Mutterblues - Silke Burmester - E-Book
SONDERANGEBOT

Mutterblues E-Book

Silke Burmester

3,9
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mein Kind bricht auf, ich brech zusammen Ben ist 17, in einem Jahr macht er Abitur. Silke Burmester ist Bens Mutter, bald verlässt ihr Sohn das gemeinsame Nest. Sie findet das gut, sie findet das richtig, und trotzdem geht es ihr hundsmiserabel dabei. Sie fragt sich: Warum fällt mir das Erwachsenwerden meines Kindes so schwer? Mit 14 ging es los, denn mit 14 war es vorbei. Vorbei die Zeit der Gute-Nacht-Geschichten und der kuscheligen Momente. Die Pubertät regierte im Hause Burmester, das Kind wurde erwachsen – und die Mutter? Nun ist Ben 17, dabei, die Schule zu beenden, danach wird er bald ausziehen. Er freut sich auf das, was kommt. Seine Mutter auch, irgendwie. Sie freut sich für ihn, aber nicht für sich. Für sie bedeutet Bens Erwachsenwerden vor allem Verlust. Silke Burmester muss sich eingestehen: Ihr Sohn ist zum Aufbruch bereit, sie ist es nicht. Und sie stellt fest: Vielen Frauen geht es so, viele Frauen leiden unter dem Lösungsprozess, zu dem sich obendrein die Abschiedsthemen der Wechseljahre gesellen. Aber warum ist das kein Thema, warum erwischt es mich so unvorbereitet, fragt sie sich. Und warum trifft es gerade die heutige Generation an Müttern so markerschütternd, wenn das Kind erwachsen wird? Silke Burmester schreibt sehr persönlich, ehrlich und offen über ein Tabuthema: über den Schmerz der Mütter, wenn das Kind aufhört Kind zu sein.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 318

Bewertungen
3,9 (14 Bewertungen)
5
4
3
2
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Silke Burmester

Mutterblues

Mein Kind wird erwachsen, und was werde ich?

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Silke Burmester

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

EinleitungKapitel 1 14 oder: Keiner fragt: »Bist Du so weit?«Das Monster Pubertät überdenkenDas Problem lag bei mirDer Sohn bricht auf, ich brech zusammenKapitel 2 Kalt erwischt oder: Warum warnt einen keiner?Unsere Mütter – im AufbruchPlötzlich alleinDer große BetrugKapitel 3 Der Schmerz der Mütter oder: Worüber reden wir eigentlich?Naive Liebe im besten SinneDer Wunsch nach dem kleinen KindIch, Mutter mit ’ner MackeZur Not aus dem Nest schubsenKapitel 4 Der falsche Zeitpunkt: Abschied an allen FrontenWechseljahre – ein kulturelles KonstruktVom natürlichen Vorgang zum MangelszenarioDer Alternativgedanke: Endlich reif!Über allem steht der »Abschied«Vermeintlich schwindende AttraktivitätWertvoll ist, wer fruchtbar istDie Frau, die nicht mehr willMILF – zwischen Dämonin und RetterinAbschied von der, die ich warUnser Welken – ihr ErblühenDie Eifersucht der ElternProvokation JugendDie Kerze brennt an beiden EndenAus der Beziehung ist die Luft rausMänner brechen auf, Frauen brechen einKapitel 5 Gar nicht so scheißeWeg, so schnell es gingJugendkultur? Geil, gib mal her!Lernen von den KleinenKapitel 6 »Was sie nicht mehr tragen kann, kauft sie mir«: drei junge Frauen über ihre MütterKapitel 7 Die Einseitigkeit der GefühleDas große WenigerDas Kind nicht behelligenKapitel 8 Das merkwürdige Verhalten trauernder MütterVernunft ade, Hauptsache zusammenKapitel 9 Und sie leiden auch: Die Väter»Ich bin nicht komplett«»Wie unter einem Sternschnuppenregen«»Peinlich ist er mir erstaunlich selten«Kapitel 10 Rat und TatDie ganz große Frage: Was will ich?Ein LiebhaberSein Aufbruch ist mein AufbruchKapitel 11 Und nun?NachklappDank
zurück

Einleitung

Der Mensch, den ich vor 17 Jahren geboren habe, steht in der Küche und brät sich ein Ei.

Es ist Sonntag kurz nach drei Uhr am Nachmittag, ich sitze am Esstisch mit einer Tasse Tee und schaue auf dieses lange Etwas, wie es sein Frühstück zubereitet. Wie es dasteht und mit immer noch etwas kantigen Bewegungen das Ei rührt, ein Messer sucht, um das Brot zu schneiden, wie es mit beneidenswerter Ruhe Remoulade auf das Graubrot schmiert, Gurke aufschneidet und sich Milch einschenkt, während das Ei vor sich hin dunkelt. Ich blicke auf diese 194 Zentimeter, an denen T-Shirt und Jogginghose schlabbern, die nackten Füße, die nie zu frieren scheinen, sehe das hübsche, frische Jungsgesicht, die verwuschelten Haare, die mal wieder gewaschen werden könnten, und versuche zu begreifen, wo mein Kind geblieben ist.

