im Treppenhaus, kein Briefkasten. Parterre: i. O. Erster Stock: alles abgeschlossen. Zweiter: ebenso. Dritter: dito. Da kehrt der Nachtwächter jeweils um, weil weiter oben ist nicht mehr sein Revier. Die Runde weiter die ganze Nacht. Von Objekt zu Objekt Fenster schliessen, Türen kontrollieren, Kontrolllämpchen bei einem Labor, Lifte überprüfen, Lichter löschen, die Personalien eines nächtlichen Büroarbeiters aufnehmen, Blick in Toiletten: Läuft ein Wasserhahn, stellt er ihn ab. Gelegentlich bei einem Automaten einen Kaffee ziehen, sich hinsetzen, die Beine fünf Minuten strecken. Und weiter. Eine ruhige Nacht heute, mild, als wäre es bald Sommer. Um 05:00 Uhr stempelt der Nachtwächter im Wachtlokal aus, Disponent Bernet macht noch einen Witz über einen gestreiften Papagei in einem Schaumbad, den Stojanovic phonetisch nicht versteht, weil Bernet Walliser ist, Stojanovic aber Walliseller. Dann ist Schluss, Feierabend. Ab nach Hause, die drei Kinder und die Frau stehen auf, wenn er gerade zu Bett geht. Manchmal kann er ihnen noch einen guten Tag wünschen.
DREI
Arnold Stojanovic ist heute einige Minuten später dran als gestern. Die Ampel bei der Grimselstrasse ewig auf Rot. Freitag, 31. März, 23:40 Uhr, lässt sich anhand der kontrollierten Posten eindeutig bestimmen, betritt er das Geschäftshaus Badenerstrasse mit der 670er Nummer. Eingangstür aufgeschlossen, Türe Parterre rechts unbeschädigt und verriegelt, drückst du immer die Türklinke hinunter, um das zu überprüfen, auf halber Treppe Fenster zum Hinterhof heute geschlossen. Die Stufen hoch: erster Stock – okay, zweiter Stock – i. O., dritter Stock: Türe verschlossen, keine Einbruchsspuren, gut. Kontrollierst du konsequent, siehst du sofort, wenn etwas wäre. Es stinkt, stellt er fest, wirklich, noch unerträglicher als gestern, hältst du nicht aus, riecht wie ein Dachs, überfahren im Hochsommer auf einer Landstrasse und gärt vor sich hin, die Haut schon prall und darunter … willst du gar nichts davon wissen. Auch wenn du das noch nie bewusst gerochen hast, kennst du den Geruch. Anthropologisch steckt das mindestens seit Jupiters Jugend im Gedächtnis des Menschen drin.
Arnold Stojanovic macht questa notte nicht auf dem Treppenabsatz kehrt, sondern steigt nach oben. Halbe Treppe höher: Der Geruch wird stärker. Nach nächster halber Treppe, er sieht die Tür, dunkelrot. Jetzt erreicht er den vierten Stock. Die Tür steht einen Spalt offen. Von da kommt der Geruch.
In der Nase hast du es jetzt, aber sehen willst du das nicht als Nachtwächter und Mensch. Du willst einfach deine Runden drehen, von 19:00 bis 05:00 Uhr, einsam, aber problemlos Türen kontrollieren, Lichter löschen, Fenster schliessen, Fenster schliessen, die Leute rennen bei Feierabend wie die Hühner einfach vom Arbeitsplatz weg, in dunkle Räume spähen, wo Geräusche sind, die du nicht kennst, Motoren, Lüftungen, elektronische, ein Piepsen, was rattert da ganz leise, dort mit mondsüchtigem Programmierer schwatzen, an einem Automaten auf die Kaffeetaste drücken und zusehen, wie der Becher unten rausploppt und gefüllt wird, während es zu duften beginnt. Du willst mal einen Igel sehen, der die Buckhauserstrasse überquert, ohne überfahren zu werden, manchmal glänzen gelb die Augen eines Fuchses, und Monat für Monat den kleinen Lohn auf dem Konto haben.
Eine warme, menschenleere Märznacht ist fast paradiesähnlich. Normalerweise.
Jetzt ruft Arnold die 117. «Ja, es stinkt im ganzen Treppenhaus, und im vierten Stock steht die Tür einige Zentimeter offen … Nein, ich bin nicht … da gehe ich nicht rein … Ja, ich bleibe vor Ort. Wie lange wird das dauern? Gut, ich warte.»
Kein Verkehr → Vier Minuten haben wir vom Grossen Polizeihaus her gebraucht. Der Müller, Bucher Manfred, Heather Brogli, Rocco Catanzaro plus Erwin Hofstetter und Ernst Kuhn als Vorausabteilung vom Wissenschaftlichen Dienst. (Wir sagen «WD».) Drei Aspiranten unter Führung von Mauchle sichern das Treppenhaus, damit niemand in den Tatort hineintrampelt.
