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Kiji und Silvester treffen nachts im Park aufeinander. Sie beginnen eine Affäre, in der Silvester Kijis Eigentum wird. Ihre Vereinbarung: Sie treffen sich nur im Schutz der Dunkelheit und keiner der beiden spricht über sein Leben am Tag. Doch schon bald verwischen ihre Tag- und Nachtidentitäten und beide ahnen, dass die Geheimnisse, die sie voreinander verbergen, gefährlich sind. Gay BDSM Romance
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Seitenzahl: 440
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Erotikroman
© dead soft verlag, Mettingen 2014
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Violet Mascarpone
Bildrechte: © Thinkstock, yuriyzhuravov
1. Auflage
ISBN 978-3-944737-68-3 (print)
Und wenn du nur auf die Stille der Nacht hörst, wirst du hören: Es ist ein Drängen in dir, die Nacht, die dir gehört, zum Tag zu machen, der ebenso dir gehört
„Was dagegen, wenn ich mich setze?“
„Warum ausgerechnet hier?“
„Weil es die einzige Bank ist, bei der die Laterne nicht funktioniert.“
Kiji fand, das war eine akzeptable Antwort, denn genau aus diesem Grund hatte er sich seinen eigenen Sitzplatz erwählt, auf dem er Nacht für Nacht saß.
„Normalerweise sitze ich auf der im Rosengarten. Aber da haben sie gleich drei neue Bodenlichter eingebaut, wegen der Atmo ...“ Der große Mann verdrehte die Augen.
Kiji nickte und musterte seinen Banknachbarn flüchtig. Der Duft von Eau de Toilette stieg ihm in die Nase; der junge Mann trug einen sauber geschnittenen Undercut, das Deckhaar zwanzig Zentimeter lang, heller als der Rest, ob es gefärbt war, konnte Kiji in der Dunkelheit nicht beurteilen. Wahrscheinlich schon. Ein Blick reichte, um zu sehen, dass der andere viel zu viel Wert auf Kleidung legte. Eitler Clown.
Nichts für Kiji.
Wenn seine Haare zu lang wurden, griff er sich trotzig den Bikinizonentrimmer, den seine Mutter fast auf den Sperrmüll geschmissen hätte, scherte sie auf drei Millimeter ab und ließ sie anschließend wieder wachsen, bis seine Tante keifte und schimpfte.
Kiji griff nach dem Flachmann in der Innentasche seiner Lederjacke, trank ein paar große Schlucke und versuchte die nahezu sehnsuchtsvollen Blicke des anderen auf seine Flasche zu ignorieren, bis er sie ihm wortlos hinhielt.
„Danke.“
Kiji bemerkte das Zittern der langen gepflegten Finger des Mannes und fand, er wirkte ein bisschen wie ein überspanntes Zuchtpferd.
Kiji zog die Nase hoch, schraubte den Flachmann zu und verstaute ihn in seiner Tasche.
Es lag ein Sirren in der Luft, das monotone Rauschen einer weit entfernten Autobahn, das nachts viel deutlicher zu hören war, als am Tag. Kijis Ohren funktionierten in der Finsternis wie Seismografen, tags waren sie merkwürdigerweise halb taub. Wie oft hörte er nicht, wenn man ihn ansprach. Aber in der Nacht entging ihm kein Laut.
Kiji stellte sich vor, nicht Kiji zu sein, und starrte auf die schwarzen Bäume. Die Dunkelheit saugte das Grün aus den Blättern.
„Welche Farbe hat das Gras?“, fragte Kiji seinen Bankgefährten gedämpft und deutete mit dem Finger auf die Halme, die am Fuß der Buche wuchsen.
„Grau“, antwortete der andere, ohne nachzudenken.
Kijis Magengrube wurde warm. Seitdem er die Frage stellte, war die Antwort stets: „Grün“. Der Magic Key aber lautete Grau und er drehte sich gerade in ein geheimes Schloss in Kijis Herz.
Er reichte dem anderen die Hand. „Kiji.“
Der Modische griff nach ihr, umschloss sie; kühle, feuchte Finger, sie fühlten sich an, wie er sich Delfinhaut vorstellte.
„Silvester.“
Der Name gefiel Kiji und er wiederholte ihn stumm ein paar Mal in seinem Kopf.
Silvester hörte nicht auf seine Hand zu umklammern und als Kiji sie mit einem Ruck entwand, sah er die Hand des anderen einige Sekunden in der Luft schweben und zittern. Dann legte Silvester sie in seinen Schoß, als gehöre sie gar nicht richtig zu ihm. Kiji wandte seinen Blick ab. Er setzte den Flachmann wieder an und hasste sich dafür. „Wieso hast du gesagt, es sei grau?“
„Weil es grau ist. Morgen wird die Sonne es vermutlich wieder grün zaubern, aber jetzt ist es grau. Kann ich noch mal trinken?“
„Klar.“
Kiji beobachtete, wie er den Kopf in den Nacken legte und seine Lippen das Metall umschlossen. Sie wirkten sehr weich.
„Du trinkst auch zu viel“, stellte Kiji sachlich fest.
„Definitiv.“
Kiji schloss die Augen. Seine Schulter berührte Silvesters.
So saßen sie lange, ohne zu reden. Er hatte Angst vor dem Moment, in dem Silvester aufstehen, seinen Koffer nehmen und gehen würde. Ein Metallkoffer, wie der eines Fotografen. Er schien häufig benutzt zu werden, Kratzer und Dellen überzogen das beschichtete Metall.
„Bist du Fotograf?“
Silvester blickte ihn verwirrt an.
„Wegen dem Koffer.“
„Ah, nein. Das ist … ich bin Visagist. Alles voller Make-up.“
Das passte.
„Und du?“
Kiji lächelte. „Ich habe eine Kampfsportschule.“
„So was hätte ich mir denken können!“ Silvester musterte ihn von den abgelaufenen Turnschuhen bis zu seinem unfrisierten Haar. „Welche Richtung denn?“
„Graf Manga.“
Silvester stutzte und runzelte die Stirn. „Nie gehört.“
„Ist hier nicht so bekannt. Das ist der Kampfsport der israelischen Armee.“
„Ah ...“
Dann erhob sich Kiji, bevor Silvester es tat, blickte ihm ins Gesicht, beugte sich hinab und legte in Zeitlupentempo seinen Mund auf Silvesters, er berührte ihn kaum. Silvester schloss die Augen, spitzte seine Lippen, sein Brustkorb hob und senkte sich schneller, als erwarte er mehr, aber mehr hatte Kiji nicht in petto. Er richtete sich auf und steckte die Hände in die Jackentaschen. Dann ging er.
Ein Kuss, weil Silvester das Gras nicht für grün gehalten hatte.
Silvester hatte seit ihrem gestrigen Zusammentreffen nicht an Kiji gedacht, bis er seinen Kopf hob und die Blätter der Kastanie über sich im Abendwind schaukeln sah. Blätter, wie die Finger eines Baumgottes, sie begannen bereits zu verblassen, und obwohl es noch nicht ganz dunkel war, glitzerten die ersten Sterne am Himmel.
Heute war nicht sein Tag. Streng genommen war kein Tag sein Tag. Er hatte den Vormittag darüber gegrübelt, wem er die unangenehmen Aufgaben seines Arbeitslebens zuschieben konnte, niemanden gefunden und seinen Job zaudernd und unter Aufbietung all seiner Verzweiflung hinter sich gebracht, ihn vermasselt, dann ein Sandwich gegessen, um nun automatisch zum Park zu schlendern, in dem er sich nicht auf seinem Rosenplatz niederlassen konnte, weil die Stadt es für eine reizende Idee hielt, ihn neuerdings mit grellen Bodenstrahlern zu verhunzen.
Silvester hoffte nicht auf Wunder; hoffte nicht auf Kiji.
Kiji war nicht sein Fall, im Grunde genommen. Genauso wenig wie Kampfsport oder Autoskooter. Ob Kiji Autoskooter mochte? Bestimmt, wettete er mit sich selbst um eine neue Haarfarbe.
Nach einem Tag wie diesem fühlte Silvester sich leer. Er wusste nichts mehr zu denken. Es gab nichts zu tun oder zu sagen. Früher besuchte er bis zur Morgendämmerung Clubs, die Lautstärke füllte das schmerzende Vakuum in seinem Verstand, bis er die Nacht entdeckte, die Nacht im Park. Sobald es dunkel wurde, begann er zu leben, gebar die Dunkelheit seltsame Kreaturen wie Glühwürmchen, Penner, Sterne, verliebte Katzen und Kiji.
