Nackt im Hotel – Wie Freundschaft der Liebe den Rang abläuft - Jo Schück - E-Book

Nackt im Hotel – Wie Freundschaft der Liebe den Rang abläuft E-Book

Jo Schück

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Beschreibung

Vergiss Liebe! Nur Freundschaft kann uns retten. Jo Schück, bekannt als aspekte-Moderator und Kulturjournalist, wagt eine radikale These: In der heutigen Zeit, die von gesellschaftlichen Umbrüchen und Globalisierung geprägt ist, in der Sicherheiten gesellschaftlich abhanden kommen und klassische Familienstrukturen sich auflösen, gibt es nur eine beständige Bindung: Freundschaft. Sie gibt uns den Halt, den wir anderswo nicht mehr finden – weder in Liebesbeziehungen noch im familiären Umfeld. Jo Schück kombiniert Kurzgeschichten zum Thema Freundschaft mit hervorragend recherchierten Gesellschaftsanalysen. Er spannt dabei den Bogen von allgemeinen Aussagen über das Wesen der Freundschaft, über Zeitgeist-Phänomene wie Instagram-Dates, Freundschaft plus und Single-Haushalte bis hin zum gesellschaftspolitischen Wert, der Freundschaft heutzutage eingeräumt werden sollte.

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Seitenzahl: 263

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Über das Buch

In einer Welt, die sich immer schneller dreht, in der klassische Familienstrukturen aufbrechen du Liebesbeziehungen regelmäßig scheitern, gibt nur die Freundschaft uns Halt. Auf der gesellschaftlichen Prioritätenliste gehört sie nach ganz oben.

Freundschaft, die Währung der Zukunft.

Jo Schück, ZDF-Moderator und Kulturjournalist, kombiniert fiktionale Kurzgeschichten mit hervorragend recherchierten Gesellschaftsanalysen. Er spannt den Bogen vom Wesen der Freundschaft über Zeitgeistphänomene wie friends with benefits bis hin zu politischen Forderungen zu Wohnen, Pflege und Zusammenhalt.

Ein inspirierendes Plädoyer

 

 

 

 

Für Caspar, Marie und Jeany

 

 

 

 

Dies ist ein Sachbuch.

Ein Sachbuch mit Geschichten.

Sie sind alle wahr, aber ausgedacht.

Vielleicht sind sie aber auch genau so passiert.

Nizza

Pisse.

Es stinkt nach Urin.

Mehr ist da nicht. Mehr hat er nicht. Nur diesen Geruch.

Ammoniak und Zitronensäure.

Seit wann? Seit Stunden.

Aus dem Spiegel starrt ein Typ mit blutunterlaufenen Augen, ein Gesicht wie eine Kraterlandschaft, gefangen vom Geruch des Urins.

Wie konnte es so schnell eskalieren? Wie zur Hölle, fragt er sich, ist ein Mensch in der Lage, so etwas überhaupt zu tun? So was tut man nicht.

Sie hat es getan.

»Excusez-moi, darf ich …?«, fragt eine Stimme. Der Mann will sich die Hände waschen.

»Klar«, antwortet er, »bien sûr« – und bewegt sich keinen Millimeter. Nicht weil er nicht will. Sondern weil er nicht kann. Na gut, auch ein bisschen, weil er nicht will.

Der Franzose schaut erst konsterniert, dann verärgert. Augenenge.

Was denkt der jetzt von ihm? Dass er ein Penner ist? Irre? Ein Terrorist? Heutzutage denken ja immer alle gleich, dass jemand ein Terrorist ist, nur weil er sich gerade nicht konventionsgetreu verhält. Nur weil er zum Beispiel mit blutunterlaufenen Augen auf einem Raststättenklo vor dem Waschbecken rumhängt, seit Stunden sein Spiegelbild betrachtet und sich auch dann nicht bewegt, wenn jemand »Excusez-moi« sagt.

Excusez-moi, excusez-moi, äfft er den Mann nach.

In Gedanken. Laut hätte er sich das nie getraut, gerade jetzt, wo er so neben sich steht. Und auch neben dem Mann.

Der drängelt ihn unsanft an die Wand, lässt den Wasserstrahl über die Hände laufen, 21, 22, genau drei Sekunden lang, schnappt sich in der Drehung ein Papierhandtuch und ist raus, bevor der Typ mit den blutunterlaufenen Augen realisiert hat, dass da jemand war.

Und es stinkt.

Nach Pisse.

— — —

»Wenn mir jemand auf den Sack geht, dann BÄM, Nummer gelöscht, uuunnd tschüs, du.«

Sie bearbeitet gestenreich das imaginäre Handy in ihrer Hand.

Sie liegt auf dem Rücken, die Arme nach oben gestreckt. Er liegt neben ihr auf der Seite.

Beim Reden bebt ganz leicht ihr Oberkörper. Durchs Fenster fällt ein Sonnenstrahl, der sich über ihren Körper legt wie ein Gurt im Auto. Ein Leuchtband mit Brüsten. Faszinierend.

Als er nicht antwortet, dreht sie den Kopf. Sie folgt seinem Blick. Ein Lächeln, ganz kurz nur, aber wahrnehmbar.

Er reißt sich los und schaut sie an.

»Wirklich? Einfach gelöscht?«, fragt er und stützt den Kopf auf den Ellbogen.

