Nagasaki - Klaus Scherer - E-Book

Nagasaki E-Book

Klaus Scherer

4,7

Beschreibung

Im August 1945 detonierten über Hiroshima und Nagasaki die beiden einzigen Atombomben der Kriegsgeschichte. Die erste, so hieß es damals, habe Japan beeindruckt, doch erst die zweite ließ es kapitulieren. Beide Bomben seien nötig gewesen, um den Zweiten Weltkrieg zu beenden. Doch waren sie wirklich entscheidend? Klaus Scherers Zweifel an dieser Darstellung begannen mit der Frage nach dem Sinn des Massakers von Nagasaki. Gestützt auf neue historische Forschung, Filmdokumente und ergreifende Interviews mit Zeitzeugen zeichnet er ein anderes Bild: das eines kalkulierten, vermeidbaren Verbrechens. Von Beginn an ging es darum, die Bomben zu testen. Japan, militärisch längst geschlagen, lieferte dazu die Gelegenheit.

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Seitenzahl: 288

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Hanser Berlin E-Book

KLAUS SCHERER

NAGASAKI

Der Mythos der

entscheidenden Bombe

Hanser Berlin

ISBN 978-3-446-25023-9

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2015

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung zweier Bilder von National Archives und Records Administration

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALT

Einleitung: Menschengeschichte

I. TAUMELNDES JAPAN

Vielfache Tragik: Annäherung an Nagasaki

Kriegskinder: Alltag im Erdloch

Tokios Optionen: Endkampf oder Ausweg?

II. AMERIKAS DOPPELSPIEL

Newcomer Truman: Rache für Pearl Harbor

Los Alamos: Basteln an der Wunderwaffe

Verpasste Chancen: Die Potsdam-Konferenz

III. DIE VERMEIDBARE TRAGÖDIE

Hiroshima: Welt aus den Fugen

Zeitzeuge Barney: Irrflug zum Ersatzziel

Die Hölle der Opfer: »Tötet mich!«

IV. DAS MÄRCHEN VOM »FINAL BLOW«

Endkämpfe: Die mühsame Wende

Gegenthesen: Wahre Wirkung, unwahre Ursache

Stalins Nebelkerzen: Der unsichtbare Dritte

V. DER GUTE KRIEG

Die Kapitulation: Signaturen und Sichtweisen

Historiker gegen Verklärung: Das Gewissen der Nachwelt

Der Nutzen: Angenehmer für alle

VI. DER CHOR DER LEBENDEN

Mutter in Asche: Das Schweigen von Frau Ryu

Das Trauma danach: Befunde des Schreckens

Bilanz der Befragten: Von Schuld und Verantwortung

Mythos Bombe: Ende einer Ausrede

Dank

Bildnachweis

EINLEITUNG

MENSCHENGESCHICHTE

Auf Landkarten erscheint Tinian, wenn überhaupt, meist nur als Punkt. Die Pazifikinsel, die zu den Nördlichen Marianen zählt, ist am Ende des Zweiten Weltkrieges die Basis der US-Langstreckenbomber. In diese weltabgewandten Weiten des Ozeans kehrt am 9. August, drei Tage nach der ersten Atomexplosion der Kriegsgeschichte, die über 100.000 Bewohner Hiroshimas das Leben gekostet hat, auch die Besatzung der zweiten Mission zurück. Hinter ihr liegen 17 Flugstunden. »Unser eigentliches Ziel konnten wir in drei Anläufen nicht orten«, gibt Pilot Charles Sweeney zu Protokoll. »Deshalb berieten wir uns und entschieden, das Ersatzziel anzusteuern.« Das war Nagasaki. Der wissenschaftlich Verantwortliche an Bord pries die Crew. »Sie leistete hervorragende Arbeit. Wir waren alle erleichtert, als wir unter uns den Blitz sahen. Wir hatten dem Feind die zweite Atombombe geliefert.«

Siebzig Jahre lang blieb das die Perspektive, aus der Amerika, wenn nicht die ganze Welt, auf diese Bomben blickte: Wie aus dem Flugzeugfenster, auf einen immer höher aufquellenden Wolkenpilz, faszinierend im Detail, wenn auch schrecklich für jene dort unten, im alles vernichtenden Radius von Gluthitze und Druckwelle. Allein schon weil es keine anderen Aufnahmen gab, blieb das Bild der Bombe die Draufsicht. Die Ansicht aus der Distanz.