Silvester ließ sich auf die Bank bei den Buchen nieder und versuchte nicht auf ihn zu warten. Er wollte seine Gedanken davonfliegen lassen, die Zeit anhalten, wie sonst auch, aber es gelang ihm nicht.
Als er eine dunkle Gestalt über den Kiesweg gehen hörte, spannte er sich an.
„Hi“, sagte Kiji.
„Ach, du auch wieder hier?“ Silvester bemühte sich, erstaunt zu klingen.
„Sicher.“ Kiji zögerte einen Moment, dann grinste er. „Ich hab dir was mitgebracht.“
Er hatte also gewusst, er würde hier sein und auf ihn warten.
„Was?“
Kiji zog einen eine Art Metallrohr aus seiner Lederjacke und reichte es ihm.
„Ein Brecheisen?“ Silvester drehte und wendete es unsicher in seiner Hand, weil er nicht wusste, was er damit anfangen sollte und blickte Kiji schließlich fragend an.
„Damit wir zu den Rosen können.“ Verlegen vertrat er sich die Füße und lächelte Silvester unsicher an.
„Versteh ich nicht.“
„Okay. Komm einfach mit.“
Mit festen, langen Schritten, die Hände in den Jackentaschen und den Blick stur geradeaus gerichtet lief Kiji neben ihm her, als wäre Silvester gar nicht da und dennoch schien er ihn an einer unsichtbaren Leine zu führen.
„Magst du Autoskooter?“
„Wer nicht?“ Seine Stimme hatte eine seltsam gleichgültige Färbung.
Wusste ich’s doch … Vielleicht schwarz?
„Magst du schwarze Haare?“
Kiji schob die Unterlippe vor, blieb stehen und wägte ab. „Nur echtes Schwarz“, entschied er, um sich umgehend wieder in Bewegung zu setzen.
Dann eben nicht, dachte Silvester und schenkte ihm einen kurzen Seitenblick, den Kiji nicht wahrnahm. Sie hatten die Bank im Rosengarten erreicht. Die Bodenlichter legten einen silbernen Schleier über Kijis Wangen, seine Augen funkelten dunkel, sodass die kleine Nase fast ein wenig unpassend erschien.
Er trat überrascht zurück, denn Kiji zückte das Brecheisen, grinste wie ein Faun und schlug mit einer kurzen, effektiven Bewegung zu.
Das Sicherheitsglas barst knirschend, das erste Licht erlosch. Eine Motte flatterte konfus um ihre verglühte Sonne, um schließlich davon zu fliegen.
„Du auch mal?“, bot er Silvester höflich an.
„Äh … nein danke.“
Kiji zuckte mit den Achseln und tötete die drei anderen Leuchten ebenso entschlossen wie erfolgreich.
„Kein Licht mehr … besser?“
Silvester lächelte von Kiji unbemerkt. „Viel besser.“
Mit einem unbestimmten Grunzen ließ Kiji sich auf der Bank nieder und Silvester tat es ihm gleich.
„Danke.“
„Ist Unsinn mit den Lampen. Nichts darf so bleiben, wie es geschaffen wurde. Die Nacht nicht dunkel, Haare nicht ungefärbt, Flüsse nicht krumm und schief ...“
Silvester nickte und rückte unmerklich ein wenig näher an ihn. So etwas Nettes hatte noch nie jemand für ihn getan. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte, also zog er aus seiner Umhängetasche den mit gestepptem Nappaleder überzogenen Edel-Flachmann, den er heute Mittag, zwischen Grübeln, Angst haben und Arbeiten mit Whisky befüllt hatte. Jetzt erst begriff er, dass es für Kiji gewesen war.
„Wusa! Den hast du nicht von der Tankstelle, was?“, sagte Kiji, nachdem er gekostet hatte.
„Nein.“
„Was ist das für einer?“
Silvester überlegte. Was hatte noch auf der Flasche gestanden?
„Glen Grant von 1954 … glaube ich.“
Kiji nickte anerkennend.
„Ist das was Besonderes?“
Er lachte rau. „Du trinkst Whisky für knapp fünfhundert Ocken und weißt es nicht einmal?“
Silvester schwieg. Er hatte keinerlei Verhältnis zu Geld. Es war da, es floss, es schien niemals auszugehen. Die Flasche hatte er aus dem Besprechungszimmer seines Vaters mitgenommen. Für ihn war es nur Schnaps, nichts weiter.
„Er war ein Geschenk“, behauptete er peinlich berührt.
Die Rosen wippten und eine geringelte Katze schob sich geschmeidig durch sie hindurch, blieb angespannt stehen, hob ihre winzige weiße Pfote, als habe sie etwas gesichtet, und schlich lautlos weiter.
„Danke, dass du das Geschenk mit mir teilst. Das ist ...“ Kiji brach ab und setzte die Flasche noch einmal an die Lippen. „Ich trink zu viel“, stellte er danach leise fest.
„Man kann gar nicht genug trinken“, erwiderte Silvester und wusste nicht recht, ob er das ernst meinte oder ihn nur trösten wollte. Kiji strahlte etwas Trauriges aus, nicht die aufgesetzte Art dramatischer Schwermut, überhaupt wirkte an ihm nichts gekünstelt oder gespielt, obwohl er mit Sicherheit ein Lügner war.
„Wie lief’s heute in deiner Kampfkunstschule?“
„Ah … Frauen-Selbstverteidigungsgruppe. Nicht so aufregend.“
„Wieso?“
„Nur so. Weil man seine Kraft dann immer zurücknehmen muss. Und bei dir?“
Silvester drehte die Flasche zwischen den Handflächen. „Ich hatte eine sehr komplizierte Kundin. Ich musste sie zu ihrem Glück zwingen. Manchmal ist es schwieriger, ein Visagist zu sein, als man denkt.“
„Zu was musstest du sie zwingen?“
Silvester schwieg, dann sagte er: „Regenbogenfarbene Wimpernsträhnchen.“
Kiji sah ihm lange in die Augen, es war ein Blick wie ein Angelhaken, er bohrte sich in die Mariannengräben von Silvesters Seele, dann bemerkte er langsam: „Wir sollten uns solche Fragen nicht stellen, wenn das hier … mit dem Park und uns funktionieren soll. Denn darauf läuft es hinaus. Oder?“
Was hat er in meinen Augen gesehen, fragte sich Silvester. Was hat er gesehen, um so etwas zu sagen?
„Ja, vermutlich. Du hast recht: Lass es uns nicht so kompliziert machen“, stimmte Silvester vage zu und spürte, wie die Übereinkunft sein Herz erleichterte.
„Und lass uns bitte nicht so viel quatschen. Das meiste ist ja eh nicht wahr und für immer.“
„Ja.“
„Wir könnten so tun, als ob.“
„Als ob was?“ Silvester berührte Kijis Knie mit seinem.
„Als ob du mir gehörst.“
Seine Ohren verschluckten die leisen Töne der Nacht und rauschten, seine Fingerspitzen wurden taub und kribbelten kurz darauf und er meinte eine Sekunde lang, dringend zur Toilette zu müssen.
Kiji beugte sich zu ihm, um ihn zu verstehen, weil er so leise sprach: „Wie kommt es, dass du nicht einmal das Falsche sagst?“
„Du sollst gerne mir gehören.“
Silvester spürte den warmen Atem an seinem Ohr.
„Meinst du das so, wie ich das gerade verstehe …?“, fragte er zögernd.
Kiji sah ihn mit einem unbestimmten Grinsen an, dann strich er ihm das Haar aus der Stirn und zuckte mit den Schultern. Er schloss die Augen und lehnte sich zurück.
Silvester wartete auf eine Erklärung, er fühlte Angst seine Wirbelsäule hinaufsteigen, weil er sich vor ihr fürchtete. Aber Kiji erklärte nichts. Er saß einfach da, die Beine von sich gestreckt, die Lider geschlossen, wie ein Krieger aus einem Paralleluniversum, der sich ausruhte.
Silvester wollte seinen Körper spüren, wenigstens ein bisschen, und so lehnte er sich ebenfalls zurück, sein Oberschenkel an Kijis gedrängt, Schulter an Schulter, so nahe, dass er ihn atmen hören konnte.
