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Carla Guelfenbein

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Beschreibung

Unter Sternen baden und alle Geheimnisse teilen, das verbindet die Freundinnen Morgana und Sophie im Chile des Jahres 1972. Doch als Morgana eine Affäre mit Sophies Vater beginnt, zerbricht alles. Und dann fegt der Putsch der Militärs ihr Leben hinweg – heimliche Begegnungen, eine Schwangerschaft, ein geplatzter Fluchtversuch, schließlich das Exil. Jahrzehnte später folgt Sophie einer leisen Hoffnung auf Versöhnung und versucht, das Schweigen über die Vergangenheit zu brechen. Eine Dreiecksgeschichte von betörender Sinnlichkeit und Spannung, ein Roman über die Liebe in Zeiten des politischen Umsturzes.

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Carla Guelfenbein

Nackt schwimmen

Roman

 

Aus dem Spanischen von Angelica Ammar

 

 

 

Biografie

 

 

Carla Guelfenbein wurde 1959 in Santiago de Chile geboren. In Reaktion auf das Regime Pinochets verließ sie Chile und studierte in England Biologie und Design. Heute lebt sie als Schriftstellerin und Drehbuchautorin wieder in ihrer Heimat. ›Nackt schwimmen‹ ist ihr vierter Roman, auf Deutsch erschienen sind bereits ›Die Frau unseres Lebens‹ - Buch des Jahres 2005 in Chile und weltweiter Bestseller - sowie ›Der Rest ist Schweigen‹ (S. Fischer 2010).

Für Sebastián.

Für Micaela.

Januar 1973

Karierte Verführung

Sophie trällert ein Lied vor sich hin, während sie auf den Fahrstuhl warten. Nie zuvor hat Morgana ihre Freundin so gut gelaunt und unbeschwert erlebt. Zu Diego muss sie gar nicht hinsehen, sie kann sich seine erfreute Miene vorstellen. Sie ist inzwischen so vertraut mit ihm, dass sie jede seiner Gesten deuten kann und ahnt, was in ihm vorgeht. Auch sie ist glücklich. Es ist das erste Mal, dass sie alle drei gemeinsam auf ein Fest gehen.

Morgana hat ihn schon mehrmals gefragt, ob sie sich bei einem dieser Abendeinladungen nicht unauffällig unter die Gäste mischen könnte, aber Diego hat immer abgewinkt. Er war überzeugt, dass jedem, der sie zusammen sähe, trotz des Altersunterschieds und ihrer Freundschaft mit seiner Tochter, die wahre Natur ihrer Beziehung sofort ins Auge springen müsste. Aber dieses Mal hat Sophie ihren Vater gebeten, Morgana mitnehmen zu dürfen, und er hat eingewilligt. Als Sophie ihr die Nachricht überbrachte, sie beide dürften ihn auf den Empfang im Hause eines Senators begleiten, war Morgana so aufgeregt, dass sie lieber nicht weiter nachfragte. Voller Vorfreude besuchte sie ihre Eltern und nahm heimlich zwei Kleider aus dem Schrank ihrer Mutter mit. Für Sophie ein durchsichtig grün schimmerndes mit weiten Ärmeln, das gut zu ihrer ätherischen Ausstrahlung passt. Für sie selbst ein schwarzes mit tiefem Rückenausschnitt, in dem sie wie eine erfahrene Frau wirkt. Ihre Mutter muss beide Kleider aus einer spontanen Laune heraus gekauft haben, denn eigentlich entspricht keines ihrem eher konservativ schlichten Stil.

Auf der Straße hört Sophie zu singen auf. Die Nacht webt das Wispern des Flusses, das Rauschen des Verkehrs, fernes Bellen und gedämpftes Lachen zu einem Ornament aus Geräuschen, das sie umschwebt und in Hochstimmung versetzt. Auf dem Weg zum Parkplatz, wo Diegos Fiat 600 steht, hakt Morgana sich bei beiden unter. Diego will seinen Arm wegziehen, doch sie hält ihn fest. Lorcas Gedicht von Thamár und Amnon kommt ihr in den Sinn, und sie rezitiert:

»Singend aber stand Thamar,

nackt war sie auf der Terrasse

rund um ihre Füße pickten

fünf zu Eis gefrorene Tauben.

An der Zinne stand Amnon,

schlank und starr, und sah sie an.«

»Schlank und starr wie du, Diego«, sagt Sophie. »Manchmal denke ich, wir müssten dich etwas entstarren, stimmt’s, Morgana?« Die beiden Mädchen lachen.

Diego deutet sein leicht schiefes, warmes und doch zurückhaltendes Lächeln an, bei dem man nie genau weiß, ob es erfreut, ironisch oder herablassend sein soll.

»Ihr beiden macht mich noch wahnsinnig«, sagt er und beschleunigt den Schritt. Lichter gleiten über die grauen Häuserfassaden.

* * *

Die geräumige Wohnung gehört einem Senator, den Diego sehr schätzt. Die Gäste unterhalten sich in kleinen Gruppen, mächtige Sessel, moderne Kunst und Perserteppiche verströmen Weltläufigkeit. Vor allem aber beeindrucken die riesigen Fenster, die zum Park hinausgehen, und der Blick auf die erleuchtete Madonna auf dem Hügel.

Kaum sind sie eingetreten, wird Diego von einer großen, braungebrannten Frau mit aristokratisch markanten Zügen und elegant hochgestecktem Haar ins Gespräch gezogen. Morgana und Sophie setzen sich eng nebeneinander auf ein Sofa. Sophie hält in der einen Hand ein Glas, in der anderen eine Zigarette, sie zieht daran und bläst den Rauch mit nonchalanter Geste aus, während sich die beiden verschwörerisch zuzwinkern. Sie sind sich der Aufmerksamkeit bewusst, die sie mit ihrer ungezwungenen Art auf sich ziehen, sie reden ohne Punkt und Komma, lachen auf, ohne ihre Umgebung eines Blickes zu würdigen. Trotzdem weiß Morgana, dass ihr Körper allein für Diego derart lebendig ist. Wenn ihre Augen sich treffen, lächelt er unmerklich, ehe er sich wieder seiner Gesprächspartnerin zuwendet.