Auch die opportune Deutung dazu hatte die US-Propaganda bald mitgeliefert. »Japan war bereit, einen endlosen Krieg zu führen«, hieß es in bildgewaltigen Rückblicken der Wochenschau am ersten Jahrestag des »Victory Day« – bis Amerikas erster Schlag das Industriezentrum Hiroshima ausgelöscht habe. Die »Japse« habe das beeindruckt, doch noch immer hätten sie nicht aufgegeben. Drei Tage später sei deshalb die zweite Bombe gefolgt. »Das war der finale Schlag«, lernte die Nachwelt. »Sie kapitulierten.«

Dabei war das schon der geschönte Rückblick. Unmittelbar nach Kriegsende, also ein Jahr zuvor, hatte die gleiche Wochenschau noch eine ganz andere Wahrheit verbreitet. Japans Städte seien dem Erdboden gleich, die Streitkräfte aufgerieben, die Industrien zerstört, und das »schon lange bevor« die Atombomben gefallen seien, lautete da der Kommentar zu den ersten Bildern, die Militärfotografen gerade aus dem unterlegenen Land lieferten.

Wie konnte sich die offizielle Wahrnehmung des Kriegsendes derart umkehren? Warum wurde den Atombomben im Allgemeinen und der Nagasaki-Bombe im Besonderen binnen eines Jahres eine so alleinentscheidende Wirkung zugeschrieben, obwohl die Erkenntnisse unmittelbar nach Kriegsende eher gegenteilig waren? Das ist eine der Fragen, denen dieses Buch nachgeht.

Allein in der Hölle

Sweeney und seine übermüdete Besatzung gingen nach ihrer Rückkehr rasch zu Bett. Es gab weder Orden noch eine Zeremonie wie für die Hiroshima-Mannschaft. In Wahrheit blieb Nagasaki immer zweitrangig. »Die erste Bombe war nun mal die erste Bombe, es war wie die Goldmedaille«, sagt mir der US-Historiker Martin Sherwin, der sich so intensiv mit der Geschichte der Atombombe befasst hat wie kein anderer. »Und die zweite war nur die zweite, die zudem noch von Pannen überschattet war.«

Kaum einer fragte nach, warum diese Bombe tatsächlich noch fiel. Und kaum einer suchte nach der zweiten Perspektive, dem Blick von unten, dem Schock der Opfer. Verklärung lag näher. »Es sollte unser guter Krieg bleiben«, erklärt mir Sherwin. »Wir hatten erfolgreich gegen den Faschismus in Europa und gegen den Militarismus in Fernost gekämpft. Amerika hätte nicht ertragen, das alles am Ende noch negativ einzufärben.«

Das Städtchen Los Alamos im US-Bundesstaat New Mexico, wo Physiker und Militärs im Geheimauftrag die Atombomben bauten, rühmt sich denn auch bis heute als Ort, »der Entdeckungen macht«. Wie ein technisches Versuchsresultat zeigt ein Wandfoto in der Gedenkstätte das verwüstete Stück Erde, das einmal Hiroshima war. Kein einziges Bombenopfer ist dort zu sehen. Kein Kind, das traumatisiert überlebte, erzählt seine Geschichte. Und kein Foto zeigt Nagasaki. Stattdessen hält der Eingangsshop Ohrschmuck in der Form beider Bomben bereit. Eine Menschheitskatastrophe, verniedlicht zu perfidem Klimbim.