Sie verschmolzen mit der Nacht, miteinander und Silvester vergaß, etwas zu wollen, bis er erschrocken blinzelte, als er ein Ratschen hörte.
„Kiji?“
Kiji hatte den Saum seines Shirts eingerissen, er hing wie eine Schaukel herab und er nahm ihn zwischen die Zähne, um ein Stück abzureißen. Sein Bauch blitzte weiß auf, bis er ein schmales Stück Stoff in der Hand hielt.
Er griff nach Silvesters Hand, wand den schwarzen Fetzen um sein Handgelenk, verknotete ihn gewissenhaft und lächelte ihn an. „Damit du nicht vergisst, dass es mich gibt.“
Silvester sah ein paar Sekunden auf den dunklen Stoff, der Anblick gefiel ihm, erregte ihn, dann schnupperte er daran. Er roch nach Kiji.
„Ich geh jetzt.“
Silvester nickte und strich über den Knoten, der Zipfel war feucht, dort, wo Kiji ihn in den Mund genommen hatte.
Ohne ein weiteres Wort erhob Kiji sich, um zu gehen.
„Hey!“
„Was?“
„Nimm das mit.“ Silvester streckte seinen Arm aus und hielt ihm den Flachmann hin.
Kiji lächelte, nahm ihn an sich und verstaute ihn in seiner Jackentasche.
„Heißt du wirklich Kiji?“
Er kam einen Schritt auf ihn zu, packte Silvester ins Haar, zog seinen Kopf unsanft in den Nacken und fixierte ihn ruhig. „Ja.“
Silvester wollte seine Lippen spüren, genau jetzt, aber Kiji lockerte seinen Griff, strich ihm über den Kopf und drehte sich um. Diesmal unwiderruflich, das wusste Silvester.
Er blieb einfach sitzen und ertastete sein Staunen, sein großes Staunen darüber, sich verliebt zu haben. Rettungslos und unheilbar, für immer und ewig, von Kopf bis Fuß. Für ein paar Stunden in der Nacht war er gerettet. Eine ungekannte Dankbarkeit durchflutete ihn.
Er legte die Hand auf seinen Schritt, die Wärme drang durch den Hosenstoff und dann versenkte er seine Nase in Kijis T-Shirt-Fetzen und strich über seine Erektion. Er hatte fast nie Lust auf Sex, schon lange nicht mehr, sein Leben war nicht mehr so. Früher war er zu schüchtern, dann hatte er es übertrieben und dann fast vergessen.
Die anthrazitfarbenen Rosen neigten sich sanft im Wind, während Silvester über seine maßlose Erregung staunte und sich ohne Ziel streichelte, bis ihm auffiel, was er tat, und er sich erröten – nein ergrauen – spürte, und sich erschrocken umsah, ob die Katze oder ein Penner ihn beobachtete.
Träge erhob er sich, um zum Teich zu schlendern. Er gehörte jetzt also Kiji.
Tagsüber gehörte er seinem Vater, nachts Kiji, was natürlich zwei völlig unterschiedliche Angelegenheiten waren.
Kiji erwachte. Nach der Arbeit schlief er, um nachts ausgeruht durch den Park zu streifen. Er aß im Gehen auf dem Weg von der U-Bahn-Station zu seiner winzigen Wohnung, trat ein, stellte sein Handy ab, kickte seine Schuhe durch den Raum und ließ sich auf sein Bett fallen, auf dem er umgehend einschlief. Wenn er wieder zu sich kam, trank er und begab sich dann auf den Weg.
Dieses Mal wachte er auf und irgendetwas war anders. Er fühlte sich frisch, daran lag es. Er wollte schon nach seiner Jacke greifen und losziehen, aber er überlegte es sich anders, suchte ein frisches T-Shirt, Unterhose, Socken und legte sie akkurat auf sein Bett. Dann zog er sich aus und steuerte das Badezimmer an. Vor dem Spiegel im Flur blieb er stehen und übte gewohnheitsgemäß ein paar Tritte, dann betrachtete er sich. Seine Tätowierung wirkte brutal: Stacheldraht, einmal um die Brust gewunden, er hatte sie sich mit sechzehn stechen lassen und es nie bereut. Zwischen Spiegel und Wand steckte ein Foto, dessen Ränder sich wellten. Tino Panucci. Vorbei, seit über einem Jahr, weil Kijis und sein Leben nicht mehr zusammenpassten. Kiji war ein anderer geworden, aber Tinos Eltern immer noch zu katholisch, um etwas über ihr Verhältnis wissen zu dürfen. Kurz entschlossen rupfte er das Bild ab und schmiss es in den Mülleimer. Dann sah er sich um, entdeckte seinen kleinen Notizblock und schrieb mit Druckbuchstaben SILVESTER darauf und steckte es statt des Fotos hinter den Spiegel. Viel besser, fand er.
Unter der Dusche erinnerte er sich an Tino und daran, wie viel er getrunken hatte, geraucht, gezogen, solange, bis er ein „hoffnungsloser Fall“ war und sie ihn retten mussten. Den letzten Ausweg aus seinem zerbrochenen Leben stellte das Annehmen des schlimmsten Jobs der Welt dar, den er so verabscheute, dass er zur Flasche griff, um nicht über ihn nachzudenken.
Gestern im Park hatte er sich getraut, zu sagen, was er wollte. Nichts war gelogen. Sein Herz hatte geflattert, als Silvester nicht empört aufgesprungen war und das Weite gesucht hatte. Aber er hatte nicht ernsthaft damit gerechnet. Auch wenn ihm dieser parfümierte, gestylte Menschenschlag mächtig auf die Eier ging, erschien es Kiji bei Silvester völlig natürlich, so zu sein. Er war nicht wie die anderen, ganz entschieden nicht. Weder wusste Kiji, warum sein Parkgefährte log noch interessierte es ihn. Seine Haut wurde heiß und kalt, wenn er Silvesters Stimme hörte, und er freute sich auf ihn, obwohl ihn die Freude ängstigte. Er hatte sie sich abgewöhnt, denn es gehörte zu seinem Leben, dass er enttäuscht wurde. Mit der Freude in der Jackentasche war er immer auf die Fresse geflogen. Jetzt bewahrte er dort den Alkohol auf, der war berechenbarer.
Kiji wusch sich die Hände, ein roter Tropfen hatte sich in seinen Handballen gefressen, er wurde nur wenig blasser, egal wie sehr er ihn mit der Nagelbürste bearbeitete. Es war nun einmal nicht zu ändern. Im Park wäre er nicht mehr rot.
Er sah ihn schon von Weitem auf der Bank bei den Rosen. Selbst wenn er ruhig dasaß, wirkte er irgendwie nervös. Sein Eigentum. Kijis Erektion drängte sich gegen den Jeansstoff.
„Da bist du ja!“
„Natürlich.“
Silvester atmete hörbar auf. Wegen des Duschens war Kiji später dran und es tat ihm unendlich leid, ihm Sorgen bereitet zu haben. Er kickte ein Steinchen mit dem Fuß in die Rosen und schielte auf Silvesters Handgelenk. Das Stoffband war noch da.
Er ließ sich neben ihm nieder und erspürte seine Stimmung. Die Luft um ihn herum schien ängstlich zu pulsieren. Silvester war angespannt, als hielte er sich mit letzter Kraft zusammen und Kiji nahm seine Hand, drückte sie, um ihm Sicherheit einzuflößen.
„Was ist mit dir?“
Silvester legte den Kopf schräg und antwortete, nachdem er lange überlegen musste: „Ich mochte den heutigen Tag nicht so ...“
Das Reden über ihre Existenz bei Sonnenschein bedeutete gefährliches Terrain. Deshalb sagte Kiji nichts, sondern zog ihn an sich, drückte Silvesters Kopf in seinen Schoß; der leichte Widerstand verging, so schnell er sich gezeigt hatte. Seine Wange schmiegte sich gegen Kijis Schritt. Er legte seine Hand auf Silvesters Rücken, spürte seine Rippen durch den Stoff und ließ sie dort liegen.
„Entspann dich.“
„Ich versuche es“, murmelte Silvester.
