Nachtschrei - Jeffery Deaver - E-Book

Nachtschrei E-Book

Jeffery Deaver

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Beschreibung

Zwei Frauen gejagt von einem eiskalten Mörderduo

In einer Polizeistation in Wisconsin geht ein unverständlicher Notruf aus einem einsam gelegenen Ferienhaus ein. Obwohl Brynn McKenzie dienstfrei hat, geht sie der Angelegenheit nach und gelangt als Erste an den Schauplatz eines grausamen Doppelmordes. Beinahe zu spät bemerkt die Polizistin, dass sich außer einer verängstigten Zeugin auch die Täter noch auf dem Grundstück befinden. Und damit beginnt für die beiden ungleichen Frauen eine atemlose Hetzjagd durch die Nacht – ein Albtraum, den sie nur gemeinsam überleben können …

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Buch
Eine Frühlingsnacht in einer Kleinstadt in Wisconsin … Bei der Polizei geht ein Anruf aus einem einsam gelegenen Ferienhaus ein … Unvermittelt bricht das Telefonat ab … War es nur eine falsche Verbindung oder ein unterbrochener Notruf?
Obwohl die Polizistin Brynn McKenzie gerade dienstfrei hat und mit ihrer Familie beim Abendessen sitzt, beschließt sie, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Sie begibt sich auf schnellstem Weg zum Lake Mondac, wo sie als Erste an den Schauplatz eines grausamen Doppelmordes gelangt. Beinahe zu spät bemerkt Brynn, dass sich außer einer völlig verängstigten Überlebenden des Verbrechens auch noch die beiden Täter auf dem Grundstück befinden. Ohne eine Waffe oder ein Auto, vor allem jedoch ohne Brynns Handy und damit der Möglichkeit, Verstärkung anzufordern, fliehen die Polizistin und die Zeugin blindlings in den dichten Wald, der sich endlos in alle Richtungen vom See weg zu erstrecken scheint. Mit zwei zu allem entschlossenen Killern auf den Fersen und in einer menschenleeren Wildnis, in der bereits der kleinste Fehler den Tod bedeuten kann, müssen sie sich bedingungslos aufeinander verlassen. Denn nur gemeinsam können die beiden ungleichen Frauen diese albtraumhafte Nacht überleben …
Autor

Jeffery Deaver

Nachtschrei

Roman

Deutsch von Thomas Haufschild

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Bodies Left Behind« bei Simon & Schuster, Inc., New York.

Deutsche Erstausgabe November 2010 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2008 by Jeffery Deaver Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Umschlaggestaltung: © Millennium Images/Plainpicture Lektorat: Urban Hofstetter Herstellung: sam

ISBN 978-3-641-05164-8V005

www.penguin.de

Inhaltsverzeichnis

 
I – APRIL
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
 
II – MAI
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
Kapitel 101
Der zielsichere Weg ins Universum führt durch die Wildnis eines Waldes.