Dabei gibt es die Kinder von damals noch. »Das Flugzeug war kaum zu sehen«, schildern sie uns, als sei alles nur ein paar Tage her. »Keine formierte Jägerstaffel wie sonst, kein bedrohlicher Lärm. Die Flugabwehr hatte sogar den Luftalarm aufgehoben, weil die letzten Jagdflieger längst weg waren.« Sakue Shimohira heißt eine der Überlebenden, die beim Erzählen bis heute nur mühsam die Tränen zurückhält. »Viele krochen schon wieder aus dem Schutzbunker«, sagt sie. »Erst als sie dieser fürchterliche Blitz blendete, ahnten sie, dass es eine Bombe war.«

Zehn Jahre war sie damals alt. Nun sitzt sie mir im schattigen Museumshof in Nagasaki gegenüber, achtzigjährig und zeitlebens krank. Leiser Wind weht durch Bambusbüschel. Ein sonnenwarmer Tag. Es war der Ort ihrer Wahl, auch wenn ihr jeder Schritt hierher schwerfiel. Aber sie hat immer kämpfen müssen. Und es scheint, als blicke aus diesen alten, friedvollen Gesichtszügen noch immer das Mädchen Sakue.

Was es erlebt hat, als Sweeneys Besatzung den Blick auf den wachsenden Atompilz genoss, ist unfassbar. Seit Jahrzehnten höre ich als Reporter Menschen zu. Nie hat mich eine Kindheitsgeschichte mehr aufgewühlt als die Sakues. Noch als ich später der Abschrift erste Randnotizen hinzufügen will, lege ich bald den Stift aus der Hand und lese sie kopfschüttelnd und mit feuchten Augen zu Ende.

Es gab zuletzt Erfolgsromane, die mit solchen Szenarien begannen. Düstere, apokalyptische Plots von einsam umherirrenden Helden auf einem zerstörten Planeten. Von Vater und Sohn, die sich ohne jede Aussicht auf Rettung durch die Asche amerikanischer Großstadtruinen schlugen. Auf die Idee, dass Menschen eine solche Hölle tatsächlich erlebt haben, bin ich nie gekommen. Sakue hat sie durchlitten. Und an ihrer Seite war lange nur ihre kleinere Schwester.

»Ich war damals in der vierten Klasse, die Schule hatte man wegen des Krieges schon geschlossen«, erzählt sie uns. »Der nächste Bunkereingang lag am Fuß eines Berges. Hörten wir den Alarm, eilten wir hinein. Gab es Entwarnung, gingen wir wieder hinaus. Meist suchten wir in der Umgebung nach halbwegs essbaren Kräutern, denn der Krieg ließ uns hungern. Das war unser Alltag.«

Am Tag, als die Atombombe fiel, blieb sie mit ihrer jüngeren Schwester länger als die anderen im Schutzraum. Das rettete ihr das Leben. Doch es blieb eines, das nur noch von Tod und Sterben umgeben war. Schon in der Angst und Enge des Bunkeralltags seien Müttern ihre Babys weggestorben, erinnert sie sich. Dann, nach Blitz und Schockwelle, tasteten sich erste Brandopfer herein, um Wasser bettelnd oder gar um den Gnadentod. Und draußen wartete nichts außer den verkohlten Resten einer Stadt, die Tausende Grad Hitze hinterlassen hatten – einschließlich der Gerippe der Nachbarn, die zu Staub zerfielen, sobald man sie berührte.

Auch Michiaki Ikeda überlebte durch Zufall. »Ich war sechs Jahre alt«, erzählt er uns. »Auf dem Dach des Krankenhauses, wo meine Mutter arbeitete, hatte ich nach dem Ende des Luftalarms mit meinem Freund nach Bombensplittern gesucht. Wir hatten gewettet, wer von uns beiden die größeren Metallteile fände. Wir nahmen den Aufzug nach unten, doch als sich die Tür öffnete, war es plötzlich so hell, dass ich ohnmächtig wurde.« Als der Brandgeruch ihn aufweckt, glaubt der Junge zunächst, er sei erblindet, denn um ihn her ist es finster. Doch er ist nur geblendet. Das Gebäude liegt in Trümmern. Entstellte Tote überall. Das ist es, was Michiaki sieht, als sein Augenlicht wiederkehrt. »Diejenigen, die noch lebten, flohen wie Geister in Richtung der Berge. Die Arme hielten sie vor Schmerzen von sich gestreckt. Vom ganzen Körper hingen ihnen wie verbrannte Tücher die Hautfetzen herab.«

Rütteln am Rückblick

Warum, frage ich mich zunächst, soll ich das aufschreiben? Siebzig Jahre nach dem Schrecken, den die Atombombe über die Menschheit brachte. Ein Schrecken, der immerhin verhindert hat, dass weitere davon auf Kriegsziele fielen. Wer soll es lesen, in Zeiten, da täglich zeitgemäßere Gräueltaten unsere Nachrichten füllen?