Kiji konnte fühlen, wie sein Atem allmählich tiefer und langsamer ging, seine Muskeln nachgaben. Aus dem steifen Körper wurde der einer großen Katze. Ein dunkler, runder Fleck durchbrach die Symmetrie der Streifen seines Shirts, Kiji rieb mit seinem Daumen darüber. Unwillkürlich schaute er auf den roten Fleck auf seinem Handballen, den er vergeblich versucht hatte abzuschrubben, und verglich die Male miteinander.
„Warum sind wir hier, Silvester?“
„Wegen Sex ...“, antwortete er prompt.
Kiji nickte. Nur keine Komplikationen. Die Antwort war wahr und gelogen gleichzeitig.
Kiji fuhr mit der Fingerspitze über Silvesters Kehlkopf, spürte die unregelmäßige Erhebung, die sich bewegte, als er schluckte. Silvester schloss die Augen, überließ sich Kijis Finger, der vorsichtig über seine sorgfältig rasierten Wangen und die warmen Ohren wanderte. Kiji prägte sich die Beschaffenheit der fremden Haut ein. Er hätte auch über ihn herfallen können, solche Lust verschaffte ihm die Schwere des Kopfes auf seinem Schoß, die kleinen, weichen Härchen auf der Ohrmuschel, aber so wollte Kiji es nicht.
Langsam schob er seine Hand unter das Shirt, der Stoff fühlte sich dünn und knittrig an, kein schnöder Jersey. Seine Handfläche vibrierte auf Silvester warmer Haut. Er strich mit leichtem Druck über die Seitenlinie und umschloss Silvesters Rippen, grub seine Finger in die dünne Haut … Als er ein gepeinigtes Zischen vernahm, zuckte er zurück.
„Habe ich dir wehgetan?“
„Nein, nicht aufhören! Nein … ich habe mich da nur neulich gestoßen.“
Kiji schob den Stoff höher und sah einen unregelmäßigen Bluterguss auf der nachtfahlen Haut prangen. Unwillkürlich steckte er seinen Finger in den Mund, befeuchtete ihn und zog einen kleinen Kreis mit der Kuppe über das Mal, dann beugte er sich herab und pustete. Silvesters Härchen stellten sich auf und der Anblick erregte Kiji, er senkte seinen Mund auf die dunkle Stelle, berührte sie sanft mit seinen Lippen und streckte seine Zungenspitze aus, um ihn zu schmecken. Metall und Seife … köstlich. Silvester stöhnte leise. Kiji zog ihn näher an sich, drückte seine Zunge brutal gegen den Bluterguss und schloss die Lider, als er das dünne Keuchen hörte, das zwischen Erregung und Schmerz pendelte. Er spürte Silvesters Atem an seinem Schritt, presste seinen Kopf dagegen und fühlte, wie die Lippen sich durch den Stoff um seinen Schwanz schlossen. Er hielt einen Moment inne, um seiner heftigen Erregung Herr zu werden. Silvester durfte nicht die Kontrolle übernehmen. Nicht jetzt und nicht hier. Er wollte ihn sich zu eigen machen und das klappte nicht, wenn er sich wie ein Schwachkopf von seiner Geilheit von der Marschroute abbringen ließ. Mühsam zwang er sich, in das helle Haar zu greifen und den Mund von sich zu ziehen. Silvester murrte unzufrieden.
„Nicht meckern ...“, warnte er ihn und schloss seine Hand so fest um seinen Brustkorb, dass er aufschreckte. Kiji drückte ihn sanft zurück.
„Das ist gemein, Kiji“, flüsterte Silvester.
Kiji lächelte. Silvesters Mund war halb geöffnet, seinen Augen glänzten, er sah in ihnen die Lust, deren Grund er war.
Langsam, ermahnte er sich.
Er blickte ihm ins Gesicht, als er mit seinem Daumen über die kleinen, harten Brustwarzen rieb, weiter bis zum Bauch, über den Nabel. Silvesters Lider senkten sich und er riss sie auf, weil Kiji leise forderte: „Sieh mich an.“
Silvesters Lippe bebte und er erwiderte leise: „Du kannst es ruhig schneller angehen. Ich bin da nicht so ...“
Das brachte Kiji zum Lachen. „Ich mach so schnell, wie ich will. Nimm dich ein bisschen zusammen, sonst mach ich nämlich gar nichts mehr.“
„O-okay.“
So sollte es sein; Silvester konnte es kaum mehr aushalten. Was wollte Kiji mehr? Er öffnete den Knopf der schmalen Stoffhose und schob seinen Finger unter den Bund, fuhr über die Leiste und spürte das Blut unter Silvesters heißer Haut pulsieren. Langsam zog er eine Linie, knapp an seinem Schwanz vorbei zu seinem Oberschenkel.
„Bitte …!“, seufzte Silvester fast verzweifelt.
„Du hast es echt nötig.“ Kiji schüttelte den Kopf.
„Und du weißt genau, was du tust.“
„Ja.“ Kiji legte seine flache Hand auf Silvesters Schamhaar, fast meinte er, es knistern zu hören. Die Außenseite seines kleinen Fingers berührte seine Peniswurzel.
„Wie geht es dir gerade?“, flüsterte Kiji.
Mit zitterndem Klang antwortete Silvester: „Ich brenne ...“ Er bog ihm sein Becken entgegen und Kiji lachte leise.
Er zog den Reißverschluss auf und Silvesters Erektion sprang heraus, ummantelt vom weißen Stoff der Boxershorts. Es juckte ihm in den Fingern, sie einfach über seine Hüfte zu zerren, aber er tat es nicht. Das hier war kein Snack, das war das verschleierte Bild zu Sais und er würde den Teufel tun, den Schleier einfach herabzureißen und es zu verderben. So legte er seine Hand um das feste, warme Fleisch, von dem ihn eine Unterhose trennte, und saugte Silvesters offene Erregung in sich auf. Seine Nasenflügel weiteten sich. Sein Atem ging schneller, als Kiji seine Hand über den Schaft bewegte. Silvesters Unterleib kreiste langsam und Kiji wollte noch sagen, er solle nicht kommen, da war es schon geschehen. Die Feuchtigkeit sickerte durch den Stoff, lauwarm und klebrig …
„Scheiße … Sorry … normalerweise … es war einfach zu viel“, entschuldigte Silvester sich stotternd und sichtbar verlegen.
„Das ist nicht schlimm“, beruhigte Kiji ihn sanft und nahm seinen Hoden in die Hand. „Aber das wird nicht wieder passieren, hörst du?“ Er drückte zu, hörte ein schmales Wimmern und hielt den Druck, bis das Wimmern in hektisches Keuchen überging und Silvester sich auf seinem Schoß wand.
„Du musst nichts tun, wenn wir zusammen sind, weil ich dich führe, aber du kommst nicht ohne Erlaubnis.“
„Ja“, stimmte er gepresst zu.
„Gut … das gefällt dir, richtig?“ Kiji drückte seinen Sack ein wenig härter, spürte die Wärme, die weiche Haut um die festen Hoden.
„Oh ...“
Langsam löste Kiji den Druck, Finger für Finger und spürte, wie die Spannung aus Silvesters Körper wich. Er lag mit geschlossenen Augen da, ein Hauch eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. Kiji streichelte seinen Bauch, seine Taille, die Brust mit den wenigen weichen Haaren. Seine Fingerspitzen malten kleine Pünktchen, Sterne und Kreise auf der Haut seines Eigentums.
„Was ist mit dir, Kiji?“, fragte Silvester und schlug die Augen auf. „Ich meine … es geht um Sex, nichts weiter. Also, wenn ich dir behilflich sein kann ...“
„Ich bin glücklich, so wie es ist“, wehrte er ab.
Silvester schien ihm nicht zu glauben. Es war wichtig für Kiji, ihm die Wahrheit zu verdeutlichen. „Du musst dir nie Gedanken um mich machen. Ich nehme mir, was ich will und ich gebe dir, was du willst. Du kannst einfach nur hier sein, ohne die Verantwortung zu übernehmen. Ich trage sie für dich und für mich. Alles, was ich will, ist, dass du nimmst, was ich dir gebe. Das ist deine Aufgabe, wenn du mir gehörst. Nichts anderes.“
Silvester lächelte und Kiji wusste, das war es, wonach er suchte.
„Aber das ist komisch. So laufen die Dinge normalerweise nicht.“ Er nahm Kijis Hand und drückte sie gegen seine Brust.