Nach einer Weile entdeckt Sophie eine bekannte kolumbianische Künstlerin unter den Gästen, eine zierliche Frau mit schwarz schimmerndem Blick. Morgana ermuntert sie, zu ihr zu gehen.

Danach fühlt sie sich frei, mit ihrem Glas in der Hand ein wenig die Wohnung zu erkunden. Sie schlendert von einem Grüppchen zum nächsten, lässt sich von Gesprächswogen tragen, ohne richtig hinzuhören. Von Zeit zu Zeit versucht sie Diegos Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nicht immer mit Erfolg. Die Frau, mit der er zusammensteht, nickt und schüttelt den Kopf, lacht immer wieder auf und neigt sich ihm dabei entgegen. Ein Mann in einem auffällig eleganten weißen Leinenanzug erläutert einer gebannten Zuhörerschaft seine Theorie über die neuen Offensiven des Imperialismus. An einem Fenster unterhält sich Sophie mit der Künstlerin. Doch Morganas Aufmerksamkeit gilt allein Diego, der gerade einen Arm um die Taille der Frau gelegt hat, ihr aufmerksam die Zigarette anzündet, als seien sie sich plötzlich viel näher gekommen.

»Hallo, du bist Spanierin, stimmt’s?«, hört sie eine Stimme mit vertrauter Intonation hinter sich.

Sie dreht sich um, und vor ihr steht ein Lockenkopf mit spitzbübischem Gesicht. Er wirkt sehr jugendlich mit dem dunklen Flaum über der Oberlippe und seinem lebhaften Auftreten. Seine mit urspanischen Ausdrücken und abgemilderten Flüchen gespickten Sätze bringen sie zum Lachen, und zwischen ihnen entspinnt sich ein Gespräch, das mit dem intellektuellen Profilierungsdrang der übrigen Gäste wenig zu tun hat. Er erzählt ihr, dass er Musiker ist und mit seiner Band gerade durch Chile tourt. Angeregt springen sie von einem Thema zum nächsten, Franco, Joan Manuel Serrat, die sozialistische Regierung und vieles mehr. Trotzdem lässt Morgana das Gefühl nicht los, nicht mehr für sich allein zu existieren, sondern alles in ihr ist auf Diego ausgerichtet.

Als sie nichts mehr zu trinken haben, bietet sich der junge Mann an, Nachschub zu holen. Während er sich entfernt, hält sie erneut nach Diego Ausschau und stellt fest, dass er sie beobachtet. Vergeblich sucht sie in seinem undurchdringlichen Gesicht nach einem Hinweis, wie sie sich verhalten soll. Der Musiker kommt zurück und drückt Morgana einen Drink in die Hand, den sie in einem Zug leert. Wärme fließt durch ihre Kehle. Der Spanier umfasst ihre Taille und flüstert ihr etwas ins Ohr. Sie lacht auf, er streift mit den Lippen ihren Hals, in einer flüchtigen Geste, die ihre Sinne anstachelt. Sie könnte es widerstandslos bis zum Äußersten kommen lassen, von Diegos Blick getrieben, den sie auf sich liegen fühlt, von dem Verlangen, das ihr Flirt mit dem jungen Mann ganz offenbar in ihm wachruft und das sie nicht enttäuschen will. Weshalb sie weitermacht, sich lachend an der Hand nehmen und auf die Terrasse führen lässt. Die Sommernacht ist belebend frisch. Ans Geländer gelehnt, den dunklen Park im Rücken, küsst der Spanier sie. Als ihnen beiden die Luft ausgeht, schiebt er eine Hand in ihren Ausschnitt und drückt leicht ihre linke Brust. Sie erwidert seine Zärtlichkeit, liebkost ihn, presst sich an ihn, ist wie schlaftrunken. Sie schließt die Augen, ein leichter Schwindel ergreift sie, rückt die Wirklichkeit in noch weitere Ferne. Deshalb kommt es ihr vor, als entspränge Diegos Stimme ihrer Vorstellung, als sie ihn sagen hört:

»Wir gehen.«

Sie löst sich von dem jungen Mann, dreht sich um und begegnet Diegos starrem Blick. Seine Augen sind verhangen, betrachten sie begehrlich. Hastig und unbeholfen streicht sie ihr Kleid glatt. Sie fühlt sich verloren, wie ihrer Haut beraubt und schutzlos gleißenden Sonnenstrahlen ausgesetzt. Diego schüttelt den Kopf und zieht an seiner Zigarette, er kommt ihr plötzlich vor wie ein Wissenschaftler, der mit kühler Ironie die Ergebnisse eines Experiments abschätzt, das ihn monatelang beschäftigt hat.

Schweigend sitzt Diego am Steuer. In der Ferne heult eine Sirene, der aufgeregte Klang bohrt sich in ihre Brust. Während Sophie quirlig die großen und kleinen Ereignisse des Abends kommentiert, versucht Morgana, Diegos Blick im Rückspiegel auf sich zu ziehen. Statt der ruhigen Tiefe, in die sie sonst eintaucht, liest sie darin kalte Entschlossenheit, als geleite er jemanden ins Exil, der in seinem Reich nicht mehr erwünscht ist. Diego schaltet das Radio ein, die ersten Takte eines Lieds übertönen Sophies Worte, den warmen Fluss ihrer Stimme, in den sie sich zu flüchten versucht hat.