I

APRIL

1

Stille.
Im Wald rund um den Lake Mondac war es vollkommen ruhig. Das Ehepaar, das werktags in der brodelnden, chaotischen Stadt lebte, kam sich wie in einer anderen Welt vor.
Stille, nur unterbrochen durch den gelegentlichen Ruf eines fernen Vogels oder das dumpfe Quaken eines Frosches.
Nun aber: ein anderes Geräusch.
Das Rascheln von Blättern, zweimal das scharfe Knacken eines Zweiges.
Schritte?
Nein, das konnte nicht sein. Die anderen Ferienhäuser am See waren an diesem kühlen Freitagnachmittag im April menschenleer.
Emma Feldman, Anfang dreißig, stellte ihren Martini auf den Küchentisch, an dem sie ihrem Mann gegenübersaß. Sie schob sich eine lockige schwarze Haarsträhne hinter das Ohr und ging zu einem der schmutzigen Küchenfenster, sah von dort aus aber nichts als ein Dickicht aus Zedern, Wacholder und Schwarzfichten, das den Hang eines steilen Hügels bedeckte, dessen Felsen geborstenen gelben Knochen ähnelten.
Emmas Mann zog eine Augenbraue hoch. »Was war das?«
Sie zuckte die Achseln und kehrte zu ihrem Stuhl zurück. »Keine Ahnung. Ich kann nichts entdecken.«
Draußen herrschte wieder Stille.
Emma, so schlank wie eine der kahlen weißen Birken, die vor den vielen Fenstern des Ferienhauses wuchsen, streifte ihre blaue Jacke ab. Sie trug einen passenden Rock und eine weiße Bluse. Anwaltskleidung. Das Haar hochgesteckt. Anwaltsfrisur. Strümpfe, aber keine Schuhe.
Steven, dessen Aufmerksamkeit sich auf die Bar richtete, hatte ebenfalls sein Jackett ausgezogen und die zerknitterte gestreifte Krawatte abgelegt. Der Sechsunddreißigjährige mit dem dichten widerspenstigen Haar trug ein blaues Hemd, und sein Bauch ragte unerbittlich über den Gürtel der marineblauen Hose. Emma störte sich nicht daran; sie fand ihn süß, und das würde auch immer so bleiben.
»Sieh mal, was ich hier habe«, sagte er, nickte in Richtung des Gästezimmers im Obergeschoss und packte eine große Flasche dickflüssigen Bio-Gemüsesaft aus. Ihre gemeinsame Freundin, die dieses Wochenende aus Chicago zu Besuch gekommen war, hatte in letzter Zeit Gefallen an Flüssignahrung gefunden und trank die abscheulichsten Sachen.
Emma las das Etikett und rümpfte die Nase. »Das kann sie gern alles behalten. Ich bleibe bei Wodka.«
»Darum liebe ich dich.«
Das Haus knarrte, wie so oft. Es war sechsundsiebzig Jahre alt und bestand weitgehend aus Holz, mit nur wenig Stahl und Stein. Die Küche, in der sie sich aufhielten, war winklig geschnitten und mit heller Kiefer vertäfelt. Der Boden war uneben. Das im Stil der Kolonialzeit errichtete Haus war eines von insgesamt drei Gebäuden an dieser Privatstraße, zu denen jeweils eine vier Hektar große Parzelle gehörte. Man konnte von einem Seegrundstück reden, aber nur, weil das Wasser knapp zweihundert Meter von der Vordertür entfernt gegen das felsige Ufer plätscherte.
Das Haus stand auf einer kleinen Lichtung an der Ostflanke einer beachtlichen Bodenerhebung. Die mittelwestliche Bescheidenheit der Leute hier in Wisconsin hielt sie davon ab, diese Hügel als »Berge« zu bezeichnen, obwohl die Kammlinien auf bis zu zweihundertfünfzig Metern Höhe lagen. Im Augenblick wurde das große Haus in den blauen Schimmer des späten Nachmittags getaucht.
Emma schaute hinaus auf den Lake Mondac. Der Abstand zum Hügel war groß genug, dass die gekräuselte Oberfläche ein paar letzte Sonnenstrahlen einfangen konnte. Zurzeit, am Anfang des Frühlings, sah die Uferregion noch ziemlich schmutzig aus und erinnerte irgendwie an das gesträubte feuchte Rückenfell eines Wachhunds. Das Haus war wesentlich hübscher, als Emma und Steven es sich eigentlich hätten leisten können – sie hatten es im Zuge einer Zwangsversteigerung erworben -, und Emma hatte schon beim ersten Anblick gewusst, dass es sich hierbei um das perfekte Freizeitdomizil handeln würde.
Stille …
Das Haus besaß außerdem eine recht lebhafte Vergangenheit.
Der Eigentümer eines der großen Schlachtbetriebe von Chicago hatte es vor dem Zweiten Weltkrieg bauen lassen. Wie sich Jahre später herausstellte, stammte ein Großteil seines Vermögens aus dem illegalen Handel mit Fleisch, das laut den Rationierungsvorschriften nicht für den einheimischen Verkauf freigegeben, sondern für die Verpflegung der Truppen bestimmt gewesen war. 1956 fand man die Leiche des Mannes im See treibend vor; er war vermutlich das Opfer einer Gruppe von Kriegsveteranen geworden, die von seinen Untaten erfahren und ihn getötet hatten, um das Haus zu durchwühlen und nach dem hier versteckten Schwarzgeld zu suchen.
In keiner Version dieser Mordgeschichte war von Gespenstern die Rede, aber Emma und Steven schmückten die Erzählung für ihre Gäste gern selbst etwas aus. Dann verfolgten sie schadenfroh, wer daraufhin das Badezimmerlicht brennen ließ und wer sich weiterhin mutig ins Dunkel wagte.
Draußen knackten abermals zwei Zweige. Dann ein dritter.
Emma runzelte die Stirn. »Hast du das gehört? Schon wieder dieses Geräusch.«
Steven sah aus dem Fenster. Es gab vereinzelte Windböen. Er widmete sich weiter den Drinks.
Emmas Blick wanderte zu ihrer Aktentasche.
»Erwischt«, tadelte Steven sie.
»Was?«
»Denk nicht mal daran, die Tasche zu öffnen.«
Sie lachte, aber es klang nicht allzu aufrichtig.
»Ein arbeitsfreies Wochenende«, sagte er. »Wir waren uns beide einig.«
»Und was ist da drin?«, fragte sie und wies auf den Rucksack, den er statt eines Aktenkoffers mit sich herumtrug. Dann schaffte sie es endlich, das Glas Oliven zu öffnen.
»Nur zwei Dinge von Bedeutung, Euer Ehren: mein Le-Carré-Roman und die Flasche Merlot, die ich vorhin angebrochen habe. Soll ich Letztere den Beweismitteln hinzuf …?« Er verstummte abrupt und schaute zum Fenster hinaus auf das Gewirr aus Unkraut, Bäumen, Ästen und Felsen in der Farbe von Dinosaurierknochen.
Auch Emma sah nach draußen.
»Das habe ich gehört«, sagte Steven. Er schenkte seiner Frau nach. Sie ließ Oliven in beide Gläser fallen.
»Was war das?«
»Weißt du noch, der Bär?«
»Er ist nicht bis zum Haus gekommen.« Sie stießen an und nippten an ihren Martinis.
»Du wirkst so nachdenklich«, sagte Steven. »Was ist los? Dieser Gewerkschaftsfall?«
Bei den Nachforschungen im Vorfeld einer Firmenübernahme hatten sich Hinweise auf unsaubere Machenschaften in der Hafenarbeitergewerkschaft von Milwaukee ergeben. Die Behörden waren tätig geworden, und die Transaktion lag vorläufig auf Eis, worüber niemand besonders glücklich war.
Aber Emma sagte: »Nein, es geht um etwas anderes. Einer unserer Mandanten stellt Fahrzeugteile her.«
»Richtig. Kenosha Auto. Siehst du, ich höre dir doch zu.«
Sie nahm es mit erstaunter Miene zur Kenntnis. »Tja, wie sich herausgestellt hat, ist der leitende Geschäftsführer ein absolutes Arschloch.« Emma erzählte von einem bedauerlichen Todesfall im Zusammenhang mit den Motorteilen eines Hybridwagens: ein völlig verrückter Unfall, bei dem ein Beifahrer durch einen Stromschlag sein Leben verloren hatte. »Der Chef von deren Forschungs- und Entwicklungsabteilung hat doch tatsächlich verlangt, ich solle alle technischen Unterlagen zurückgeben. Das muss man sich mal vorstellen.«
Steven schürzte die Lippen. »Dein anderer Fall hat mir besser gefallen«, sagte er. »Das Testament dieses Abgeordneten … das Sexzeug.«
»Psst. Vergiss nicht, ich habe keine Silbe darüber verlauten lassen«, ermahnte sie ihn beunruhigt.
»Meine Lippen sind versiegelt.«
Emma spießte eine Olive auf und aß sie. »Und wie war dein Tag?«
Steven lachte. »Bitte … ich verdiene nicht genug Geld, um nach Feierabend noch über die Arbeit zu reden.«
Die Feldmans waren das leuchtende Beispiel eines erfolgreichen Blind Dates, trotz aller Widrigkeiten. Emma, die Abschiedsrednerin ihres Jahrgangs an der juristischen Fakultät der Universität von Wisconsin und Tochter des Geldadels von Milwaukee und Chicago; Steven, mit einem Bachelor-Abschluss vom City College, aus einfachen Verhältnissen stammend und versessen darauf, zum Nutzen der Gesellschaft zu arbeiten. Ihre Freunde hatten ihnen höchstens sechs Monate gegeben; die Hochzeit in Door County, zu der all jene Freunde eingeladen waren, fand genau acht Monate nach ihrer ersten Verabredung statt.
Steven nahm ein dreieckiges Stück Brie aus einer Einkaufstüte. Dann öffnete er eine Packung Cracker.
»Oh, okay. Nur ein wenig.«
Knack, knack …
Ihr Mann runzelte die Stirn. Emma sagte: »Schatz, jetzt wird mir aber allmählich unwohl. Das waren Schritte.«
Die drei Ferienhäuser standen dreizehn oder vierzehn Kilometer vom nächsten Laden oder der nächsten Tankstelle entfernt, und bis zum Highway waren es fast zwei Kilometer auf einem unbefestigten Zufahrtsweg, der vergeblich so tat, als wäre er eine Straße. Das Umland gehörte überwiegend zum Marquette State Park, dem größten Naturschutzgebiet von Wisconsin; der Lake Mondac und diese Gebäude stellten eine kleine private Enklave dar.
Sehr privat.
Und sehr einsam.
Steven ging in die Abstellkammer, zog den schlaffen beigefarbenen Vorhang beiseite und blickte an einer beschnittenen Kreppmyrte vorbei auf den seitlichen Garten. »Nichts. Ich glaube, wir …«
Emma schrie auf.
»He, Liebling, was ist denn?«, rief ihr Mann.
Das Gesicht musterte sie durch das Fenster der Hintertür. Der Fremde hatte sich einen Netzstrumpf über den Kopf gezogen, aber man konnte kurzes blondes Haar und eine bunte Tätowierung am Hals erkennen. Seine Augen wirkten einigermaßen überrascht, jemanden so dicht vor sich zu sehen. Er trug eine olivfarbene Uniformjacke. Mit einer Hand klopfte er nun an die Scheibe. In der anderen hielt er eine Schrotflinte, deren Mündung nach oben wies. Sein Mund verzog sich zu einem schaurigen Lächeln.
»O Gott«, flüsterte Emma.
Steven nahm sein Mobiltelefon, klappte es auf und tippte eine Nummer ein. »Ich kümmere mich um ihn«, sagte er. »Geh und verriegle die Haustür.«
Emma lief los und ließ ihr Glas fallen. Die Oliven wirbelten inmitten der tanzenden Scherben umher und wurden schmutzig. Dann hörte Emma, wie die Hintertür splitternd aus dem Schloss brach. Sie schrie und drehte sich um. Der Eindringling mit der Schrotflinte riss ihrem Mann das Telefon aus der Hand und stieß ihn gegen die Wand. Der Druck eines alten sepiafarbenen Landschaftsfotos fiel krachend zu Boden.
Auch die Vordertür schwang auf. Ein zweiter, in gleicher Weise mit einem Strumpf maskierter Mann stürmte herein. Sein langes schwarzes Haar wurde ihm fest an den Kopf gepresst. Er war größer und stämmiger als der erste und hielt eine schwarze Pistole, die in seiner riesigen Hand klein wirkte. Er drängte Emma in die Küche, wo der andere Mann ihm kommentarlos das Mobiltelefon zuwarf. Der große Kerl erschrak im ersten Moment, fing das Gerät aber mit einer Hand auf. Er schien verärgert das Gesicht zu verziehen und steckte das Telefon ein.
»Bitte«, sagte Steven. »Was wollen Sie?« Seine Stimme zitterte.
Emma wandte schnell den Blick ab. Je weniger sie sah, dachte sie, desto größer war die Chance, dass sie und ihr Mann überleben würden.
»Bitte«, wiederholte Steven. »Bitte. Sie können sich nehmen, was immer Sie wollen. Aber tun Sie uns nichts. Bitte.«
Emma starrte die dunkle Pistole in der Hand des größeren Mannes an. Die schwarze Lederjacke. Die Stiefel, ebenfalls aus schwarzem Leder, wie die eines Soldaten. Der kleinere Kerl trug die gleichen Stiefel.
Die Männer beachteten das Ehepaar nicht weiter. Sie sahen sich im Haus um.