„Mir gefällt nicht, wie die Dinge normalerweise laufen. Und dir auch nicht, sonst wären wir nicht hier.“
Kiji nahm den Flachmann aus seiner Jacke und tröpfelte ein wenig Whisky in Silvesters Mund, der Alkohol lief über sein Kinn und Kiji leckte ihn ab. Sein Mund ganz nahe an Silvesters, er spürte sein Herz schlagen. Sein Schwanz schmerzte vor unbefriedigter Lust, aber es musste so sein. So wollte er es haben.
Silvester versuchte ihn zu küssen, aber Kiji richtete sich auf, trank selber einen Schluck und lehnte sich zurück.
„Es gibt eine Sache, die ich wissen muss, Silvester: Gibt es andere, die dich … anfassen? Hast du einen Freund? Fickst du rum?“
„Ich habe keinen Freund“, erwiderte Silvester vage.
„Solange du unsere Vereinbarung nicht aufhebst, will ich keine andere Hand auf deinem Körper wissen, als meine“, erklärte er bestimmt.
„Das musst du nicht extra erwähnen ...“ Silvester klang fast beleidigt darüber, mit einer solchen Selbstverständlichkeit konfrontiert zu werden. Kiji hatte das Gefühl, sich mit Helium zu füllen, alles Schwere fiel von ihm ab. Die Nacht hatte ihm ein Geschenk für seine Treue gemacht und Silvester für ihn auf die Bank bei den Buchen gesetzt.
„Eigentlich bist du gar nicht mein Typ“, nuschelte Silvester in seine Jeans und schlang seine Arme um Kijis Hüfte.
„Frag mich mal ...“, erwiderte Kiji resigniert und das brachte beide zum Lachen.
„Scheint mein Schicksal zu sein, nicht zu bekommen, was ich mir wünsche.“
„Es tut mir leid, dass ich nicht bin, was du dir gewünscht hast.“ Ehrliches Bedauern trübte Silvesters Worte.
„Wie langweilig wäre es, wenn ...“, entgegnete Kiji und küsste sein Haar.
Er genoss es hier zu sitzen und zu schweigen, den lebendigen Körper an seinem zu fühlen, ohne Ziel und ohne Erwartungen.
Die Dämmerung war der Startschuss, ihrer Wege zu ziehen, sie hatten keine Sekunde vergeudet. Hastig und ohne Abschiedsgrüße trennten sie sich. Silvester schnappte sich seinen Kosmetik-Koffer. Schnell, schnell, bevor das Licht ihnen Farben gab.
Kiji sah ihm hinterher. Die Dunkelheit, die sein Eigentum umgab, schien nicht allein aus der Nacht zu bestehen.
Silvester fühlte sich verliebt und verwirrt. Verwirrt, weil Kiji anders war, als er zunächst vermutet hatte. Verliebt aus demselben Grund.
Das war mit Abstand das Beste seit Langem. Vor Kiji hatte er gar nicht gewusst, dass er Langsamkeit mochte. Er hatte allerdings auch nicht gewusst, dass er die Stille mochte, bevor er sich in einen nächtlichen Parkbewohner verwandelte.
Als er die Wohnungstür aufschloss, stolperte er über Leergut, das sich im Eingang sammelte, und fluchte leise. Silvester sah sich seufzend um. Sein zweistöckiges Loft war in einem erbärmlichen Zustand. Zeit, die Putzfrau anzurufen. Er hatte keine Lust, jeden verfluchten Tag über die leeren Wein- und Sektflaschen zu fallen. Jetzt war kein guter Zeitpunkt sich das Genick zu brechen.
Auf seiner Mailbox hörte er die zwölf Nachrichten seines Vaters ab, der ihn dringend sprechen musste. Das bedeutete nicht viel. Bei ihm war alles immer dringend, musste sofort passieren, am besten gestern noch erledigt werden, und wenn Silvester nicht sprang, nervte er ihn solange mit Anrufen, bis er sich erschöpft fügte.
Er legte sich auf sein Bett – die Leinenbettwäsche hatte auch schon bessere Zeiten gesehen – und verdunkelte die Fenster mit der einen Fernbedienung, die er aus dem Laken wühlte; mit der anderen stellte er Musik an, House, Tokyo Black Star. Er fand noch einen Jointrest, zündete ihn an und die Realität begann erträglicher zu werden, bis sie sich zwischen den Takten der Musik auflöste und er einschlief ...
Das Telefon weckte ihn. „Ja, ja, ich weiß, du bist es“, sagte er genervt in den Raum hinein, dann suchte er den Hörer, fand ihn unter einem Berg Schmutzwäsche, bejahte demütig alsbald in das Büro seines Vaters zu kommen und rief dann Marcella, seine Putzfrau, an.
Kiji sollte ihn nicht für ein Schwein halten. Dann fiel ihm auf, dass Kiji nur im Park existierte, und er seufzte wieder. Zumindest musste er nicht auf einen Anruf von ihm warten. Das hasste er am Kennenlernen am meisten: das Telefonieren, das Nicht-Erreichen, nicht dann zurückgerufen zu werden, wenn er es am meisten brauchte und das Sich-Nicht-Trauen, selber anzurufen.
Bei Kiji fiel der Telefonkrampf einfach weg.
Der Gedanke an den Abend hielt ihn aufrecht. Silvester tat, was getan werden musste, wenn man sein Leben führte, bevor er in sein frisch gereinigtes Traumschloss zurückkehrte, eine halbe Stunde vor dem geöffneten Kleiderschrank stand und nicht wusste, was er anziehen sollte. Wenn er nur wüsste, was einem Mann wie Kiji gefiel! Wahrscheinlich war es ihm egal. Das einzige Kleidungsstück, das Silvester keinem Trend unterwarf, waren seine Unterhosen. Immer weiß, immer Dreier-Pack Baumwolle mit Eingriff, immer dieselbe Marke.
Er dachte darüber nach, Kiji etwas mitzubringen und sah sich in seiner Wohnung um. Nichts schien ihm passend, dann zuckte er unbestimmt mit den Schultern.
Ich muss reichen, entschied er und unterzog sich einem aufwändigen Stylingprozess, der ohnehin unnötig war, man sah ja kaum etwas in der Nacht. Außerdem interessierte sich Kiji vermutlich für vieles, aber gewiss nicht für Frisuren und Farbkombinationen. Sein Haar wirkte, als wäre es nie in Kontakt mit einem Friseur gekommen.
Er wollte noch Kondome einstecken, aber dann erinnerte er sich an Kijis Worte, er brauche sich um nichts zu kümmern. Es war ein wundervolles Gefühl. Es schmeckte nach Freiheit, obwohl es das Gegenteil zu sein schien.
Silvester hasste sein Leben gründlich. Das durfte er aber niemandem sagen, denn es war voller Privilegien: Er würde sich niemals um Geld sorgen müssen, er konnte alles besitzen, was die Industrie produzierte – solange er seine familiären Verpflichtungen ernst nahm. Er hatte keinen geregelten Tagesablauf, abgesehen von seinen unregelmäßigen Jobs, jeder wollte sein Freund sein, jeder wusste, wer er war. Er bekam Plätze, Karten, Sonderbehandlungen, alles floss ihm zu und er wusste nichts damit anzufangen, seitdem er erwachsen war und das Leben begann, unfreundlich zu werden. Wenn er sagte, er sei unglücklich, erntete er verächtliche Blicke. Die Leute glaubten, man müsse zwangsläufig glücklich sein, weil man Silvester war.
Er rümpfte die Nase, weil es zu nieseln begann. Hoffentlich legte sich der Regen wieder. Hoffentlich zerstörte der Regen nicht sein Rendezvous.
Auf Kijis dunklem Schopf glitzerten feine Wassertröpfchen. Silvester beeilte sich, seinen Regenschirm mit ihm zu teilen. Sein Hintern wurde nass und kühl, als er sich setzte. „Bäh!“
„Setz dich auf meinen Schoß. Mich stört der Regen nicht.“
„Du suchst nur ’nen Vorwand, um meinen Traumkörper zu spüren“, versuchte Silvester zu scherzen und Kiji antwortete todernst: „Ich wüsste nicht, dass ich einen bräuchte. Wenn ich dir sage, du sollst dich nackt vor mich knien, würdest du es ja auch tun.“
„Pff.“ Silvester balancierte den Regenschirm über ihren Köpfen und versuchte, Kiji dabei kein Auge auszustechen. Mit Regenschirmen war das so eine Sache. Er konnte Menschen mit ihnen umbringen …
„Tu es.“
„Was?“ Silvester drehte ihm sein Gesicht verunsichert zu.