Wut steigt in ihr hoch. Sie denkt an die langen Nächte, in denen Diego sie begierig ausgefragt hat und ihre Antworten ihn ebenso gequält wie erregt haben, an das Verlangen, das sie in ihm weckt. So hat er es gesagt; Verlangen nicht nur nach ihrem Körper, sondern auch nach all den darin verborgenen unbekannten Erfahrungen, nach der Grenzenlosigkeit des Lebens. Und hat nicht er selbst ihr zu verstehen gegeben, dass er sie in den Armen eines anderen Mannes sehen wollte?

Doch bald verwandelt sich ihre Wut in Angst. Für ihre Liebe zu ihm hat sie sich von der Welt zurückgezogen. Nichts von dem, was ihrem Leben früher einen Sinn gegeben hat, ist noch von Bedeutung. Allein die Vorstellung, ihn zu verlieren, lähmt sie. Ohne Diegos Liebe, dessen ist sie sicher, wird sie sich einfach auflösen.

Zwei Jahre zuvor

Einsame Körper

Sophie beobachtet Morgana vom Schwimmbadrand aus. Sie würde sie gern malen. Sie würde ihren Körper an verschiedenen Stellen des Blattes auftauchen lassen und dann mit schwarzer Tinte und blauen Tupfern das dunkel oszillierende Wasser ringsum andeuten. Aber die wahre Herausforderung bestünde darin, ihren Überschwang zu erfassen, ihre geschmeidigen Bewegungen, ihre sprudelnde, unbezähmbare Energie.

Morgana taucht unter, kurz treten ihre nackten Pobacken aus dem Wasser. Die Luft ist ungewöhnlich lau und duftig für die sonst so frischen Nächte des Sommers in Santiago.

»Hast du vor, die ganze Nacht da sitzen zu bleiben? Na los, spring rein. Das Wasser ist ganz warm«, ruft Morgana ihr zu.

Sie haben sich durch eine Zaunlücke in das Schwimmbad vom Stade Français gestohlen. Morgana hatte die Idee, und Sophie bereut nicht, sich darauf eingelassen zu haben. Sie zieht ihren Rock aus und streift die blaue Bluse über den Kopf. Der weiße Schlüpfer über ihren schmalen Hüften schimmert in der Dunkelheit wie der Kopf eines Eisbären. Am linken Handgelenk trägt sie wie immer eines ihrer selbstbemalten bunten Armbänder. Sie hat Dutzende davon, sie verleihen ihr einen zigeunerhaften Charme, der mit ihrer jungenhaften Schlaksigkeit kontrastiert. Rasch zieht sie den Schlüpfer aus und verbirgt ihn unter ihrer Kleidung. Unterdessen ist Morgana wieder untergetaucht. Ihr schwarz gelocktes Haar wogt im Wasser wie Meeresalgen.

Sophie schließt die Augen, hält sich die Nase mit Daumen und Zeigefinger zu und springt mit den Füßen voraus hinein. Sie malt sich aus, wie ihr Körper am Grund des Beckens zerschellen könnte. Obwohl sie gerade erst achtzehn ist und durchaus gern lebt, denkt sie manchmal darüber nach, dass der Tod ebenso facettenreich sein könnte wie das Leben.

Morgana schwimmt ihr von der anderen Seite mit kräftigen Zügen entgegen. Als sie beinahe aufeinandertreffen, taucht Morgana unter, greift nach einem von Sophies Füßen und zieht daran. Heftig rudernd macht Sophie sich frei und drückt schnell Morganas Kopf unter Wasser.

Dann lassen sich beide auf dem Rücken treiben.

Sophie ist vor acht Monaten nach Chile zu ihrem Vater gekommen. Wenige Wochen nach ihrer Ankunft hat Morgana an der Tür geklingelt und gefragt, ob sie hereinkommen dürfe. Sie waren sich zuvor gelegentlich im Aufzug begegnet, hatten sich immer neugierig gegrüßt, sonst aber nie ein Wort gewechselt.

Das Wasser schlägt winzige Wellen zwischen ihnen, belebt ihre Haut. Alles ist in Bewegung. Ihre biegsamen Rücken, die Lichtstreifen, die der Mond aufs Wasser malt, die Birkenblätter, die silbrig in der Brise wiegen. Doch gleichzeitig hält auch alles nach und nach inne, wird ganz still.

»Anne wäre stolz auf uns, wenn sie uns jetzt sehen könnte«, sagt Morgana.

»Das Problem ist nur, dass sie zehntausend Kilometer entfernt ist und uns nicht einmal kennt«, entgegnet Sophie.

»Sie wird uns schon noch kennenlernen, du wirst sehen«, sagt Morgana mit Bestimmtheit. »Ich werde einen so brillanten Essay über ihre Gedichte schreiben, dass er den Atlantik überqueren und Anne Sexton, die größte Dichterin ihrer Generation, uns zu Füßen fallen wird.«

»Tu es folle, mignonne«, sagt Sophie mit ihrem nasalen Pariser Akzent, »ganz und gar verrückt, meine Süße. Na komm, drei Worte mit A.«

»Angular, adstringieren, adiabatisch. Jetzt mit M«, ruft Morgana zurück. Als Diplomatentochter hat Morgana in allen möglichen Städten der Welt gelebt, unter anderem in Paris, im selben Viertel, in dem Sophie von klein auf mit ihrer Mutter wohnte. Beide amüsiert der Gedanke, dass sie sich womöglich einmal auf der Straße, in der Metro oder in einer Bäckerei über den Weg gelaufen sind.

»Menetekeln, momentieren, masturbieren«, zählt Sophie auf.