»Mein Kind« – das ist etwas Kleines. Etwas Bedürftiges. Etwas, das mich braucht. Vor mir steht Ben und erzählt von seinem gestrigen Abend. Davon, dass sie in einen Club nicht hineingekommen seien, weil zwei Mädchen dabei waren, denen man ansehen würde, dass sie noch nicht 18 sind. Davon, dass in der U-Bahn einer war, der komisch drauf, aber total lustig war, und dem sie beim Aussteigen ein Bier geschenkt hätten. Ich blicke auf diesen langen Menschen, der in wenigen Monaten volljährig sein wird, den das Gesetz damit für mündig erklärt und der dann jede Ansage von mir zum Teufel schicken kann, und möchte verstehen, wie das alles zusammenpasst. Das kleine Kind, das ich mal hatte, mit seinen Ringelshirts und diesen kleinen, ewig klebrigen Händen, die es mir immer ins Gesicht drückte. Dieser blonde Junge, der so bereitwillig die Hand ergriff, wenn man sich außerhalb der gewohnten Umgebung bewegte. Wie dieses unglaublich süße vierjährige Wesen, das als »Ringo Starr« auf Pappkartons Konzerte gab, während ich die kreischenden Mädchen spielte, wie das zusammenpasst mit dem Menschen, mit dem ich heute zusammenlebe wie mit einem sehr angenehmen Mitbewohner. Jemand, bei dem ich mich nicht mehr aufrege, wenn er sonntags erst um drei Uhr aufsteht, weil ich denke, es ist ja sein Sonntagnachmittag. Jemand, den ich frage, ob er heute Abend mitisst oder ob er unterwegs sein wird. Jemand, dem ich sage, er sei mit Badputzen dran und den ich bitte, die Gläser in seinem Zimmer zusammenzusuchen, weil wir langsam keine mehr haben. Und der das dann tut.

Ich sitze am Tisch mit meinem Tee und gucke Ben an, als könne ich die Antwort finden, wenn ich nur lange genug auf seine Bewegungen schaue, auf seine Gestik, auf seine großen Füße. Die Antwort darauf, wie das Heute und das Früher zusammenpassen. Wie etwas zusammenpasst, das sich wie Schwarz und Weiß gegenübersteht. Wie Laut und Leise, wie Watte und Beton.

Dabei kenne ich die Antwort genau. Und am liebsten würde ich sie ignorieren, denn sie benennt etwas, das verloren scheint: die Jahre dazwischen.

Die Jahre zwischen dem Kleinkind und dem großen Wesen, das jetzt in der Küche steht und mir erzählt, wie sein Abend war und dass es gleich wieder abdüst, um sich mit seinen Freunden zu treffen.

Ich frage mich, wo die Jahre geblieben sind. Ich habe das Gefühl, als hätte ich sie nicht gelebt. Als wäre sie gelebt zu haben, ein Wissen, für das es keine Erinnerung gibt. Es gibt nichts, das greifbar ist, außer ein paar Bilderfetzen und einigen wenigen Begebenheiten, die der Kopf dankenswerterweise bewahrt hat.

Ich schaue auf Ben und es ist, als sei das Abtasten mit den Augen der Versuch, diese Jahre wiederzufinden. Das festzuhalten und dingbar zu machen, was sich wie ein Gas einfach verflüchtigt hat und in absehbarer Zeit vollends beendet sein wird: unsere gemeinsame Zeit.

 

Als ich vor 17 Jahren meinen Sohn bekam, war es, als läge die Zeit mit meinem Kind wie die Milchstraße vor mir: Kein Ende erkennbar. Unüberschaubar. Ein immerwährendes Funkeln.

Ich wollte eine Mutter sein, mit seiner Geburt bin ich eine Mutter geworden. Und sehr bewusst habe ich gedacht: »Egal, was jetzt passiert, selbst, wenn Dein Kind stirbt, Du wirst nie wieder nicht Mutter sein.« Und wie wohl die meisten Eltern war ich so sehr im Hier und Jetzt, so sehr mit der Aufgabe, das Kind großzuziehen, beschäftigt, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass es jemals enden würde. Die Jahre, die vor uns lagen, schienen eine ungeheure Masse an Zeit. Ich war damals 30 – die 18 Jahre, bis Ben ausziehen würde – das war mehr als mein halbes Leben. Aus den Erzählungen, aus Büchern und Filmen und dem Widerhall in den Medien hatte ich eine Ahnung von dem, was kommen würde. Erst die leichte, unbeschwerte Zeit im Kindergarten, dann die Grundschule mit ihren Elternabenden, vielleicht mit ersten Besuchen bei der Schulleitung, weil das Kind sich nicht regelkonform verhielt. Dass die weiterführende Schule für Grauen und viel elterliche Verzweiflung schlechthin stünde, schien klar – ich kannte es aus meiner eigenen Jugend nicht anders. Obendrauf würde sich die Pubertät setzen wie ein Monster mit fauligem Atem und würde mit all ihren Streitereien, Grenzkämpfen und der elterlichen Sorge wegen Alkohol, Drogen und der schiefen Bahn, das Leben bestimmen. Die Jahre, bis das Kind reif für den Auszug wäre, würden so mühevoll und anstrengend sein, dass ich froh sein würde, wenn ihr Ende in Sicht käme.

 

Ihr Ende ist in Sicht. Und ich kann es nicht anders sagen: Mir geht es beschissen.

Ich leide. Ich leide wie Hund. Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll, den Schmerz um das zu verlierende Kind.

Mein Sohn wird in fünf Monaten 18 Jahre alt, nächsten Sommer macht er Abitur, dann wird er wahrscheinlich zwei, drei Monate brauchen, bis er aufbricht, sich die Welt anzugucken. »Work and Travel« will er machen, ein Jahr, anderthalb Jahre ins Ausland gehen, um das Leben außerhalb des Bekannten zu entdecken. Wenn er wiederkommt, wird er anfangen zu studieren oder blöd dem Nichtstun verfallen. Vielleicht wird er noch mal ein paar Monate bei seinem Vater oder mir einziehen, aber lange wird das nicht sein. Seit Jahren malt er sich aus, mit Freunden in einer WG zu leben, in so einem Jungsding mit festgetrockneten Essensresten und Spiegelei zum Frühstück.

Ich finde das alles richtig, ich finde das alles gut. Ich werde ihn nicht festhalten und sagen: »Bleib doch noch!« Ich werde dahinter her sein, dass er seinen Hintern hochkriegt und loszieht, und wenn ich merke, dass er sich im Hotel Mama beziehungsweise Papa festzusetzen droht, dann werden die Hoteliers klarmachen, dass das Einnisten nicht von Dauer sein kann.

Ich sehe Ben vor mir, wie er mit seinen Jungs – oder vielleicht doch dem ein oder anderen Mädchen – in einer wahrscheinlich liebenswert chaotischen WG lebt, die man als Mutter lieber nicht zu oft besucht, weil man dann zu nerven beginnt, mit Vorschlägen wie dem, doch mal aufzuräumen, und dass es doch schon hülfe, das Altglas wegzubringen.