Weil Tatort ist es. Nicht die Fernsehsendung mit dem Hashtag, sondern ein veritabler, also wirklich existent. Sie streichen sich Menthol unter die Nase. Der Müller, Bucher Manfred, Heather Brogli und Rocco Catanzaro in dieser Reihenfolge durch die dunkelrote Tür hindurch in die Dunkelheit des Raumes, jeder in der Hand die Waffe, lautlos, versuchen sie, aber sogar die Gummisohlen hallen wie der Bagger im Steinbruch. Logisch, das ist psychisch im Menschen drin. In den Ohren pocht das Blut, in der Brust das Herz, die Luft weckt Würgereiz. Ich wünsche Ihnen, nie diesen Cocktail … einatmen zu müssen. Totale Stille, ausser die Gummisohlen, und das Herz rattert wie die Harley des Rockers Blacky, sonst kein Geräusch in der Wohnung. Nein? Null, keines. Und der Müller die Waffe in der Hand, du weisst nie, was dich drin erwartet, wenn du eine Wohnung betrittst: beisslustige Kobra? Schiesswütiger Wahnsinniger? Eine Sprengfalle? Häusliche Tragödie? Ein Blutrausch? Extremisten? Das Opfer eines okkulten Kults? Kein Laut, nichts, das Haus schweigt, es ist wie tot.
Nein, hier lebt keiner mehr. Kein Mensch, meine ich. Am Boden Parkett. An der Wand im Entrée eine Garderobe, siehst du im Zwielichtstrahl vom Treppenhaus her, die mit den farbigen Kugeln in Pingpongballgrösse. Über einer der Kugeln eine Lederjacke, die anderen ragen nutzlos in die Luft. Augen noch nicht gewohnt an das Fehlen von Licht → Bucher Manfred knallt mit dem Fuss gegen eine leere Schachtel, dass die Dunkelheit noch lauter explodiert. Einfrieren! Dastehen wie eingefroren! Der Schachtelknall (Aktion) hat jedoch keine Wirkung (Reaktion). Noch immer leicht geduckt und sprungbereit, in der Rechten die Waffe, Combat-Stellung, ein Nicken vom Müller, mit Handschuhen macht Bucher Manfred hinter ihm das Licht an, auch er weiterhin in Schussbereitschaft. Fiat lux: Der Lichtschalter knackt.
Helligkeit!
Erkennst du: Maisonnette-Wohnung. Links eine offene Küche. Auch links: eine Tür: Bad? Zimmer? Der Hauptraum wie eine Halle, Fensterfront zum Hinterhof. Hinten rechts führt eine Metallwendeltreppe hoch, wohl in den ausgebauten Dachstock. Hier im vierten: fast nichts. Nur ein schwarzes Ledersofa, das teuer gewesen sein muss, als es vom Band gelaufen ist, dunkel mitten im Raum, die Rücklehne der Wohnungstür zugewandt. Die Wände der Wohnung weiss: kahl, Bilder keine. Nirgends Pflanzen keine, ein weisser Schrank. Rechts hast du noch immer die Waffe, mit der Linken (Achtung: Spurenverunklärung! Aber: Gefahr im Verzug?) öffnest du die Schranktür: Kleider drin, gefaltet, ganz unten zweimal Cowboy- und Bikerstiefel. Nichts rührt sich. Der Geruch. Wo kommt er her? Enfer et damnation! Zum Sofa hin wird sie stärker, die Pestilenz. Von da … kommt, kommt der, kommt der Verwesungsgestank, unübersehbar. Er ist überall, aber eine Quelle hat jeder Duft, weiss neben der Gastronomie auch die Kriminalistik.
Jetzt schaut der Müller über die Lehne des Sofas.
Würgt.
Er ist aufgetrieben und schwarz verfärbt, wie um sich auf dem Sofa zu tarnen. Das richten die Chemie und das Biotop im Körper an. Die Organismen, wo gedeihen, wenn der Kreislauf des Lebens für den einen endet und für die Milliarden von Kleinen weitergeht oder beginnt, bis schliesslich nur noch das Skelett übrig ist, aber hier natürlich früheres Stadium. Die Kleider spannen sich über dem Körper: schwarze Jeans, rotes T-Shirt mit Aufschrift «If you like piña coladas», Cowboystiefel, schwarze Lederhandschuhe mit Nieten. Du siehst gleich: Der Rigor mortis hat ihn längst wieder verlassen.
Vom WD trifft jetzt der Rest des Teams ein: vier Kriminaltechniker. Fehlt noch der Pathologe.
Obwohl mir das gerade einfällt, erzähle ich an dieser Stelle nicht von der Leiche, die die Polizei Zürich vor drei, vier Jahren in einem Haus im Kreis 7 gefunden hat. Villa, verwitweter Senior, Juli war’s und heiss wie Frittieröl, und als wir ihn nach dem Ausmessen, Fotografieren, Abpinseln und alles, als wir ihn auf die Bahre legen und ins Pathologische Institut von Dr. Brenda Marquardt bringen wollten. Wir versuchten ihn gerade hochzuhieven, Weiermann am rechten Arm, Rocco am linken, Badertscher (jetzt bei der Flughafenpolizei) das rechte Bein und Aspirant Bader, der im Streifenwagen gerufen hat «Let’s go, rodeo» und seit Längerem nicht mehr bei uns ist, das linke, da ist uns die Leiche … sagen wir’s direkt: Es hat gespritzt bis an die Modigliani-Sammlung an der Wand. Haftpflichtfall und Scheissereien bis hoch zu Kommandant Nägeli. So viel Gas und Maden waren schon drin. Da kommt’s dir natürlich auch hoch → Die Perser auf dem Boden, antik natürlich. Zweiter Aspekt des Rechtsstreits mit der Erbengemeinschaft.