»Klar. Wenn jemand Scheiße baut: weg. Ich hab keinen Bock mehr, mich mit Idioten abzugeben.« Sie starrt an die Decke. An wen sie wohl denkt? Auf ihrem Hals sitzt ein klitzekleiner Schweißtropfen. Der letzte Rest Leidenschaft. Eine glitzernde Perle, die sich der Verdunstung hingibt.

»Aber die Leute in deinem Telefonbuch«, er reißt sich zusammen, »das sind doch nicht irgendwelche Leute …«

»Na und?«

»Na ja, das sind ja keine Twitter-Trolle, die man einfach so blocken kann. Oder entfreunden, nur weil dir was nicht passt.«

»Entfreunden«, sagt er mit Gänsefüßchen-Fingern in der Luft.

Sie blickt ihn an und antwortet:

»Nein?« Auch mit Gänsefüßchen-Fingern in der Luft.

»Nein.« Jetzt starrt er an die Decke.

Will sie ihn provozieren? Oder meint sie das ernst? Bei ihr weiß man das nie so genau. Wie kann jemand, der so schlau ist, so schön, so begehrenswert … aber vor allem so schlau; wie kann so jemand ernsthaft den Unterschied zwischen Trollen und Freunden infrage stellen?

Fragt er sich.

Und dann fragt er sie.

»Tue ich ja gar nicht«, antwortet sie und setzt sich auf. Mit einem routinierten Handgriff schlingt sie die Bettdecke um ihren Oberkörper. Tausendmal geübt. Das Lichtband verlagert sich, streift jetzt ihren Rücken. Eine Schärpe aus Licht.

»Aber wenn mir jemand hart auf den Sack geht, dann will ich ihn nicht mehr in meinem Leben haben. Du sagst doch immer, ich soll den negativen Kram nicht an mich ranlassen, die ganze negative Energie. Und dafür mag ich dich. Du bist positiv«, sagt sie und blickt ihn an. Von oben herab. »Du bist optimistisch. Und das will ich auch sein. Das heißt aber: Kein Platz für Idioten. Wer Mist baut, ist raus. Fertig.«

Er schüttelt den Kopf. Hauptsächlich, weil er nicht weiß, was er darauf antworten soll. Sie denkt, er sei positiv. Sie schmeichelt ihm … um ihn zu überrumpeln? Zu manipulieren?

Die Sonne hat sich bewegt. Der Sonnenstrahl hinter ihrem Rücken trifft jetzt sein linkes Auge. Er schließt es und ist verwirrt. Von ihrer Logik. Und weil sie sagt, sie mag ihn.

Augen auf, blinzeln, neuer Versuch:

»Machst du nie Fehler?«

Mit einer Hand schützt er sein Auge vor dem Licht.

»Doch, jede Menge, weißt du ja.«

»Aber würdest du nicht wollen, dass dir jemand verzeiht, wenn du mal richtig Mist baust?«

»Kommt auf den Mist an.«

Anstrengend. Was ist das für ein seltsames Gespräch?

»Na ja, nehmen wir an«, er sucht in Gedanken das beste unter den besten Beispielen. Er richtet sich auf und sitzt jetzt neben ihr, Schulter an Schulter. »Nehmen wir an, du leihst dir die Lieblingsohrringe deiner besten Freundin, o. k.?« Es ist eins der schlechtesten unter den schlechten Beispielen. Immerhin nickt sie erwartungsvoll.

»… und dann verlierst du sie im Schwimmbad, die Ohrringe. Nicht die Freundin.«

Sie lacht.

Nicht.

Mist.

»Auf jeden Fall … also, du willst sie vor dem Schwimmen ausziehen und dabei fallen sie dir in den Abfluss. Du weißt schon, der Abfluss, der da immer bei den Umkleidekabinen ist, auf dem Boden, wenn man seine Badehose auswringen will nach dem Schwimmen.«

»Ja …?« Aus erwartungsvoll wird zweifelnd.

»Ja, also, du hast die Ohrringe deiner besten Freundin verloren. Eine schlimme Sache, denn es sind ihre absoluten Lieblingsohrringe. Vielleicht sogar ein Erbstück. Dann würdest du doch auch nicht wollen, dass sie dich einfach aus ihrem Telefonbuch rausschmeißt … und dich aus ihrem Leben löscht?!«

Sie schaut jetzt ernsthaft irritiert.

»Wegen der Ohrringe? Warum sollte sie mich löschen wegen ein paar Ohrringen?«

»Na ja, weil … na eben! Das macht doch keiner!«

»Hä? Ohrringe verlieren ist ja auch nicht ›so richtig Mist bauen‹.«

»Nicht? O. k. Und was wäre das dann?«

Sie blinzelt. Immer mehr Lichtstrahlen schießen ins Zimmer. Die Sonne ist im Vorteil, immer in Bewegung, der Vorhang hingegen starr. Er ist ein Beschützer, aber nur auf Zeit.

»Wenn mich jemand enttäuscht. Mein Vertrauen missbraucht. Das meine ich.«

Sie beißt sich auf die Lippe.

Er beobachtet das. Sieht zu, wie die oberen Schneidezähne die untere Lippe bearbeiten.

»Und? Hast du schon mal jemanden gelöscht?«, fragt er, ohne den Blick von ihren Lippen zu lösen. Er will die Antwort sehen, wenn sie denn kommt. Licht ist schneller als Schall.