Tatsächlich gibt es mehrere Antworten. Schon der Respekt vor den Opfern, dass wir ihre ganze Geschichte kennen. Die Letzten der Überlebenden sind nunmehr in einem Alter, das nicht mehr viele Gespräche mit ihnen zulässt. Ein kleiner Kreis von ihnen trifft sich gelegentlich noch in Nagasakis Museum, um zu beratschlagen, wer wohl nach ihnen noch die Erinnerung wachhalten könne. Eine Antwort fanden sie bisher nicht.

Es waren vor allem die Details ihrer Schilderungen, die mich schockierten. Dass es die Bomben und ihre Opfer gab, die Jahreszahlen und die verschobenen Grenzverläufe, all das lernten wir in den Geschichtsstunden unserer eigenen Schulzeit. Wie sich jedoch Tod und Überleben unter dem Atomblitz anfühlten, lernten wir nicht, obwohl erst das Geschichte begreifbar macht.

Je weiter man sich indes auf Details einlässt, die Historiker über das Kriegsende im Pazifik noch immer zutage fördern, desto mehr drängt sich ein zweiter Grund für das Buch auf. Bis heute wurde Generationen von Schulabgängern vermittelt, es sei zuallererst die Atombombe gewesen, die den Weltkrieg beendet habe – um so beiden Ländern eine noch größere Zahl von Opfern zu ersparen, die ein Endkampf um Japan unweigerlich gefordert hätte. Diese Sichtweise half der Nachwelt, den Schrecken zu rechtfertigen. Nach dem Jubel in Amerikas Städten über Tokios offenbar prompte Kapitulation schien das auch den meisten Geschichtsschreibern schlüssig. Heutige Historiker jedoch, die den Aktenbestand aller beteiligten Kriegsgegner – also auch Russlands – ausgewertet haben, bestreiten dies entschieden. Die Fixierung auf die Atombombe habe den Blick auf den sowjetischen Anteil am Ende des Pazifikkrieges verstellt.

Von einer Huldigung der Sowjets als Friedensstifter sind sie dennoch weit entfernt. Denn ebendiese Rolle habe Moskau bewusst vermieden. Wenn heute im russischen Parlament manche fordern, dass Amerika sich für die Atombomben entschuldigen müsse, dann müsste ihr Land dies ebenso tun – denn es hatte die Amerikaner eher zu deren Einsatz ermuntert und die Japaner vorsätzlich getäuscht.

Auseinandersetzungen um die Bomben hat es immer wieder gegeben. Frühe Revisionisten verurteilten die Abwürfe. Sogar führende US-Militärs formulierten Zweifel an ihrer Notwendigkeit. »Von fast allen Generälen und Admirälen, die im Zweiten Weltkrieg ihren fünften Stern erhielten, ist aktenkundig, dass der Abwurf der Atombomben militärisch unnötig und moralisch nicht vertretbar war«, sagt uns der US-Historiker Peter Kuznick an der Washingtoner American University. Doch in der Öffentlichkeit sollte sich diese Erkenntnis nie durchsetzen.

Zuletzt wurde, vor allem dank Kuznick, über eine Ausstellung des Hiroshima-Bombers in Washington gestritten. Zudem rüttelte das Buch Racing the Enemy des Japaners Tsuyoshi Hasegawa, das auf Deutsch noch immer nicht vorliegt, an der etablierten Wahrnehmung des Kriegsendes. Hasegawa, ein wissenschaftlicher Weltbürger, der sowohl an amerikanischen als auch an japanischen Universitäten lehrt und brillantes Englisch spricht, beschreibt darin den Wettlauf zwischen US-Präsident Harry Truman und Sowjetführer Josef Stalin um den Sieg im Pazifik und den strategischen Einfluss in Fernost. Wir haben den Historiker an einem Wochenende in Tokio zum ausführlichen Interview getroffen. Seiner Detailkenntnis verdankt dieses Buch viel.