»Ach, darum geht’s also. Und denkst du an jemand bestimmten?«

Sie schwimmen an den Rand, klettern nach draußen und setzen sich auf den Zementboden. Morgana bindet ihr Haar zurück und gibt den Blick auf die Architektur ihres Gesichts frei. Ihre dichten geraden Augenbrauen stoßen über der Nasenwurzel zusammen und trennen ihre spöttisch aufgeweckten Augen von der kindlich runden Stirn.

»Camilo. Er arbeitet in dem Schreibwarengeschäft, in dem ich meine Malutensilien kaufe«, antwortet Sophie.

Sie strecken sich beide rücklings auf dem Zement aus, in dem noch die Wärme des Nachmittags pulsiert. Ein hoher Mond breitet seinen Schein über den Himmel wie ein Laken.

»Wie ist er?«, fragt Morgana, den Kopf zu ihr gewandt.

»Er hat einen Knackarsch«, sagt Sophie, Morganas Sprechweise imitierend.

Das Wasser im Schwimmbad schwappt noch, als hätte ein Riese darüber gepustet. Sophie weiß nicht recht, was sie mit ihren Worten bezweckt, vielleicht will sie Morgana eifersüchtig machen. Aber es ist nicht Eifersucht, die sie in ihrem Blick liest, als sie Morgana von der Seite ansieht. Ihre Augen blitzen vielmehr voller Neugierde und Lust, sich auf ein ebenso abstraktes – weil größtenteils imaginiertes –, wie herrlich sinnliches Terrain vorzuwagen.

»Er sieht also gut aus«, sagt Morgana und lacht auf.

»Diego würde sagen, zu gut, ich solle lieber aufpassen.«

Sie lügt. Camilo sieht nicht gut aus. Er wirkt traurig, menschenscheu, manchmal fast aggressiv, als wisse er bereits, wie unbarmherzig das Schicksal mit den Menschen umspringen kann.

»Diego, Diego. Merkst du eigentlich, dass du ihn ständig erwähnst? Warum nennst du ihn überhaupt Diego und nicht Papa? Und wann lerne ich ihn endlich mal kennen?«

»Da müsstest du abends zu uns kommen, er arbeitet den ganzen Tag. Hey, du stellst ganz schön viele Fragen.«

Sie lachen. Sophie macht sich immer über Morganas Angewohnheit lustig, alles erfahren zu wollen und das meiste kurz darauf wieder zu vergessen. Sie hat manchmal das Gefühl, Morganas Gehirn lösche jeden gerade verstrichenen Moment gleich wieder aus, als müsse es den Dingen so unvoreingenommen und unverfälscht wie möglich gegenübertreten.

Die nächtliche Brise wird kühler.

»Wir sollten uns anziehen«, schlägt Sophie vor.

»Vielleicht kommt ja eine Bande Jugendlicher und findet uns hier nackt.«

»Gefällt dir der Gedanke?«

»Er würde mir nicht völlig missfallen.«

»Du bist nicht ganz richtig im Kopf«, sagt Sophie und legt die Hände auf ihre kleinen Brüste, als könnte Morganas Einfall plötzlich wahr werden. Die Wassertropfen auf dem nackten Körper ihrer Freundin glitzern im nächtlichen Schein. Morgana ist zweiundzwanzig, nur vier Jahre älter als sie selbst. Sophie sagt sich, dass man eine gute Portion Courage und Kühnheit besitzen muss, um sich mit einem solchen Körper so unbefangen zu geben.

Als sie beide angezogen sind, holt Morgana aus ihrer Tasche eine kleine Metallbox, deren Deckel ein Engel ziert. Aus den Schultern wachsen ihm Flügel, die sich bis zu seinen Füßen hinabwölben. Morgana entnimmt der Box ein Stückchen Papier, entfaltet es und bedeckt es mit Tabak und Marihuanakrümeln. Dicht über ihnen atmet der Himmel. Sophie kommt es vor, als müsse sie den Arm nur ein wenig ausstrecken, um ihn zu berühren.

Als Morgana an jenem Nachmittag ganz unverhofft in ihre Wohnung schneite, hat sie auch einen Joint gedreht und ihr erzählt, die Engelsdose sei ein Geschenk des ersten Jungen gewesen, mit dem sie geschlafen habe. Sophie hatte vorher schon einmal mit einem ihrer Kommilitonen von der Kunsthochschule einen Joint geraucht, dabei war jedoch die Mauer, die sie stets von der Welt trennt, so hoch und unüberwindbar geworden, dass sie es seitdem nicht mehr probiert hat. Bis Morgana kam.

»Ich habe ihn neulich ins Haus gehen sehen. Er sieht ziemlich gut aus«, bemerkt Morgana nach einem langen Zug.

»Wer?«

»Na dein Vater. Diego.«

»Das sagen alle.«

»Wer sind alle?«

»Die Frauen, mignonne, wer denn sonst?«

»Hört sich an, als würde dich das stören.«

»Nein, stört mich überhaupt nicht. Diego liebt Frauen, und die Frauen lieben ihn. Deshalb sind sie harmlos.«

Wenn sie bei Morgana ist, wächst die Mauer nicht höher. Morgana tanzt vor sich hin und summt heiser eine Melodie.

»Na komm schon«, sagt sie.

»Ich kann nicht.«

»Aber warum denn nicht? Was wird Anne von dir denken?«

Schüchtern bewegt Sophie ebenfalls die Hüften.

»Siehst du?«, lacht Morgana.

Natürlich kann ich, mit dir zusammen kann ich alles, mit dir hat alles einen neuen Reiz, sagt sich Sophie und bewegt die Arme im Rhythmus von Morganas Lied.