»Ja«, sieht er. Sie nickt zaghaft. Ihre Schneidezähne spielen mit der Unterlippe. »Meine beste Freundin.«

»Deine beste Freundin?« Die Frau seiner Träume hat ihre beste Freundin gelöscht?

»Was hat sie denn verbrochen?«

»Es war … ach, ist doch egal.«

»Nee, ehrlich gesagt: nicht egal«, sagt er und drückt seinen Rücken durch. Die Wirbel knacken. »Ich versuche hier zu verstehen, warum du Menschen löschst. Ich meine, vielleicht willst du ja irgendwann mich löschen? Da wüsste ich vorher schon gerne, welche Art Mist …«

»Sei einfach kein Arschloch, o. k.?«, sagt sie, eine Spur zu laut. Sie schaut ihn an.

»Kein …« Er verstummt. Durch den Schlitz am Fenster sieht er eine Wolke am Himmel. Sieht aus wie ein Schaf. Eine Klischee-Wolke, denkt er.

»O. k.«, sagt er.

»O. k.«, sagt sie und nickt, als ob ein Kapitel fertig sei. Sie lässt sich zurück ins Bett fallen. Er tut es ihr gleich.

Sie nimmt seine Hand.

Er nimmt sich vor, nie im Leben ihr Vertrauen zu missbrauchen.

Er will nicht gelöscht werden.

— — —

Er wurde gelöscht.

Unbekannter Anrufer, steht auf ihrem Display, mit Sicherheit steht das da. 28 unbeantwortete Anrufe von einer unbekannten Nummer. Krass, eben noch, vorhin, gestern Abend, da war er der Typ, mit dem sie ziellos durch Südfrankreich getingelt ist, mit dem sie Songs gegrölt hat – sogar welche von den Toten Hosen! Der Mann, mit dem sie – irgendwann, aber dann ganz dolle – Kinder großziehen würde, das hat sie gesagt! Der Mann dessen Grübchen das Sexieste waren, das sie je gesehen hat, wenn es das Wort »Sexieste« überhaupt gibt, das hat sie alles gesagt. Er war gerade eben noch der Mann ihrer Träume, verdammt. Teil eines ziemlich coolen Pärchens, unterwegs in Südfrankreich, heute Nizza, morgen Cannes, und dazwischen Sex am Strand, und jetzt, wer ist er jetzt?

Eine fucking unbekannte Nummer.

Schon wieder Wut. Wie oft war sie hier in den letzten Stunden? Die Wut kommt immer nach der Fassungslosigkeit und die Fassungslosigkeit kommt nach der Trauer. Dann wieder Wut.

Komma klar, Alder.

?

Ich mein ja nur, du bemitleidest dich schon ganz schön lange.

Ich wurde gerade abserviert, denkt er: Ich! darf! das! Und wer bist du eigentlich, fragt er sich, dass du mir sagst, was ich zu denken habe? Mein Über-Ich? Meine Mutter, oder was?

Und wenn?

Er muss raus. Aus dem Gestank. Aus allem.

Er hört Stimmen, er führt Selbstgespräche, Wahnsinn.

Es ist alles in Ordnung, sagt die Stimme, die klingt wie seine Mutter, solange du in Selbstgesprächen nichts Neues erfährst, ist alles in Ordnung.

Vor Stunden war er aus der Raststätte gekommen, mit zwei Kaffee, einem Päckchen Gauloises (Liberté toujours!) und einem fetten Grinsen.

Da war sie schon weg.

Er hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, na klar, aber als er es erzählt hatte, da fühlte er sich trotzdem besser, freier, und ja, er glaubte, sie würde es verstehen. Und sie sagte ja auch: »Ja, ich verstehe das, ich finde es nicht gut, aber ich verstehe das.« Und er dachte, wenn sie es wirklich versteht, dann ist ja alles gut, dann würde der Trip weitergehen wie bisher. Unbeschwert, intensiv, Sex am Strand. Liberté toujours.

Aber sie meinte es nicht so. Sie verstand nicht, im Gegenteil: Es brachte sie um den Verstand. Und alles, was folgte, war nicht sie, sondern ein Zerrbild ihrer selbst.

»Kaffee?«, hatte er gefragt. – »Ja«, hatte sie gesagt. – »Kippen?« – »Unbedingt.« – »Ich gehe schnell.« – »Ich warte. Beeil dich.«

Er hätte es ahnen können. Ihr letztes Lächeln war gar nicht ihr Lächeln. Es war – eigentlich wie immer – ein gemaltes Lächeln, aber diesmal nur eine Kopie. Er hätte es ahnen können, doch sein Hirn war zu sehr damit beschäftigt, glücklich zu sein.

Und dann war sie weg. Und sie würde nicht wiederkommen. Ganz kurz dachte er, hoffte er, dass alles nur ein Scherz sei, dass sie nur um die Ecke gefahren sei und ihn jetzt auslachte, wie sie es ja gerne tat, aber im Grunde wusste er die ganze Zeit: Sie hatte ihn gelöscht.

Er schwankt aus dem Klo. Wie besoffen. Wie ferngesteuert. Wie spät mag es sein? Keine Sonne. Er hat seit Stunden nichts gegessen, nichts getrunken, nicht nicht an sie gedacht. Er hat sie 28-mal angerufen und drei unschuldige Franzosen angepöbelt. Er ist wütend auf sie. Aber eigentlich ist er gar nicht wütend auf sie. Denn sie hat nur getan, was sie immer gesagt hat, das sie tun würde, wenn er ein Arschloch wäre.