Martin Sherwin, der für seine umfassende Oppenheimer-Biographie den Pulitzer-Preis erhalten hat und derzeit an der George Mason University nahe Washington lehrt, befragte ich mehrmals. Am Ende unseres letzten Gesprächs geriet sein Schlusswort fast zur Lebensbilanz. »Seit nunmehr fünfzig Jahren forsche ich über die Hintergründe der Bombenabwürfe«, sagte er. »Zuerst fand ich noch, für Hiroshima ließen sich Gründe anführen, aber die zweite Bombe war eindeutig überflüssig. Je mehr Material jedoch in den Archiven zugänglich wurde, desto klarer wurde mir, wie unnötig beide Abwürfe waren.«

Zu einem ähnlichen Fazit kommen auch der US-Friedensforscher Ward Wilson in New Jersey und sein japanischer Kollege Akira Kimura, mit dem ich nach den Zeitzeugeninterviews in Nagasaki sprach. Allein die zeitliche Nähe zwischen den Bombenabwürfen und der Kapitulation rechtfertige nicht, die Atombomben als Ursache zu verklären, sagen beide. Bombardements, die ganze Städte auslöschten, habe Japans Führung schon zuvor hingenommen. Und Hardliner innerhalb der Armee, die sich die Niederlage nicht eingestanden, habe es auch danach noch gegeben. Doch obwohl der Regierung in Tokio klar gewesen sei, wie tief ihr Land längst am Boden lag, habe sie die Signale, dass sie zum Kriegsende bereit sei, ausschließlich nach Moskau gesandt – in der naiven Hoffnung, Stalin könne als unbeteiligter Dritter einen Frieden vermitteln.

Japan als Testfeld

Viel mehr als die Atombomben löste den Historikern zufolge denn auch Stalins unerwarteter Kriegseintritt – trotz eines gültigen Neutralitätspaktes – das entscheidende Umdenken bei Kaiser und Kabinett in Tokio aus. Tatsächlich hatte Stalin die Japaner stets im Glauben gelassen, er würde neutral bleiben, denn nach dem Sieg über Hitler-Deutschland brauchte er Zeit, um seine Truppen nach Asien zu verlegen. »Lasst uns Japan im Schlaf wiegen«, lautete seine Losung, bis seine Truppen am 8. August begannen, die japanischen Linien in der Mandschurei zu überrennen.

Washington fürchtete unterdessen die Sowjets als konkurrierende Siegermacht im Pazifik, wenngleich mit Stalin vereinbart war, er werde auch gegen Japan den Endkampf mitführen, sollte dieser über den Sommer hinaus andauern. Doch dann erhielt Truman die Nachricht, dass Amerikas neue Waffe bald einsatzbereit sei. Sollte also die Bombe, so fragen die Historiker, statt des Triumphs über Japan eher den Sieg im Wettlauf gegen Stalin sichern? Und zögerte Truman gar seinerseits das Kriegsende hinaus, um ihre Schlagkraft im Schlachtfeld wenigstens einmal testen zu können?

Als Stalin von Hiroshimas Bombardement erfuhr, sah er sich als Verlierer des Rennens, denn er ging davon aus, dass Japan kapituliere. Frustriert und vermeintlich geschlagen, schwieg er einen ganzen Tag lang. Dann erst erkannte er, dass Japans Führung noch immer auf ihn setzte. Fast hektisch ließ er nun seine Kriegserklärung verlesen – und bewirkte damit viel mehr als die Bomben. Kabinett und Kaiser in Japan verloren ihre letzten Optionen, und Chronisten wie Propagandisten in Amerika blieb als gefällige Rückschau nur noch, dass es die nachfolgende Nagasaki-Bombe gewesen sei, die den Gegner endgültig bezwungen habe. Die Frage indes, warum weder Truman noch Stalin Tokios Ausstiegsofferten nutzten, um den grausamen Krieg früher zu beenden, verhallte im historischen Hintergrund.