Wir hätten es also schlimmer treffen können als heute, in dieser Nacht an der Badenerstrasse 67X. Das Menthol auf der Oberlippe hilft ein wenig. Heute ist’s ausser dem Geruch nicht gar so arg wie damals im Kreis 7, weil er detoniert nicht, der Aufgefundene. Freude macht’s trotzdem nicht, sagt das Understatement. Du versuchst das mit Routine zu erledigen, den professionellen Firewall um dich hochgefahren, die mentale Splitterschutzweste, damit es dir nichts ausmacht. Aber es macht dir was aus. Zum Glück bist du nicht allein. Und wenn du’s gar nicht verkraftest, übergeben müssen sich manchmal auch erfahrene Leute, hinterher kannst du dich mit den Kollegen besprechen.
Jetzt bloss nicht Spuren vernichten, indem alle planlos und dumm und leichtsinnig. Sichern musst du den Ort, falls irgendwo einer lauert oder ist. Also, die Polizeikräfte sofort in klar definierten Korridoren durch den Raum vorgestossen, nach hinten, nach rechts, links durch die Tür in das Zimmer (ein Arbeitszimmer) neben dem grossen Raum mit der Leiche reingeschaut: niemand. Dann Bucher Manfred und Rocco schnell über die Metalltreppe ins Dachgeschoss hoch. Heikel, weil wenn du hochsteigst, und oben wartet einer mit böser Absicht, dein Kopf erscheint wie ein roter Ballon in der Schiessbude auf der Chilbi → «Bang bang, bye bye» (Rupert «Love» Cartwright).
Entwarnung. Ganz oben keine Person. Hier unten nur der Tote auf dem Sofa. Masculini generis, weil a) Bekleidung, b) Haarschnitt erkennbar, c) bei Toten wächst der Bart nach dem Exitus einige Tage weiter. Der Müller weiss, dass das sein neuer Fall ist.
Neben den Umständen, die zum Tod geführt haben, willst du bei einer Ermittlung wissen, auf welchen Namen der Leichnam hört. Am Klingelschild vor der dunkelroten Tür steht «F.Y.». Ob das Opfer in vino veritas so heisst, wissen wir nicht. Und vor allem: Wer zum Teufel hat in unserer schönen Stadt Zürich einen Familiennamen mit Y am Anfang?
Und ob wir wirklich von einem Verbrechen sprechen müssen?
Die Leute vom WD, Hofstetter und Kuhn und ihre vier Kollegen, ziehen die weissen Overalls an, um ihres wissenschaftlichen Amtes zu walten, betreten die Wohnung und packen die Ausrüstung aus. Was die alles dabeihaben! Rocco und Brogli öffnen die Fenster, der Müller und Bucher Manfred sehen sich in der Wohnung um.
Erster Befund, hier zusammengefasst: Es ist leer in der Wohnung des mutmasslichen F.Y. Ausnahme: Kleider im Schrank. Weitere Ausnahmen siehe unten → «dritter Befund».
Zweiter: Es ist sauber und aufgeräumt. Nur geringe Staubflockenbildung.
Dritter: In der Wohnung steht nur wertloses Zeug. Die Pappschachtel, die vorhin geknallt hat, das durchgesessene Sofa, ein Kissen drauf, wo die Schaumstoffflockenfüllung rausguckt. Und in der offenen Küche verbrauchtes, achtelkaputtes Geschirr, blindes Besteck, Gläser ohne Glanz, alles gespült und in die Schränke verräumt. Ein Toaster mit abgebrochenem Griff, eine Kaffeetasse ohne Henkel. Neu nur ein Sixpack einer einheimischen Biermarke, die zu einem internationalen Konzern gehört. Alles ordentlich hingestellt. «An seinem Platz» kannst du nicht sagen, weil du nicht weisst, wo der Platz ist. Aber nichts Schönes, wo sich jemand drüber freuen könnte, obwohl Bier, okay, trinkst du gerne, aber nicht so existenziell wichtige Freude, wo dich durchs Leben trägt.
«Kein Buch, kein Bild, keine Fotos», sagt der Müller.
«Nichts», sagt Bucher Manfred, «trostlos.»
Sie schauen sich das an, dieses Nichts. Die Wohnung sieht klinisch aus, gereinigt, geputzt, gescheuert, desinfiziert, «stelirisiert», wie man beim Müller zu Hause falsch sagte, blitzblank.
«Diese Inventarliste haben wir schnell geschrieben», sagt der Müller. Bitter, weil wenn ein Leben auf eine Inventarliste zusammenschnurrt, dämmert Dantes Inferno herauf. Und wenn diese Liste so tweetkurz ist, ähnlich wie bei einem Toten, den du irgendwo im Freien findest, ohne mehr persönliche Effekten als im Einkaufswagen daneben Platz finden, dann ist es Infernissimo, sofern das grammatikalisch geht. Oder kann, um Zeit zu sparen, man auch grammatisch sagen?
Und Dante hatte im Inferno einen Begleiter. Der Tote hier ist allein.