Ein letztes bisschen Flüssigkeit verlässt seinen Körper. Tränendrüse rechts. Das Pärchen im 306er-Peugeot gegenüber glotzt ihn an. Er glotzt zurück. Sie schauen weg. Ich bin ihnen nicht geheuer, denkt er. Sie denken, ich bin ein Terrorist oder irre. Buhu, sagt er vor sich hin, ich bin nichts als eine unbekannte Nummer.

Und so sitzt er zum Soundtrack der Autobahn vor dem Raststättenklo in Südfrankreich, irgendwo zwischen Nizza und Cannes, und macht Franzosen Angst. Tschacka, denkt er, ein Höhepunkt in meinem ereignisreichen jungen Leben.

Und dann denkt er: Ich muss nach Hause.

Er fummelt sein Handy aus der Hosentasche. Der Akku hat noch sieben Prozent. Ein Anruf.

Zum ersten Mal seit Stunden wählt er nicht ihre Nummer.

»Ja …? Hallo?«, klingt es müde aus der Leitung.

»Hi. Ich bins.«

»Weißt du, wie spät es ist?«

»Nein. Sorry …«

»Alles in Ordnung? Du klingst so …«

»Sie hat mich gelöscht.«

Schweigen. Bettdeckengeraschel.

»Wie? Sie hat dich gelöscht? Was soll das denn heißen?«

»Sie ist abgehauen. Und sie kommt auch nicht zurück.«

»Jetzt mal langsam, sie hat dich … sitzen gelassen? Wo denn? Ich dachte, ihr seid in …«

»Kurz hinter Nizza.«

»Nizz…? Und … was machst du da? Hast du Geld?«

»Ich hab gar nichts«, sagt er.

Ich hab Durst, denkt er.

Klo. Wasserhahn. Odor.

»Ich weiß auch nicht …«

Er kneift die Augen zusammen, hält sich die freie Hand davor. Ein tränenloses Schluchzen. Sein Körper zittert. Der Rest von ihm macht nichts. Er schaut zu, wie ein Flüstern seinen Mundraum verlässt:

»Ich weiß nicht, was ich machen soll …«

Stille.

Rascheln in der Leitung.

»Schick mir die Adresse«, sagt sein bester Freund. »Ich hol dich ab.«

Vorwort

Wen würdest du anrufen?

Wer würde für dich alles stehen und liegen lassen? Sich mitten in der Nacht ins Auto schmeißen und dich rausholen, ohne Fragen zu stellen?

Wem würdest du ohne Zögern folgen? Für wen würdest du selbst durchs Feuer gehen? Ohne Gegenleistung, einfach so?

Wer weiß alles über dich?

Wem vertraust du blind?

Wir stellen uns diese Fragen zu selten. Weil keine Zeit ist: zu viel Job, Kind, Beziehung, Insta, Klimakrise, Studium, Faschos, Kletterhalle, Trump. Dabei gehts um alles. Freundschaft hält alles zusammen. Unseren Alltag. Unser Leben. In gewisser Weise unseren Staat. Steile These, ich weiß. Aber eine beweisbare.

Vor diesem Hintergrund halte ich es durchaus für angebracht, mal nachzufragen: Wie viele Freund*innen habe ich eigentlich? Wahre Freund*innen? Herzensfreund*innen? Freund*innen, die ich anrufen kann, wenn die große Liebe zerbricht? Wenn die Mutter stirbt? Oder einfach nur, weil der Tag mies ist?

Hatte ich nicht mal mehr? Und wenn ja: Wo sind die hin? Warum haben manche Menschen viele Freund*innen und andere gar keine? Und wenn ich keine habe, soll ich mir dann einen Hund kaufen?

Sind wahre Freund*innen das Gleiche wie beste Freund*innen? Ist die Busenfreundin mehr wert als die Seelenverwandte? Welche Rolle spielt der Blutsbruder? Gibts auch Blutsschwestern? Warum gibt es den väterlichen Freund, aber nicht die mütterliche Freundin?

Geschlechterfragen spielen natürlich eine Rolle beim Thema Freundschaft. Sonst müsste man Frauen- und Männerfreundschaften ja gar nicht unterscheiden. Es gibt Unterschiede, die ich benennen werde. Ob es diese Unterschiede geben sollte, steht dann wieder auf einem ganz anderen Blatt.

Und was ist eigentlich mit Social Media? Schon klar, niemand hat 1000 Freunde, auch wenn Facebook sie so nennt. Aber können Insta-Follower nicht Freund*innen werden? Helfen soziale Netzwerke beim Knüpfen von wahren, guten, schönen Kontakten? Oder sind sie der Grabträger der ursprünglichen, der romantischen, der hehren Freundschaft?

Das Thema Freundschaft ist riesengroß, weltumspannend, mit langer Historie und allgegenwärtig: Fast scheint es, die Menschheit schreibt seit immer, und immer wieder neu, Geschichten auf, die von Freund*innen handeln, von guten und besten, von gescheiterten und andauernden. Bücher, Songs, Filme – Freundschaft ist DAS Thema für uns Menschen. Und es hört nicht auf.