2

»Wie bitte?«
»Aufgelegt.«
»Mitten im Notruf?«
»Genau. Jemand rief an, sagte: ›Dies …‹, und legte auf.«
»Was hat er gesagt?«
»›Dies‹. Das Wort ›Dies‹.«
»D-I-E-S?«, fragte Sheriff Tom Dahl noch einmal. Er war dreiundfünfzig Jahre alt, aber seine Haut war so glatt und sommersprossig wie die eines Halbwüchsigen. Rotes Haar. Das gelbbraune Uniformhemd hatte ihm vor zwei Jahren, als seine Frau es für ihn gekauft hatte, noch deutlich besser gepasst.
»Ja, Sir«, antwortete Todd Jackson und kratzte sich am Augenlid. »Und dann wurde aufgelegt.«
»Wurde aufgelegt oder hat er aufgelegt? Das ist ein Unterschied.«
»Keine Ahnung. Oh, aber ich verstehe, was Sie meinen.«
Siebzehn Uhr zweiundzwanzig, Freitag, 17. April. In Kennesha County, Wisconsin, war dies normalerweise eine eher ruhige Tageszeit. Die Leute neigten dazu, sich und ihre Mitbürger entweder früher oder später am Tag umzubringen – das galt sowohl für die Straftaten als auch für die Unfälle. Dahl kannte die Zeiten, als wären sie irgendwo abgedruckt worden; wer nach vierzehn Jahren an der Spitze einer Polizeibehörde die Besonderheiten seines Bezirks immer noch nicht durchschaut, hat in dem Job nichts verloren.
Das Sheriff’s Department, das gleich neben dem Gerichtsgebäude und dem Rathaus stand, besaß einen alten und einen neuen Trakt. Der alte Teil war in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts errichtet worden, der neue exakt hundert Jahre später. Der Bereich des Gebäudes, in dem Dahl und die anderen arbeiteten, bestand im Wesentlichen aus einem Großraumbüro mit zahlreichen Trennwänden und Schreibtischen. Das war der neue Teil. Die acht derzeit diensthabenden Deputys – sechs Männer und zwei Frauen – trugen Uniformen, die von frisch gestärkt bis total zerknittert reichten, je nach dem jeweiligen Schichtbeginn.
»Wir prüfen das nach«, sagte Jackson. Auch er hatte glatte Haut, was allerdings nicht verwunderte, denn er war halb so alt wie der Sheriff.
»›Dies‹«, grübelte Dahl, wechselte dann aber das Thema: »Haben Sie schon vom Labor gehört?«
»Ach, wegen der Wilkins-Sache?« Jackson zupfte an seinem steifen Hemdkragen. »Das war kein Meth. Es war gar nichts.«
Sogar hier in Kennesha, einem County mit nur 34021 Einwohnern, war Meth eine schreckliche Plage geworden. Die Süchtigen, auch Blinzler genannt, waren rücksichtslos, halb wahnsinnig und zum Äußersten entschlossen, um sich ihren Nachschub zu sichern; für die Kocher und ihre gewaltigen Gewinne galt genau das Gleiche. Rund um Meth wurden mehr Morde verübt als bei Kokain, Heroin, Marihuana und Alkohol zusammen. Und noch einmal die gleiche Zahl von Todesopfern gab es durch Verbrühungen, Brände und Überdosen zu beklagen. Erst kürzlich war eine vierköpfige Familie in ihrem Wohnwagen verbrannt, nachdem die Mutter beim Kochen von Meth das Bewusstsein verloren hatte. Dahl vermutete, dass die Frau frisch vom Herd eine Probe genommen und sich dabei mit der Dosis vertan hatte.
Die Züge des Sheriffs verhärteten sich. »Verdammt! Er ist ein Kocher, zum Teufel noch mal! Wir wissen es alle, und er spielt mit uns. Schon allein dafür würde ich ihn gern verhaften. – Woher kam eigentlich dieser Notruf? Von einem Festnetzanschluss?«
»Nein, von einem Mobiltelefon. Deshalb die Verzögerung.«
Das in Kennesha County seit Jahren erprobte Notrufsystem zeigte der Zentrale automatisch den Aufenthaltsort des Anrufers an. Es funktionierte im Prinzip auch bei Mobiltelefonen, wenngleich deren Lokalisierung etwas komplizierter war und in diesem hügeligen Teil von Wisconsin nicht immer gelang.
Dies …
»Todd, die Funkzentrale für dich«, rief eine Frau quer durch das unordentliche Büro.
Der Deputy ging zu seinem Tisch. Dahl wandte sich wieder dem Stapel Festnahmeberichte zu, die er nicht nur auf Einhaltung der Vorschriften, sondern auch auf Rechtschreibfehler überprüfte.
Jackson kam zurück, setzte sich aber auf keinen der beiden Stühle, sondern blieb – wie meistens – lieber stehen. »Okay, Sheriff. Der Notruf kam aus der Nähe des Lake Mondac.«
Gruselig, dachte Dahl. Die Gegend hatte ihm noch nie gefallen. Der See lag mitten im Marquette State Park, und der war genauso gruselig. Dahl hatte dort bislang zwei Vergewaltigungen und zwei Morde untersucht, und beim letzten Mal war nur ein kleiner Teil vom Leichnam des Opfers gefunden worden. Der Sheriff zog die Landkarte an seiner Bürowand zurate. Der nächstgelegene Ort war Clausen in zehn oder elf Kilometern Entfernung vom See. Dahl wusste kaum etwas über das Kaff, nahm aber an, dass es wie tausend andere in Wisconsin war: eine Tankstelle, ein Lebensmittelladen, der so viel Bier wie Milch verkaufte, und ein Restaurant, das schwerer zu finden war als der örtliche Meth-Kocher. »Stehen dort Häuser?«
»Am See? Ich glaube, ja.«
Dahl musterte den blauen Fleck des Lake Mondac auf der Karte. Der See wurde von einigen kleinen Privatgrundstücken gesäumt, die wiederum vom riesigen Marquette Park umgeben waren.
Dies …
»Und die Campingplätze sind noch bis Mai geschlossen«, fügte Jackson hinzu.
»Wem gehört das Telefon?«
»Auf die Information warten wir noch.« Der junge Deputy trug eine blonde Igelfrisur. Das war gerade groß in Mode. Dahl hatte neun Zehntel seines Lebens mit militärisch kurzem Haarschnitt verbracht.
Der Sheriff interessierte sich nicht mehr für die Routineberichte und für die Geburtstagsparty zu Ehren eines der dienstältesten Deputys, die in einer Stunde im Eagleton Tap beginnen sollte und auf die er sich eigentlich gefreut hatte. Er dachte an das vergangene Jahr, als ein Kerl – ein registrierter Sexualstraftäter und ein dummer dazu – den kleinen Johnny Ralston vor der Grundschule in sein Auto gelockt hatte. Der Junge war so geistesgegenwärtig gewesen, die Wahlwiederholung seines Mobiltelefons zu drücken und das Gerät in der Jackentasche zu verstecken, während sie in der Gegend herumfuhren und das kranke Arschloch ihn fragte, was für Filme er mochte. Es dauerte ganze acht Minuten, die beiden aufzuspüren.
Das Wunder der modernen Elektronik. Edison sei Dank. Oder Marconi. Oder dem Mobilfunkanbieter.
Dahl streckte sein Bein und massierte die ledrige Stelle, an der eine Kugel es durchschlagen hatte. Der Treffer hatte im ersten Moment kaum wehgetan und ging wahrscheinlich auf das Konto eines von Dahls eigenen Männern. Anlass war der einzige Banküberfall gewesen, der in diesem County je zu einer Schießerei geführt hatte, soweit die Leute sich erinnern konnten. »Was meinen Sie, Todd? Ich glaube nicht, dass er eigentlich die Auskunft anrufen und sagen wollte: ›Dies ist die Nummer, die ich möchte.‹ Ich glaube eher, er wollte sagen: ›Dies ist ein Notfall.‹«