Und Rocco Catanzaro → Treppenhaus → Nachtwächter Arnold Stojanovic steht noch immer eine Etage tiefer, aus dem offenen Fenster gelehnt, saugt er die Badenerstrassenluft ein, die frische Dieselbrise der getunten Hondas, die als Ferrari verkleidet vorbeifahren. Er will den Geruch des verwesenden Opfers aus der Nase bekommen. Zuerst Personalien des Nachtwächters aufnehmen.
Rocco: «Wann haben Sie den Geruch bemerkt?»
«Gestern Nacht», sagt Stojanovic, «aber ich dachte, es ist der Abfallcontainer im Hinterhof. Bei so mildem Wetter riecht der ziemlich.»
Und Rocco: «Der Tote muss schon einige Tage dagelegen haben. Ist das Ihre übliche Runde, dieses Gebäude hier?»
Stojanovic: «Ja. Aber ich arbeite erst seit gestern wieder. Vorher war ich zehn Tage krank. Die Grippe.»
Werden wir überprüfen.
«Was ist hinter den Türen im Parterre, im ersten, zweiten und dritten Stock?»
«Gehört zur Kantonalbank», sagt Stojanovic, «Verwaltung, nehme ich an, Computer, ich weiss es nicht. Ich habe den Auftrag, zu kontrollieren, ob die Türen verschlossen und unbeschädigt sind, ob sich niemand im Treppenhaus aufhält, und ich schliesse im Treppenhaus die Fenster, wenn eines offen steht.»
«Und haben Sie hier im Treppenhaus je jemanden getroffen? Ich nehme an, Sie kommen hier jede Nacht zur selben Zeit vorbei?»
«Jeweils zwischen halb und zwanzig vor zwölf. Nein, niemanden. Ich wusste gar nicht, was im vierten Stock ist. Ich bin nie raufgegangen. Muss ich nicht. Ich bin nur für das Parterre und die Stockwerke eins bis drei zuständig. Ich habe keine Zeit, rumzuschauen. Muss weiter.»
Auch jetzt schaut er auf die Plastikuhr am Handgelenk. Bereits 00:10 Uhr. Eine halbe Stunde später als später als später als sonst. «Kann ich jetzt …»
Rocco schaut ihm in die Augen, sagt: «Ja, Sie können. Wenn wir noch etwas von Ihnen wissen wollen, melden wir uns. Nur noch eines: Wer hat Sie auf Ihrer Runde vertreten, als Sie krank waren?»
«Vermutlich der Seeholzer, der macht dieses Revier manchmal, wenn ich freihabe. Aber Sie fragen vielleicht besser im Büro nach.»
Rocco dankt dem Nachtwächter, fragt ihn noch, weil bleich wie Ziegenkäse: «Geht’s?»
Stojanovic: «Sobald ich wieder an der frischen Luft bin … ich habe ja nicht gesehen, was Sie vermutlich gesehen haben …», und zeigt nach oben.
Rocco lässt ihn an die Arbeit und denkt: der Seeholzer.
Sie nehmen den Tatort auf, rufen im Grossen Polizeihaus an: überprüfen, wer der Mieter der Wohnung ist. Ob in diesem Haus je ein Vorgang gemeldet wurde. Solche Sachen. Und Prioritätenliste erstellen, der Müller. Identität des Toten? Todesursache? Todeszeitpunkt? Mögliche Hinweise, Spuren. Die Polizeiprozeduren laufen an. 00:15 Uhr am Samstagmorgen. In den Amüsiergürteln westlich der Innenstadt versuchen die Kolleginnen und Kollegen, die Exzesse der Vierundzwanzigstundengesellschaft in Schach zu halten, sich unter Laserpointern und fliegenden Flaschen hinwegzuducken, bösen Wörtern, wie zum Beispiel «Schafseckel» und ☐☐☐☐☐☐☐☐☐☐☐☐ sowie ☐☐☐☐☐☐, aber auch ☐☐☐☐ und ganz einfach ☐☐, und Messern auszuweichen, bevor sie später am Samstag oder Sonntag den Hooligans gegenüberstehen, die behaupten, ihr Unsinn mache ihnen Spass und sei Ausdruck von Fankultur. Und für den Müller und seine Equipe beginnt wieder kein Wochenende. Die fortschreitende Zersetzung des unbekannten Körpers des mutmasslichen F.Y. sagt uns zwar, dass wir mehrere Tage Rückstand auf die Marschtabelle der Wirklichkeit haben. Die Chance, dem Täter die Handschellen umzuschnallen und ihm mit dem Strafgesetzbuch zu kommen, ist in den ersten 48 Stunden nach Tatbegehung am grössten. Danach, die Spuren verwischen sich mehr und mehr, die Erinnerung allfälliger Zeugen wird löchrig, die Frage «Was haben Sie Samstag …?» wird bald nur noch mit einem «hä?» quittiert. Weil, ehrlich, was haben Sie letzten Samstag? Oder Dienstag der letzten Woche? Gesehen, meine ich, oder getan oder gehört. Das wüsstest du nur exakt, wenn du ein Alibi aufgebaut hättest, weil du gewusst hättest, du brauchst eines. «Suspicion» (USA, 1941, Regie: Alfred Hitchcock).