„Ausziehen.“
„Hier?!“
Kiji lächelte ihn an und wiederholte: „Hier.“
„Aber ...“ Es gab tausend Einwände. Zu kalt war es vielleicht nicht, aber es war auch nicht so warm, wie eine Julinacht sein sollte. Hier liefen Leute herum. Manchmal.
„Wenn uns jemand sieht?“
„Ich hab das Brecheisen dabei ...“
Silvester blieb das Herz stehen, dann sah er Kiji an und wusste, er meinte es nicht ernst.
„Wenn ...“
Kiji tippte auf das T-Shirt-Armband. „Schon vergessen?“
„Also, ich wusste nicht – “
„Doch, wusstest du“, schnitt Kiji ihm das Wort ab.
„Ja, wusste ich.“ Silvester senkte den Kopf. Was war das nur, das sein Herz schneller klopfen ließ, wie damals zu Kindergartenzeiten, vor dem Abend seines Geburtstags?
„Ich halte den Schirm so lange“, motivierte Kiji ihn und schob ihn bestimmt von seinem Schoß.
Silvester sah ihm in die Augen und legte seinen Sommermantel ab, auf die hölzerne Sitzfläche der Rosenbank.
Dann knöpfte er sein Hemd auf. Einen Knopf, den zweiten, den dritten, ohne seinen Blick von Kiji abzuwenden. Seine Augen glommen dunkel und Silvester wusste, es gefiel ihm, wie er sich entblätterte. Er streifte das Hemd über seine Schultern, zog den Ärmel unbeholfen über das Stoffband und legte es sehr langsam auf den Mantel, weil er fieberhaft überlegte, ob es irgendeine Möglichkeit gab, das Blatt zu wenden. Nervös fuhr er herum. In der dichten Hecke hatte es geraschelt. Die Katze mit den weißen Pfoten. Sie sah ihn an und Silvester fragte sich, ob es normal war, sich vor einem Mittelhirnwesen zu schämen.
„Pass gut auf, Silvester, morgen lädt sie die Show bei Tier-YouTube hoch“, spottete Kiji, dem seine schockierte Reaktion wohl nicht entgangen war.
Silvester schluckte und lächelte tapfer. „Ich habe mich nur erschrocken ...“
Unsicher streifte er die Schuhe von den Füßen, seine Socken tränkten sich mit Wasser, als sie den Kies berührten, und er beeilte sich, sie abzustreifen.
Jetzt die Hose. Er sah sich vorsichtshalber noch einmal um und faltete sie sorgsam an der scharfen Bügelfalte, um Zeit zu schinden, bevor die letzte Hülle fiel.
Als er seine Daumen unter den Bund seiner Boxershorts schob, fühlte er Kijis Hand auf seiner.
„Nicht.“
„Nicht?“, versicherte Silvester sich entgeistert.
„Nein.“
„Wieso? Ich meine, das ist doch, worum es geht!“ Er hörte, wie empört er klang. Seinem Empfinden nach betrog Kiji ihn gerade um die Kür.
„Ich frage mich, woher du weißt, um was es mir geht“, merkte Kiji ruhig an und musterte ihn.
„Ich … kann logisch denken.“
„Du denkst für mich. Das solltest du besser nicht tun.“ Er erhob sich und trat näher auf ihn zu.
Kiji packte seine Oberarme und sah ihm eindringlich ins Gesicht. Dann reckte er den Hals – sein Atem streifte Silvesters Lippen – und sagte: „Ich sorge dafür, dass du nicht weißt, was du bekommst. So scharf bin ich gar nicht auf deinen Schwanz, mir reicht’s, dich wie einen Blödmann in Unterhosen im Regen stehen zu sehen.“ Er lächelte böse und leckte vorsichtig über seinen Mundwinkel. Silvester hielt die Luft an, es kostete ihn Mühe, nicht nach Kijis Lippen zu schnappen, die dufteten und so verführerisch nahe waren. Aber Kiji ließ von ihm ab und grub seine Finger schmerzhaft in seine Oberarme, bis Silvester seine Lippen aufeinander presste und die Augen schloss. Obwohl ihm heiß war, fröstelte er. Der Regen legte sich um seinen Körper wie Dampf, so fein war er, die kleinen Wasserperlen schlossen sich zu Tropfen zusammen und flossen aus seinen Haaren, über seine Schultern.
„Du zitterst.“
„Das tu ich immer ...“
„Noch mehr ...“, stellte Kiji fest und umrundete ihn langsam. Er verrieb das Wasser auf seinen Schulterblättern. Aus den Augenwinkeln nahm Silvester wahr, wie Kiji über seinen nassen Finger leckte und den Geschmack des Regens kostete. Silvesters Körper stand unter Strom; das Prickeln hatte begonnen, als er auf Kijis Beinen saß, und es steigerte sich seitdem langsam, aber stetig. Der Stoff seiner Unterhose stand ab wie ein Zelt. Er fand sich lächerlich und schön zugleich. Kiji strahlte eine düstere Sicherheit aus, die ihn mehr anmachte, als alles, was er aus dem Hut seiner Fantasie zaubern konnte. Er wirkte gefährlich, aber Silvester verspürte keine Angst, denn er wusste, Kiji würde auf ihn achten.
„Was ...“, stieß er verwundert aus. Kiji hatte sich im Schneidersitz auf den nassen Kies vor ihn gesetzt.
„Ich habe deine Beine noch nicht gesehen“, erklärte er freundlich.
Silvester senkte den Blick und sah Kijis Finger dabei zu, wie sie über seine Zehen strichen, ein paar Körnchen schwarzes Granulat vom Fußrücken pflückten und schließlich seine Knöchel umschlossen. Sein dunkles Haar glänzte, eine Strähne stand widerspenstig von seinem Kopf ab. Kijis Bewegungen waren langsam, forschend, zärtlich. Er streichelte seine kühlen Unterschenkel, tastete die Knie ab und beugte sich vor, um sie mit seinen Lippen zu befühlen. Silvester hätte geschworen, dass die Berührung seiner Knie ihn nicht erregen würde – bis jetzt. Knie! Sie existierten nicht in seiner Körperwahrnehmung, aber Kiji küsste sie mit derselben Intensität wie seinen Schwanz. Himmel! Kijis Hände schoben sich die Oberschenkel hinauf, wärmten ihn, wo sie seine Haut berührten, arbeiteten sich unter dem klammen Stoff seiner Boxershorts vor und umfassten seine Arschbacken. Er hörte ein leises Seufzen von unten. Kiji hatte die Augen geschlossen und knetete seinen Hintern sanft.
„Du fühlst dich gut an. Ich habe mich richtig entschieden“, teilte er Silvester den Zwischenstand seiner Erforschungen mit.
„D-danke. Es fühlt sich auch gut an, was du machst“, flüsterte er bibbernd. Seinen Körper überzog eine Gänsehaut.
„Schließ die Augen.“
Kiji kam behände auf die Füße und stand nun hinter ihm. Er schloss seinen Arm um Silvesters Brust und drängte seine Erektion an seinen Hintern. Silvester stöhnte, die ganze Zeit hatte er sich nach Kijis Körper gesehnt, am liebsten würde er ihm das Shirt und die Hose herunterreißen, um ihn zu fühlen, aber das war gegen die Spielregeln. Der warme Mund senkte sich auf seine Schulter, Silvester keuchte dünn und hörte, wie Kiji seinen Gürtel öffnete.
Der Regen floss seinen Körper herab.
„Du siehst aus, wie erfunden“, hörte er ihn in seinen Nacken nuscheln, dann spürte er Kijis bloßen Schwanz an seinem Hintern, fühlte, wie seine Hand sich bewegte: Kiji befriedigte sich, rieb sich gegen ihn, versenkte seine Zähne in Silvesters Schulter. Pur und roh, reiner Sex. Der heftige Schmerz entlockte ihm einen gedämpften Schrei, aber die Zähne lockerten sich nicht. Silvester fror und wand sich, er war bis in die Haarspitzen geil. Er liebte es, wie sehr er Kiji erregte, seine Hand an seinem Arsch zu spüren, mit der er sich wichste, die Zähne, die reinen punktgenauen Schmerz in Wellen durch seinen Körper sandten. Kiji atmete schnell in seine Schulter, packte mit der anderen Hand seine Pobacke, um sie an sich zu ziehen, zu quetschen, voller Gier zu kneten. Sein Rücken erwärmte sich dort, wo Kijis Körper sich an seinen drängte. Er stemmte sich gegen ihn und ächzte lustvoll gepeinigt.