Während ich an diesem Buch arbeite, kommen ständig neue Werke an die Oberfläche: Rosa von Praunheim macht einen Film namens Männerfreundschaft1. Die erste große Netflix-Serie mit Michael Douglas, The Kominsky Method, handelt von der jahrzehntelangen Freundschaft zweier alternder Käuze. Tara Isabella Burton schreibt ihren Debütroman Social Creature (deutsch: So schöne Lügen, 2019) über New Yorkerinnen, die ihre Freundschaft vor allem digital ausleben. In Friedemann Karigs Romandebüt Dschungel (2019) geht es um zwei beste Freunde, die sich aus den Augen verlieren, suchen und wiederfinden. Irgendwie. Corinne Luca veröffentlicht im Oktober 2019 mit Freundinnen ein Sachbuch zum Thema. Frederik Lau und Kida Ramadan, die beiden Kultschauspieler aus 4 Blocks, haben die Geschichte ihrer Freundschaft für ein Buch aufschreiben lassen (Zusammen sind wir Könige).Beverly Hills 90210,die Teenie-Freundschaftsserie aus den 90ern, feiert 2019 ihr Comeback. Und in Deutschland läuft die 15. Staffel von Grey’s Anatomy an, die nicht zuletzt die Freundschaften der Hauptfigur Meredith in den Mittelpunkt stellt.2

Selbst diese völlig subjektive und lückenhafte Aufzählung macht klar: Wir dürsten nach Erklärungen und Erzählungen. Sie umgibt oft der Geruch des Sandkastens und der Ewigkeit, der großen Geschichten und des großen Pathos. Freundschaft ist Freiheit, Bedingungslosigkeit und absolute Hingabe gepaart mit Humor und dem guten Gefühl, sich endlich fallen lassen zu können. Es sind Geschichten, die man immer wieder neu erzählen kann und lesen will.

Es ist ja kein Zufall, dass Ernie und Bert seit 50 Jahren beste Freunde sein dürfen. Oder Asterix und Obelix. Die Freundinnen aus Sex and the City haben sich längst ins kulturelle Gedächtnis gefräst, irgendwo zwischen Tom Sawyer & Huckleberry Finn oder Winnetou & Old Shatterhand. Rachel und Monica (Friends) haben genauso ihren Platz im TV-Himmel ergattert wie J. D. und Turk (Scrubs), die Golden Girls oder Spongebob und Patrick. Merkel & Von der Leyen sind die neuen Schröder & Putin, Joko & Klaas die neuen Wum & Wendelin. (Ja, ich weiß, nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Aber mir gehts ja an dieser Stelle um die großen Linien. Da muss sich die Präzision mal ausnahmsweise hinten anstellen.)

Auch wenn im Reich der berühmten Freundschaften noch immer ein quantitatives Ungleichgewicht zugunsten männlicher Freundschaftspaare herrscht (Tausende Jahre Patriarchat haben auch hier ihre Wirkung hinterlassen), so bekommen Freundinnen inzwischen zum Glück ein ähnlich großes Stück vom Aufmerksamkeitskuchen ab wie Freunde. Luft nach oben ist dennoch allemal, wie sich später zeigen wird.

Und natürlich kläre ich die Frage, an der man einfach nicht vorbeikommt: Können Männer und Frauen miteinander befreundet sein?3 Die Frage ist ja wie ein alter Gassenhauer. Man kann sie eigentlich schon nicht mehr hören, aber wenn sie mal wieder im Radio läuft, dann singt man doch ganz gerne mit. Heute steht sie allerdings unter ganz anderen Vorzeichen als vor 30 Jahren bei Harry und Sally:

Harry: »Dir ist natürlich klar, dass wir nie Freunde sein können?!«

Sally: »Wieso nicht?«

Harry: »Was ich sagen will, und das soll keine Anmache sein, weder versteckt noch offen, Männer und Frauen können nie Freunde sein! Der Sex kommt ihnen immer wieder dazwischen.«4

Ja, sagen die friends with benefits drei Jahrzehnte später, der Sex ist uns dazwischengekommen. Und das ist auch gut so! 44 Prozent der 18- bis 24-Jährigen finden es laut Umfrage aus dem Jahr 2018 in Ordnung, Freund*innen zu haben, mit denen sie zwar keine romantischen Gefühle austauschen, aber Körperflüssigkeiten.5

Vieles hängt davon ab, was man nun ist: Freund*innen (aus Versehen in der Kiste gelandet) oder friends with benefits (bereit zum regelmäßigen Koitus) oder fuck buddies (benefit ohne viel friend). Die Frage, ob und wie Frauen und Männer befreundet sein können, ist jedenfalls etwas komplexer geworden.

Wenn Freundschaft wichtiger ist als alles, wie ich behaupte – ist sie dann auch wichtiger als Liebe? In aller Kürze: Ja. Und zwar nicht nur, weil der Verlag mich um einen catchy Buchtitel gebeten hat, sondern weil uns Liebe in einer Zeit der Haltlosigkeit nicht retten wird, die Freundschaft aber schon.

Liebe Romantiker! Stellt die Steinigung ein! Ich bin einer von euch. Und ich sage nicht nur, weil es fancy klingt, sondern weil so viel Wahrheit darin steckt: Die Liebe ist tot, es lebe die Liebe.6 Im Normalfall muss niemand, sollte niemand, darf niemand die Liebe gegen die Freundschaft ausspielen. Denn im Normalfall führen beide eine friedliche Koexistenz. Sie können sich sogar gegenseitig befruchten. Doch die universale gesellschaftliche Wirkkraft der Freundschaft, die kann die Liebe nicht erlangen. Vielleicht ist sie manchmal aufregender und irrer und intensiver und überhaupt ganz groß, aber sie ist eben nicht besonders nachhaltig.