[11]Ich bin, was meinen Sohn anbelangt, bedingungslos optimistisch. Er wird das schon machen. Er wird trotz aller Pizza und Spezi nicht mangelernährt sein. Er weiß, wie man Wäsche sortiert, und er wird das Gesaufe im Griff haben, selbst wenn es nach mütterlichem Ermessen zu viel ist. Er wird – wenn es nicht mehr zu vermeiden ist –, aufräumen und so zur Uni oder sonst wo hingehen, dass er sich sein Berufsziel nicht verbaut. Er wird das alles machen. Hinkriegen. Und doch bin ich grenzenlos enttäuscht. Enttäuscht, traurig, verletzt.

Ich empfinde einen unsagbaren Schmerz darüber, dass unsere gemeinsame Zeit vorbei sein wird. Dass ich nicht mehr Mutter sein soll, sein kann. Dass mein Kind von mir weggeht. Ich spüre diesen Schmerz körperlich. An schlimmen Tagen habe ich das Gefühl, er zerreißt mich. Dann gucke ich dieses Kind an, dieses große Etwas, das mich nicht mehr braucht, weder zum Eierbraten noch um seinen Tag zu strukturieren, und weiß nicht, wie ich das aushalten soll.

Vor allem frage ich mich, warum ich nicht wusste, dass es so kommen würde, dass es nur 14, 15 Jahre sind, bis die Ablösung in vollem Gange ist, und sich dies so schlimm anfühlen würde.

 

Ich weiß, dass ich mit diesem Gefühl nicht allein bin. Ich weiß, dass es anderen Müttern auch so geht. Längst nicht allen, aber etlichen. Ich weiß von Müttern, die regelrecht Angst vor dem Auszug ihres Kindes haben und jetzt, während die Brut noch da ist, eine Menge dafür tun, sie an sich zu binden. Sie sollen es so schön finden, »bei Mama« oder bei »Mama und Papa«, dass sie zu Hause wohnen bleiben, auch wenn die Ausbildung abgeschlossen ist und eine andere Stadt ein interessanteres Studienangebot anbietet.

 

Die Wissenschaft hat ein Wort für das Leiden von Frauen wie uns: »Empty Nest Syndrome«, das »Leere-Nest-Syndrom«. Psychologen und Familiensoziologen beschreiben damit die Auswirkungen, die der Auszug der Brut auf die Eltern, insbesondere auf die Mütter, hat und begreifen ihr Verhalten als Anpassungsstörung. Als Unfähigkeit, sich auf eine veränderte und neue Situation einzulassen. Doch ich finde mich weder in dem Horrorbild einer der Depression anheimgefallenen Frau wieder, die diese schwierige Lebensphase mithilfe von Alkohol und/oder Tabletten aushalten will, wie es mancherorts beschrieben wird, noch an einem anderen Punkt: dem des Zeitpunkts. Das Leiden der Mütter am Auszug der Kinder festzumachen, ist in meinem Fall, und sicher auch in dem vieler anderer Mütter, zu spät. Die Phase des Abschieds und der Trauer beginnt früher. Sie beginnt mit der Pubertät.

 

Für diese Frauen, für all jene Mütter, die wie ich unter dem Erwachsenwerden ihrer Kinder leiden, schreibe ich dieses Buch. Denn wenn wir heutigen Mütter auch nicht die ersten sind, denen dieser Lösungsprozess zusetzt, so fällt doch auf, wie sehr er den Müttern meiner Generation Schmerz bereitet. Egal, wo ich in meinem Umfeld schaue, mit welchen Frauen ich rede, bis auf sehr wenige Ausnahmen empfinden alle eine tiefe Trauer. Und das, obwohl wir alles andere als eine passive Heimchen-am-Herd-Generation sind. Das Gegenteil ist häufig der Fall: Viele von uns sind ziemlich emanzipiert, selbstständig, üben einen Beruf aus und haben anderes zu tun, als den Kindern geschmierte Brote hinterherzutragen. Doch genau in diesem Wandel, in dem Wandel des Mutterbildes, der Gesellschaft und dem der Altersstruktur liegt die Krux. Die Krux des Schmerzes. Und darum soll es gehen. Um den Schmerz und darum, zu begreifen, warum das Fortgehen der Kinder uns anders und vielleicht stärker trifft, als er unsere Mütter traf. Es soll um die Wut gehen und um die Trauer, die auf den Lösungsprozess der Kinder folgen. Aber auch um dieses unsagbar schöne Gefühl, wenn man auf sein großes, auf einmal so eigenständiges Kind schaut, das als Persönlichkeit vor einem steht und durch seine Selbstständigkeit verdeutlicht, dass man vieles richtig gemacht hat. Und dass man sehr zufrieden sein kann. Mit seinem Kind. Und mit sich.

 

Bald ist Ben volljährig und in einem Jahr ist er mit der Schule fertig. Mir ist bereits zu diesem Zeitpunkt klar, dass rund um das letzte Schuljahr viele Ereignisse liegen, die »ein letztes Mal« passieren und ein Ende signalisieren und symbolisieren. Wie schwere dunkle Meilensteine liegen sie vor mir, und mir graut schon jetzt vor dem, was kommt. Ich befürchte schon jetzt, dass ich bei der Abiturverleihung weinen werde. Ich höre schon jetzt mein Kind genervt sagen: »Oh, Mama!«, weil es keine Lust auf diese sentimentale Mutter hat, die ständig ihr Kind drücken möchte in Anbetracht der großen Ereignisse, die der Nachwuchs allenfalls als lästige Hürde wahrnimmt.