»Und dann wurde er bewusstlos.«
»Oder erschossen oder niedergestochen. Die Verbindung war einfach so weg?«
»Peggy wollte zurückrufen. Aber sie ist direkt bei der Mailbox gelandet, ohne ein Klingeln.«
»Und wie lautete die Ansage?«
»Bloß ›Hier ist Steven. Ich bin zurzeit nicht erreichbar.‹ Ohne Nachnamen. Peggy hat eine Nachricht hinterlassen und um sofortigen Rückruf gebeten.«
»Jemand in einem Boot auf dem See?«, spekulierte Dahl. »Mit technischen Schwierigkeiten?«
»Bei diesem Wetter?« Der April in Wisconsin konnte empfindlich kühl sein; für die kommende Nacht wurde eine Temperatur von unter fünf Grad vorhergesagt.
Dahl zuckte die Achseln. »Meine Jungs sind in Wasser baden gegangen, das Eisbären abgeschreckt hätte. Und Bootfahrer sind wie Golfer.«
»Ich spiele kein Golf.«
»Wir haben einen Namen, Todd«, rief ein anderer Deputy. Schon hatte der junge Mann einen Stift und einen Notizblock in der Hand. »Leg los.«
»Steven Feldman. Die Rechnungsadresse für das Mobiltelefon ist die Melbourne Avenue Nummer zwei eins neun drei in Milwaukee.«
»Aha, dann hat er wohl ein Ferienhaus am Lake Mondac. Ein Anwalt oder Arzt, kein armer Mann.« Der Sheriff sah Jackson an. »Überprüfen Sie ihn. Und wie lautet die Nummer des Telefons?«
Jackson nannte sie ihm und kehrte dann an seinen Schreibtisch zurück, von wo aus er die einschlägigen Datenbanken auf Staats- und Bundesebene konsultieren würde: NCIC, VICAP, das Strafregister von Wisconsin, Google.
Der Aprilhimmel draußen vor dem Fenster leuchtete so blau wie das Partykleid eines jungen Mädchens. Dahl liebte die Luft in diesem Teil von Wisconsin. In Humboldt, der größten Stadt von Kennesha County, gab es höchstens siebentausend Fahrzeuge, verteilt über eine Fläche von vielen Quadratkilometern. Die Zementfabrik blies einigen Dreck in die Luft, aber da es sich bei ihr um den einzigen großen Industriebetrieb des Bezirks handelte, beschwerte sich niemand außer einigen ortsansässigen Umweltschützern – und auch die nicht sonderlich laut. Man konnte meilenweit sehen.
Es war jetzt siebzehn Uhr fünfundvierzig.
»›Dies‹«, murmelte Dahl.
Jackson kam erneut zu ihm. »So, Sheriff, wir wissen nun mehr: Feldman ist bei der Stadt angestellt und sechsunddreißig Jahre alt. Seine Frau Emma arbeitet als Anwältin für die Kanzlei Hartigan, Reed, Soames und Carson. Sie ist vierunddreißig.«
»Ha, eine Anwältin. Wusste ich’s doch.«
»Gegen keinen der beiden liegt oder lag etwas vor. Sie besitzen zwei Autos: einen Mercedes und einen Cherokee. Keine Kinder. Und sie haben dort ein Haus.«
»Wo?«
»Am Lake Mondac. Ich habe die Eigentumsurkunde gefunden. Die Immobilie ist vollständig bezahlt.«
»Ohne Hypothekenbelastung? Nicht schlecht.« Dahl drückte zum fünften Mal die Wahlwiederholung. Und landete abermals sofort bei der Mailbox. »Hallo, hier ist Steven. Ich bin zurzeit nicht erreichbar …«
Dahl hinterließ keine weitere Nachricht. Er drückte die Gabel des Telefons herunter, überlegte einen Moment und rief die Auskunft an. Es gab keinen Eintrag für jemanden namens Feldman am Lake Mondac. Dahl versuchte es bei der örtlichen Rechtsabteilung der Telefongesellschaft.
»Jerry. Gut, dass ich Sie noch erwische. Hier ist Tom Dahl.«
»Ich wollte gerade zur Tür hinaus. Haben Sie einen Gerichtsbeschluss? Suchen wir nach Terroristen?«
»Nein, nein; ich möchte bloß wissen, ob ein bestimmtes Haus am Lake Mondac einen Festnetzanschluss hat.«
»Wo?«
»Dreißig, vierzig Kilometer nördlich von hier. Die Adresse lautet Lake View Drive Nummer drei.«
»Ist Lake Mondac eine eigene Gemeinde?«
»Nein, das Gebiet fällt anscheinend in die Zuständigkeit des Bezirks.«
Es herrschte kurz Stille. »Nein, kein Festnetzanschluss«, sagte Jerry dann. »Weder von uns noch von der Konkurrenz. Heutzutage benutzen die Leute nur noch ihre Mobiltelefone.«
»Was würde Ma Bell wohl dazu sagen?«
»Wer?«
Sie beendeten das Gespräch. Dahl las den Zettel, den Jackson ihm gegeben hatte, und wählte Steven Feldmans Büronummer im Sozialamt von Milwaukee, bekam aber nur eine Bandansage zu hören. Er legte auf. »Ich versuch’s mal mit der Frau. Anwaltskanzleien sind immer geöffnet. Zumindest die mit vier Namen in der Kanzleibezeichnung.«
Am anderen Ende meldete sich eine junge Frau, offenbar eine Assistentin oder Sekretärin. Dahl nannte seinen Namen und Dienstrang. »Wir versuchen, Mrs. Feldman zu erreichen.«
Die Pause, die immer folgte. Dann: »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Nein. Nur eine Routinesache. Soweit wir wissen, ist sie in ihrem Ferienhaus am Lake Mondac.«
»Das stimmt. Emma, ihr Mann und eine Freundin aus Chicago wollten sich heute nach der Arbeit treffen und übers Wochenende dort bleiben. Bitte, ist irgendetwas passiert? Hat es einen Unfall gegeben?«
»Uns ist nichts dergleichen bekannt«, sagte Tom Dahl in dem Tonfall, in dem er auch die Nachrichten von tödlichen Unglücken und reibungslosen Geburten überbrachte. »Ich würde nur gern mit ihr sprechen. Könnten Sie mir bitte die Nummer ihres Mobiltelefons geben?«
Stille.
»Ich habe eine Idee. Da Sie mich ja nicht kennen – rufen Sie doch die Gemeindeverwaltung von Kennesha County an, und lassen Sie sich mit dem Sheriff verbinden. Falls das Ihre Bedenken zerstreut.«
»Das würde es in der Tat.«
Er legte auf. Eine Minute später klingelte sein Telefon.
»Ich war mir nicht sicher, ob sie anrufen würde«, sagte er zu Jackson und hob ab.
Die Assistentin nannte ihm Emma Feldmans Nummer. Dann bat er um den Namen und die Telefonnummer der Freundin, die zu Besuch kommen wollte.
»Es ist eine ehemalige Arbeitskollegin von Emma. Ihren Namen kenne ich nicht.«
Für den Fall, dass Emma sich bei ihrer Assistentin melden würde, sollte diese ihr ausrichten, sie möge sich umgehend mit dem Sheriff’s Department in Verbindung setzen. Dann beendeten sie das Gespräch.
Auch bei Emmas Mobiltelefon meldete sich sofort die Mailbox.
»›Dies‹«, atmete Dahl das Wort aus, so wie er bis vor sieben Jahren und vier Monaten den Rauch über seine Lippen hatte streichen lassen. Er traf eine Entscheidung. »Ich werde besser schlafen können, wenn … Ist jemand von uns dort oben unterwegs?«
»Eric ist am nächsten dran. Er war wegen eines angeblichen Autodiebstahls in Hobart. Die Sache hat sich als Irrtum herausgestellt. ›Huch, da hätte ich wohl lieber zuerst meine Frau anrufen sollen‹ … so was in der Art.«
»Eric, hmm.«
»Er hat sich vor fünf Minuten zum Abendessen in Boswich Falls abgemeldet.«
»Eric.«
»Er ist der Einzige im Umkreis von mehr als dreißig Kilometern. Das ist da oben zu dieser Jahreszeit normal. Immerhin ist der Park noch geschlossen.«