Warte auf mich

Als er den Fahrstuhl betritt, stößt Diego gegen Morganas Tasche und stolpert ein wenig, ehe er zu ihr aufsieht. Sein Haar ist sehr kurz geschnitten, vielleicht, um einen beginnenden Haarausfall zu kaschieren, seine Bewegungen sind geschmeidig und jugendlich, allerdings ist er sich dessen etwas zu sehr bewusst. Die Haut um seine Augen ist leicht gerötet und angeschwollen. Im Kinn hat er ein Grübchen, und die Stelle zwischen seinen Augenbrauen ist markant und so tief zerfurcht, als hätte jemand nach dem Meißeln das Polieren vergessen.

»Dieser Aufzug wird von Tag zu Tag langsamer, ich warte jetzt schon geschlagene zehn Minuten«, sagt er.

»Wenn mir das Warten zu dumm wird, gehe ich zu Fuß nach unten«, sagte Morgana.

»Wirklich, zwölf Stockwerke?«

»Von mir aus sind es vierzehn.«

Gegen die Rückwand gelehnt, sieht er sie an.

»Du hast recht, das würde mir auch ganz guttun.«

Er mustert sie genau, als wolle er ihre Größe und ihr Gewicht abschätzen. Dabei scheinen innere Bilder vor ihm aufzusteigen, was den Eindruck erweckt, seine Gedanken bewegten sich auf mehreren Ebenen gleichzeitig.

»Du musst Morgana sein, Sophies Freundin«, sagt er schließlich.

»Woher weißt du das?«

»Sie hat dich ziemlich genau beschrieben. Und natürlich erkenne ich deinen spanischen Akzent.«

Ihr gefällt es, für einen Moment Teil seiner Gedanken gewesen zu sein.

»Sophie hat mir auch von dir erzählt«, sagt sie.

»Ganz unglaubliche Dinge, nehme ich an«, erwidert Diego lächelnd.

Morgana hängt sich ihre Tasche um, ohne zu antworten. Diego folgt der Bewegung ihres Arms.

»Ich freue mich für Sophie, dass ihr euch kennengelernt habt. Es ist wirklich gut, dass du hier bist, Morgana.«

Zum zweiten Mal hat er ihren Namen ausgesprochen, und diesmal meint sie, seine Augen dabei aufblitzen zu sehen. Im achten Stock betritt eine bekannte Fernsehmoderatorin mit klappernden Absätzen den Aufzug. Sie gibt Diego einen Kuss auf die Wange und lässt übergangslos Worte auf ihn einprasseln, die in Morganas Ohren beklemmend nach zerspringenden Scheiben oder Feuerwerksraketen klingen. Sie fuchtelt mit den Händen in der Luft, klimpert mit ihren langen Wimpern und fährt sich mit der Zunge über die Lippen.

»Wie fandest du die Rede des Präsidenten?«, fragt Diego sie.

Die Frau wirft einen flüchtigen Blick in Morganas Richtung und antwortet mit aufreizendem Augenaufschlag.

»Er macht den Eindruck, als wolle er zu viel auf einmal tun, die Banken und Firmen verstaatlichen, die Agrarreform durchziehen. Meinst du nicht, das könnte gefährlich werden?«

»Er geht mit Bedacht vor, das kann ich dir versichern. Wenn du wüsstest, wie skandalös hoch die Armutsrate liegt, würdest du so etwas nicht sagen. Ich kann dir gern die neuesten Statistiken besorgen«, sagt Diego.

Als sich die Tür öffnet, macht Diego eine Handbewegung zum Abschied und zieht mit dem Lächeln eines Charmeurs die rechte Augenbraue hoch.

Schon früh war sich Morgana der Ausstrahlung bewusst geworden, die von ihrem Körper ausgeht. Dass er die Phantasie der Männer anregte. Anfangs empfand sie die begierigen Blicke, die über ihre Haut glitten, bedrängend wie einen Schwarm Insekten. Bis irgendwann das untere Ende ihrer Wirbelsäule von Hitzewellen erfasst wurde. Die in ihr aufwogten, sie kitzelten, elektrisierten. Es kam immer ganz unerwartet, wenn sie im Auto ihres Vaters den gleichmäßigen Kontakt mit dem Ledersitz spürte oder wenn sie die Augen schloss und sich ganz auf diesen untersten Punkt ihrer Wirbelsäule konzentrierte. Zunächst brachte sie diese Hitzewallung nicht mit der Aufmerksamkeit in Verbindung, die sie bei anderen hervorrief. Ganz für sich ging sie der seltsamen Glut weiter auf den Grund, bis sie lernte, sie nach Belieben zu entfachen und zu beherrschen, bis sie sie auf das Bild eines Mannes übertrug.

* * *

Der Besitzer der Buchhandlung, in der sie vormittags arbeitet, hat sie gebeten, etwas früher als sonst zu kommen. Während sie auf den Aufzug wartet, hört sie sein Ächzen und Rasseln, die Seile dehnen und falten sich, bringen das Rechteck weißen Lichts herbei, das seit dem Vortag Schauplatz ihrer Phantasien ist. Unterdessen denkt sie zufrieden an den Essay über Anne Sexton und Sylvia Plath in ihrer Hand. Es hat ihr Freude gemacht, ihn zu schreiben, ganz leicht fällt es ihr allerdings nicht, ihre Leidenschaft für Poesie in die Universitätsaula zu tragen. Der Mond ist keine Tür. Er ist ein Gesicht für sich, sagt sie sich, und deshalb weigert sie sich, Sylvia Plath zu sezieren wie ein Tier in einem Versuchslabor. In den Vorlesungen kommt sie sich manchmal vor wie in einem Schlachthaus. Alles, was die Sprache lebendig, stimmungsvoll, rätselhaft macht, sie im Ohr erklingen lässt, wird zerstückelt, klassifiziert und in ein aseptisches Kühlfach gelegt. Dass sie dennoch nicht aufgibt, soll vor allem demonstrieren, dass sie sich der akademischen Denkweise nicht zu beugen gedenkt. Sie ist fest entschlossen, mit den besten Noten abzuschließen.