Wie aus Freund*innen Liebes-Paare werden und umgekehrt, das wird Thema sein in diesem Buch. Und wie aus Paaren Ex-Freund*innen werden, die darüber hinaus früher mal befreundet waren und somit gleichermaßen als Ex-Ex-Freund*innen firmieren, auch darum geht es in diesem Buch. Und wenn wir über monogame Liebesbeziehungen als die gesellschaftlich anerkannteste Form des romantischen Zusammenseins sprechen, dann reden wir natürlich auch über die ungebrochen hohe Scheidungsquote und über die Frage, wie viel Zukunft die Monogamie überhaupt noch hat. Die Zukunft der Freundschaft hingegen steht außer Frage: Sie ist eine Beziehungsform, die über das Persönliche hinausgehend noch viel mehr Aufmerksamkeit verdient hat: auf gesellschaftlicher und auch auf staatlicher Ebene.

Mann, Frau, Liebe. Ehe, Stabilität – fehlt noch eine wichtige Komponente: die Verwandten, die Familie, die ganze Mischpoke. Blut ist angeblich dicker als Wasser. Und natürlich ist Familie nach wie vor ein wesentlicher Faktor für unser Zusammenleben. Die Familie hat ja sogar ein eigenes Ministerium. Die Freundschaft nicht. Die Liebe auch nicht. Die Heimat aber schon. Verwirrend.

Auch hier gilt: Familie gegen Freundschaft auszuspielen, ergibt in aller Regel keinen Sinn. Die letzten Jahrzehnte Menschheit weisen allerdings darauf hin, dass die Kernfamilie, die seit Jahrhunderten den Nukleus der Gesellschaft bildet und bis heute politisch geschützt wird, ein Auslaufmodell ist: Oma wohnt meist nicht mehr unter demselben Dach wie der Enkel. Papa und Mama bleiben nicht mehr zwingend zusammen, schon gar nicht für immer. Mama1 und Mama2 auch nicht. Und weil die Scheidungsquote seit einer ganzen Generation ungebrochen hoch ist, sind erstmals in der bundesdeutschen Geschichte auch mehr und mehr Senioren Single. Wir haben es mir einer neuen, stetig wachsenden Gesellschaftsschicht zu tun: alte Singles.

Ganz allgemein steigt die Zahl der Singlehaushalte seit Jahren. Also: mehr Patchworkfamilien, mehr Regenbogenfamilien und immer mehr Singles – der Begriff »Familie« wird sowohl dehnbarer als auch weniger eindeutig. Er ist, wie so vieles in unserer Gesellschaft: in Bewegung. Das Mama-Papa-Kind-Leitbild jedenfalls ist unter Beschuss. Es war ja ohnehin nie naturgegeben, sondern von Menschen erfunden und ist vielleicht, Jahrhunderte nach seiner Erfindung, ein Auslaufmodell.

Wenn Familie, so wie unsere Großeltern sie kannten, nicht mehr existiert, entstehen neue Unsicherheiten: Wer übernimmt die Pflege, wenn ich mal alt bin? Meine Kinder? Werde ich überhaupt Kinder haben? Und wenn nicht – pflegt mich der Staat? Der ächzt ja jetzt schon unter der Masse der Pflegebedürftigen. Und die werden mehr. Kein Wunder also, dass renommierte Soziologen wie Heinz Bude bereits jetzt von der Freundschaft als »dritte Säule der Fürsorge« – neben Staat und Familie – sprechen.

Freundschaft als Begriff geht in diesem Fall weit über die klischeebeladene Beziehung zweier Sandkastenkumpels hinaus. Freundschaft wird in diesem Sinne politisch. Sie wird zum gesellschaftlichen Element und stößt in die Lücken, die Familie und Ehe (als Institutionen der romantischen Liebe) hinterlassen. Während sie noch vor einigen Jahren auf der Couch des Lebens, die sich Liebe, Familie und Freundschaft teilen, blass auf der Lehne am Rand herumgammelte, hat sie sich inzwischen den Chefplatz auf der Wohnlandschaft erobert.7

Und genau hier setzt auch dieses Buch an. In diesem Sinne unterscheidet es sich von der bloßen Sammlung persönlicher Freundschaftsgeschichten, sondern versucht den Bogen zu schlagen zu einer gesellschaftlichen Konzeption.

Am Ende des Buchs wird klar werden, welchen besonderen Stellenwert Freundschaft nicht nur für die Beziehung zweier Menschen haben kann, sondern auch für den Erhalt unserer Demokratie. Liebe, Familie und Freundschaft sind die drei Säulen zwischenmenschlicher Beziehungen. Ich werde diese ordnen und zu einem ganz neuen Gebilde zusammenbauen.

Freundschaft ist frei zugänglich für alle, ob arm oder reich, ob belesen oder bildungsresistent, ob jung oder alt. Sie ist ein internationales, universalistisches, freiheitliches und egalitäres Konstrukt und damit hochpolitisch. Wer sich auf die Suche nach dem Kitt der Gesellschaft begibt, der kommt an der Freundschaft nicht vorbei. Freundschaft ist Heimat. Und Freundschaft ist herrlich paradox: Keine andere Beziehungsform ermöglicht ein solch hohes Maß an Freiheit (keine Regeln, keine Gesetze) und zur selben Zeit ein solch hohes Maß an tiefer emotionaler Bindung.