3

»Wie ist es gelaufen?«
»Joey geht’s gut«, sagte sie. »Es ist alles in Ordnung.«
Graham war in die Küche gegangen und stellte dort zwei der vielen Begabungen zur Schau, die Brynn an ihrem Mann zu schätzen wusste. Er bereitete Pasta zu, und er hatte wiederum einige der neuen Fliesen verlegt. Etwa zwei Quadratmeter des Fußbodens waren mit gelbem Polizei-Absperrband gekennzeichnet.
»Hallo, Graham«, rief der Junge.
»He, junger Mann. Wie fühlst du dich?«
Der schlaksige Zwölfjährige mit Cargohose, Anorak und schwarzer Strickmütze hob seinen Arm. »Bestens.« Seine einen Meter fünfundsechzig große Mutter überragte ihn nur noch knapp, und sein rundes Gesicht war mit Sommersprossen übersät, die er nicht von Brynn geerbt haben konnte, obwohl sie beide das gleiche glatte kastanienbraune Haar hatten. Seines ragte nun unter der Mütze hervor.
»Keine Schlinge? Wie willst du dich denn da von den Mädchen bemitleiden lassen?«
»Ha, ha.« Der Kommentar über das andere Geschlecht ließ Grahams Stiefsohn die Nase rümpfen. Der schlanke Junge nahm sich einen Saftkarton aus dem Kühlschrank, steckte den Strohhalm hinein und leerte die Packung.
»Es gibt heute Spaghetti zum Abendessen.«
»Sehr gut!« Die Skateboard-Verletzung und die Mitschülerinnen waren im selben Moment vergessen. Er rannte zur Treppe und wich den Büchern aus, die auf den unteren Stufen gestapelt waren und irgendwann mal weggeräumt werden sollten.
»Mütze!«, rief Graham. »Im Haus …«
Der Junge riss sich die Mütze vom Kopf und lief weiter nach oben.
»Nicht so stürmisch«, mahnte Graham. »Dein Arm …«
»Es geht ihm gut«, wiederholte Brynn, hängte ihre dunkelgrüne Jacke in den Flurschrank und kam zurück in die Küche. Nach den Maßstäben des Mittelwestens war sie hübsch. Ihre hohen Wangenknochen verliehen ihr ein leicht indianisches Aussehen, obwohl sie ausschließlich norwegisch-irischer Abstammung war, und zwar in etwa dem Verhältnis, das ihr Name erkennen ließ: Kristen Brynn McKenzie. Nicht zuletzt wegen ihres straff im Nacken zusammengefassten schulterlangen Haars hielten die Leute sie bisweilen für eine ehemalige Balletttänzerin, die sich ohne großes Bedauern in einem Leben mit Konfektionsgröße 40 eingerichtet hatte. In Wirklichkeit aber hatte Brynn noch nie außerhalb einer Tanzschule oder Diskothek getanzt.
Ihr einziges Zugeständnis an die Eitelkeit war das Zupfen und Bleichen ihrer Augenbrauen; einige längerfristige Maßnahmen waren zwar geplant, bis jetzt aber noch nicht umgesetzt worden. Falls es etwas Unvollkommenes an ihr gab, dann ihren Unterkiefer, der von vorn betrachtet ein wenig schief war. Graham sagte, er finde das bezaubernd und sexy. Brynn hasste diesen Makel.
»Sein Arm …«, setzte Graham erneut an. »Er ist nicht gebrochen?«
»Nein. Er hat sich bloß ein paar Abschürfungen zugezogen. In dem Alter steckt er so etwas problemlos weg.« Sie sah zu dem großen Topf. Ihr Mann machte gute Pasta.
»Da bin ich aber erleichtert.« Es war warm in der Küche. Der einen Meter neunzig große Graham Boyd krempelte die Ärmel hoch und enthüllte dadurch starke Muskeln und zwei eigene kleine Narben. Er trug eine Armbanduhr, deren Goldüberzug weitgehend abgeschabt war, und als einzigen Schmuck seinen zerkratzten und glanzlosen Ehering. Brynns Exemplar sah nicht viel besser aus, gleich neben dem Verlobungsring, der genau einen Monat länger an ihrem Finger steckte.
Graham öffnete einige Dosen Schältomaten. Die scharfe runde Klinge des Öffners fraß sich unter seinen großen Händen mühelos durch das Metall. Er drehte die Herdflamme herunter. Im Topf brutzelten Zwiebeln. »Müde?«
»Es geht.«
Sie war um halb sechs aus dem Haus gegangen, deutlich vor Beginn der Tagschicht, denn sie hatte erst noch bei einem Wohnwagenpark vorbeischauen wollen, in dem es tags zuvor zu einem lautstarken Ehestreit gekommen war. Es hatte keine Verhaftung gegeben, und das Paar war sich am Ende reumütig und unter Tränen um den Hals gefallen. Aber Brynn wollte sichergehen, dass die dicke Make-up-Schicht auf dem Gesicht der Frau keinen Bluterguss verdeckte, den die Polizei nicht hatte sehen sollen.
Nein, hatte Brynn sich um sechs Uhr morgens vergewissert: Die Frau war einfach nur stark geschminkt.
Nach dem überaus frühen Start hatte sie vorgehabt, auch entsprechend früh Feierabend zu machen – nun ja, früh für ihre Verhältnisse, also um siebzehn Uhr -, doch dann hatte eine befreundete Rettungssanitäterin sie angerufen und als Erstes gesagt: »Brynn, es geht ihm gut.«
Zehn Minuten später war sie bei Joey im Krankenhaus gewesen.
Nun zupfte sie an der gelbbraunen Uniformbluse des Sheriff’s Department. »Ich muss dringend duschen.«
Graham musterte die drei Regalfächer mit den ungefähr fünfzig Kochbüchern. Die meisten davon hatte Anna mitgebracht, als sie nach ihrer Behandlung zu ihnen gezogen war, doch es war Graham, der in letzter Zeit Gebrauch davon machte, seit er diese Haushaltspflicht übernommen hatte. Seine Schwiegermutter war zu krank gewesen, um zu kochen – und Brynn? Nun, es handelte sich nicht gerade um eine ihrer Stärken.
»Oh, ich habe den Käse vergessen«, sagte Graham und suchte vergeblich in dem Schrank mit den Lebensmitteln. »Das ist doch nicht zu fassen.« Er ging zurück zum Topf und zerrieb etwas Oregano zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Wie war dein Tag?«, fragte Brynn.
Er erzählte von einem defekten Bewässerungssystem, das voreilig schon am ersten April eingeschaltet worden und dann an einem Dutzend Stellen geborsten war, weil es noch einmal Frost gegeben hatte. Der Temperatursturz wunderte niemanden außer dem Eigentümer, der bei seiner Rückkehr ein überschwemmtes Grundstück vorgefunden hatte.
»Du machst Fortschritte.« Sie wies auf die Fliesen.
»Es geht allmählich voran. So. – Entspricht die Strafe dem Verbrechen?«
Sie runzelte die Stirn.
»Joey. Das Skateboard.«
»Oh, ich habe ihm gesagt, er muss drei Tage darauf verzichten.«
Graham entgegnete nichts und konzentrierte sich auf die Soße. Bedeutete das, er hielt Brynn für zu nachsichtig?
»Na ja, vielleicht auch länger«, sagte sie. »Wir werden sehen.«
»Man sollte diese Dinger verbieten«, sagte er. »Geländer entlangrutschen? Luftsprünge? Das ist doch verrückt.«
»Es war bloß auf dem Schulhof. Bei der Treppe dort, den drei Stufen, die zum Parkplatz führen. All die anderen machen das auch, hat er gesagt.«
»Er muss diesen Helm tragen. Das Ding liegt ständig nur hier herum.«
»Das stimmt. Und das wird Joey auch. Ich habe schon mit ihm darüber gesprochen.«
Graham schaute zur Treppe in den ersten Stock. »Womöglich sollte ich mal mit ihm reden. Von Mann zu Mann.«
»Mach dir keine Gedanken. Zu viel wäre auch nicht gut. Er hat mich schon verstanden.«
Brynn holte sich ein Bier und trank es halb aus. Dann aß sie eine Handvoll Weizencracker. »Gehst du heute Abend zu deinem Pokerspiel?«
»Das hatte ich eigentlich vor.«
Sie nickte und sah ihm dabei zu, wie er mit seinen großen Händen Fleischklößchen rollte.
»Schatz«, rief eine Stimme. »Wie geht es unserem Jungen?«
»Hallo, Mom.«
Die vierundsiebzigjährige Anna stand im Eingang und war wie üblich hübsch gekleidet, heute mit einem schwarzen Hosenanzug und goldfarbenem Oberteil. Ihr Kurzhaarschnitt war erst gestern wieder beim Friseur zurechtgemacht worden, so wie jeden Donnerstag.
»Nur ein paar Schrammen und blaue Flecke.«
»Er ist mit dem Skateboard eine Treppe hinuntergefahren«, sagte Graham.
»Ach, herrje.«
»Bloß ein oder zwei Stufen«, berichtigte Brynn ihn hastig und nippte an ihrem Bier. »Es ist alles in Ordnung. Er macht es nicht wieder. Nichts Ernstes, wirklich. Wir haben doch alle mal Mist gebaut.«
»Was hat sie als Kind denn so angestellt?«, wandte Graham sich an Anna und deutete auf seine Frau.
»Oh, ich könnte dir Geschichten erzählen.« Aber sie tat es nicht.
»Ich werde mit ihm mal zum Paintball oder so gehen«, schlug Graham vor. »Damit er einen Teil seiner überschüssigen Energie loswerden kann.«
»Das ist eine gute Idee.«
Graham riss einen Kopfsalat auseinander. »Bist du mit Spaghetti einverstanden, Anna?«
»Was du kochst, schmeckt alles gut.« Sie nahm das Glas Chardonnay, das ihr Schwiegersohn ihr einschenkte.
Graham holte Teller aus dem Regal.
»Sind die beim Fliesenlegen nicht staubig geworden?«, fragte Brynn.
»Ich hatte alles mit Folie abgedeckt.«
Er zögerte und spülte die Teller dann trotzdem ab.
»Kann jemand mich heute Abend zu Rita fahren?«, fragte Anna. »Megan muss ihren Sohn abholen. Nur für etwa anderthalb Stunden. Ich habe versprochen, den Badezimmerdienst zu übernehmen.«
»Wie geht es ihr?«, fragte Brynn.
»Schlecht.« Anna und ihre enge Freundin hatten ungefähr zur selben Zeit die Diagnose erhalten. Annas Behandlung war gut verlaufen, Ritas nicht.
»Ich bringe dich hin«, sagte Brynn zu ihrer Mutter. »Kein Problem. Wann?«
»Gegen sieben.« Anna drehte sich zum Wohnzimmer um, dem Zentrum von Brynns kleinem Haus am Rand von Humboldt. Es liefen gerade die Abendnachrichten. »Seht euch das an. Schon wieder eine Bombe. Was sind das nur für Menschen?«
Das Telefon klingelte. Graham ging dran. »Hallo, Tom. Wie läuft’s bei dir?«
Brynn stellte das Bier ab und schaute zu ihrem Mann, der den Hörer in der großen Hand hielt. »Ja, das hab ich gesehen. Gutes Spiel. Sie möchten Brynn sprechen, nehme ich an … Moment. Sie ist hier.«
»Dein Chef«, flüsterte er, gab ihr den Hörer und kehrte an seine Arbeit zurück.
»Tom?«
Der Sheriff erkundigte sich nach Joey. Brynn dachte, er würde ihr nun einen Vortrag über Skateboards halten, aber das tat er nicht. Stattdessen schilderte er ihr ein mögliches Problem oben am Lake Mondac. Sie hörte aufmerksam zu und nickte.
»Ich möchte, dass jemand nachsieht. Sie sind dichter dran als alle anderen, Brynn.«
»Was ist mit Eric?«
Graham entzündete einen weiteren Brenner des Herdes. Blaue Funken stiegen auf.
»Es wäre mir lieber, Sie würden das übernehmen. Sie wissen, wie Eric sein kann.«
Graham rührte die Soße um. Die bestand in erster Linie aus dem Inhalt von Konserven, aber Graham rührte dennoch, als würde er von Hand zerkleinerte Zutaten vermischen. Im Wohnzimmer wurde die Stimme eines Mannes von der einer fröhlich plappernden Frau abgelöst. »So schon eher«, verkündete Anna. »Darum sollte es in den Nachrichten gehen.«
Brynn überlegte. »Sie schulden mir einen halben Tag, Tom«, sagte sie dann. »Wie lautet die Adresse?«
Graham sah sie an.
Dahl übergab an einen anderen Deputy, Todd Jackson, der ihr die Einzelheiten nannte. Brynn schrieb mit.
Dann legte sie auf. »Am Lake Mondac gibt es eventuell Schwierigkeiten.« Sie musterte ihr Bier, trank aber nichts mehr davon.
»Ach, Baby«, sagte Graham.
»Es tut mir leid. Ich fühle mich verpflichtet. Wegen Joey habe ich heute früher Schluss gemacht.«
»Aber Tom hat dich nicht darauf angesprochen.«
Sie zögerte. »Nein, hat er nicht. Ich wohne einfach am nächsten dran.«
»Du hast Eric erwähnt.«
»Er ist problematisch. Ich habe dir doch von ihm erzählt.« Eric Munce pflegte ein Söldner-Magazin zu lesen und trug eine Zweitwaffe am Knöchel, als wäre er mitten in Detroit. Und anstatt Verkehrssünder einem Alkoholtest zu unterziehen oder Halbwüchsige zu ermahnen, spätestens um zweiundzwanzig Uhr zu Hause zu sein, hielt er lieber nach Meth-Labors Ausschau.
»Soll ich Rita anrufen?«, fragte Anna von der Küchentür aus.
»Ich kann dich fahren«, sagte Graham.
Brynn verschloss ihre Bierflasche. »Und deine Pokerrunde?«
Ihr Mann hielt lächelnd inne. »Die läuft nicht weg«, sagte er dann. »Nach Joeys Verletzung ist es sowieso besser, wenn ich hierbleibe und ihn im Auge behalte.«