Der Müller muss sich alles nochmals im Detail anschauen. Lage des Toten, diese Handschuhe, die er trägt, peinlich genau gemachtes Bett im Schlafzimmer oben, Eiermann-Tisch und Horgen-Glarus-Stuhl im Arbeitszimmer, die halb kaputten Inventarbestandteile, ich habe dir davon erzählt, während Hofstetter, Kuhn und Kollegen fotografieren und ausmessen und abpinseln, pinzettieren und betrachten und notieren. Und wenn der WD fertig ist, Stunden dauert das, weiter schauen und nachdenken, zwischendurch an den vier Aspiranten im Treppenhaus vorbei hinunter an die Luft, Trottoir, Zigarette, Luft, Superautos fahren jetzt vorbei, Fastmaseratis mit Heckspoilern, Möchtegernbugattis, Mazdas in Porschetravestie, tiefergelegt, das Chassis wackelt vor lauter Bässen, die Scheiben getönt, teuflisch scharfe Radkappen, einer johlt unverständlich etwas aus dem Fenster. Die haben sicher überall irgendetwas drauftätowiert, das spätestens völlig beknackt aussehen wird, wenn sie 30 sind und mit der Familie in die Badi Letzigraben oder nach Malle gehen. Zigarette fertig. Dann gehst du wieder rauf.
Jetzt trifft Torsten Schneider ein, der Pathologe, schaut sich um, schüttelt den Kopf, schaut sich den Toten auf dem Sofa an, liest ihn akribisch und wissenschaftlich in sein Grosshirn ein, runzelt die Stirn, sagt schliesslich: «Nehmen wir mit.»
Dem Müller und seiner Equipe fällt in der Wohnung nichts auf, was den Namen Hinweis verdiente.
***
Dann geschieht, leider, was in der Geschichte der Polizei Zürich noch nie passiert ist. Schauen Sie selbst: 03:40 Uhr, die Ambulanz mit dem Toten im Leichensack drin fährt ohne Blaulicht und Horn vom Lindenplatz durch die Badenerstrasse stadteinwärts → Ziel: Pathologisches Institut, Rämistrasse. Nach hundert Metern, wo von rechts die Grimselstrasse in die Badenerstrasse mündet, stürzt unmittelbar vor dem Wagen ein Velofahrer, und zwar nach links, auf die Fahrbahn. Apollo Gränicher, Mitarbeiter von Schutz & Rettung Zürich, am Steuer der Ambulanz, reisst sofort das Steuer nach links, um den Velofahrer nicht flach und tot zu walzen. Das Fahrzeug schleudert, stellt sich quer.
Von hinten kracht jetzt das Nachttram der Linie 2 in voller Fahrt in die Ambulanz. Wie ein Pflug mitten hindurch, wo im Bodybag der Tote auf der Bahre liegt. Er wird, nehme ich an, lässt sich nicht befriedigend rekonstruieren, vom Aufprall mindestens zweigeteilt. Pardon, ich sag’s klar: nochmals komplett getötet. Metaphorisch gesprochen, weil totale Spurenverunklärung. Wie will der Pathologe nun herausfinden, ob vielleicht ein Genickbruch vor dieser Kollision schon am Körper angebracht war oder der Schädel infolge Einwirkung stumpfer Gewalt geknackt?
Und kommt noch schlimmer erschwerend hinzu: Die Ambulanz ist sogar explodiert, weil von hinten Tanklastwagen voller Heizöl mitten hineingekracht. Krawumm! Krawumm! Krawumm! Feuerball. → 117, 118, 144! Ein Rieseninferno so voll nach dem murphyschen Chaosprinzip, sieht aus wie im Blockbuster mit Spezialeffekt, fast wie Emmerich, können Sie sich denken, und von der Badenerstrasse 67X her innert einer Minute der Müller, Bucher Manfred, Heather Brogli und Rocco Catanzaro zu diesem Tohuwabohu hinzu, vom Sihlhölzli her die Berufsfeuerwehr, vom Grossen Polizeihaus und von unterwegs die verfügbaren Patrouillenfahrzeuge, vom Triemli weitere Ambulanzen. Ein Durcheinander. Löscharbeiten, Bergungsversuche. So geht Action. Die Streifenwagen sollen schaulustige Schlaflose und Aufgewachte zurückdrängen. Am Strassenrand steht ohne Kratzer Apollo Gränicher, der Unfallambulanzfahrer, neben ihm der gestürzte Velofahrer reibt sein linkes Knie, und Tramfahrer Urs Gisiger sagt: «Das Tram war leer, die Leute steigen meist erst am Albisriederplatz ein.» Und einen, der sich durch Flucht zu Fuss der Aufklärung und allenfalls der Verantwortung entziehen wollte, fassen die Kollegen von Limmat 7 (Aufschrift: «Hier ist das Gesetz!»): Tankwagenfahrer Alain Burkhardt, der zwar Schock, aber sonst okay.
Bilanz: Sachschaden holla, Mannstunden, supplementär zerstückeltes und darüber hinaus verbranntes totes Opfer, alle DNS aus dem Fleisch sowieso und aus den pulverisierten Knochensplittern herausgebrannt, aber gloria halleluja: keine neuen Verletzten.