Ich werde versuchen, einen modernen Begriff von Freundschaft zu skizzieren und Merkmale herauszustellen, die allen Freundschaften gemein sind. Ich werde in der Schublade mit den Sozialexperimenten wühlen, bei den Psychologen vorbeischauen und bei den Soziologen, werde versuchen zu ergründen, wie das denn nun ist, mit Männern und Frauen im Jahr 2020.

Warum ich? Warum schreibt Jo Schück ein Buch über Freundschaft? Nun, wenn man sich die Freundschaften des Lebens wie Bücher in einem Regal vorstellen mag, dann hatte ich wie so viele das Glück, aus fast jeder Lebensphase einen Band mitnehmen zu dürfen – Kindergartenzeit, Schule, Studium, Mittelalterleben. Das Ergebnis: ein Regal voller Glück. Mehr oder weniger gut gepflegt, in jedem Fall: faszinierend. Also begann ich mich journalistisch für das Thema zu interessieren. Ich wollte wissen, wie und warum das funktioniert, warum es Lücken gibt im Regal, wie man sie füllen kann und ob alle Regale von allen Menschen sich gleichen? Warum haben manche Menschen viele Freunde und andere gar keine? Ich begann Gespräche zu führen mit allen, die meinen Weg kreuzten, Texte zu lesen und mich mit Experten auszutauschen. Ich stieß auf die Wucht der soziologischen Komponente von Freundschaft und das Thema wurde immer größer und ließ mich nicht mehr los.

Den Ausschlag gab dann eine ganz persönliche Erfahrung: Mein bester Freund, den ich seit 25 Jahren kenne, zog aus unserer gemeinsamen Nachbarschaft in eine andere Stadt, in ein anderes Leben – nicht mal eben so, sondern langfristig, vielleicht für immer. Ich half ihm beim Umzug und stand irgendwann auf dem Bürgersteig – mit einem alten Schlitten aus dem Keller. Die Sonne schien und im Klingelschild spiegelte sich mein Gesicht.

Dann brach ich in Tränen aus. Am helllichten Tag. Im Prenzlauer Berg. Mit einem Schlitten auf der Schulter. Und ich wusste: Scheint was Ernstes zu sein.

Am selben Abend begann ich, dieses Buch zu schreiben.

Es ist ein Sachbuch. Ein Sachbuch mit Geschichten. Denn manchen Details der Freundschaft kommt man mit purem Journalismus nicht bei. Die Fiktion füllt gewissermaßen die emotionalen Zwischenräume im Gerüst der Soziologie. Die handelnden Personen in den Geschichten hängen dabei lose zusammen. Wie genau, das wird wohl erst am Ende deutlich, ist aber auch gar nicht so wichtig. Denn jede Story, die den Sachkapiteln vorangeht, lässt sich auch einzeln und losgelöst von den anderen betrachten. Wer will, kann auch nur die Geschichten lesen. Das wäre zwar schade um die ganze Mühe, die ich mir für den journalistischen Teil gegeben habe, aber möglich wäre es. Die Storys erzählen von Schamhaaren, Fürsorge, Sex und Pathos, von Cliquen und Gesellschaft, von Männern und Frauen und diesem unsichtbaren Band, das zwei Menschen zusammenhält, ohne sie zusammenzuketten.

1Ein Film über Goethe und Schiller, in dem es natürlich (Praunheim!) auch um Homoerotik geht. Tatsächlich hat zumindest Nacktheit viel mit Freundschaft zu tun.

2Staffel 16 und 17 sind vom Sender bereits bestellt.

3Diese Frage, in dieser Formulierung, ist vor allem spannend für Heterosexuelle. Grundsätzlich ist natürlich jede Beziehung von Freund*innen gemeint, die potenziell Sex miteinander haben wollen könnten.

4Harry and Sally (1989), Regie: Rob Reiner, Drehbuch: Nora Ephron

5Repräsentative Online-Befragung von YouGov (2018): »Sexuelle Beziehungen zwischen Freunden sind völlig in Ordnung (›friends with benefits‹)?«

6So heißt auch der beste Song von KLAN.

7Das hängt auch mit dem fortschreitenden Bedeutungsverlust der Kirchen zusammen. Kirchen die, wie der Staat, seit jeher auf monogame Liebe und Kernfamilie gesetzt haben. Doch mit der Infragestellung der von Menschen erdachten Monogamie und des Vater-Mutter-Kind-Ideals geht auch ein Bedeutungsverlust dieser Institutionen einher.

»Wenn man einen Freund hat, dann braucht man sich vor nichts zu fürchten.«

(Janosch, Oh wie schön ist Panama)

Wesen und Kern

Woher kommt das Band der Freundschaft? Wie entsteht es? Und wie löst man es wieder? Wenn man sich klarmacht, wie tiefgehend und nachhaltig diese Verbindung sein kann, ohne dass es für sie offizielle Regeln gibt, geschriebene oder ungeschriebene, dann beginnt man zu staunen.

Ich versuche in diesem Kapitel, dem Wesen und Kern dieser Verbindung auf den Grund zu gehen. Woher kommt der Begriff Freundschaft? Welche Definitionen gibt es? Wie unterscheiden sich verschiedene Arten von Freundschaft?