4

Die Landschaft nördlich von Humboldt besteht hauptsächlich aus Weideland, das durch niedrige Zäune sowie einige Steinmauern und Hecken in annähernd rechteckige Parzellen unterteilt wird. Die Sonne stand nun dicht über den Kämmen der westlichen Hügel und schien in flachem Winkel über das Gelände, sodass die Milchkühe und Schafe wie unförmiger Rasenschmuck erstrahlten. Alle paar hundert Meter lockten Schilder Touristen zu dieser oder jener Abzweigung und versprachen von Hand gemachten Käse, Nusskuchen und Süßspeisen, Ahornsirup, Limonade und Kiefernmöbel. Ein Weingut bot Führungen an. Brynn McKenzie, die gern Wein trank und von Geburt an in Wisconsin lebte, hatte noch nie eine der hiesigen Sorten probiert.
Dann, etwa dreizehn Kilometer außerhalb der Stadt, war ganz plötzlich Schluss mit der Idylle. Beidseits der Straße, deren Breite sich von vier auf zwei Spuren verringerte, ragte dichtes Kiefern- und Eichengehölz auf. Immer mehr Hügel kamen hinzu, und bald befand man sich mitten im Wald. Hier und da kündigten sich die ersten Knospen an, aber die Laubbäume waren immer noch überwiegend grau und schwarz. Die meisten Kiefern leuchteten üppig grün, doch es gab auch abgestorbene Exemplare, die dem sauren Regen oder vielleicht einer Pflanzenkrankheit zum Opfer gefallen waren.
Brynn erkannte Balsamtannen, Wacholder, Eiben, Fichten, Hickory, ein paar knorrige dunkle Weiden und vor allem Eichen, Ahorn und Birken. Unter den Bäumen erstreckte sich ein Dickicht aus Riedgräsern, Disteln, Ambrosien und Brombeeren. Das gleiche Tauwetter, das die Pflanzen im Garten von Grahams Kunden dahingerafft hatte, hatte hier Taglilien und Krokusse erwachen lassen.
Obwohl sie mit einem Landschaftsgärtner verheiratet war, verdankte Brynn die Kenntnis der einheimischen Flora nicht ihrem Mann, sondern ihrem Job. Seitdem in den ländlichen Gegenden Amerikas immer mehr versteckte Meth-Labors aus dem Boden schossen, mussten Polizeibeamte, deren bislang schwierigste Aufgabe darin bestanden hatte, betrunkene Autofahrer aus dem Verkehr zu ziehen, auf einmal Drogenrazzien in der Wildnis durchführen.
Brynn zählte zu den wenigen Deputys des Departments, die jedes Jahr außerhalb von Madison am taktischen Auffrischungskurs der Staatspolizei teilnahmen. Das Zugriffs- und Festnahmetraining beinhaltete eine Lehrstunde über Pflanzen: welche davon gefährlich waren, welche sich gut zur Tarnung eigneten und welche sich sogar als lebensrettend erweisen konnten (schon ein junger Hartholzbaum bot Schutz vor einer aus kurzer Distanz abgefeuerten Kugel).
Das Holster mit Brynns Dienstwaffe, einer Glock, Kaliber Neunmillimeter, hing hoch an ihrem Gürtel. Die großen Ford Crown Victorias, die als Streifenwagen des Sheriff’s Department zum Einsatz kamen, boten jede Menge Platz, aber hier im Schalensitz des Honda drückte der Sicherheitsgurt den rechteckigen Schlitten der Pistole fest gegen ihren Hüftknochen. Das würde einen blauen Fleck geben. Brynn rutschte abermals herum und schaltete das Radio ein, erst den öffentlich-rechtlichen Sender, dann Country, dann Talk, dann den Wetterkanal. Sie schaltete es wieder aus.
Ein paar Lastwagen und Pickups kamen ihr entgegen. Doch es wurden rasch weniger, und schon bald hatte Brynn die Straße für sich allein. Es ging nun bergauf, und sie sah den Abendstern am Himmel. Die Hügelkämme wurden schroffer und felsiger, und immer mehr deutete auf die nahen Seen hin: Rohrkolben, Fieberklee, Silber- und hellgelbes Riedgras. In einem Tümpel stand reglos ein Reiher. Sein Schnabel und sein Blick waren genau auf Brynn gerichtet.
Sie erschauderte, trotz einer Außentemperatur von zwölf oder dreizehn Grad. Es war die trostlose Gegend, die sie frösteln ließ.
Brynn schaltete die Scheinwerfer des Honda ein. Ihr Mobiltelefon klingelte. »Hallo, Tom.«
»Noch mal danke, dass Sie eingesprungen sind, Brynn.«
»Kein Problem.«
»Todd hat einige Nachforschungen angestellt.« Dahl erklärte, er könne das Ehepaar immer noch nicht telefonisch erreichen. Angeblich hielten sich im Haus lediglich Steven und Emma Feldman sowie Emmas ehemalige Arbeitskollegin auf, die aus Chicago angereist war.
»Nur die drei?«
»Soweit wir wissen. Über Steven gibt es nichts Außergewöhnliches zu berichten. Er arbeitet für die Stadt. Aber Emma, seine Frau … die ist interessanter. Sie ist Anwältin bei einer großen Kanzlei in Milwaukee. Wie es scheint, könnte sie im Zusammenhang mit einem ihrer Fälle oder Abschlüsse irgendeinen großen Betrug aufgedeckt haben.«
»Welcher Art?«
»Die Einzelheiten kenne ich nicht. Ein Freund bei der Polizei von Milwaukee hat mir davon erzählt.«
»Demnach ist sie womöglich eine Zeugin oder Informantin.«
»Kann sein.«
»Und der Notruf? Was genau hat Feldman gesagt?«
»Nur ›Dies‹.«
Sie wartete. »Das habe ich nicht verstanden. Was?«
Ein Kichern. »Ihre Ohren sind völlig in Ordnung. Er hat tatsächlich nur das Wort ›Dies‹ gesagt. D-I-E-S.«
»Das war alles?«
»Ja«, bestätigte Dahl. »Aber das hier könnte eine große Sache sein. Todd hat mit dem FBI in Milwaukee gesprochen.«
»Das Bureau wurde eingeschaltet? Junge, Junge. Hat die Frau Drohungen erhalten?«
»Keine, von denen man weiß. Aber mein Vater hat immer gesagt: Wer droht, handelt meistens nicht. Und wer handelt, droht meistens nicht.«
Brynns Magen zog sich zusammen – einerseits vor Besorgnis, andererseits aber auch vor Erregung. Das schwerste Vergehen, mit dem sie es – abgesehen von den Verkehrsdelikten – im letzten Monat zu tun gehabt hatte, war ein seelisch gestörter Teenager gewesen, der mit einem Baseballschläger in der Southland Mall ein paar Schaufensterscheiben zertrümmert und die Kunden eingeschüchtert hatte. Es war eine heikle Situation gewesen, aber Brynn hatte die Lage in einem kurzen persönlichen Gespräch entschärfen können und den wütenden Jungen angelächelt, während ihr Herz nur ein klein wenig schneller als normal schlug.
»Passen Sie auf sich auf, Brynn. Verschaffen Sie sich aus einiger Entfernung einen Überblick. Seien Sie nicht leichtsinnig. Sobald Ihnen etwas seltsam vorkommt, rufen Sie Verstärkung und warten ab.«
»Natürlich«, sagte sie. Und fügte in Gedanken hinzu: nur falls alle Stricke reißen. Sie klappte das Telefon zu und legte es in den Getränkehalter.
Das erinnerte sie daran, dass sie Durst hatte – und Hunger. Doch sie schob den Gedanken beiseite; keines der vier Restaurants, an denen sie auf den letzten fünfzehn Kilometern vorbeigekommen war, hatte geöffnet gehabt. Sie würde überprüfen, was dort am Lake Mondac vor sich ging, und dann zu Grahams Spaghetti heimkehren.
Aus irgendeinem Grund musste sie an die Abendessen mit Keith denken. Ihr erster Mann hatte ebenfalls gern gekocht. Abends sogar fast immer, es sei denn, er hatte Spätschicht gehabt.