»Ich glaube schon, dass es in Amerika auch das Motiv gab, die Zerstörungskraft der beiden Atombombentypen im Feld zu testen«, legt sich Historiker Kimura fest. Andere ergänzen, dass das sogenannte Ultimatum von Potsdam, in dem der Westen Japan zur bedingungslosen Kapitulation aufforderte, gar kein Datum enthalten habe. Zudem habe Truman bewusst darauf verzichtet, auf diplomatischen Wegen die Chance auf ein Kriegsende auszuloten. Und zuletzt: Selbst von dem dringenden Wunsch Japans, das Kaiserhaus zu erhalten, habe Amerika früh gewusst – ohne dass Washington jemals signalisierte, er sei erfüllbar. Erst nach den atomaren Attacken auf Hiroshima und Nagasaki ging man auf jenen Wunsch ein. Warum nicht schon zuvor? Und schließlich: Warum hält sich die These der so herbeigebombten Kriegswende bis heute? »Weil alle damit besser leben konnten«, sagt Friedensforscher Ward Wilson. Der Westen, weil er eine Rechtfertigung für das Grauen, das die Bombe auslöste, gut habe gebrauchen können. Und auch Japan selbst, allen voran der Kaiser. »Versetzen Sie sich doch einmal in dessen Lage«, rät Wilson. »Sie haben Ihr Land gerade durch einen katastrophalen Krieg geführt. Die Wirtschaft liegt in Trümmern. Achtzig Prozent der Städte sind zerbombt und niedergebrannt, Armee und Flotte aufgerieben. Das Volk hungert. Was würden Sie eher tun: Zugeben, dass Sie eine ganze Reihe schwerer Fehler begangen haben? Oder die Niederlage einem nicht vorhersehbaren wissenschaftlichen Durchbruch des Gegners zuschreiben, mit dem keiner habe rechnen können?«

Selbst die Frage, warum drei Tage nach der Katastrophe von Hiroshima noch eine weitere Bombe detonieren musste, trieb die Nachwelt kaum noch um. Dabei wusste der verantwortliche US-Kriegsminister, Henry Stimson, sehr genau, wie viel Zeit die Friedensfraktion in Tokio brauchen würde, um im Kabinett die Oberhand zu gewinnen. Dennoch wurde auch Nagasaki ausgelöscht, die weltoffenste Stadt, die sich Japan über Jahrhunderte erlaubt hatte.

Reporterfragen

Weder Japan noch Amerika sind mir als Journalist fremd. In beiden Ländern haben meine Familie und ich über zehn Jahre lang gelebt, und in beiden lebten wir gern. Schon als Fernostkorrespondent mit Sitz in Tokio hatte ich ähnliche Fragen an die Geschichte gestellt, die beide Länder auf so tragische Weise verbindet. Damals mochte ich nicht glauben, dass Japans Kamikaze-Piloten, die man dort bis heute als Kriegshelden ehrt, sich tatsächlich in Scharen freiwillig meldeten, um sich auf feindliche Schiffe zu stürzen. Nach langen Gesprächen mit Überlebenden – die nach verlorenem Luftkampf notlanden konnten oder wegen des Kriegsendes nicht mehr zum Einsatz kamen – verdichtete sich denn auch eher das Gegenteil. Der Mythos sei nur schöner Schein für die Hinterbliebenen, klagten die Männer. Nur Propaganda, die ein Kriegsverbrechen an Kindern und Halbwüchsigen kaschierte. In Wahrheit hatte das Kriegsregime die blutjungen Piloten zwangsrekrutiert und ihnen eingetrichtert, nur sie könnten noch Kaiser und Volk retten. Zum Lohn würden sie wie Kirschblüten fallen und so zu Göttern werden. Als Zeitzeugen erschütterten jene Überlebenden, was Japans pathetische Rückblicke die Nachwelt glauben machten.

Nun hat mich eine neue Frage in diese Länder zurückgeführt, wieder zunächst zu Zeitzeugen, solange es sie gibt. Nicht nur in Japan. Als Sakues hungernde Heimatstadt unter dem Blitz der Bombe verglüht, fotografiert der junge Sergeant William Barney über ihnen durch sein Flugzeugfenster die Riesenwolke. Als wir ihn aufsuchen, ist er mit 94 Jahren das letzte noch lebende Mitglied der Atombombermissionen. Auf einer Farm im US-Bundesstaat Indiana, eine halbe Globusdrehung von Nagasaki entfernt, zeigt er uns am Ende eines langen Lebens die Fotos des Einsatzes. »Alles, was wir an Bord noch wollten, war dieses Ding loszuwerden«, sagt er lapidar. Dennoch könne er auf den Einsatz nicht stolzer sein. Die Bombe habe den Krieg beendet, reklamiert er selbstsicher, ein Endkampf um Japan hätte viel mehr Menschenleben gekostet. Was sonst sollte er sagen? Es ist die herrschende Lehre.