Die Metallkabine fährt mit ihr nach unten, ohne im zwölften Stock zu halten. Kein Diego. Sie ist enttäuscht. Sie hat sich vorgestellt, ihn mit einem feinen Netz aus Blicken und Gesten – ohne plumpes Augengeklimper – zu umspinnen und sein Verlangen zu entfachen. So hat sie auch ihre Kleidung gewählt. Die perfekte Mischung aus Unschuld und Sinnlichkeit. Ganz allein im Fahrstuhl fühlt sie sich jetzt lächerlich. Sie presst ihre Tasche an den engen Strickpulli, unter dem sich ihre Brüste abzeichnen. Gern würde sie auch den pastellfarbenen Rock mit den mädchenhaften Volants kaschieren, unter dem ihre nackten Beine hervorschauen.

Unten angekommen, sieht sie zu ihrer Überraschung Diego mit dem Rücken zu ihr draußen auf der Treppe stehen. Es ist ein sonniger Märzmorgen, doch statt der schmucken Prachtstraße, die sie von ihrem Fenster im vierzehnten Stockwerk aus sieht, erstreckt sich vor ihm eine schäbige Trasse voller qualmender Busse und quietschender Autos. Als er ihre Schritte hört, dreht Diego sich um und geht lächelnd auf sie zu. Seine lange Gestalt und das etwas abgetragene Leinensakko verleihen ihm etwas von einem Abenteurer, der ferne Länder durchstreift hat. Seine Bewegungen strahlen eine unsichtbare Autorität aus, er wirkt gelassen und entschlossen wie ein Raubtier, das vom Dösen zur Lauer übergeht.

»Wie schön, dich zu sehen, ich wollte mit dir sprechen«, sagt Diego.

Er gibt ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Dabei ist es nicht die förmliche Berührung ihrer Gesichter, die Morgana aus der Fassung bringt, sondern seine Hände, die leicht über ihre streichen. Seine Gegenwart entflammt ihre Sinne.

»Sophie kommt mir irgendwie bedrückt vor. Seit Tagen war sie nicht vor der Tür. Ich habe heute eine Sitzung und werde erst spät nach Hause kommen, ich würde sie aber ungern so lange allein lassen. Denkst du, du könntest später vielleicht bei ihr vorbeischauen?«

»Aber klar, kein Problem«, sagt Morgana.

»Und ich würde mich freuen, wenn du einmal zu uns zum Abendessen kämst. Dann könnten wir uns ein wenig besser kennenlernen.«

Morgana fasst ihr langes Haar im Nacken zusammen. Sie merkt, dass Diegos Blick auf ihre Brüste fällt. Ein ihr wohlbekannter Blick, der nicht schwer zu deuten ist.

Verschwinden

Sophie hat sie zum Abendessen eingeladen. Draußen hat ein früher Herbstschauer eingesetzt, während Morgana das Gedicht abschreibt, das sie ihrer Freundin mitbringen will.

Ich gehe, ich gehe, ich gehe, aber ich bleibe,

aber ich gehe, in mir Wüste ohne Sand;

Leb wohl, Liebe, leb wohl, bis in den Tod.

Von klein auf ist sie von Land zu Land gezogen, und diese Gedichtstrophe drückt gut ihr Gefühl aus, dass ein Teil von ihr an den Orten und bei den Personen zurückgeblieben ist, die sie hinter sich gelassen hat. Der Gedanke, dass auch sie eines Tages auf dem Weg verschwinden könnte, hat ihr immer zugesetzt. Sie sucht gern solche Gedichte für Sophie heraus, die diese dann für ihre Malerei verwendet.

Diego öffnet die Tür. In seiner schwarzen Kordhose und dem blauen Hemd macht er einen gelösten Eindruck. Im Flurlicht sieht Morgana die Furchen auf seinen Wangen, die Krähenfüße in seinen Augenwinkeln, seine grau melierten Schläfen.

Die Wohnung, die sonst mit Sophies Zeichenblättern und Farben förmlich überquillt, ist jetzt aufgeräumt, und zwei große Kerzen schaffen eine stimmungsvolle Atmosphäre. Am Fenster steht eine Frau mit dichten Locken und sieht rauchend in die Regennacht. Morgana nimmt an, dass es sich um Diegos neueste Eroberung handelt, von der Sophie ihr erzählt hat. Ihr extrem schlanker Körper und die männliche Kleidung fallen sofort ins Auge. Sehr androgyn, trotz der Locken und der schmalen Goldkette am einen Handgelenk. Die Frau dreht sich um und betrachtet sie mit einem frisch aufgesurrten Lächeln.

»Hallo, ich bin Paula«, sagt sie mit kräftiger Stimme.

»Ach, entschuldigt. Paula, das ist Morgana, Morgana, das ist Paula«, holt Diego die Vorstellung nach und hebt mit flüchtigem Bedauern die Hände.

Diegos Körperhaltung, die lockeren Schultern über dem schmal zulaufenden Rücken, deuten auf jemanden hin, der nichts zu verbergen hat, der zufrieden über seine Erscheinung und mit sich selbst im Reinen ist. Sie stellt sich Diego nackt vor. Bestimmt gehört er zu den Männern, für die Nacktheit etwas Selbstverständliches ist.

Als sie am Tisch sitzen, fragt Diego Morgana mit interessierter Miene über ihr Leben aus. Die kleinsten Einzelheiten möchte er wissen. Gleichzeitig lässt er Sophie nicht aus den Augen, als versuche er, an jedem Aufglänzen ihrer Augen ihr Wohlbefinden zu ermessen.

Ein Blitz zuckt in den Fenstern auf, so hell, als wäre er wenige Meter entfernt eingeschlagen. Für einen Moment überdeckt sein grelles Licht die Farben des Raums. Die kurz erleuchtete Stadt blinzelt einmal auf, ehe sie wieder ins Dunkel taucht.