Nachdem Kiji gekommen war, löste er seinen Mund und legte seine Stirn gegen Silvesters Rücken. Er stand ein paar Sekunden heftig atmend da, dann umschlang er ihn, fast verzweifelt, küsste die pulsierende heiße Stelle, in die er noch eben seine Zähne geschlagen hatte. Silvester war aufgepeitscht, sein Körper ein Meer an gegensätzlichen Empfindungen. Er konnte sich nicht erinnern, so viele Nerven zu besitzen.
„Es war nicht das, was du wolltest“, stellte Kiji fest.
Silvester lächelte. „Nein. Es war besser.“ Er fixierte eine verblühende Rose, von der sich ein Blatt glitzernd löste. „Aber ich bin geil, wie zehn Mann … ich sterbe, wenn du nichts unternimmst.“
Kiji lachte. „Nein, daran stirbt man nicht, glaub mir.“
„Sag nicht, das war es!“, flehte Silvester.
Kiji kam um ihn herum und erwiderte nichts. Unter seiner Lederjacke auf der Bank lag eine Plastiktüte, nach der er griff. Er beförderte ein trockenes T-Shirt aus ihr und hielt es Silvester hin.
„Ist viel zu kalt, um nackt im Park zu stehen“, sagte er freundlich, und gab vor, mit diesem Umstand nicht das Geringste zu tun zu haben. Dann entnahm er der Tasche ein Handtuch, auf der sich ein paar verblasste Flecken ausgebreitet hatten, und trocknete Silvesters Haar sorgsam.
„Du musst nach Hause gehen und dich aufwärmen“, beschied Kiji ihm leise. „Sonst erkältest du dich noch.“
Silvester wollte nicht gehen. Er wollte bei Kiji sein und mit ihm reden. Er spürte, wie enttäuschte Tränen in seine Augen stiegen. „Bitte nicht, Kiji.“
„Und wenn du zu Hause bist, dann bring dich zum Orgasmus … langsam. Wirklich langsam. Es darf nicht weniger als eine halbe Stunde dauern. Und morgen erzählst du mir, woran du gedacht hast.“
Dreißig Minuten! Das war eine verdammt lange Zeit fürs Wichsen.
„Woran soll ich denken?“, fragte er nervös.
Kiji öffnete die Hände wie Blumen und sagte liebevoll: „Was immer dich glücklich macht.“
Dann klemmte er sich seine feuchte Lederjacke und die Einkaufstüte unter den Arm und ließ ihn stehen.
Silvester zog sich an, die Hose klebte an seinen Beinen, aber er ging wie auf Wolken, zwar wie auf grauen Regenwolken, aber immerhin Wolken.
Er hätte Kiji so gern geküsst. Aber anscheinend liefen die Dinge tatsächlich anders, als er sie sich vorstellte und das erfüllte ihn einen Augenblick lang mit ungekannter Freude. Denn das hieß, alles war offen. Am Tag hingegen erschien ihm alles wie eine Sackgasse.
Kiji fuhr die Rolltreppe des stadtgrößten Kaufhauses hinab, die gefilterte Luft schien einen feinen Film auf seiner Haut zu hinterlassen, die Ansagen und Stimmen plätscherten unverstanden an ihm vorbei. Im Basement befand sich die größte Feinkost- und Fressmeile der Stadt, sie erstreckte sich nach Kijis Empfinden über Kilometer. Die vielen teuren, kleinen, duftenden Happen faszinierten ihn, wie kleine Kunstwerke hinter Glas hergerichtet, Gang um Gang neue Lebensmittel. Sauber, verlockend, hochwertig. Hier kaufte er normalerweise nicht ein. Gutes Essen war was für Leute mit Geld. Geld war bei Kiji Mangelware – auch wenn er sich jeden Tag in seinem verfluchten Job die Hände im wahrsten Sinne des Wortes schmutzig machte, musste er immer rechnen und überlegen. Für diejenigen, die keine Zeit hatten oder kein Talent zum Kochen aufwiesen, blieb nur der Ramsch der Discounter, in denen er ansonsten einkaufte. Fleisch zu Schleuderpreisen, massenhaft wässriges Fleisch trauriger Kreaturen, in Höchstgeschwindigkeit essreif gezüchtet, verpackt und tonnenweise verscherbelt. Gepresstes, parfümiertes minderwertiges Füllmaterial in bunten Hüllen, mit haarsträubenden Produktnamen, zu Vorratspackungen zusammengeschweißt, ein schlecht fotografierter „Serviervorschlag“ auf der Vorderseite. Wer arm war, musste essen, was er sich leisten konnte. Ramsch.
Aber hier im Untergeschoss waren selbst die Plastikfolien um die Sandwiches aufwändig gewickelt wie Geschenkpapier. Kiji deutete auf kleine Gebilde, ließ sie sich einpacken, ließ sich anlächeln, zog immer wieder neue Scheine aus der Hintertasche seiner Jeans. Kein Ramsch für Silvester.
Zum Abschluss seiner Einkaufstour quetschte er sich auf die unbequeme, schmale Bank hinter dem Stehtisch einer italienischen Kaffeemanufaktur und ließ sich einen Espresso brauen. Das dezente Brummen der Klimaanlage und die merkwürdige Beleuchtung, die das Tageslicht imitierte, erinnerte ihn daran, sich in einer Kunstwelt aufzuhalten. Es war einer der seltenen Momente, in dem ihm das gefiel. Vielleicht weil er eine Brücke zur Nacht schlug; schließlich war er wegen Silvester hier. Er rief sich seinen Körper ins Gedächtnis, er meinte ihn berühren zu können, so intensiv hatte er ihn gescannt. Wenn Silvester schon glaubte, die Nichtvollendung brächte ihn um, dann sollte er erst einmal in Kijis Haut stecken.
Kiji war kein großer Redner, aber er merkte sich alles, was er berührte und betrachtete. Es stellte mitunter ein Problem für ihn dar, die Umwelt nicht als Ganzes betrachten zu können, sondern in kleinen Teilen. Er pickte sich eine Facette heraus, die er dann ganz und gar erfasste. So wie den Espresso, den die Kellnerin vor ihm absetzte. Er schmeckte die vielen Schichten des Aromas, bewunderte den feinen, dünnen Schaum, der in der Mitte zerriss und das duftende, tiefe Braun freigab, er fühlte die Temperatur des Wassers auf seiner Zunge, er hörte das Geräusch, wenn seine Zähne gegen den dicken Rand der Tasse klickten, aber er war unaufmerksam gegenüber allem, was sich sonst um ihn herum tat.
Er war ein Sinneseindruck-Sammler. Einmal etwas geschmeckt, berührt, betrachtet, konnte er es jederzeit wieder abrufen. Er blickte auf den Kaffee und stellte sich vor, wie sein Besitz sich gestern selbst befriedigt hatte. Bestimmt sah er dabei gut aus. Sexy. Ob er dabei Geräusche machte und wenn ja welche? Kiji hatte Sex schon immer geliebt, und es erstaunte ihn, wie simpel seine Partner oft gestrickt waren. Manche waren kreativ, aber alle strebten sie den lächerlich kurzen 1,5 Sekunden entgegen, möglichst zügig. Für jemanden wie Kiji, dessen Sinne so empfindlich, so gierig waren, erinnerte Sex mitunter an das Fressen von Supermarktramsch ohne jede Not. Er brauchte ja gar keine Liebe, Gefühle oder besondere Kreativitätsausbrüche, nein, er wollte Zeit. Mit Tino hatte er fast immer nur gefickt, wenn sie voll wie die Pisseimer waren. Es dauerte nicht allzu lange und Kijis Sinne waren vorübergehend defekt, wenn das Ethanol die Herrschaft übernahm. Er riss Tino auf wie eine billige Schaumwaffel und verschlang ihn in drei Happen, fade süß, langweilig. Aber das entsprach nicht seiner Natur, stellte er fest, wenn er nüchtern war, und Tino sagte: „O je, Kiji, komm mal auf den Punkt, du glotzt jetzt schon seit zehn Minuten wie ein Spast auf meinen Arsch, mir wird kalt, Alter ...“ Und Kiji, der gar nicht bemerkte, wie die Zeit vergangen war, erwiderte: „Sei doch froh, dass ich dich gern ansehe.“
Vielleicht behauptete er, er wolle nicht wissen, was Silvester tagsüber trieb, aber das stimmte nicht ganz. Er wollte es wissen, aber er wollte im Gegenzug nichts über sich erzählen müssen.