Das Vorhaben, dieses Buch zu schreiben, wird mich durch diese Zeit und die Auseinandersetzung mit ihr begleiten. So kann ich mir zumindest im Ansatz bewusst machen, was passiert, warum diese Phase so schwierig ist, anstatt einfach nur von ihr gebeutelt zu werden. Ich werde dabei nicht allen Frauen, nicht allen Situationen gerecht werden können. Es ist nicht möglich, alle Facetten einzufangen und abzubilden. Und auch wenn ich mich intensiv damit beschäftige, wie die Mütter von Töchtern diesen Prozess erleben, so fehlt es mir als Mutter eines Sohnes doch naturgemäß an der spezifischen Erfahrung. Ebenso wenig kann ich erwarten, dass alle Frauen mir folgen werden, dass alle die emotionalen Tücken dieser Abschiedszeit ähnlich erleben und sagen: »Genau so ist es!« Ich kann nur das Angebot machen, auf das zu schauen, was uns diese Zeit so schmerzhaft erleben lässt und versuchen, durch dieses Hinschauen etwas von der Schwere und der Isolation, die dieses Gefühl mit sich bringt, aufzulösen. Denn es gilt die Erfahrung der Frauenbewegung der 70er Jahre: Festzustellen, dass man mit seinem Gefühl, mit seinem Schmerz nicht allein ist, ist ein erster Schritt, dem Übel seinen Schrecken zu nehmen. Und es erträglich zu machen. Dazu soll dieses Buch dienen. Anzuerkennen, was ist, um – im besten Fall – gestärkt daraus hervorzugehen.

Dies ist ein Sachbuch, kein Fachbuch. Es erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und wissenschaftliche Wasserdichte. Es erhebt lediglich den Anspruch, ehrlich zu sein, weil ich glaube, dass Aufrichtigkeit das einzig wahre Mittel ist, einen Umgang mit seelischem Schmerz wie diesem zu finden.

Weil ich nicht das Maß der Dinge bin und weil mich interessiert, wie andere Mütter und auch Kinder diese Situation erleben, habe ich viele Gespräche geführt, die in dieses Buch einfließen.

Das wird manchmal peinlich sein, manchmal lustig und ab und zu auch traurig. Sich so zu öffnen, ist nicht immer leicht und nicht immer angenehm. Deshalb habe ich die Namen der Personen und die Orte, aus denen sie stammen, geändert.

Um einer Verwirrung vorzubeugen: Dass die Jugendlichen, die im Buch vorkommen, fast ausnahmslos nach Abschluss der Schule oder der Ausbildung reisen wollen und ins Ausland gehen, ist keine bewusste Auswahl. Es ist ein Zufall, der auf der anderen Seite symptomatisch für diese Generation an Mittelschichtskindern steht.

zurück

Kapitel 114 oder: Keiner fragt: »Bist Du so weit?«

Als mein Sohn sich zu lösen begann, war er 14. Der Zeitpunkt mag variieren, bei manchen ist es mit 13 Jahren so weit, bei anderen mit 15, aber in diesen Zeitraum fällt bei den meisten Jugendlichen der erste große Schritt der Ablösung.

Mein Problem war, dass ich lange nicht verstanden habe, was vor sich geht. Ich habe die Veränderungen bei meinem Sohn bemerkt. Habe bemerkt, dass er auf Distanz geht, dass er weniger körperliche Nähe will und dass mich alles nichts mehr angehen soll. Aber es hat lange gedauert, bis ich wirklich begriffen habe, was los ist. Nicht bei ihm. Bei mir.

Das, was bei uns Einzug gehalten hatte, war das, was als »Pubertät« einen zweifelhaften Ruf genießt. Noch bevor die Pubertät im Haus angekommen ist, weiß man: Die ist übel. Das wird hart.

 

Tatsächlich stand, als Ben 14 Jahre alt war, »Pubertät« über allem. Alle sahen das Kind und das Geschehen rund ums Kind unter diesem Begriff. Die Lehrer, die Nachbarn, die Oma, der Orthopäde. Egal, was es zu bedenken gab, welche Situation, welches Verhalten, welches Wachstum zu beurteilen war, Ben war »in der Pubertät«. Aber nicht nur das Kind wurde mit dem Pubertätsstempel versehen: Ich, Du, er, sie, es – wir alle waren Gefangene dieser Zeit. Bereitwillig hatte sein familiäres Umfeld die entsprechenden Positionen bezogen: Ben war in der Zelle, wir Teil des Gefängnisapparates darum. Als Wächter, als Direktoren, für die spätere Resozialisierung zuständig.

Wutanfälle und ausflippen, müffeln, das Horten schlechter Klassenarbeiten unter dem Teppichboden in der Abseite des Dachbodens – das war die Pubertät.

Auch ich hatte mir diese Erklärung und die damit verbundene Wertung zu eigen gemacht und verbuchte diese Zeit unter diesem Etikett. Ich hatte mich damit abgefunden, nun – leider ein paar Jahre – unter einer Art Käseglocke leben zu müssen. Ein in sich geschlossener Kosmos, in dem man es aushalten muss, dass einer durch sein merkwürdiges Verhalten die Situation zu dominieren versteht. Und weil sein Verhalten eine Provokation für uns als Eltern ist, es mitunter sehr laut wird, vielleicht Sachen durch die Gegend fliegen, Türen knallen und es aufgrund der Hormone zu starker Geruchsentwicklung kommen kann, stülpt man am besten eine gläserne Glocke darüber. Dann bleibt alles schön drinnen, aber die anderen, die Freunde, Lehrer, Nachbarn und der Rest der Gesellschaft haben die Möglichkeit, dem Treiben unbehelligt zuzuschauen und es mitleidsvoll zu kommentieren. Die Pubertät, darauf hat sich die Gesellschaft geeinigt, ist ein monströses Übel, das sich unserer Kinder bemächtigt, auf dass alle leiden müssen.