»In Paris haben wir nur sechs Straßen voneinander entfernt gewohnt, ist das nicht unglaublich, Diego?«, bemerkt Sophie.

»Wir hätten damals schon Freundinnen sein können!«

»Du hättest mich gar nicht bemerkt«, sagt Sophie. »Ich war krank.«

Ein dunkles Schweigen stellt sich ein, das Diego rasch wieder fortredet.

Im Flur klingelt das Telefon, Sophie steht auf. Morgana merkt, dass Diegos Blick ihr angespannt folgt. Gleich darauf ist Sophie zurück.

»Schon wieder?«, fragt er.

»Ja.«

»Wie oft haben sie heute angerufen?«

»Das war das dritte Mal.«

»Stimmt was nicht?«, fragt Paula.

»Nichts weiter. Ein anonymer Anrufer, der immer gleich auflegt.«

»Wie lange schon?«, fragt Paula ernst.

»Etwa drei Wochen, oder, Diego?«, antwortet Sophie.

»Ach, das ist irgendwer, der sich langweilt und nichts Besseres zu tun hat«, fährt Diego dazwischen und wirft Paula einen scharfen Blick zu, der unzweifelhaft klarstellt, dass er das Thema für beendet erklärt.

Beim Kaffee erwähnt Sophie die Gedichte von Miguel Hernández, dem Diego und Morgana die gleiche Verehrung entgegenbringen. Sie sprechen über die Briefe, die Hernández aus dem Gefängnis an seine Frau Josefina schrieb, voller Angst, sie nie wieder in die Arme schließen zu können. Von Zeit zu Zeit zitiert Diego eines seiner Gedichte und errötet dabei leicht, als schäme er sich dafür, diese Worte nur so dahinzusagen.

»Er ahnte seinen Tod voraus«, sagt Paula.

Diego sieht sie an. Sein Blick ist schwer zu deuten.

»Vor wem hast du Angst, Diego?«, fragt sie unvermittelt.

Diego schweigt weiter, und an seiner Stelle antwortet Sophie.

»Zu verschwinden«, sagt sie lachend. »Keine Spur zu hinterlassen, dass wir alle ihn vergessen, dass eines Tages Außerirdische ihn holen kommen.«

Morgana läuft ein Schauder über den Rücken. Sie denkt an das Gedicht, das sie Sophie mitgebracht hat. Sie blickt in Diegos Augen, deren Iris von goldenen, rätselhaften Sprenkeln umgeben ist.

»Ich auch«, sagt Morgana, ihr Kinn und die festen Brüste nach oben gereckt.

Diego sieht sie lächelnd an. Noch nie hat Morgana ein Lächeln wie seines gesehen, das trotz seiner selbstzufriedenen, leicht arroganten Überlegenheit den anderen nicht auf Distanz hält, sondern ins Vertrauen ziehen will. Morgana sagt sich, dass sie es in ihren Katalog der unterschiedlichen Lächelarten aufnehmen muss. »Verschwinden, verschwinden, verschwinden«, murmelt Sophie vor sich hin. Im Schein der Innenbeleuchtung schimmern die Regenfäden im Fenster golden. »Das lasse ich nicht zu«, erklärt sie schließlich. So zerbrechlich ihr schüchternes Lächeln sie auch wirken lässt, hat ihr Blick doch etwas Unbezwingbares. »Das wird nicht geschehen. Im Ernst, ich schwöre es. Vertraut mir.«

»Das tun wir, Liebes.«

»Ganz bestimmt«, pflichtet Morgana ihm bei.

La Rue du Dragon

Verschwindensichverflüchtigenerlöschenentweichenunsichtbarwerden. Rings um die Worte lässt Sophie grüne Farbe tropfen, Kleckse, die das Flüchtige in einer verborgen konkreten Form einfangen wie ein Haiku. Mit der voranschreitenden Nacht hört man nur noch selten das Rumpeln des Aufzugs. Sie sehnt das Geräusch von Diegos Schlüsseln in der Tür herbei.

Sie denkt an Diegos unverhoffte Besuche in Paris während ihrer Kindheit. Er nahm sich ein Hotelzimmer, und am nächsten Morgen rief er sie an. »Sophie, mein Schatz, ich bin da.« Er sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, als hätten sie sich nicht zuletzt vor sechs, acht oder zehn Monaten gesehen. Fiel seine Ankunft in die Ferien, fuhren sie in seinem Renault an die Côte d’Azur oder nach La Coruña, wo er viele Freunde hatte. Am schönsten war es aber, wenn er sie in irgendein fernes Land mitnahm, wo er einen seiner zahlreichen Vorträge halten musste.

Es ist Viertel nach zwei Uhr morgens, und sie ahnt, dass der Schlaf sich wieder einmal nicht einstellen wird. Wenigstens hat es heute keine anonymen Anrufe gegeben. Ihre Mutter Monique war immer bei ihr sitzen geblieben, bis sie eingeschlafen war. In ihre kleine Wohnung in der Rue du Dragon waren die Straßenlichter und der nächtliche Tumult bis ins Morgengrauen durch die Fenster gedrungen. Und wenn sie dachte, Sophie sei eingeschlafen, begann ihre Mutter oft, Selbstgespräche zu führen. Sie grübelte über Probleme bei der Zeitung, für die sie arbeitete, probte Interviews, vor allem aber verfluchte sie Diego. Sie hatte ihn wegen seiner etlichen Seitensprünge verlassen, und während ihrer schlaflosen Nächte stiegen ein ums andere Mal wütende Erinnerungen an ihn hoch. Sie hatten sich in Chile kennengelernt, als sie eine Auszeit von ihrem Journalistikstudium genommen hatte und ein Jahr durch Lateinamerika gereist war. Chile war die letzte Station gewesen. Sie trafen bei einer Studentenversammlung aufeinander, und Monique war beeindruckt von der Überzeugung, mit der Diego seine Ideen vertrat, von der direkten Art, mit der er sie ansah und ihr wenige Tage später erklärte, wie magisch sie auf ihn wirke. Wenig später zogen sie zusammen. Sophie kam während einer Uni-Besetzung auf die Welt. Als sich die ersten Anzeichen der Revolte vom Mai achtundsechzig bemerkbar machten, beschlossen sie, nach Paris zu gehen. Und dort fing Diegos Unruhe an, nistete sich die Traurigkeit in ihm ein wie eine Kolonie von Mikroben, versuchte er seine Unzufriedenheit mit der Wärme immer neuer Körper zu verdrängen.