5

»Tja, Mann, da hast du dir wohl eine Kugel eingefangen.«
Hart saß mit hängenden Schultern auf dem Bett eines der Gästezimmer im Erdgeschoss. Die Vorhänge waren zugezogen, seine Lederjacke lag auf dem Boden. Er musterte den linken Ärmel seines braunen Flanellhemds. Der ohnehin dunkle Stoff hatte sich auf halbem Weg zwischen Handgelenk und Ellbogen durch das Blut noch weiter verdunkelt.
»Ja, eindeutig.« Der hagere Lewis hörte auf, an seinem grünen Ohrstecker herumzufummeln, sparte sich weitere seiner überflüssigen und lästigen Feststellungen und fing an, behutsam Harts Ärmelaufschlag hochzuschieben.
Die Männer hatten ihre Strumpfmasken und Lewis außerdem die Handschuhe abgelegt.
»Sei ja vorsichtig, was du anfasst«, sagte Hart mit Blick auf die bloßen Hände des anderen Mannes.
Lewis ignorierte den Kommentar geflissentlich. »Das war vielleicht eine Überraschung, Hart. Die Schlampe hat uns völlig kalt erwischt. Damit hätte ich nie gerechnet. Also, wer, zum Teufel, ist sie?«
»Ich habe wirklich keine Ahnung, Lewis«, sagte Hart geduldig und betrachtete seinen Arm, der unter dem Stoff zum Vorschein kam. »Woher soll ich das wissen?«
Das wird ein Kinderspiel, Hart. Praktisch ohne Risiko. In den anderen Häusern wird niemand sein. Und sonst nur die beiden, die Feldmans. Keine Ranger im Park und meilenweit keine Cops.
Haben sie Waffen?
Soll das ein Witz sein? Das sind Stadtmenschen. Sie ist Anwältin und er Sozialarbeiter.
Hart war Anfang vierzig. Er hatte ein längliches Gesicht. Ohne die Maske reichte sein Haar bis ein gutes Stück unterhalb der Ohren, die eng am Kopf anlagen. Hart strich sich die schwarzen Strähnen häufig aus der Stirn, aber sie waren recht widerspenstig. Er bevorzugte Mützen und besaß eine ganze Sammlung. Mützen lenkten zudem die Aufmerksamkeit von einem selbst ab. Seine Haut war rau, nicht als Resultat einer früheren Erkrankung, sondern einfach, weil sie so war. Schon immer.
Er starrte seinen Unterarm an, der sich rund um das schwarze Loch lila und gelb verfärbt hatte. Aus der Wunde rann ein wenig Blut. Das Projektil hatte den Muskel durchschlagen. Etwas weiter links und es hätte ihn verfehlt. Etwas weiter rechts und es hätte einen Knochen zerschmettert. Hatte er also Glück oder Pech gehabt?
»Wenn eine große Ader verletzt wäre, würde es stärker und rhythmischer bluten«, sagte Hart zu sich selbst ebenso wie zu Lewis. »Kannst du Alkohol besorgen? Außerdem ein Stück Seife und einen Verband?«
»Klar.«
Als der Mann sich gemächlich abwandte, fragte Hart sich erneut, warum um alles in der Welt jemand sich ein leuchtend rotes und blaues Keltenkreuz auf den Hals tätowieren ließ.
»Hier ist kein Alkohol«, rief Lewis aus dem Badezimmer. »Aber ich hab in der Bar eine Flasche Whisky gesehen.«
»Nimm Wodka. Whisky riecht zu sehr. Das kann verräterisch sein. Und vergiss deine Handschuhe nicht.«
Hatte der dünne Mann gerade verärgert aufgeseufzt?
Wenig später kehrte Lewis mit einer Flasche Wodka zurück. Der klare Branntwein roch wirklich nicht so stark wie Whisky, aber Hart registrierte trotzdem, dass Lewis sich einen kräftigen Schluck genehmigt hatte. Er nahm die Flasche und schüttete die Flüssigkeit auf die Wunde. Der Schmerz war erstaunlich. »Wow«, keuchte er und sackte zusammen. Sein Blick blieb an einem Bild an der Wand hängen. Ein springender Fisch mit einer Fliege im Maul. Wer kaufte denn so was?
»Puh …«
»Du wirst doch nicht etwa ohnmächtig, oder, Mann?«, fragte Lewis, als könne er das jetzt nicht auch noch gebrauchen.
»Okay, okay …« Hart senkte den Kopf. Ihm wurde schwarz vor Augen, aber dann atmete er tief durch und fing sich wieder. Er rieb mit dem Stück Seife über die Wunde.
»Wieso machst du das?«
»Um die Blutung zu stillen.«
»Echt?«
Der Arm ließ sich halbwegs kontrolliert und mit erträglichem Schmerz heben und senken. Wenn Hart die Hand zur Faust ballte, konnte er zwar nur schwach zupacken, aber wenigstens funktionierte es überhaupt.
»Verfluchtes Miststück«, murmelte Lewis.
Hart ärgerte sich nicht sonderlich; er war vor allem erleichtert. Statt am Arm hätte es ihn beinahe am Kopf erwischt.
Er wusste noch, wie er in der Küche gestanden, sich durch die Strumpfmaske an der Wange gekratzt, dann den Kopf gehoben und vor sich eine Bewegung gesehen hatte. Wie sich jedoch herausstellte, handelte es sich um das Spiegelbild der jungen Frau, die lautlos von hinten näher gekommen war und soeben die Waffe hob.
Hart sprang im selben Moment beiseite, in dem sie schoss, und wirbelte herum, ohne den Treffer auch nur zu merken. Als er das Feuer aus seiner Glock erwiderte, floh die Frau zur Tür hinaus. Lewis, der neben ihm stand – und als Nächster gestorben wäre -, fuhr ebenfalls herum und ließ eine Tüte Snacks fallen, die er aus dem Kühlschrank geklaut hatte.
Dann hörten sie es draußen mehrmals laut knallen, und Hart hatte gewusst, dass die Frau die Reifen des Ford und des Mercedes zerschoss, damit sie nicht verfolgt werden konnte.
»Wir waren zu nachlässig«, stellte Hart nun unheilvoll fest.
Lewis sah ihn an, als sei das als Vorwurf gemeint gewesen – und das war es auch: Der hagere Mann hätte zu dem fraglichen Zeitpunkt im Wohnzimmer sein sollen, nicht in der Küche. Aber Hart ritt nicht weiter darauf herum.
»Hast du sie getroffen?«, fragte Lewis.
»Nein.« Hart fühlte sich benommen. Er drückte sich die Seite der Glock an die Stirn. Die Kühle tat gut.
»Wer, zum Teufel, ist sie?«, wiederholte Lewis.
Eine Antwort darauf fand sich in der Handtasche, die sie im Wohnzimmer entdeckten, ein kleines Ding mit Make-up, Bargeld und Kreditkarten darin.
»Michelle«, sagte Hart mit Blick auf eine Visa-Karte. Er hob den Kopf. »Sie heißt Michelle.«
Er war gerade von einer Michelle angeschossen worden.
Mit verkniffener Miene ging Hart quer über den abgenutzten und nachgedunkelten gelbbraunen Teppich und schaltete das Licht im Wohnzimmer aus. Dann spähte er vorsichtig zur Vordertür hinaus. Von der Frau keine Spur. Lewis wollte in die Küche gehen. »Ich mach auch da das Licht aus.«
»Nein, lass es an. Da sind zu viele Fenster und keine Vorhänge. Sie könnte dich mühelos von draußen sehen.«
»Mach dir nicht in die Hose. Die Schlampe ist längst auf und davon.«
Hart blickte grimmig auf seinen Unterarm, als wolle er fragen: Möchtest du das Risiko wirklich eingehen? Lewis fügte sich. Sie schauten ein weiteres Mal durch die vorderen Fenster, sahen aber nichts als dichtes Unterholz. Keine Lichter, keine Schemen, die durch die Abenddämmerung huschten. Hart hörte Frösche quaken. Am klaren Himmel schwirrten einige Fledermäuse umher.
»Ich wünschte, ich hätte diesen Seifentrick schon früher gekannt. Der ist echt gut«, sagte Lewis. »Mein Bruder und ich sind mal in Green Bay gewesen. Wir haben da nichts Besonderes gemacht, bloß rumgehangen, du weißt schon. Als ich am Bahndamm pinkeln gehen wollte, ist dieses Arschloch mit einem Teppichmesser auf mich losgegangen. Hat mich von hinten erwischt. Irgendein beschissener Penner … Der Schnitt ging bis auf den Knochen. Ich hab geblutet wie ein abgestochenes Schwein.«
Und was will er mir damit sagen?, dachte Hart und versuchte, die Stimme des Mannes auszublenden.
»Oh, dem Kerl hab ich’s aber gegeben, Hart. Dass ich geblutet hab, war egal. Er hat an dem Tag gelernt, was leiden heißt. Die Lektion wird er nie vergessen, das kannst du mir glauben.«
Hart drückte die Wunde und achtete dann nicht weiter auf die Schmerzen. Sie waren zwar noch da, ließen sich aber in den Hintergrund drängen. Er zog die schwarze Pistole und trat geduckt nach draußen. Kein Schuss. Kein Rascheln im Gebüsch. Lewis kam hinterher. »Ich sag’s doch, die Alte ist weg. Mittlerweile dürfte sie ihren Hintern halb bis zum Highway geschleift haben.«
Beim Anblick der Fahrzeuge verzog Hart das Gesicht. »Sieh dir das an.« Sowohl der Mercedes der Feldmans als auch der Ford, den Hart früher an jenem Tag gestohlen hatte, hatten zwei platte Reifen. Die Felgen waren unterschiedlich groß; die Ersatzräder würden demnach nicht an das jeweils andere Auto passen.
»Scheiße«, sagte Lewis. »Tja, dann sollten wir mal lieber losmarschieren, meinst du nicht auch?«
Hart ließ den Blick über den tiefen, inzwischen ziemlich düsteren Wald schweifen. Er konnte sich kein besseres Versteck auf der Welt vorstellen. Verflucht noch mal. »Versuch, ob du einen von denen flicken kannst.« Er wies auf die zerschossenen Reifen des Ford.
Lewis grinste spöttisch. »Sehe ich aus wie ein Mechaniker?«
»Ich würde es ja selbst machen«, sagte Hart und bemühte sich, ruhig zu bleiben, »aber ich bin zurzeit ein wenig gehandicapt.« Er hob seinen linken Arm.