Anders als vor über 30 Jahren, als meine Generation in dieser Phase war, wissen heute viele Eltern von den biochemischen Prozessen, die den Wandel begleiten und bedingen. Immer mehr Bücher kommen auf den Markt, immer mehr Artikel erscheinen in Zeitschriften, die darlegen, wie sich mit Beginn der Pubertät, in manchen Fällen schon im Alter von zehn Jahren, die Verknüpfungen im Gehirn lösen, um sich in einem langjährigen Prozess neu zu verbinden. Und dass man diesen Zustand mit einer riesigen Baustelle vergleichen kann, auf der an allen Ecken und Enden gearbeitet wird. Die verschiedenen Bereiche brauchen unterschiedlich lange, bis sie wiederhergestellt sind, und – aus Elternsicht – ist es dummerweise die Region, die für die Vernunft zuständig ist, die als Letztes fertiggestellt und wiedereröffnet wird. Mit etwa 17 Jahren.

Es hatte etwas Tröstliches zu wissen: Ben kann nichts für sein bescheuertes Verhalten. Wenn ihm Termine und wichtige Dinge egal waren, er nichts für die Schule tat, die Haustür offen stehen ließ und nie an irgendetwas Schuld hatte. Wenn das Fahrrad nicht da war zum Beispiel, weil er es an der Schule stehen gelassen hatte, so war das natürlich nichts, wofür er in seinen Augen irgendeine Verantwortung trug. Ebenso wenig, wie es irgendetwas mit einem Versäumnis seinerseits zu tun hatte, wenn er montagsmorgens am Frühstückstisch saß und sagte: »Ach, übrigens, die Klassenreise ist am Mittwoch.« Und ich fragen musste: »Welche Klassenreise? Welcher Mittwoch?!?«

 

In solchen Situationen war das Wissen um die Baustelle hilfreich. Dann war es gut zu denken: »Das ist die Biochemie. Sein Hirn ist im Umbauzustand, ich muss sein Verhalten nicht persönlich nehmen, auch kann ich nicht verlangen, dass es wie bei einem Menschen funktioniert, der diese Umbauphase hinter sich hat.« Außerdem wusste ich ja: »Das geht vorbei.« Das irrationale Handeln, diese Ist-mir-doch-egal-Haltung oder besser noch, die Außer-Dir-ist-das-allen-Menschen-egal-Haltung – das wird eines Tages verschwunden sein. Irgendwann ist der Baustellenprozess abgeschlossen, und es wird ein Mensch hervortreten, an dem ich nicht länger zweifeln muss.

Ich gebe zu, dass dieser Gedanke nicht immer da war. Ich räume ein, dass er oft genug verloren ging und ich vergaß, dass ich ihn denken könnte. Ich habe mich mit aller Inbrunst und über die Maßen aufgeregt. Geschrien und gezetert.

Im Nachhinein wünschte ich mir, ich hätte einen Zettelkasten angelegt, mit Sätzen, die helfen. Es wäre gut gewesen, sich ab und zu den Satz: »Es ist nur eine Phase, das geht vorbei!« oder auch: »Die Biochemie ist schuld!« anzusehen. Das hätte mir geholfen runterzukommen, ruhig zu bleiben und nicht daran zu verzweifeln, dass man mit jemandem auskommen muss, der sich so verhält, als hätte er gar kein Gehirn mehr in seiner Kopfkugel.

Das Monster Pubertät überdenken

Als Erwachsene hatte ich das angenommen, was die Gesellschaft für mich vorgesehen hatte: Einen Umgang mit der Pubertät, der diese Phase als lästig und hoffentlich schnell vorübergehend betrachtet.

Die Abkehr von dieser Haltung war ein leiser, schleichender Prozess. Es gab keinen konkreten Auslöser dafür, aber ich erinnere mich, dass es mich störte, dass man die Kinder so wenig ernst nimmt. Dass wir Erwachsenen uns immer mit der schlimmsten aller Arten über sie erhöhen: indem wir uns über sie lustig machen.

Egal, ob unsere Kinder auf einmal beginnen, ihre Haare auffallend zu stylen, sie sich einen anderen Namen geben oder wir ihre Telefongespräche nicht mitbekommen sollen – wir Erwachsenen tendieren dazu, alles zu veralbern. Jede Abgrenzung, jede modische Extravaganz ist »die Pubertät«. Ja, natürlich ist das »die Pubertät« – doch warum soll es deswegen nichts wert sein? Ich stellte auf einmal fest, dass mich diese Haltung schmerzt, dass jedes Tun, jedes Handeln durch die Feststellung, dies ginge auf das Konto der »Pubertät«, abgewertet wurde. Alle Bemühungen, das Innere darzustellen, durch Kleidung, Musik, Vergötterung von Stars oder spezielle Eigenarten, scheint durch uns Erwachsene – die wir uns regelmäßig vom Friseur die Haare färben lassen, die wir Marken kaufen, um ein bestimmtes Bild abzugeben und »um wer zu sein« – zwanghaft lächerlich gemacht werden zu müssen. Ich empfand das als ungerecht. Zumal wir in unserer Jugend ja nicht anders waren. Wir hatten doch auch durch Kleidung und Musik unserem sich wandelnden Ich Ausdruck verliehen. Und das war mitunter ästhetisch betrachtet fragwürdiger, als die heutige Jugend es tut.