Als Allende zum Präsidenten gewählt wurde, schrieb Diego ihm einen langen Brief, in dem er ihm seine Vorstellungen darlegte. Er lebte damals zwischen Madrid und Paris. Jahre zuvor hatte er, noch als junger Heißsporn, Allende persönlich kennengelernt, und von da an war ihr Respekt füreinander bei jeder ihrer Begegnungen gewachsen. Diego hatte während des Prager Frühlings auf Seiten Dubčeks gestanden und dessen Absicht verteidigt, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu schaffen. Er hatte miterlebt, wie die Russen und Truppen des Warschauer Pakts in Prag einmarschierten und die Panzer unbewaffnete Studenten ins Visier nahmen. Seine kritische Haltung, sein Studium der Politikwissenschaften an der Sorbonne, seine Erfahrung und Begeisterung, die der gehörigen Portion Skepsis nicht entbehrten, machten ihn interessant für Allende. »Kommen Sie her«, lautete daher die postwendende Antwort.

Zwei Monate nach seiner Rückkehr rief er sie in Paris an: »Meine kleine Sophie, willst du zu mir nach Chile kommen?« Ihre Mutter wollte sie nicht gehen lassen, verwies auf die absolute Unfähigkeit ihres Vaters, die Stabilität zu gewährleisten, die sie brauchte. Aber alle Argumente waren zwecklos, Sophie hatte beschlossen, endlich erwachsen zu werden, der Welt und sich selbst zu beweisen, dass sie alles überwunden hatte. Doch als sie ins Land ihres Vaters kam – in dem sie selbst bis dahin nie gelebt hatte –, musste sie feststellen, dass ein Ort nur dann existiert, wenn man dort Spuren findet, in denen man sich wiedererkennt, die eine Verbindung zu den übrigen Menschen schaffen. Die Stadt, in die Diego sie geholt hatte, erschloss sich ihr nicht. Manchmal wurde das Gefühl des Fremdseins so groß, dass sie nach draußen ging und kurz vor einem herannahenden Bus die Straße überquerte. Der Asphalt bebte unter ihren Schritten, der Motorenlärm betäubte sie, und für eine Sekunde flatterte ihr Rock zwischen Licht und Nichts. Bis Morgana kam.

Ohne lange nachzudenken, wählt sie ihre Nummer.

»Hallo?«, hört sie Morganas schläfrige Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Ich bin’s, Sophie.«

»Ist was passiert?«

»Nein.«

»Bist du zu Hause?«

»Ja.«

»Schon gut, ich komme«, sagt Morgana ohne zu zögern.

Wenige Minuten später ist Morgana da. In einem knielangen himmelblauen Nachthemd. Ihre gebräunten Füße mit den langen Zehen sind nackt.

»Kannst du nicht schlafen?«

Sophie schüttelt den Kopf, ohne sie anzusehen.

»Ist Diego bei Paula?«

»Bei Paula, bei Cristina, bei Andrea oder bei Oma Duck, keine Ahnung.«

Sie lachen.

»Komm, lass uns schlafen gehen. Schau mich nicht so an, meine Kleine. Ich muss morgen früh aufstehen, um vor der Arbeit noch zu lernen.«

Sie legen sich hin, Sophie dreht sich zur Wand. Morgana umschlingt sie mit den Armen, ihre kalten Füße schieben sich ineinander. Morganas warme Brüste heben und senken sich gegen ihren Rücken. Ihre Umarmung umhüllt sie wie eine Welle.

Was nicht hätte geschehen sollen

Als Diego erfuhr, dass Morgana von einer spanischen Insel stammte, schlug er ihnen einen Ausflug an den Strand vor. Seit Wochen hat er es versprochen, aber immer ist etwas dazwischen gekommen. Doch jetzt liegen sie wirklich am Strand. Von Zeit zu Zeit blickt Morgana zu Diego. Er liegt ein paar Meter von ihnen entfernt und ist so versunken in seine Lektüre, dass er nichts um sich herum wahrnimmt. Sophie malt an einem Bild, das auf ihren Knien liegt. Es ist ein warmer Wintertag, die Wellen schlagen ans Ufer, öffnen und brechen sich unschuldig zu dem dumpfen Grollen des Ozeans. Morgana hat im Meer Schwimmen gelernt, dort hat sie entdeckt, wie leicht ihr Körper sein kann, welch wohlige Schauer es ihr verursacht, durchs Wasser zu gleiten.

»Was haltet ihr von einem kleinen Spaziergang?«, fragt Diego.

Sie blicken zu ihm und lachen auf. Diegos kurzes Haar ist vom Liegen ganz zerzaust und voller Sand, er sieht aus wie ein Herumtreiber oder ein Verrückter, der jeden Moment die Kontrolle verlieren kann.

»Erst mal musst du deinen Kopf in Ordnung bringen«, sagt Sophie scherzend.

Diego steht auf und streicht sich mit beiden Händen fest durchs Haar.