6

Bis zum Lake Mondac waren es noch zwölf Kilometer. Die Landschaft war teils unspektakulär, teils unheimlich. Es gab hier keine Farmen; die Gegend war bewaldet und hügelig, mit bedrohlichen steilen Klippen aus rissigem Fels.
Brynn McKenzie fuhr durch Clausen, das hauptsächlich aus drei Tankstellen – zwei davon freie -, ein paar Geschäften – Gemischtwaren, Kurierdienst und Autoteile – sowie einem Schrottplatz bestand. Ein Schild wies die Richtung zu einer Subway-Filiale, aber die lag rund fünf Kilometer entfernt. Im Fenster eines Supermarkts warb ein anderes Schild für heiße Würstchen. Brynn war versucht, ihr Hungergefühl dort zu stillen, doch der Laden war geschlossen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Haus im Tudorstil. Sämtliche Scheiben waren zerbrochen, und das Dach war eingestürzt. An einer der Hauswände prangte ein Schild, das mit Sicherheit so manchen einheimischen Teenager zum Diebstahl gereizt hatte, aber es hing entweder zu hoch oder war zu gut befestigt: Nur weibliche Bedienung.
Dann lag auch dieser Außenposten der Zivilisation hinter Brynn, und es folgte ein langes Stück Wildnis aus Bäumen, Felsen und einigen kleinen Lichtungen. Die wenigen Behausungen standen weit abseits der Straße, zumeist Wohnwagen oder Bungalows, aus denen grauer Rauch himmelwärts stieg. Die schwach erleuchteten Fenster wirkten wie schläfrige Augen. Es war hier zu rau, um Landwirtschaft zu betreiben, und die wenigen Einwohner fuhren mit ihren rostigen Pickups oder Importwagen aus der Datsun-Ära andernorts zur Arbeit. Falls sie überhaupt zur Arbeit fuhren.
Auf den nächsten Kilometern kamen Brynn drei Autos und ein Lastwagen entgegen. In ihre Richtung war niemand unterwegs, weder vor noch hinter ihr.
Um achtzehn Uhr vierzig kam sie an einem Schild vorbei, das besagte, der Campingplatz des Marquette State Park befinde sich sechzehn Kilometer voraus. Geöffnet ab 20. Mai. Was bedeutete, dass der Lake Mondac ganz in der Nähe liegen musste.
Dann sah sie es:
LAKE VIEW DRIVE PRIVATSTRASSE UNBEFUGTES BETRETEN VERBOTEN KEIN ÖFFENTLICHER ZUGANG ZUM SEE ZUWIDERHANDLUNGEN WERDEN RECHTLICH GEAHNDET
Ihnen ebenfalls einen guten Tag …
Brynn bog ab und verringerte das Tempo, als der Honda über den unbefestigten Schotterweg rumpelte. Sie hätte wohl lieber Grahams Pickup nehmen sollen. Laut den Angaben, die Todd Jackson ihr geliefert hatte, waren es nun noch knapp zwei Kilometer bis zum Lake View Drive Nummer 3, dem Ferienhaus der Feldmans. Deren Auffahrt, hatte er hinzugefügt, »ist zwei Football-Felder lang. Jedenfalls hat es bei Yahoo so ausgesehen.«
Brynn arbeitete sich langsam durch einen Tunnel aus Bäumen, Sträuchern und einer dicken Schicht Laubreste vor. Die meisten Äste waren kahl.
Dann verbreiterte die Straße sich ein wenig, und die Weiden, Kiefern und Hemlocktannen zu ihrer Rechten wurden spärlicher; der See war nun deutlich zu erkennen. Brynn hatte noch nie viel Zeit auf dem Wasser verbracht, es interessierte sie nicht. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich an Land weniger ausgeliefert. Sie und Keith waren des Öfteren an die Golfküste von Mississippi gefahren, in erster Linie, weil er es so gewollt hatte. Brynn hatte sich die Zeit dort mit Lesen vertrieben oder war mit Joey in Vergnügungsparks und an den Strand gegangen. Keith hatte unterdessen das Spielkasino besucht. Es war nicht Brynns Lieblingsurlaubsort, aber das beigefarbene Wasser, das dort an die Küste plätscherte, war zumindest warm und die Einheimischen freundlich. Die Seen hier in der Gegend wirkten bodenlos tief und eisig kalt, und das abrupte Aufeinandertreffen von felsigem Ufer und schwarzem Wasser vermittelte Brynn ein Gefühl von Hilflosigkeit, als wäre sie dort leichte Beute für Schlangen und Blutegel.
Sie musste an einen anderen Kurs denken, den sie bei der Staatspolizei belegt hatte: ein Seminar über Sicherheits- und Rettungsmaßnahmen auf dem Wasser. Es war an einem See genau wie diesem abgehalten worden, und obwohl sie die Übung absolviert hatte – das Tauchen zu einem gesunkenen Boot, um eine »ertrinkende« Puppe zu retten -, hatte sie das Erlebnis gehasst.
Nun sah sie sich gründlich um und hielt nach Bootsfahrern Ausschau, die in Schwierigkeiten steckten, nach Autounfällen und nach Bränden.
Auch nach Eindringlingen.
Es war noch hell genug, um sich orientieren zu können, und sie schaltete die Scheinwerfer aus, damit man sie nicht auf Anhieb bemerken würde. Außerdem verringerte sie das Tempo noch weiter, um das Rollgeräusch der Reifen zu mindern.
Brynn kam an den ersten beiden Grundstücken der Privatstraße vorbei. Die Häuser waren dunkel und standen am Ende langer Auffahrten, die sich durch den Wald schlängelten. Es waren große Gebäude mit vier oder fünf Schlafzimmern – alt, imposant, düster. Die Szenerie hatte etwas Trostloses an sich. Wie eine Filmkulisse am Anfang eines Familiendramas: das mit Brettern vernagelte Heim, dessen Geschichte nun in Rückblenden auf glücklichere Tage erzählt werden sollte.
Brynns eigenes Haus war mit dem Geld erworben worden, das Keith ihr als Anteil am einst gemeinsamen Zuhause ausbezahlt hatte. Es hätte in jeden dieser Bauten gepasst und ihn allenfalls zur Hälfte ausgefüllt.
Der Honda rollte weiter, vorbei an einer kleinen Lichtung im Tannen- und Fichtengehölz, die Brynn einen teilweisen Blick auf das Haus der Feldmans bei Nummer 3 gestattete. Es lag ein Stück weiter voraus auf der linken Seite und war eindrucksvoller als die anderen, wenngleich im selben Stil erbaut. Aus dem Schornstein kräuselte sich eine Rauchfahne empor. Die meisten Fenster waren dunkel, aber im rückwärtigen Teil und im ersten Stock schien hinter Jalousien oder Vorhängen ein leichter Schimmer hervorzudringen.
Dann versperrte ein großes Kieferndickicht die Sicht. Brynns Hand legte sich kurz auf den Griff der Glock. Das hatte nichts mit Aberglauben zu tun, sondern diente der Rückversicherung, wie sie schon vor langer Zeit gelernt hatte: Um die Waffe notfalls schnell ziehen zu können, musste man genau wissen, wo sie sich befand. Brynn erinnerte sich daran, wie sie die eckige schwarze Automatik letzte Woche mit dreizehn Schuss neuer Munition geladen hatte. Damit war das Magazin zwar nicht ganz gefüllt, aber sie fühlte sich dennoch ausreichend gerüstet für alles, was ihr in Kennesha County begegnen mochte. Außerdem erforderte es die ganze Kraft des Daumens, die glatten Messingpatronen in die Führungsschiene zu drücken.
Tom Dahl verlangte von seinen Deputys, dass sie einmal im Monat den Schießstand aufsuchten. Brynn ging sogar alle zwei Wochen hin. Ihrer Meinung nach war der sichere Umgang mit der Dienstwaffe zwar nur selten vonnöten, aber dann umso lebenswichtiger, und daher jagte sie jeden zweiten Dienstag zwei Schachteln Munition durch den Lauf. Sie hatte schon mehrere Schießereien erlebt, meistens mit Betrunkenen oder Selbstmordkandidaten, und dabei die Erfahrung gemacht, dass die wenigen Sekunden, während derer zwei Menschen aufeinander schossen, dermaßen chaotisch und laut und furchterregend waren, dass man jeden nur möglichen Vorteil gut gebrauchen konnte. Und zu diesem Zweck kam es vor allem darauf an, das Ziehen und Abfeuern einer Waffe instinktiv zu beherrschen.
Letzte Woche hatte Brynn ihren Termin auf dem Schießstand zunächst nicht wahrnehmen können, weil es einen weiteren Zwischenfall mit Joey gegeben hatte – eine Prügelei in der Schule. Dafür war sie dann am nächsten Morgen um sechs Uhr hingegangen und hatte vor lauter Ärger über ihren Sohn ganze hundert Schuss auf die Zielscheiben abgegeben. Das Handgelenk hatte ihr noch den ganzen Tag wehgetan.