Um meinen Sohn und seinen Ausbruch aus dem Kinderzimmer-Kosmos ernst zu nehmen, half es mir, die Erinnerung an meine Zeit mit 13, 14, 15 und 16 Jahren wieder hervorzukramen. Wie wir waren, was wir taten, wie wir dachten. Noch heute ist der Mai, als ich 14 war, der schönste Mai in meinem Leben. Ich erinnere mich noch daran, wie es sich anfühlte, das in der Badewanne türkis eingefärbte Männernachthemd über der Pumphose zu tragen, darüber eine Weste, die meine Oma gehäkelt hatte. Ich hatte lange Haare, um den Hals trug ich ein Lederband mit einem gravierten Gabelstiel als Anhänger und immer irgendein indisches Tuch. Ich war eng mit Ina befreundet. Auch sie trug »Freak«-Klamotten – gefärbte Nachthemden, Tücher und weite Hosen. Wir rochen nach Patschuli und Sandelholz. In diesem Mai 1980 haben wir viel Zeit mit denen aus dem Jugendzentrum, dem »Juz«, verbracht, die am anderen Ende der Stadt in einer Einfamilienhaussiedlung mit großzügigen 50er-Jahre-Häusern und alten Villen wohnten. Es war ein ungeheuer warmer Mai, selbst der Abend duftete noch satt nach Flieder. Die Luft war dick und schwer von all den Düften, die die dicht bewachsenen Gärten ausströmten, an denen wir auf dem Weg zu unseren Freunden vorbeikamen. Wir fuhren mit den Fahrrädern durch diesen Geruchspark, durch diese unbekannte und doch beschützende Gegend, eine bei der anderen auf dem Gepäckträger. Wir trugen Stoffschuhe mit dünnen Sohlen, die uns fast eins werden ließen mit der Umgebung, dem Gras, dem warmen Boden, und die so leicht waren, dass ich diese Zeit als eine in Erinnerung habe, in der ich schwebte. Jeden Tag trafen wir uns mit den anderen, von denen manche schon 15 und 16 Jahre alt waren, bei einem von ihnen im Garten, flochten uns Blumen ins Haar, und einige kifften. Unsere Eltern waren weit, weit entfernte Wesen, zu denen man am Ende des Tages zurückkehren musste, um in ihrem Haus zu übernachten. Sie waren nicht wichtig für uns. Wir waren wichtig für uns. Es ging um das, was wir fühlten, was wir redeten und welche Musik wir hörten. Wir waren getragen von der Leichtigkeit der Jahreszeit und unserer Jugend. Wer bin ich, frage ich mich, wenn ich an diese Zeit denke, meinem Sohn eine solche Erfahrung absprechen zu wollen? Wer bin ich, so ein Erleben, so eine erste, intensive Zeit des Eigenen durch »Das ist die Pubertät« abzuwerten und zu erwarten, er bleibe zu Hause und mache etwas für die Schule?

Als mir diese Gedanken bewusst wurden, als ich begriff, dass ich als Vernunft gesteuerte Mutter etwas von ihm verlangte, was zu verlangen dämlich war – zu Hause zu sein, sich für die Schule zu interessieren – wurde mir nicht nur klar, warum wir ständig stritten. Mir wurde auch klar, dass ich Ben nicht gerecht werde. Und mir, die ich mich gerne an meine Jugend erinnere, nicht. Und nicht dem, was die Pubertät ist.

Pubertät ist eben nicht nur das grauenhafte Übel, das über die Familien kommt und sie in den Wahnsinn treibt. Pubertät ist zuallererst eine Zeit des Wandels. Das Kind wandelt sich. Es verändert sich. Vor unseren Augen wird dieses bekannte, vertraute und so unglaublich geliebte Etwas zu etwas Neuem, das wir noch nicht kennen. Wir wissen nicht, was am Ende des Prozesses herauskommen wird. Wir wissen nicht, ob das gut sein wird und ob das, was sich herausbildet, noch irgendetwas mit dem zu tun hat, das wir verlieren. Und was wir verlieren, ist viel. Für mich fühlte und fühlt es sich so an, als verlöre ich mein Kind. Jedenfalls das Kind, das ich kannte.

Das Problem lag bei mir

Ich habe lange Zeit nicht verstanden, was los ist. Was mit mir los ist. Ich war unausgeglichen, ungerecht und bin Ben gegenüber schnell laut geworden. Lange habe ich die Ursache dafür fern von mir gesucht. Ich dachte, das sei etwas von »außen«. Es sei Ben mit seinem: »Das geht Dich nichts an!«, mit seinen immer schlechter werdenden Schulnoten, seinem: »Ey, chill mal runter!« und seinem mülligen Zimmer, das natürlich nur im Auge der mütterlichen Betrachtung müllig war. Dabei habe ich nicht zu fassen bekommen, was sein Wandel mit mir macht. Denn bei allem, was in dieser Zeit passiert, geht es um dieses Eine, unendlich Traurige: den Abschied.

Fängt das Kind an, abends auszugehen, bedeutet das den Abschied von den gemeinsamen Abenden. Geht es jetzt mit Freunden Klamotten kaufen, bedeutet das nicht nur den Abschied von dem manchmal sehr netten Miteinander des gemeinsamen Einkaufs, sondern auch von der mütterlichen Einflussnahme auf das Erscheinungsbild. Zu sehen, wie es sich die Welt erschließt, bedeutet, sich davon verabschieden zu müssen, den wichtigsten Kosmos für das Kind darzustellen. Vom Maßstab und Orientierungspunkt hinter die (oft neuen) Freunde in die zweite Reihe zu rücken. Wenn nicht in die dritte, vierte oder gar an den Rand des Kosmos unserer Kinder gedrängt zu werden.

Das auszuhalten, finde ich extrem schwierig. Dabei sollte ich es gewohnt sein. Etwas erlernen, selbstständig werden – fast jeder Entwicklungsschritt im Laufe der Kindheit bringt das Erlebnis mit, als Mutter weniger gebraucht zu werden. Doch in all den Jahren, bis Ben 14 wurde, hielt die Nabelschnur. Egal, was mein Sohn lernte, was er auf einmal konnte, er blieb stets mit mir verbunden. Wie an einem langen, elastischen und festen Band gehörte er zu mir. Er war meine Brut, wir waren eine Einheit in zwei Teilen. Wir waren Mutter und Kind.

Mit 14 begann er, das Band an seinem Ende langsam zu lösen. Er kappte es nicht, er löste nur nach und nach den Knoten.

Ich durfte immer weniger wissen. Das Wort »privat« bekam mehr Bedeutung. Türen wurden geschlossen. Ich durfte im Bad nicht mehr dabei sein, oder wenn er telefonierte. Nicht wissen, was er bei Facebook machte, er versteckte schlechte Arbeiten. Schule war eh so ein Thema, das mich nichts mehr angehen sollte.