Da hat der Müller ein Problem: Wie behandelst du diesen Todesfall, wenn keine fundierte Diagnose mehr möglich, weil Corpus Aschehaufen, den du hier höchstens noch in Ansätzen zusammenkrümeln kannst? Ergo Todesursache des Abtransportierten voll Nebeldickicht und Nihilismus. Möglichkeiten: Tötungsdelikt, Überdosis, Herz, Nierenversagen, Alter, Suizid, unvollständige Aufzählung, viele Optionen → Pschyrembel. Sicher nur: ungeklärter Tod.
Bald wird’s hell werden, die Morgenkälte dringt durch die Kleider. Trotz schweren Augenlidern und Schock durch Heather Brogli und Rocco Catanzaro befragt: Tanklastwagenfahrer Burkhardt. Zuerst vergewissert: Alkohol und Drogen? Schnelltest negativ. Dann sagt aus, auf dem Rückweg von einer dringenden Expresslieferung gewesen zu sein. Aber hallo, Pinocchio.
Brogli deshalb: «Morgens um 4 Uhr in diesem milden Frühling eine dringende Heizöl-Expresslieferung?»
Zehn Minuten Lügen, Dreiviertellügen und Halblügen (decrescrendo) später: Tanklastwagenfahrer gesteht, nach Feierabend einen längeren privaten Termin, den Namen der Frau will er ungern nennen, aber muss!, wahrgenommen zu haben und zum Zeitpunkt der Kollision auf dem Weg zurück in die Firma gewesen zu sein, um den Lkw ordnungsgemäss fürs Wochenende auf dem Areal abzustellen. Wird den Chef nicht freuen, diese Sache da. Weil wo der Tanklastwagen war, ist jetzt ein Krater.
Polizeilich gesehen: Verkettung vieler Umstände, die man sich gar nicht ausdenken kann. Obwohl die Wahrscheinlichkeit einer solchen Sachlage, so abstrus, minim ist, ist sie eingetreten. «Buntscheckig ist und irre und fleckig, das Würfelbild deiner Laune, o Fortuna!» (Boethius).
VIER
Samstagfrüh, 06:00 Uhr. «Ja, wir behandeln das als Tötungsdelikt», sagt Hauptmann Ralph Vogt, Leiter Abteilung Gewaltverbrechen Polizei Zürich im Grossen Polizeihaus. Müller hat ihm gerade eine knappe Zusammenfassung von Leichenfund, Zustand des Toten, Situation und Inventar Auffindungsort sowie Komplikationen bei Abtransport inklusive Zerstörung Leiche durch Kollision mit Tram und Ambulanzexplosion infolge Auffahrunfall durch Tanklastwagen gegeben. Vogt runzelt die Stirn. Wie erkläre ich’s dem Kommandanten und der Öffentlichkeit? 1. April zudem, aber zum Scherzen ist hier keiner aufgelegt.
Medienchef Gregor Meier bei Unterredung auch anwesend, macht sich Notizen, nickt, scheint nachzudenken, meint schliesslich: «Ich bereite etwas vor und melde mich bei dir, Ralph.»
Da weisst du als Müller, was zu tun ist: arbeiten, als sei nichts gewesen. Als habest du keine Nacht ohne Schlaf hinter dir, kein Kopfweh wegen Geruch und Anblick auf dem Sofa, wo du keinem wünschst, anblicken zu müssen. Ganz zu schweigen von der Leichenvernichtung → Höllenkomplikation! Und gleichzeitig die Maden, die sich unter der Haut des Toten bewegen, vor Augen. Den Gestank in der Nase und im Rachen bis in die Lungenbläschen hinunter, trotz doppeltem Espresso und zweimal Rauchen. Er hat sich wie ein Kontaktgift in den Nasenhärchen, auf deiner Haut und in deinen Haaren festgesetzt. All die Widrigkeiten und «Fährnisse des Schicksals» (Boethius) aus dem U-Bewussten herausdeleten, das musst du können als Polizist: zurückfinden in die Normalität. Weil mit zwanzig Dienstjahren, wie sie der Müller und Bucher Manfred durchgearbeitet haben, Himmel, in jedem Quartier kämen dir Bilder hoch, an jeder Ecke, in fast jedem Haus Situationen, Tatorte, Gerüche, Menschen in allen Verfassungen, als wärst du dauerhaft zu einem Pathologiekurs oder einem Horrorfilm verurteilt. Wie überleben nach diesen Ereignissen? Manche fangen an zu trinken, manche werden depressiv, manche zynisch. Verdrängen geht nicht, sagt dem Müller sein Psychotherapeut Andreas Borowski. Überleben durch Routine, das hat sich für den Müller bewährt. Die Straftaten technisch betrachten: Was war? Welchen attraktiven Artikel hält das Strafgesetzbuch für den Täter bereit? Wer war es? Weshalb hat er es getan? Wo hält er sich auf? Und dann festnehmen.
Prävention – Ermittlung – Fahndung – Zugriff.
Explosion und Spurenvernichtung hin oder her: Du willst den, der es getan hat, mit in den Verhörraum 419 nehmen, damit aus dem Mutmasslichen ein Angeklagter wird und er aus dem Verkehr gezogen ist. Die Routine geht in diesem Moment, am Samstagmorgen 06:20 Uhr, so: Einwohnerkontrolle, Grundbuchamt, Datenvergleich. Geht heute elektronisch, musst du nicht bis Montagmorgen warten und brauchst niemanden aus dem Bett zu klingeln.