Und weil man manchen Aspekten von Freundschaft im Konkreten am nächsten kommt, beginnt dieses Kapitel, wie alle folgenden, mit einer Geschichte, fast schon einem Klassiker:

Zwei Typen auf Abenteuerreise.

Lautertal8

»Geeignet bis 50 kg«, steht auf dem Aufkleber an dem stählernen Piano-Ständer, der gerade ungebremst durch den Lkw fliegt. Luke Skywalker und Darth Vader würfeln um das Schicksal der beiden Insassen. Die gute gegen die dunkle Seite der Macht. Leben oder Tod? Die Stahlkonstruktion schlägt mit ohrenbetäubendem Knall in der Rückwand der Fahrerkabine ein. Paul zuckt zusammen, verreißt das Lenkrad. Schon wieder.

Aber auch egal. Der Siebeneinhalbtonner reagiert nicht. Paul steht mit beiden Füßen auf der Bremse, doch sie rasen auf der vereisten Schneedecke bergab. Daniel schreit irgendetwas.

Sie sind Halbstarke. Sie gehören nicht hierher. Paul kann keinen Lkw fahren. Vader wird gewinnen.

In ihrem Rücken knallt wieder etwas. Das Schlagzeug? Die Hi-Hat? Der Bassverstärker? Es rumst und knattert, es brodelt und schlingert und bollert und knallt. Highway to hell.

— — —

»Boah«, sagt Daniel viel später, »ich mach mir gleich in die Hose.« Er lächelt schief. »Ich auch«, sagt Paul und nippt am Bier. »Viele da?«

»Alle da. Alle, die wir kennen.«

»Du darfst nicht schneller werden. Dann wird alles gut. Einfach nicht schneller werden.«

»Ich soll nicht schneller werden? Wie wäre es denn zur Abwechslung damit, dass du dir Texte merkst? Dann würde es auch nicht so auffallen, wenn ich mal schneller werde.«

»Na ja, so oft vergesse ich die Texte auch wieder nicht.«

»Beim letzten Mal haben wir jedenfalls ’ne ganze Menge Instrumentals gespielt«, sagt Daniel und grinst. Dann schwingt er die rechte Hand im Takt: »Lass mal checken: erster Song, Always there: eins, zwo, drei, vier … so?«

»Bisschen langsamer: eins, zwei, drei vier«, sagt Paul und schwingt seine Hand im Takt, nur eben langsamer.

»Alaska«, sagt Daniel und meint »alles klar«. Dann schaut er durch den Schlitz im Vorhang. »Boah, ist das die neue Freundin vom Rauschebär, oder was?«

Paul drängt sich dazu und linst nach draußen. »Keine Ahnung, nie gesehen, aber Hammer.«

»Wie macht der das immer, dieser Sack?«

»Kannst ihm ja nach deinem Solo einen Drumstick an den Kopf werfen.«

— — —

Das Ding schlägt direkt neben seiner Schläfe ein. Daniel zuckt zusammen, als hätte es ihn getroffen. Mikroständer, denkt er und schüttelt sich. Drei Sekunden später hat er den Ständer wieder vergessen, denn da draußen ist ein schwarzer Punkt und der wird groß, und zwar schnell. Zu schnell. Dabei gehört er da gar nicht hin. Eben war er noch nicht da. Dann ist er plötzlich aufgetaucht. Und jetzt geht er nicht mehr weg. Er wächst und verwandelt sich, vom Punkt zum Rechteck. Vom Rechteck zum Quader. Vom Quader zu einem schwarzen Kombi, der völlig willenlos auf die Kreuzung zurutscht.

So wie der Lkw mit den zwei Halbstarken.

Vader wird gewinnen.

»Jetzt mal ohne Scheiß«, brüllt Paul, »ich kann hier echt gar nichts machen.«

»Fuck, fuck, fuck, fuck«, zischt Daniel vom Beifahrersitz. Harte, rhythmische Fucks. Der Mann ist schließlich Schlagzeuger. Jetzt kurbelt er das Fenster runter und streckt den Kopf raus. »Achtung!«, schreit er in die Nacht. »Wir kommen!« Pause. Luftholen. »Aber wir können nicht bremsen!«

Würde Paul sich vor Todesangst nicht gerade in die Hose machen, täte er es vor Lachen. »Bahn frei, Kartoffelbrei«, geistert ihm durch den Kopf. Wie lächerlich ohnmächtig wir diesen Berg hinunterschlittern, denkt er. Auf dem Weg in die Hölle. In einem Siebeneinhalbtonner voll ungesicherter Mikrofonständer und Gitarrenverstärker. Die Kreuzung kommt näher, der schwarze Kombi ebenfalls. Es schneit. Gleich kollidieren wir, denkt Daniel. Es wird Verletzte geben. Oder schlimmer.

Unsere Eltern werden durchdrehen.

— — —

»Also, ich finde, das ist keine so gute Idee, bei dem Wetter«, hat Pauls Mutter gesagt, als sie gerade das Stagepiano auf die Ladefläche gewuchtet hatten. »Das Ding ist riesig. Darfst du den überhaupt fahren?«

»Mama«, hat Paul gesagt und mit den Augen gerollt. Dieses tausendfach geübte Augenrollen. »Ich hab einen 3er-Führerschein!« Als ob das eine Begründung für alles wäre.