Für mich war das eine Art Angriff. Angriff durch Zurückweisung. Ich war gekränkt. Ich konnte mit seiner Abgrenzung nicht umgehen. Weil ich die Situation nicht begriffen habe, haben wir viel gestritten. Dabei war es ganz einfach: Ben wollte Verantwortung für sich übernehmen. Jeder Jugendpsychologe wäre begeistert, doch ich, die ich mich doch unbedingt kümmern wollte, konnte nur die Zurücksetzung darin sehen. Und, natürlich, die böse »Pubertät«, die das alles mit sich bringt. Die mein Kind aufmüpfig macht und rebellisch und das ganze »Der-löst-sich-jetzt-von-seinen-Eltern-Programm« abspult.

 

Es war ein schleichender Prozess, die Pubertät anders sehen zu wollen. Sie nicht länger als zersetzendes Gift zu begreifen, sondern zu sehen, wie spannend und aufregend sie ist. Mich daran zu erinnern, wie großartig sie für mich war, wie bereichernd und aufregend, hat dazu geführt, mich auf die Seite meines Sohnes stellen zu können. Alle elterliche Verantwortung beherzigend, begann ich, anders auf Ben und seine Wünsche zu schauen. Ich fragte mich, wie nachvollziehbar und notwendig sie aus seiner Sicht sind, und was dagegen spricht, sie zu realisieren. Ich versuchte, ihm Dinge zu ermöglichen, anstatt sie abzuwehren, nur weil man das als Elternteil eben so macht. Ich erinnere mich noch gut, wie mein Vater zu mir sagte: »Du bist um acht Uhr zu Hause«, und als ich ihn fragte, warum um acht, warum es nicht halb neun oder neun sein könne, konnte er mir keine Antwort geben. Er hatte keine Begründung für diese Uhrzeit. Aber weil er sie einmal ausgesprochen hatte, konnte er davon nicht mehr abweichen. Er wollte nicht »klein beigeben«, seinen Machtanspruch nicht infrage stellen lassen. Im Gegenteil: Er meinte ihn dadurch zu manifestieren. Nach dem Motto: »Das ist so, weil ich es sage.«

Ich sehe diese Tendenz auch bei Eltern der jetzigen Generation. Man sagt Dinge, weil man sie als Eltern so sagt. Weil man es als Kind auch nicht anders erlebt hat. Und weil Jugendliche auch mal ein Nein hören müssen. Aus Prinzip. »Nein, da gehst Du nicht hin!«, »Nein, Du schläfst zu Hause!« Nein. Punkt, Ende, aus.

Ich bin dazu übergegangen, Ben nach seiner Einschätzung zu fragen, was er für eine passende Uhrzeit hält, wenn er abends unterwegs ist. Gemessen an dem, wo er hingeht, am Weg, der Entfernung, der Jahreszeit, der Frage, ob er allein unterwegs ist oder in Begleitung. Oft genug nannte er eine frühere Uhrzeit, als die, die ich für okay hielt. Lag sie zu weit hinten, sagte ich das, nannte meine Bedenken, und wir fanden einen Kompromiss. Zum Beispiel den, von unterwegs aus anzurufen. Wenn er dann um 22.30 Uhr oder später um 24.00 Uhr anrief, besprachen wir die Situation – wo ist er, mit wem, in welchem Zustand, wie sind die anderen da, haben sie denselben Weg? – und verabredeten eine Uhrzeit. Er war immer pünktlich. Und: Ich kann mich nicht erinnern, dass wir diesen typischen Krach: »Du bist dann und dann zu Hause!« – »Du verstehst mich nicht, leck mich doch am Arsch!« hatten. Es wird ihn ein-, zweimal gegeben haben. Aber er war nicht so maßgeblich, wie er zum Beispiel zwischen meinen Eltern und mir zelebriert wurde oder wie ich ihn bei Freunden erlebe.

Der Sohn bricht auf, ich brech zusammen

Erst in dieser Betrachtung meines sich verändernden Sohnes und der Freude für ihn an diesen Veränderungen ist mir deutlich geworden, was seine Pubertät für mich bedeutet: einen unglaublichen Schmerz. Während mein Sohn sich vorbereitet, in die Welt aufzubrechen, bricht für mich meine Mutterwelt zusammen. Die Natur mag Ben mit 14 Jahren für reif halten, sich zu lösen, ich bin es nicht.

 

Mein Gefühl ist: Hallo, ich bin erst seit 14 Jahren Mutter! Ich habe nicht vor, das aufzugeben! Ich will noch tun und machen und mich über Socken hinter der Heizung aufregen können. Ich will Mutter sein und somit lästig und nervig und vor allem liebevoll. Ich möchte mich kümmern können und die erste Adresse sein, wenn das Herz schmerzt. Ich möchte Tränen trocknen und Pflaster kleben und mich im Bett dazulegen und an der Zimmerdecke Figuren suchen. Ich möchte auf den Bauch pusten und bunte Sandalen kaufen. Ich möchte mit Gummibärchen überraschen und sagen können: »Jetzt wird der Fernseher ausgemacht, morgen kommt das Sandmännchen wieder!«

Kurz, ich möchte noch die sein, die ich war. Nicht nur diejenige, die im Hintergrund agiert, die dafür sorgt, dass saubere T-Shirts im Schrank liegen, die miese Klassenarbeiten unterschreibt und sich ansonsten bitte heraushält.

Zu merken, dass meine Zeit als Kümmer-Mutter vorbei ist, hat mich in eine tiefe Krise gestürzt. Nicht, weil ich nichts anderes mit meiner Zeit anzufangen weiß. Sondern zum einen, weil es mich so unvorbereitet getroffen hat. Zum anderen, weil ich schlicht nicht reif dafür war. Ich hatte immer gedacht, wenn diese Zeit käme, dann wäre ich automatisch bereit dafür, die Rolle zu wechseln. Ich wäre dann abgegessen vom Kümmer-Mutter-Dasein. Von den Nervereien, ausgezehrt von den pubertätsbedingten Anstrengungen, den Kämpfen und Streits. Ich hatte gedacht, die Entwicklung meines Kindes und meine würden Hand in Hand vonstattengehen. Gemeinsam würden wir in das Morgen aufbrechen wie in einem Film mit Happy End. Tun wir aber nicht. Während mein Kind ein neues Boot besteigt, ein Boot namens »Abenteuer«, bleibe ich am Ufer stehen und kann zusehen, wie es langsam am Horizont verschwindet.