Badenerstrasse sechshundertsiebzigsoundso: Eintrag Einwohnerkontrolle: niemand unter dieser Adresse gemeldet. Eintrag Grundbuchamt: Eigentümer: Erdgeschoss bis dritter Stock: Pensionskasse Kantonalbank. Maisonnette vierter und fünfter Stock: Owen, Howard John Frederick Arthur, 58-jährig, geboren in Manchester, Wohnsitz unbekannt. Der Tote könnte im Konjunktiv dieser Mann sein. Unwahrscheinlich jedoch, dass er seinen Namen mit «F.Y.» abkürzt, wie’s auf der Türglocke steht. Ob die dunkle und aktuell totalatomisierte Masse also dieser Howard undsoweiter Owen war … musst du gründlich abklären. Rocco lässt den Namen durch den Computer laufen, die Datenbanken – RIPOL, ViCLAS, Fahndungs- und Strafregister. «Bitte warten Sie» und auf dem Bildschirm dieses Uhrzeigerlein, das läuft und läuft, damit deine Augen verstehen, es arbeitet im digitalen Getriebe drin.
Musst du doch jemanden aus dem Bett klingeln: Samstagfrüh das Steueramt … Schafft nur die Polizei, weil hat die nötigen Privatnummern. Zweiundzwanzigmal schellen lassen. Telefon Müller → Steueramt, weil Eigentumswohnung Eigentum steuerpflichtig. Die Unterchefin vom Steueramt loggt sich von privat ins System ein, schaut nach, sagt nach einer halben Minute: «Ja, das wüssten wir auch gerne, wo dieser Herr ist. Und vor allem, wo er sein Vermögen versteuert.»
06:55 Uhr. Draussen ist die Sonne aufgegangen. Auf die Wiese beim Grossen Polizeihaus fällt ein güldener Schein, die Tautröpfchen brechen das Licht in die Spektralfarben auf. Dort, violett fällt es auf ein Gänseblümchen, das dem Gestirn fröhlich zunickt. In den Bäumen singen die Meisen, auf den Dächern die Raben, und in der Kanalisation quieken die Ratten.
Parallel zu Roccos Datenbankabfrage nimmt Heather Brogli (darf ich streng genommen nicht erzählen) Zugriff auf die zentrale Datenbank der Krankenkassen, ob irgendwo in der obligatorischen Grundversicherung ein Howard Owen. «Bitte warten Sie», und wieder läuft dieses Uhrzeigerlein rundherum und rundherum.
Warum «F.Y.» auf dem Klingelschild?
Der Müller: «Weshalb stand die Wohnungstür offen? Und warum trug der Tote Handschuhe?»
Der Müller und Bucher Manfred im Büro Müller, Nummer 365, wie die Anzahl Tage pro Jahr. Das kann man sich merken. Bucher Manfred, wo hat er auch immer diese Sachen her, beisst in einen Selleriestängel und versucht vor seinem inneren Auge, was auch immer das ist, die Szenerie in der Wohnung beim Lindenplatz zu rekonstruieren. Ausser der grossen Leere, was gab es Auffälliges? Der Müller, klassische Übersprungshandlung, weil er müsste jetzt Befehle ausgeben, Leute aus dem Bett holen, gibt den Namen «Howard Owen» in die Suchmaschine ein. 44’800Treffer in 0.57 Sekunden, Autogarage in Devon, Ex-Fünftligafussballer in Plymouth … ja, Suchergebnisse auf Schweiz beschränken … findet weniger … Produktmanager der Pharma in Basel, Sekundarlehrer in Trüllikon … gut, Müller Benedikt gibt’s auch mehr als einmal. Zeitverschwendung, dass die Polizei auf Arbeitszeit so vor sich her suchmaschinelt? Nein! Das Lesen und Scrollen regt dem Müller sein Denken an.
«Wenn Roccos und Broglis Abfragen nichts ergeben, müssen wir abwarten, bis der Rapport der Pathologen kommt, falls er aus den Überresten überhaupt etwas machen kann, und bis die Detailauswertung der Wohnung da ist. Die Spuren vom WD», sagt er zu Bucher Manfred. So eine Wohnung auszuwerten, das braucht Zeit. Auch wenn die Wohnung kahl ist. Irgendwas wird zu finden sein, das ist immer so, das lehrt die Erfahrung. Da verhältst du dich nicht vielleichtsinnig, sondern entschieden – und hängst dich rein. «Das Schlimmste in allen Dingen ist die Unentschlossenheit» (Napoleon Bonaparte).
Ergebnis von Broglis Krankenkassen-Recherche: kein Versicherter unter dieser Adresse registriert. Muss nichts bedeuten. Vielleicht hat er ein Postfach als Adresse. Sekundärergebnis: Krankenversicherte mit Initialen F.Y. schweizweit eintausendzweihundertsiebzehn, in umgekehrter Reihenfolge sechshundertachtundachtundachtundachtzig.
«Aua!», sagt der Müller. Weil bis du die alle einzeln abgeklärt hättest, hat dich das Controlling längst skalpiert.
Ergebnis von Roccos Datenbankabfragen: vor sechs Jahren ein Howard Owen wegen Steuerschulden betrieben, aber nicht in Zürich, sondern in Cudrefin.
«Wo liegt denn das?», fragt der Müller.