Auch Bill Hudgins, nunmehr neunzig Jahre alt, sieht sich faktisch als Lebensretter, wenn man, wie er sagt, »alles verrechnet«. Er hantierte in den Geheimlabors von Los Alamos, angeleitet von Chefwissenschaftler Robert Oppenheimer, mit radioaktiven Substanzen. Nur eine einzige Briefkastenadresse gab es dort für mehrere Tausend Mitarbeiter. Und nur einmal im Monat durfte Hudgins das Gelände verlassen. Gespräche, auch mit Familienangehörigen, hatte er auf das Nötigste zu beschränken. Briefe wurden zensiert.

Doch selbst hier erfahren wir, dass es eine andere Seite der Geschichte gab: Wissenschaftler, die dafür warben, dem Kriegsgegner Japan lieber einen Bombentest im Pazifik vor Augen zu führen, als die Zivilbevölkerung ganzer Städte auszulöschen. Es war Oppenheimer selbst, sagt uns Sherwin, der die Petition der Kritiker früh kassierte.

Opfer und Täter

Umso eindrucksvoller ist das Augenmaß der Überlebenden. Ich hatte damit gerechnet, dass diese Kinder von einst, als einzige Kriegsopfer der Geschichte, die je dem Horror der Atombombe ausgesetzt waren, allein jene als Täter bezichtigen würden, die sie geplant, gebaut und zum tödlichen Einsatz gebracht hatten. Tatsächlich aber reicht ihre Umsicht darüber hinaus. »Wir sind Opfer zweier Täter«, sagen sie am Ende. »Sicherlich derer in Amerika. Aber auch unserer eigenen in Japan, die diesen Krieg nie hätten beginnen dürfen und die zudem versäumten, ihn zu beenden.«

In den siebzig Jahren seit der Bombe haben jene Kinder, die selbst nur mit viel Glück überlebten, fast alle ihre Weggefährten verloren. Sakues kleine Schwester warf sich vor einen Zug. Auch sie selbst spürte lange die Versuchung, dies als Ausweg zu wählen. Andere, wie Chieko Ryu, verschwiegen ihr Leid. Eines der ersten Fotos, das zwischen Nagasakis Trümmern aufgenommen wurde, zeigt sie als Mädchen neben dem verkohlten Häuflein dessen stehen, was einmal ihre Mutter war. Jahrzehntelang hat sie nicht darüber geredet. In einem Altenheim weit jenseits von Nagasaki schilderte sie uns, was sie damals erlebt hat.

Sakue wurde indes zu einer stetigen Stimme der Opfer. »Ich habe mich zwischen dem Mut zu sterben und dem Mut weiterzuleben entscheiden müssen«, offenbart sie uns. »So ist es meine Aufgabe geworden, von der Welt ein Versprechen einzufordern. Ich möchte ihr abringen, dass wir für immer die letzten Atombombenopfer bleiben.«

Auch der verantwortliche US-Kriegsminister Henry Stimson formulierte dies nach Kriegsende als Lehre für die Menschheit – nur weniger glaubwürdig. Denn noch immer rechtfertigte er reuelos die Katastrophe, als wäre jeder einzelne Schritt zu ihr hin zwingend gewesen. Dabei hatte er seinem Präsidenten anfangs noch selbst empfohlen, Japan lieber bei den Bedingungen für die Kapitulation entgegenzukommen, als nur selbstherrlich Atombomben zu werfen. Doch statt zu seinen frühen Zweifeln zu stehen, verklärte er rückblickend die Bombe selbst – und damit auch sich als Entscheidungsträger – zum neuen Quell des Weltfriedens.

Die Versuchung, dem Massensterben in Hiroshima und Nagasaki ein moralisches Gütesiegel aufzudrücken, war offenbar größer. Oder der Druck.

I. TAUMELNDES JAPAN

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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