Längst nicht so kitschig, aber so groß fühlt es sich an. Entsprechend könnte ich Rotz und Wasser heulen.

 

Es hilft in dieser emotionalen Situation nur wenig, zu denken, er wird groß, er entwickelt sich, aber er wird ewig dein Kind bleiben. Ich habe stattdessen das irrationale Gefühl, alles zu verlieren. Dabei, und das ist das Absurde, ist es eh schon lange vorbei. Der süße kleine Sohn, der so selbstverständlich und vertrauensselig die Hand ergreift, der Schutz sucht und dessen neben seinem Vater wichtigste Person ich bin – dieser Sohn existiert schon lange nicht mehr. Stattdessen ist da ein Jugendlicher, der sein Leben mittlerweile ziemlich gut im Griff hat und bald sein Abitur macht. Doch aller Ratio zum Trotz herrscht und beherrscht mich das Gefühl des Verlustes. Von Ende und Abschied. Als werde alsbald etwas unwiederbringlich vorbei sein.

Und das wird es auch. Am Ende von allem, am Ende von Bens Großwerden, von seiner Pubertät und unserem Bemühen, dass er die Schule halbwegs gut hinbekommt, wird sein Auszug stehen. Da gibt es kein Drumherumkommen. Und so sehr ich meine Vernunft auch bemühe und so sehr ich versuche, »erwachsen« zu fühlen, »vernünftig« zu sein, meinen Nachwuchs wohlwollend aus dem Nest zu bugsieren und froh darüber zu sein, endlich Ruhe zu haben – es gelingt mir nicht. Ich bin traurig, verzweifelt und wütend. Manchmal möchte ich schreien. Es mischt sich eine Wut unter die Trauer. Die Wut über die Ohnmacht gegenüber diesem Gefühl, über die Passivität und die Ausweglosigkeit. Denn natürlich ist es kein Ausweg, zu klammern, das Kind an sich zu binden oder ihm einzureden, es wäre besser, es bleibe noch ein wenig. Nein, wenn das Kind so weit ist, muss es raus in die Welt. Das alles ist gut und richtig so. Die Natur hat das für die meisten, wenn nicht für alle ihre Kreaturen so vorgesehen. Vom Verstand her kann ich absolut folgen.

Aber irgendwie ist da eine Lücke. Eine Entwicklungslücke meinerseits. Die Natur, so mein Eindruck, hat es versäumt, einen Entwicklungsprozess für Eltern einzubauen. Sie hat versäumt, mich während Bens Pubertät emotional reifen zu lassen.

Es ist am Ende ganz einfach: Mein Sohn ist bereit, ich bin es nicht. Eine Reife der Mutter ist nicht vorgesehen. Sie ist der Biologie egal.

zurück

Kapitel2Kalt erwischt oder: Warum warnt einen keiner?

Ich frage mich, ob ich naiv war. Ob ich wirklich angenommen habe, das Leben mit meinem Kind würde unendlich so weitergehen. Mama und Kind bilden eine Einheit, und in dieser Einigkeit, in der die Mutter die Hand des Kindes in der ihren fühlt und das Kind seine kritiklos geliebte Mama strahlend anlächelt, geht das Leben weiter … Nein, natürlich habe ich das nicht gedacht. Natürlich war mir immer klar, dass Kinder groß werden und dann Haus, Hof und Eltern verlassen. Nur ist es das eine, etwas zu wissen, und das andere, sich den Zeitpunkt realistisch zu vergegenwärtigen.

Im Nachhinein bin ich überrascht, wie wenig der Lösungsprozess der Kinder und sein mitunter früher Termin ein öffentliches Thema ist. Über alles wird in dieser Gesellschaft gesprochen, Bücherregale biegen sich unter der Ratgeberliteratur, die Eltern zum Thema Kinder angeblich brauchen. Und auch Frauen im eigenen Umfeld scheuen sich nicht, die Aufzucht der Brut ab dem Moment der Geburt mit Rat und Hinweis zu begleiten. Egal ob Sohn oder Tochter, Patenkind, Nachbarn oder Freunde ein Kind bekommen, zu allen möglichen Aspekten wird – oft ungefragt – Stellung bezogen. Aber über das Flüggewerden der Kinder, welche Gefühle dies auslöst und welchen Schmerz es mit sich bringen kann, spricht keiner. Jedenfalls nicht öffentlich. In den Psychotherapiepraxen, die so viele von uns rund um den Zeitraum, in dem die Kinder groß werden, mit unserer »Lebenskrise« aufsuchen, mag es ein Thema sein. Aber ein gesellschaftliches Thema – auch als Erklärung für das verstärkte Auftreten von Lebenskrisen oder Depressionen bei Frauen mittleren Alters – ist es nicht.

 

Ich erinnere mich, ein paarmal den Spruch »Die Jahre gehen so schnell vorbei!« gehört zu haben, vor allem von Frauen im Oma-Stadium, aber das war es auch. Eine oberflächliche Aussage von Personen, die ich als nostalgische Wesen wahrnehmen musste. Die so Dinge sagen, die Omas eben sagen. Jetzt, im Nachhinein wünschte ich, irgendjemand hätte mir vermittelt, was das heißt: »Die Jahre gehen so schnell vorbei.« Irgendjemand hätte gesagt: »Es ist am Ende nur eine kurze Zeit, es sind nur wenige Jahre, die Du mit Deinem Kind in einer wirklichen Einheit verbringst. Man glaubt es nicht, wie früh die sich lösen, aber mit 14 ist eigentlich alles schon durch. Dann fangen sie an, ihren eigenen Weg zu gehen, und Du kannst nur noch zugucken.« Das hätte den Umstand nicht besser gemacht, aber ich wäre vielleicht nicht so hilflos in das Dilemma hineingerasselt.