«Nordwestlich vom Mont Vully», sagt Bucher Manfred, und weil er dem Freund seit zwanzig gemeinsamen Polizeijahren keine Blösse ins Parkett hacken will, setzt er sofort hinzu: «Am Neuenburgersee, vis-à-vis von Neuenburg.»
«Du weisst Sachen!»
«Mont Vully, der Käse», erklärt Bucher Manfred und vertilgt das Ende der Selleriestange.
Von Interpol kommen jetzt Daten: Verurteilung eines Howard Owen wegen kleinerer Drogendelikte vor sechsundzwanzig Jahren in London («Besitz und Konsum von Marihuana»), einmal leichte Körperverletzung vor siebzehn Jahren in Lille.
«Müsste das nicht längst gelöscht sein?», fragt der Müller.
Bucher Manfred zuckt die Schultern. «Vielleicht ist der Tote ja gar nicht Howard Owen, und was sagen diese alten Urteile über einen Todesfall heute?»
«Mögliche Hinweise von Kantonalbankmitarbeitern, die im Haus arbeiten, bekommen wir nicht vor Montagmorgen», sagt der Müller. «Geh jetzt nach Hause», sagt er zu Manfred. Dann geht er ins Gemeinschaftsbüro 364 gleich nebenan und sagt zu Rocco und Brogli: «Geht nach Hause. Um 14:00 Uhr wieder hier.»
***
07:10 Uhr. Bucher Manfred holt sein Auto vom Parkplatz hinter dem Grossen Polizeihaus, er fährt in den Kreis 7, oberhalb Toblerplatz. Dass Sie jetzt nicht meinen: «Wow, superposh, bei der Polizei ist der Wohlstand ausgebrochen!» Nein, dort oben wohnt Dr. Brenda Marquardt, die Pathologin des Herzens und Frau von Bucher Manfred. Weil «Freundin», ab einem bestimmten Alter nennst du deine Blume nicht mehr so.
Aber warum ist sie nicht im Dienst, um den Leichnam von der Badenerstrasse zu obduzieren und so? Warum ist vorhin an der Badenerstrasse 67X eine Pathologin männlichen Geschlechts aufgetaucht? Weil Dr. Brenda zurzeit vertreten wird von Dr. Torsten Schneider. Warum das? Das zu erzählen muss ich verschieben, bin nach dieser langen Nacht einfach zu müde. Will nur noch schweigen. Ich weiche den Kolleginnen und Kollegen aus, die gerade einen Kastenwagen voll mutmasslich delinquiert habender Nachtschwärmer jenseits der Grenzwerte von Testosteron und Alkohol hereinbringen, um sie in den Zellen einzuschliessen und nachher einzeln zu befragen. Bevor ich mich selbst horizontal hinlege, eine Bemerkung zum Müller: Der fährt mit dem Velo – er will wieder fitter werden – die paar Minuten nach Wiedikon zu seiner Zweizimmerwohnung mit dem halbrunden Balkon aussen um die Hausecke herum. Dort wohnt er. Obwohl, bloss wohnen kannst du kaum mehr, nur exklusiv wohnen in «wertreichem Lebensraum». So heisst heutzutage das Leben in Zürich.
Diese Werbewörter fürs zeitgenössische Leben, die wären ein Thema für eine linguistische Studie. Müller denkt dabei an Severin Eiholzer, der den Mann mit Schnauz umgebracht hat. Der Sprachwissenschaftler wohnt aktuell exklusiv in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies. Hätte der sich strictly auf sein Metier konzentriert, wäre dem Müller ein Fall erspart geblieben und Zürich um einen Menschen zahlreicher. Aber so funktioniert die Welt nicht. Mit Logik und Empathie und Mitgefühl und Menschlichkeit kannst du der Welt nicht kommen, sie versteht es nicht.
Kalt frühmorgens. Der Müller drückt in diesem Moment seine Gutenmorgenzigarette aus und tritt vom halbrunden Balkon in seine Wohnung.
Abliegen, dösen, vielleicht sogar schlafen, das macht jetzt der Müller.
***
09:40 Uhr. Ist er das? Ja, das muss er sein. Seine Silhouette kennen wir gut, seinen noch immer elastischen Schritt, die Kraft, die in seinem Körper residiert, die 184 cm, die graublauen Augen, die breiten Schultern, die olivgrüne Freizeitjacke, eine rohe Karotte in der Hand, er muss es sein.
Doch was schiebt er mit der anderen Hand beim Toblerplatz vor sich her: einen Kinderwagen! Kann das sein? Bucher Manfred, einst als «Elefant von Aussersihl» und lebende Antithese aller Kalorienausteritätsprogramme bekannt, ist Vater geworden. Voll! Gemeinsam mit Dr. Brenda Marquardt. Also, sie ist natürlich die Mutter des Kindes. Es ist winzig, ein Mädchen und heisst Frieda. Das bedeutete schon zu Odins Zeiten «Friede» und passt sowohl zur Pathologinnen- als auch zur Polizistenarbeit, weil ist ein schöner Wunsch fürs Leben und entspricht dem Zustand der 70 Zentimeter im fliederfarbenen Strickstrampler. Das tragen die Babys heute wieder. Bucher Manfred erinnert sich an ein Foto: er selbst als Säugling, Strickstrampler in Hellblau.