Silvester war klug und warmherzig und redete vernünftig, er würde Kijis Leben nie und nimmer verstehen, sein Versagen am Ende des Rauschs.
„Du rauchst?“, fragte Kiji verwundert, als die Nacht ihn zu Silvester in den Park geführt hatte.
„Ganz selten“, versprach Silvester und seine Hände zitterten nicht, sie flatterten.
„Ist was passiert?“
Silvester lächelte traurig und trat die Zigarette aus. „Nichts Besonderes, nur das Übliche.“
„Vielfarbige Wimpern, hm …?“
„So ähnlich.“
Kiji mochte nicht, wie er auswich, es beunruhigte ihn, wie flackerig und hektisch die Luft heute um Silvesters Haut wirbelte.
„Was schleppst du da mit dir rum?“, lenkte Silvester offensichtlich von seiner inneren Aufruhr ab.
Kiji hatte seinen Plan schon fast vergessen, er sah auf die Papiertaschen aus dem Kaufhaus und grinste, dann nahm er Silvesters Hand. Sie war feucht.
„Wir gehen ins Labyrinth.“
Das Labyrinth war im Grunde nur eine vereinfachte Imitation der Pflanzen-Irrgärten der späten italienischen Renaissance: ein paar Buchsbaumhecken, in deren Mitte ein Rasenviereck angelegt war. War man nicht völlig enthirnt, konnte man sich nicht darin verlaufen. Nach gestern Abend wusste Kiji: Silvester war kein großer Exhibitionist. Er würde sich mit Blättermauern wohler fühlen.
„Ich bin nicht gern in Irrgärten“, merkte Silvester an. „Ich denke immer, was passiert, wenn ich nicht wieder herausfinde ... Hast du Shining gesehen?“
„Ja.“
„Kleine tote Zwillingsmädchen und Irrgärten sind eine gruselige Kombination.“
Kiji gab ihm recht, obwohl er den Aspekt des Alkoholismus viel gruseliger fand.
„Aber hier ist es schön“, stellte Kiji fest, nachdem er den vor sich hinplappernden Silvester in die Mitte des Labyrinths gelotst hatte.
Silvester wurde ganz still, seine Hand lag ruhig in Kijis und sein Blick glitt vom Mond auf das silbrige Gras. „Ja. Das stimmt.“
„Warte.“ Kiji nahm die Decke aus der Tüte und breitete sie auf dem Rasen aus.
„Setz dich.“
Silvester ließ sich niedersinken und strich behutsam mit den Fingerspitzen über den Stoff.
„Ich will dir die Augen verbinden, weil ich glaube ...“ Kiji beendete den Satz nicht. Eine weitere seiner schlechten Eigenschaften. Manchmal ging ihm mitten im Wort die Puste aus.
„Was?“, fragte Silvester leise, aber drängend.
„Ich glaube, dass alles von außen ohne Filter in dich eindringt, ich denke, es ist gut, wenn du dich nicht auf so vieles gleichzeitig konzentrieren musst.“
„Wo-woher … ich meine, wie kannst du das wissen?“ Silvester packte ihn am Handgelenk und sah ihn aufgewühlt an.
„Ich beobachte. Nichts weiter.“ Kiji erstaunte die heftige Reaktion. Das zu erkennen, war keine große Sache, oder?
Er band einen dünnen Schal um Silvesters Augen, der sie brav schloss und sich nicht wehrte. Kiji mochte seine Fügsamkeit. Er schien ihr Spiel wirklich ernst zu nehmen.
Blind und abwartend saß Silvester auf der Decke und Kiji betrachtete ihn lange, ohne gestört und zur Eile angetrieben zu werden. Auch das mochte er. Dann packte er das Essen aus. Sorgfältig reihte er Schale an Schale, legte die Servietten, die ihm an jedem Stand mitgegeben wurden, übereinander, goss Wein in einen Becher und wusste, dass Silvester die Ohren spitzte und nicht immer wusste, was Kiji tat. Er hatte die Lippen leicht geöffnet, vermutlich in der Illusion, so könne er besser hören.
„Öffne den Mund.“
„Aber warn mich vor, wenn es sich um Maden oder Vogelnestersuppe handelt ...“
Kiji lachte. „Nö.“
Während er Silvester fütterte, sprachen sie kein Wort, Kiji las in seinem Gesicht, wie er sich fühlte, und Silvester schmeckte, was in Kiji vorging. Mit verbundenen Augen den Mund zu öffnen setzte Vertrauen voraus. Das Kosten folgte gewöhnlich dem Sehen.
Silvesters Mund schimmerte im Mondlicht. Er hob abwehrend die Hand. Er war satt.
Kiji nickte und streckte seinen Finger aus, Silvester zuckte zurück, als er seine Lippe berührte, und entspannte sich, als er merkte, was es war. Kiji fuhr das helle Grau nach, teilte die Lippen und strich zwischen ihnen entlang, drang ein kleines Stück tiefer vor und spürte die warme Zunge, die ihn vorsichtig abtastete. Seine Körpermitte glühte. Kiji nahm Silvesters Wangen zwischen seine Hände, zog seinen Kopf an sein Gesicht und legte seinen Mund auf Silvesters, ohne Druck auszuüben. Endlich. Er wollte die Weichheit spüren, nicht erdrücken. Er verharrte ein paar Sekunden, roch den süßen Atem, dann saugte er Silvesters Unterlippe zwischen seine Zähne und lutschte sanft an ihr. Silvester produzierte einen kleinen Laut, es schien ihm zu gefallen und Kiji konnte sich nicht mehr beherrschen. Er drängte seine Zunge in Silvesters Mund, leckte über seine Lippen, verschlang sie und spürte die andere fiebrig antworten. Kiji setzte sich auf ihn, drängte seinen Körper gegen Silvesters, fuhr das kurze Haar an der Seite entlang und ließ das längere durch seine Finger rinnen, während ihre Zungen sich umspielten. Mal langsam und suchend und dann wieder fordernder.
„Bitte, fick mich endlich.“ Der bedürftige Tonfall machte Kiji an und gleichzeitig empfand er Zorn und glitt von seinem Schoß.
„Deine verdammte Ungeduld.“ Unsanft schubste er Silvester zur Seite, rollte ihn auf den Bauch und drückte ihn am Nacken gegen die Decke, er spürte die zähen Sehnen, berührte das weiche Haar. Kiji hielt inne, betrachtete fasziniert, wie Silvester zu Boden gezwungen aussah, und schaute sich um. Sein Blick fiel auf den Metall-Löffel, den er von zu Hause mitgebracht und mit dem er Silvester soeben noch Panna Cotta in den Mund geschoben hatte. Er umfasste ihn zögernd. Schade um die teure Hose, schoss es Kiji durch den Kopf, bevor er ausholte und kräftig auf Silvesters Oberschenkel schlug.
„Au!“ Silvester zuckte zurück, seine Nackenmuskeln spannten sich unter Kijis Hand und auf dem Stoff war ein weißer Fleck Sahnecreme zu sehen.
„Je mehr du mich drängst, umso länger dauert es. Hier gilt mein Tempo!“
Er unterstrich seine Ansage mit weiteren heftigen Hieben und hoffte, es tat weh. Silvester wand sich und zischte gepresst, aber das konnte auch nur Show sein …
„Spreiz die Beine.“
Bibbernd gehorchte Silvester.
„Hast du gestern getan, was ich dir gesagt habe?“
„Ja“, drang die dünne Stimme von unten an sein Ohr.
„Au!“ Kiji hatte wieder zugeschlagen, diesmal traf er die Innenseite des Oberschenkels. Noch einmal.
„Nicht da!“, wehrte sich Silvester, was für Kiji den Anlass bot, den Löffel noch einmal an der exakt gleichen Stelle zu landen.
„Arrh …!“
„Woran hast du gedacht?“